Deutsche Einheit:Wir mussten die Wessis einholen Ossis und Migranten haben viel gemeinsam – das hat sich in 25 Jahren Deutscher Einheit gezeigt. Nun müssen wir verhindern, dass sich die alten Fehler wiederholen. Ein Kommentar von Özlem Topçu 3. Oktober 2015, 13:18 Uhr 440 Kommentare Manchmal fühle ich mich den Ossis ganz nah. Von vielen, die heute so alt sind wie ich, aufgewachsen in beiden Deutschlanden, weiß ich, dass sie ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie ich: nicht durch Geburt deutsche Staatsbürgerin, das Kind von Türken, von Quasi-Wirtschaftsflüchtlingen. Nur, dass meine Eltern im Unterschied zu vielen anderen heute eine Einladung in der Tasche hatten und als Gastarbeiter die deutsche Wirtschaft mitankurbeln sollten; die selbst Kinder von Türken waren, Enkel von Osmanen, aufgewachsen hinter dem Eisernen Vorhang Bulgariens. Ich weiß, liebe Heidenauer, liebe Freitaler und wo ihr Angsterfüllten alle wohnt. Mir wird auch schwindelig. Aber es ist nun mal, wie es ist. Es gibt kein Anrecht auf Klarheit und Eindeutigkeit, am wenigsten, wenn es um Identität geht. Wir haben vieles gemeinsam. Wie Eure Familien kennen viele unserer Familien auch Umbrüche aus ihren Ländern, auch wenn es sich nicht immer um eine Diktatur handelte. Auch die alten Einwanderer mussten ganz von vorne anfangen. Alles, was sie bis zu ihrer Ankunft in Deutschland zu wissen glaubten, war nicht mehr viel wert. Weder die Sprachen, die sie in der Schule gelernt hatten, noch ihre Berufsabschlüsse (wenn sie denn welche hatten). Sie glaubten nicht mehr daran, dass es für sie und ihre Kinder eine Zukunft geben würde in der alten Heimat. Sie nahmen es hin, dass ihre Biografien Brüche durch die Auswanderung oder die Flucht bekamen. Sie nahmen es auch hin, dass ihre Kinder sie schwach erlebten, dann und wann, es ging nicht anders. Bürger zweiter Klasse So war es bei Euch auch. Es gibt noch eine weitere Erfahrung, die die alten Migranten und die Ossis teilen: Egal, um was es ging, wir mussten uns ganz schön beeilen und anstrengen, um die Wessi-Deutschen einzuholen. Na ja, oft war es ja eher ein Hinterherhecheln. Aber häufig ist es ja auch geglückt. In gewisser Weise hatten wir Einwanderer es sogar etwas einfacher als Ihr. Wir waren halt die Türken, Griechen und Araber, aber ihr wart ja schon Deutsche, von euch verlangte man gleich, dass ihr alles super hinkriegt. Dabei wart Ihr ja eigentlich auch Einwanderer. Hatten wir nicht beide oft das Gefühl, dass uns die Wessis wie Bürger zweiter Klasse behandeln, von oben herab? Trotzdem haben Wessis und Ossis vor 25 Jahren etwas Einzigartiges auf der Welt geschafft. Sie haben sich wieder vereinigt. Diese Wiedervereinigung, so weit ich das als Zaungast beurteilen kann, ist ein ziemlich krasser Job gewesen. Sie ist nicht schön, noch ist sie hässlich, aber die wenigsten wollen sie missen. Ich kann mich noch sehr genau daran erinnern: Wir haben damals die Bilder im Fernsehen gesehen und den Schmerz und die Freude spüren können, allein durchs Zugucken. Ich verstand, 12-jährig, nicht viel. Die DDR war ein dunkler Ort, ganz weit weg, aber meine Eltern freuten sich "für die Deutschen". Und als wir im Sommer darauf mal wieder mit dem Auto in die Türkei fuhren, in den Ferien, da standen viele Angehörige der türkischen Minderheit aus Bulgarien an der Grenze zur Türkei. Da konnten wir den Schmerz, den der Kalte Krieg zu seinem Ende hin noch anrichtete, ganz nah spüren. Die Führung in Bulgarien war dabei, die ganzen ethnischen Türken rauszuschmeißen. Da standen sie, in langen Reihen mit Lkw, auf denen ihr ganzes Hab und Gut geladen war. Waschmaschinen, Fernseher, Möbel. Meine Mutter weinte. Es waren ihre Landsleute, die vertrieben wurden, während sie es so gut hatte in Almanya. Nein, Ihr Deutschen, Ihr habt da etwas ganz Großes hinbekommen. Auch wenn noch nicht alles perfekt ist und noch nicht gleichberechtigt und viel rumgenörgelt und über den jeweils anderen gelästert wird. Es ist doch alles in allem ganz gut für Euch gelaufen. Nur, leider habt Ihr uns vergessen bei Eurer schönen Einheit. Ihr habt uns nicht gemeint und uns wieder zu Ausländern gemacht. Dabei waren wir schon längst Wessis. Länger als Ihr. Die Ossis benahmen sich wie Schonimmerdeutsche Dieses Vergessen, Ignorieren, Nichtwahrhabenwollen, dass diese Wiedervereinigung nicht nur die geborenen Deutschen anging, vor allem, wenn ein Teil des Landes schon lange Einwanderungsland geworden war, hatte so manche Konsequenz. Die leichteste war wohl, dass die Türken beleidigt waren, weil sich die Ossis wie Schonimmerdeutsche benahmen und sie nun von der deutsch-deutschen Kuschelei ausgeschlossen wurden. Mist, schon wieder Ausländer. Für die Integration und die Sicherheit der Türken und anderer Migranten war die Wiedervereinigung zeitweise ein absoluter Rückschlag (neben der Tatsache, dass zuerst Helmut Schmidt ihr Kommen für einen großen Fehler erklärte, und dann der Kanzler der Einheit, Helmut Kohl, sie mit Rückkehrprämien loswerden wollte; hat nicht so richtig geklappt). Dafür machen sie sich jetzt ganz gut. Die schlimmste Konsequenz waren die Anschläge, die in der folgenden "Das Boot ist voll"-Atmosphäre begangen wurden. Mölln, Rostock, Solingen, Hoyerswerda. Später die Morde des NSU. Auch diese Dinge haben viel mit der Einheit zu tun. Kaum jemand stellte sich vor die Migranten, oder sagte: die gehören zu uns, zu diesem Land. Sollen die denn alle bleiben? Aber jetzt, 25 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung, gibt es vielleicht eine Chance, das alles besser zu machen, zu einer Zeit, in der wieder viele neue Migranten ins Land kommen. Der ehemalige Integrationsminister von NRW, Armin Laschet, hatte dazu schon mal vor einigen Jahren eine gute Idee. Er sagte, dass Deutschland eigentlich eine dritte Einheit bräuchte – die erste vollzog sich nach dem Zweiten Weltkrieg, als das Land zwölf Millionen Flüchtlinge und Vertriebene integrierte; die zweite war 1989; und die dritte sollte eine sein, die auch Migranten und ihre Nachkommen einschließt. Deutschland hat in diesem Sommer Tausenden von Flüchtlingen Herz und Verstand geöffnet. Es hat sich so mitfühlend und offen wie kaum ein anderes Land in Europa gezeigt. Jetzt ebbt die Willkommensparty langsam ab, und das ist nur natürlich. Die Zivilgesellschaft hat Erstaunliches geleistet unter Selbstaufopferung und Druck, sie hat die Rolle der Politik übernommen, in Ost und West. Vor allem hat sie dem Hass ein starkes Signal entgegengesetzt. Dabei war nicht in erster Linie die Frage entscheidend: Sollen die denn alle bleiben? Sondern: Solange sie bleiben, werden wir sie so behandeln und unterbringen, wie es einem Land wie Deutschland gebührt. ANZEIGE Popis: https://cdn.iqcontentplatform.de/media/c/479/0/2/placeholder.png CITY TRIP Zauberhaftes Meran Ein echter Insider-Tipp ist die charmante Kur- und Kulturstadt in Südtirol. Was man dort zwischen Berggipfeln und Zitronenbäumen in drei Tagen alles erleben kann: mehr... Das ist nicht mehr das Deutschland, dass seine Ausländer loswerden wollte; das Kohl-Deutschland, das Rückkehrprämien anbot, damit sie wieder gehen. Natürlich sind Sorgen und Ängste legitim, Fragen auch, und ja, es gibt Probleme und Konflikte, und sie werden auch mehr werden. Die Bundesregierung sollte nun viel Energie darauf verwenden, der Gesellschaft langsam und schonend zu erklären, dass viele von denen, die nun gekommen sind, voraussichtlich nicht mehr weggehen werden. Denn der Krieg in Syrien wird nicht so schnell vorbei sein. Syrien, Afghanistan, all die anderen gescheiterten Staaten sind nicht mehr Tausende Kilometer weit weg, sondern nun auch in der nächstgelegenen Erstaufnahmeeinrichtung. Eir können nicht mehr so tun, als habe er nichts mit uns zu tun. Jetzt stehen auch die Menschen vor uns. Und sie berühren uns. Deutschland hat die Chance, nicht die selben Fehler zu wiederholen wie in der Generation meiner Eltern, bei denen gedacht und häufig gehofft wurde, dass sie eines Tages wieder gingen. Deshalb gab es keine Sprachkurse, keinen Kurs in: Wie werde ich ein guter Staatsbürger? Diese Kurse, übrigens, auch das zeigen die Erfahrungen und die Debatten der vergangenen Tage, würden so auch so manchem geborenen Deutschen ganz gut tun. Ist wie beim Erste-Hilfe-Kurs, sollte man alle paar jahre wiederholen. Auch wenn es nicht so klingt, so hat die Bundeskanzlerin doch mit ihrem "Wir schaffen das" einen realpolitischen und eher nüchternen Blick auf die Dinge freigelegt. Dieser Satz ist in der Flüchtlingskrise das, was "die Spareinlagen sind sicher" in der Eurokrise war. Er gibt die Zuversicht, die die Menschen brauchen. Damit eben keiner durchdreht.Damit nichts außer Kontrolle gerät. Der Satz meint: Wir müssen mit dem arbeiten, was wir haben. Wir müssen zusehen, dass nicht noch mehr Menschen sterben, nur, um irgendwie nach Europa zu gelangen. Wir müssen den Hass ausgrenzen und die Menschen schützen. Zäune, Stacheldraht und Mauern werden Menschen nicht davon abhalten, zu flüchten und ein besseres Leben zu suchen. Nie war dieser Satz wahrer als an so einem Tag wie heute. Alles Gute zu 25 Jahren Einheit, Deutschland. Seitennavigation STARTSEITE