Neue Sachlichkeit nach Horn/ Selzer: Zeitromane (H. A. Glaser, 129) Der Terminus stammt vom Kunsthistoriker Gustav Friedrich Hartlaub, Direktor der Kunsthalle Mannheim (1923-1933), der die Ausstellung Neue Sachlichkeit. Dt. Malerei nach dem Expressionismus veranstaltet hat. Es ist schwierig die Literatur der Neuen Sachlichkeit abzugrenzen. Gemeinsam ist den dazu zählenden Autoren eine Rückkehr zur klaren und objektiven Wiedergabe der Fakten aus der modernen Gesellschaft. Man verwendet kurze, gestraffte Sätze, man versucht als Beobachter - ohne Emotionalität – auch die Welt der Technik und der Industrie darzustellen. Der Stil trägt reportagehafte, aber auch filmische Züge (Schnitttechnik). Diese Stilrichtung hängt mit der überstürzten Modernisierung im Deutschland der 20er Jahre und dem damit verbundenen Technikkult und Amerikanismus zusammen. In der Neuen Rundschau stand 1930 über die Romane aus Amerika: Die Sympathie, die man für Lift, Funkturm, Jazz äußerte, war demonstrativ. Sie war ein Bekenntnis. Sie war eine Art, das Schwert zur Pflugschar umzuschmieden. Sie war gegen Kavallerie; sie war für Pferdekräfte. /…/ Sie hielt es an der Zeit, daß die Zivilisation zu einer Sache der Zivilisten werde. Die Lust am materiellen Konsum wurde als Reaktion auf die früheren Appelle zu Kultur, Konsumverzicht und rigider Sexualmoral verteidigt. Verkörpert hat diese Tendenz die Architektur des Dessauer Bauhauses. Die Autoren scheuen jetzt nicht mehr davor, Reklame für Autos zu schreiben (Brecht[1]), kommerzielle Anzeigen für Aral, Zigaretten oder Pfandbriefe und Kommunalobligationen prägen das Bild der Rowohlt-Bücher (zwischen die Seiten eingerückt wie die Werbung ,die heute den Film bei einem kommerziellen Fernsehsender unterbricht). Schon die Dadaisten verlangten eine Synchronisierung des Lebensgefühls und der darauf basierenden literarischen Werke (Raoul Hausmann, 1920. Wir streben wieder nach Konformität mit dem mechanischen Arbeitsprozeß) Jetzt greift das Einverständnis mit dem Modernisierungsprozeß auch in das rechte, militaristische Lager, das z. b. Ernst Jünger (geb. 1895) repräsentiert: Das Essaybuch Der Arbeiter, 1932, preist den Typus des Arbeiters für seine von wiederholbarer Arbeitsleistung gekennzeichnete Lebenswirklichkeit; er produziert jene technischen Mittel, die die Errichtung einer Arbeiterstaates ermöglicht, in dem zwar der ausharrende Arbeitsheroismus, nicht aber die Befreiung der Beherrschten als Ziel gelten wird. Es gibt keine Manifeste dieser Strömung, Schlüsselbegriffe enthalten jedoch z. B. Walter Benjamins Einbahnstraße (1928) Der Titel Einbahnstraße deutet als Metapher auf die irreversible Nötigung des Intellektuellen zur Politik, auf das Ende einer chimärischen Existenz über den zum Bürgerkrieg antretenden Klassen. Ebenso bezeichnet er – als Produktionsprinzip – die Orientierung der Prosastücke an einem Gang durch die Großstadt, in der das Triviale und Zufällige zu »Denkbildern« zusammenschließt: Erster Text: Tankstelle (Passagen) Die Konstruktion des Lebens liegt im Augenblick weit mehr in der Gewalt von Fakten als von Überzeugungen. Und zwar von solchen Fakten, wie sie zur Grundlage von Überzeugungen fast noch nie und nirgends geworden sind. Unter diesen Umständen kann wahre literarische Aktivität nicht beanspruchen, in literarischem Rahmen sich abzuspielen – vielmehr ist das der übliche Ausdruck ihrer Unfruchtbarkeit. Die bedeutende literarische Wirksamkeit kann nur in strengem Wechsel von Tun und Schreiben zustande kommen; sie muß die unscheinbaren Formen, die ihrem Einfluß in tätigen Gemeinschaften besser entsprechen als die anspruchsvolle Geste des Buches, in Flugblättern, Broschüren, Zeitschriftenartikeln und Plakaten ausbilden. Nur diese prompte Sprache zeigt sich dem Augenblick wirkend gewachsen. Meinungen sind für den Riesenapparat des gesellschaftlichen Lebens, was Öl für die Maschinen; man stellt sich nicht vor eine Turbine und übergießt sie mit Maschinenöl. Man spritzt ein wenig davon in verborgene Nieten und Fugen, die man kennen muß. Benjamin, Walter (1892 Berlin, † 27. 9. 1940 Port Bou/Spanien (Freitod) war Essayist, Philosoph, Kritiker. Er entstammte als ältestes von drei Kindern einer Berliner großbürgerlich-jüdischen Familie; sein Vater war Mitinhaber eines Antiquitäten-Auktionshauses und Aktionär. Nach dem Abitur (1912) studierte Benjamin Philosophie, Germanistik u. Kunstgeschichte. Vor der Kriegsatmosphäre in Deutschland flüchtete er sich nach Bern, wo er 1919 mit einer Arbeit über die Frühromantik promovierte: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik. Dem Drängen des Vaters, ins Bankgeschäft einzutreten, widersetzte er sich. Im Jahre 1915 lernte er den späteren Kabbala-Forscher Gershom Scholem[2] kennen, mit dem ihn dauerhafte Freundschaft verband, zumal Scholem in dem Freund ein kabbalistisches Ingenium wirksam sah. Ihren kühnsten spekulativen Ausdruck fanden Benjamins damalige Überlegungen in der 1916 verfaßten Abhandlung Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen. Benjamin arbeitete hier als philosophische Aufgabe heraus, in der Vielheit der profanen Menschensprache die Übersetzung der einen göttlichen Sprache der Laut-Namen wiederzugewinnen; der Begriff der Sprache als unmittelbares Medium wird scharf abgegrenzt von jeder bürgerlichen Konzeption der Sprache als humanspezifischem Instrument der Kommunikation und Referenz. Seine Auffassung der literarischen Kritik zeigt er in seiner Studie über Goethes Wahlverwandschaften (1924/25). Es war polemisch gegen Gundolfs Goethe-Monographie gerichtet. Obwohl die Studie begeistert von Hofmannsthal, dem Herausgeber der Neuen Deutschen Beiträgen, zur Veröffentlichung empfangen wurde, wurde sie von denen, deren Polemik sie herausfordern sollte, totgeschwiegen. Aus einer intensiven Beschäftigung mit dem entlegenen Bereich des dt. Barockdramas ging Benjamins Abhandlung Ursprung des deutschen Trauerspiels hervor, die als Habilitationsschrift verabredet war, dann aber unter unwürdigen Umständen 1925 von der Universität Frankfurt zurückgewiesen wurde. Das Buch rekonstruierte das Trauerspiel als Idee einer Form in scharfer Abgrenzung zur antiken Tragödie u. unternahm eine geschichtsphilosophische Rettung der seit der Goethezeit verkannten Ausdrucksform der Allegorie. Indem Benjamin das allegorische Werk gegenüber dem symbolisch-autonomen rehabilitierte, reflektierte er implizit den Bruch der Moderne mit der klassishcen Ästhetik. Indem er den allegorischen Tiefsinn als intellektuelle Reaktionsform in einer transzendenzlosen Welt beschrieb, reflektierte er implizit die Situation des Weimarer Intellektuellen nach dem Zusammenbruch der Vorkriegswelt. Adornos spätere Philosophie wurde durch zentrale Theoreme des Trauerspielbuchs – Naturgeschichte, Mythos, Allegorie, Wahrheit als nicht-intentionales Sein – entscheidend geprägt. Nach der geschieterten Habilitation fand Benjamin in der »Frankfurter Zeitung« (Literaturredakteur war Siegfrid Kracauer) neue Arbeits- u. Publikationsmöglichkeiten; seit 1929 arbeitete er regelmäßig für Rundfunkanstalten. Indem er seine philosophisch-kontemplative Begabung absichtsvoll dem Diktat der Publizistik u. den Bedingungen eines freien Schriftstellers unterstellte, suchte er dem Anspruch auf unbedingte Aktualität u. Geistesgegenwärtigkeit zu gehorchen. Benjamin erhoffte sich von einer intensiven Konfrontation mit marxist. Positionen, ohne in die Partei einzutreten, die wichtigsten Impulse: er sprach vom »anthropologischen Materialismus«. Er widmete sich intensiv der frz. Gegenwartsliteratur, übersetzte Proust, Baudelaire, Aragon u. hielt sich immer wieder in Paris auf. Zum andern beschäftigte er sich mit der kulturellen Entwicklung in Sowjetrußland u. unternahm im Winter 1926/27 eine Moskaureise. Im März 1933, bald nach dem Reichstagsbrand, verließ Benjamin Deutschland, als Jude u. als Marxist gleichermaßen gefährdet, u. ging nach Paris. Er sah sich schwierigsten Existenz- u. Arbeitsbedingungen ausgesetzt. In Deutschland konnte er nicht mehr publizieren; in frz. Zeitschriften u. in dt. Exilzeitschriften konnte er nur einzelne Beiträge unterbringen. So blieb er fast ausschließlich auf die Aufträge u. das Stipendium des Instituts für Sozialforschung angewiesen, das rechtzeitig nach New York verlegt worden war. In dessen »Zeitschrift für Sozialforschung« erschienen, nicht immer ohne Komplikationen, die meisten u. wichtigsten Arbeiten Benjamins. Obschon er sich nicht zur Frankfurter Schule der Kritischen Theorie rechnete, vertiefte sich in diesen Jahren die Beziehung zu Horkheimer u. vor allem zu Adorno, den B. später zum Nachlaßverwalter einsetzte. In einem längeren Exposé mit dem Titel Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts (1935/1939) erweiterte u. veränderte B. das Passagen-Projekt. Es sollte die Marxsche Metapher vom Fetischcharakter der Ware als Allegorie[3] ernst genommen u. auf die mythische Phantasmagorien des großstädt. Kapitalismus des 19. Jh. bezogen werden. Das Passagen-Werk blieb ungeschrieben; aber das Material – eine riesige Sammlung von Zitaten u. Kommentaren – ist überliefert. Nachdem Einmarsch deutscher Truppen in Paris begann die Flucht nach Marseille, dann zu Fuß über die Pyrenäen. Als er an der spanischen Grenze trotz des vorhandenen Visum angehalten wurde, nahm er eine Überdosis Morphium und weigerte sich, einen Arzt holen zu lassen. Eine neue Denkweise, die die Autonomie des Schriftstellers und Künstlers in Frage stellt und die bereits1932 in Benjamins Polemik gegen Kurt Hiller (Der Irrtum des Aktivismus) formuliert war, wurde 1934 der Redaktion der Exilzeitschrift Die Sammlung von Klaus Mann zugeschickt. Sie blieb, wir zu erwarten war, ungedruckt. Während Klaus Mann hoffte, der Wille zum hohen, leichten und verpflichtenden Spiel des Gedankens dem Anti-Humanismus des Faschismus Einhalt bieten kann. Benjamins Kritik richtet sich gegen die Position des Intelllektuellen zwischen den Klassen – es als Förderer und ideologische Patron. Walter Benjamin: Der Autor als Produzent, 1934 Er beschfägtigt sich mit der Wirkung des operativen Künstlers. Als Beispiel nannte er den kommunistischen Autor Sergej Tretjakov[4], dessen Mission es war, "nicht zu berichten, sondern zu kämpfen; nicht den Zuschauer zu spielen, sondern aktiv einzugreifen" : Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, (Teilabdruck franz. 1936) Er thematisierte die Krise der Kunst, die durch die technischen Reproduktionsmedien ausgelöst wird u. den traditionellen Kern der Aura (Einmaligkeit u. Distanz) zerstört. B. sah im Film nicht eine neue Kunstgattung, sondern eine technische Apparatur u. ein kollektives Übungsinstrument mit der Chance einer revolutionären Veränderung des Verhältnisses von Masse u. Technik. Im krassen Gegensatz zu den Exilparolen von der Rettung der Kultur sollte gerade von der technischen Reproduzierbarkeit aus die Antwort auf eine faschistische Ästhetisierung der Politik u. des Kriegs entworfen werden. Der Kommunismus antwortet nach Benjamin mit der „Politisierung der Kunst“, heißt es in Benjamin Nachwort. Hans Richter, ein Dadaist und Filmexperimentator, sah darin eine Gleichschaltung der Kunst, eine ideologische Zwangsjacke, die sich Benjamin anlegte. Benjamin stellte vor allem die Zerstörung der Aura durch die modernen Reproduktionskünste. Während Karl Wolfskehl, einer der Mitglieder des George-Kreises, darin eine Seelenhülle der Erscheinungswelt, definierte sie Benjamin als ein ein sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit: 413 Aura: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag. An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont zu folgen heißt die Aura dieser Berge atmen. Die Dinge sich räumlich und menschlich näher zu bringen ist ein genauso leidenschaftliches Anliegen der gegenwärtigen Massen wie es ihre Tendenz einer Überwindung des Einmaligen jeder Gelegenheit durch die Aufnahme von deren Reproduktion ist. Tagtäglich macht sich unabweisbarer das Bedürfnis geltend, des Gegenstands aus nächster Nähe im Bild, vielmehr im Abbild, in einer Reproduktion habhaft zu werden 414 Die Einzigartigkeit des Kunstwerkes ist identisch mit seinem Eingebettetsein in den Zusammenhang der Tradition. /…/ Die ursprüngliche Art der Einbettung des Kunstwerks in den Traditionszusammenhang fand ihren Ausdruck im Kult. /…/ Es ist nun von entscheidender Bedeutung, daß diese auratische Daseinsweise des Kunstwerks niemals durchaus von seiner Ritualfunktion sich löst. Zu den einflussreichsten Theatererneuerenern der 20er Jahre zählt Erwin Piscator. Seine Ansichten fasste er in dem Buch Das politische Theater (1929) zusammen. Er war Regisseur an der Berliner Volksbühne (1924-27). Nach Entlassung eröffnete er die Piscatorbühne, arbeitete 1931-36 in der UdSSR, dann in Paris und den USA und seit 1951 wieder in Deutschland. In Form einer Montage aus Autobiographischem, Programmatischem und Dramaturgischem, mit auszügen aus Programmheften und Pressekritiken werden hier einzelne Aufführungen dokumentiert und analysiert, darunter Hoppla, wir leben von Ernst Toller, Die Abenteuer des braven soldaten Schweyk und Der Kaufmann von Berlin von Walter Mehring. Stilprägend waren bei ihm Unterbrechung des Dialogs durch Verwendung kommentierender Dokumente als Projektion und Film, Auflösung zu revueartigen Einzelszenen, die Heranziehung des Publikums, das nicht mehr wie vor der alten Guckkastenbühne[5] die Aufführung genießen soll, sondern erschüttert werden soll.. Dazu braucht er eine variable Raumgestaltung, die Abschaffung der Rampe[6] und die Durchdringung von Bühnen- und Zuschaeurraum. Die Enttäuschung Brechts von dem neuen Medium Film, bei dem die hohen Produktionskosten kapitalistische Entstehungsumstände diktierten, führte zu einem Prozess. Bertolt Brecht: Der Dreigroschenprozeß, 1931 Dabei ging es um die Verfilmung der "Dreigroschenoper", die Brecht aus der Hand genommen worden war. Im Prozess klagte Brecht sein Urheberrecht ein, von vornherein wissend, dass es im Kapitalismus ein Recht auf geistiges Eigentum nur dann gibt, wenn es dessen Mehrwertschöpfung nicht im Wege steht. Der Prozess als "soziologisches Experiment", um genau das zu demonstrieren. Brecht: "Sicher schien uns nur, dass selbst wenn uns Recht gegeben würde, nur dadurch bewiesen wäre, dass unsere Gesetze völlig veraltet sind. (...) Es gibt kein Recht außerhalb der Produktion. (...) Der Kapitalismus ist in der Praxis konsequent, weil er muss. Ist er aber konsequent in der Praxis, dann ist er inkonsequent in der Ideologie. (...) Die Wirklichkeit kommt dann an den Punkt, wo das einzige Hindernis für den Fortschritt des Kapitalismus der Kapitalismus ist." Kennzeichnend für die Neue Sachlichkeit ist die Vorstellung von der Literatur bei dem einstigen Herausgeber der populären Anthologie expressionistischer Lyrik. Kurt Pinthus: Männliche Literatur, 1929: Ohne lyrisches Fett, ohne gedankliche Schwerblütigkeit, hart, zäh, trainiert, dem Körper des Boxers vergleichbar) Manierismen des neusachlichen Stils. Fachsprachen, Sprechweisen des Staatsanwalts oder des Bankiers, Anglizismen, Zitate aus der Statistik, Charakteristiken nach Art eines Behördenformulars. Arnolt Bronnens Beschreibung seines Helden im Roman O. S. , 1929 (Abkürzung für Oberschlesien) Wenn Sie sich diesen Krenek vorstellen, wie er wirklich war, BEWAG-Monteur, 1,81, 70 kg, 19,4 Papiermark die Stunde wert, segelnd im blauen Überzug und wohnhaft im Norden, so werden Sie über das Folgende nur wenig erstaunt sein. Es war punkt elf Uhr, 29. April 1929, Linden Ecke Charlotten in Berlin, wo er am Schaltkasten der Bogenlampen pfeifend und träumerisch die rötlichen Lichtreihen unter der noch steifen Sonne ausprobierte, als ein eiliges Taxi Kurvenschneidend über seinen linken Fuß hinglitt. Krenek sprang in hohem Bogen brüllend auf das Trittbtrett dieses IA 8444, der den Viadukten zu knirschte, und riß den Fahrer am Ärmel. Tucholski nannte den Roman Dokument des Salonfaschismus. Krenek – ein Partisan, der aus dem Zivilisationsalltag Berlin in die Schlacht am Annaberg zieht. Von den Gegnern wurde diese neue Richtung als Asphaltliteratur denunziert. Sie verwirft die Verwurzelung zugunsten der Mobilität, bekennt sich zur Kälte und Vergessen. Ziemlich abrupt wird hier die Klage über die Entfremdung in der Lebensphilophie in ihr Gegenteil verkehrt. Das alte Stereotyp vom Wunschbild Land, Schreckbild Stadt wird umgepolt. Die Anonymität der Großstadt wird als Schutz vor familiärer und staatlicher Überwachung begrüßt. Natürlich konnte sich diese eindimensionale Weltsicht nicht lange halten, diese Bevorzugung des Transparenten, Typischen und diesen Hang zur Zerstreuung wurde bald von der gegensätzlichen Tendenz in der Literatur des magischen Realismus abgelöst. Der Habitus des „kalten Blicks“ wird von Malern Otto Dix und Georg Grosz kultiviert. Auch im rechten Spektrum der Kulturszene gibt es vergleichbare tendenzen. Ernst Jünger preist die Photographie als das kältere Medium, weil sie außerhalb der Zone der Empfindsamkeit registriere. Reportage und Dokumentarliteratur Die expandierenden Zeitungen und neugegründete Rundfunkstationen boten vielen Autoren gute Verdienstmöglichkeiten. Manche Reportage entstanden als Brotarbeit. Anfang November 1926 wird unter den Verlagsneuerscheinungen der Roman ,,Die Flucht ohne Ende" des Österreichers Joseph Roth angeboten. Er ist typisch für den Versuch, Literatur im Stil der Neuen Sachlickeit zu schreiben, das Dokumentarisch-Authentische in den Vordergrund der Schilderungen zu stellen. Roth nennt die Beschreibung der Wanderung eines ehemals österreichischen Offiziers aus russischer Kriegsgefangenschaft quer durch Deutschland nach Paris einen Bericht und betont in einer Vermerkung: ,,Ich habe nichts erfunden, nichts komponiert. Es handelt sich nicht mehr darum, zu dichten. Das wichtigste ist die Botschaft." Egon Erwin Kisch , 1885 – 1948, im März verstorben 1923 Anthologie Klassischer Journalismus (von Luther bis Zola) 1925: Der rasende Reporter – Reportageband Lebenslauf Im Herbst 1918 war er Mitbegründer der »Föderation Revolutionärer Sozialisten, Internationale« sowie erster Kommandant der Wiener Roten Garde. Bereits im Frühjahr 1919 zog er sich von der Roten Garde zurück u. trat in die Redaktion der Wiener Tageszeitung»Der Neue Tag« ein, blieb aber Mitgl. der KP (Deutsch-)Österreichs. Für kurze Zeit inhaftiert u. dann in die CSR abgeschoben, kam K. 1921 nach Berlin u. etablierte sich dort als einer der herausragenden Publizisten des sozialistischen Lagers. Er schrieb u. a. für den »Berliner Börsen-Courier«, das »Tagebuch«, die »Weltbühne« u. die »Rote Fahne«. Berlin war auch der Ausgangspunkt für seine großen Reisen durch Europa u. Afrika (1922-1924), die Sowjetunion (1925/26) u. die USA (illegal 1928/29); 1932 begab er sich nach China. Zusehends fand K. in seinen Reisereportagen zu jener literar. Form, die auf die Analyse sozialer u. polit. Zusammenhänge zielte; scheinbar abseitige, alltägl. Themen werden zu Paradigmen umfassender Entwicklungsvorgänge. Ausgehend von dem Band Der rasende Reporter, verfeinerte er die dialektische Präzision seiner Reportagen in Zaren, Popen, Bolschewiken (Bln. 1927), aber auch in Asien gründlich verändert (Bln. 1932), Buchausgaben machten ihn unabhängig vom Zeitungsverleger mehr Zeit für zeitraubend recherchierte Ergänzungen. Populäre Anthologien des Journalismus stammten auch von anderen Herausgebern als Kisch: FAZIT. Ein Querschnitt durch die deutsche Publizistik, 1929 Hg. Ernst Glaeser, überwiegend linksliberale Beiträge Heinrich Hauser : Friede mit Maschinen, 1928 begrüßte die Fleißbansdarbeit und die maximale Ausnutzung der menschlichen Arbeitskraft Es gab auch NS- Reportagen: Herbert Seehofer: Hallo, jetzt kommt der Reichsbericht! aus dem Band Mit dem Führer unterwegs, 1934. 1939 schon die 11. Auflage Nähe zur Rundfunkreportage, die live ausgestrahlt wird die Arbeit einer fliegenden Pressestelle während einer Kundgebungsreise im Jahr 1932, die Faszination der Massen dem Leser vermittelt Als Paradebeispiel einer politischen Kunst erschien 1929 der Bildband Deutschland, Deutschland über alles von Tucholsky und John Heartfield Das buch enthält elf Fotomontagen (darunter Köpfe dt. Generäle mit der Unterschrift: Tiere sehen dich an9 Vorwegnahme der Forderung Benjamins , 1934, nach Überwindung der Schranke zwischen Schrift und Bild (Der Autor als Produzent). Bruno Freis (*1897) schrieb die Reportage Hanussen (1934 als Buch, vor Hitlers Machtergreifung in dem linken Münzenberg-Konzern seit Juni 1932 fortsetzungsweise erschienen) liest sich wie ein Roman. die unglaubliche Karriere des Hellsehers, der sich mit Nazis verbündete und trotzdem von ihnen ermordet wurde, gründlich recherchiert und spannend erzählt – samt Dokumenten. Glänzend sind Beschreibungen von deprimierten und wundersüchtigen Massen. Auch in Kischs Roman Paradies Amerika (1930) ist die Figur des Dr. Becker Indiz für eine Fiktionalisierung der Reportage Reportageroman: Reger, Erik * 8. 9. 1893 Bendorf/Rhein, † 10. 5. 1954 Wien Durch die Arbeit im Pressebüro der Krupp-Werke (1919-1927) wurde er mit entscheidenden Entwicklungen u. Interna der dt. Nachkriegsindustrie vertraut. Bereits in seinem Erstlingswerk, dem Reportageroman Union der festen Hand (Bln. 1931. Reinb. 1979), realisierte R. dieses Programm in perspektiv. Komplexität u. stilistischer Eleganz. Der mit dem Kleist-Preis ausgezeichnete Roman schildert in historisch genau fixierten Etappen die zentralen wirtschaftl. wie polit. Prozesse der Jahre 1918-1930 im Brennpunkt Ruhrgebiet: von den revolutionären Nachkriegswirren über die erneute Konsolidierung der Schwerindustrie durch geschickte Manipulation mit Reparationsverpflichtungen u. Inflationswerten zur zunehmenden Monopolisierung u. Kartellbildung, die polit. u. ideolog. Maßnahmen flankierten. Der für die Weimarer Republik typischen Mischung von Modernität u. Ungleichzeitigkeit galt dabei R.s bes. Interesse. Obwohl nahezu alle Ereignisse, Institutionen u. Personen für den histor. Leser eindeutige Referenz haben, läßt sich Union der festen Hand nicht auf einen Schlüsselroman reduzieren. Die Figuren des auf zwei gesellschaftl. Ebenen (Oberbühne von Industrieadel, Hochfinanz u. Politik u. Unterbühne proletar. u. kleinbürgerl. Lebensverhältnisse) angesiedelten Romans sind in konsequenter Weise depersonalisiert u. fungieren als Träger gesellschaftl. bzw. ökonomischer Strukturen, so daß der durch Zitatmontagen durchbrochene Text als modellhafte Gestaltung zeitgeschichtl. Prozesse, als »Vivisektion der Zeit« (Reger) gelesen werden muß. Eine vorangestellte »Gebrauchsanweisung« exponiert den operationalen, auf eine krit. Öffentlichkeit zielenden Charakter des Textes, dem R. nur widerstrebend die Bezeichnung »Roman« gab. Im Gegensatz zu der Fülle kommunistisch motivierter Industrie- u. Reportageromane spart seine polem. Kritik den Arbeiter nicht aus: Ironisch entlarvt er kleinbürgerl. Sehnsüchte vermeintlich klassenbewußter Proletarier oder die unterschwellige Identität von nationalem u. kollektivem Pathos. Während Das wachsame Hähnchen. Polemischer Roman (Bln. 1932) dokumentarischen Stil u. iron. Analytik des Erstlings aufnimmt, sind die späteren Veröffentlichungen bestenfalls als unpolit. Unterhaltungsromane zu bezeichnen. Sein deutl. Engagement gegen die Zwangsintegrierung der SPD verhinderte eine angemessene Rezeption der 1946 erneut aufgelegten Union der festen Hand in der DDR, aber auch in der BR Deutschland ist der 1984 verfilmte Roman weitgehend unbekannt. Karl Prümm: Nachw. mit Auswahlbi bliogr. In: ›Union der festen Hand‹. Reinb. 1979, S. 509-571. Dieter Mayer: Die Massenmedien und die Literatur der zwanziger Jahre Die technischen Medien Film und Rundfunk als Formen künstlerischer Massenkommunikation Die zunehmende Verbreitung des Films, jenes »Theaters der kleinen Leute«, wie Döblin 1909 formuliert hatte, war in der Vorkriegszeit als Signal des von Nietzsche vorhergesagten Niedergangs der Kultur verstanden worden. Franz Pfemfert stellte die deprimierende Diagnose: »Volksbelustigungen werden stets die Geschmackskundgebung der Masse bedeuten. Werden immer mit Volksinstinkten rechnen. Das haben die alten Jahrmarktsfeste getan – und das tut heute der Kinematograph. Kino ist nun der Unterhalter der breiten Volksschichten, ihr Lehrer und Erzieher. Wahrlich: dieser Kino ist der passende Ausdruck unserer Tage. Dieser Abklatsch der nackten Wirklichkeit, diese brutale Bildreporterei konnte nur in einer Zeit zu Ehren kommen, in der die Phantasie in die Leichenschauhäuser und auf die Verbrechensfährten gedrängt ist.[...] Kino vernichtet die Phantasie. Kino ist der gefähr- lichste Erzieher des Volkes.« (Kino als Erzieher, 1911) Doch bereits die Rezeption des Futurismus (Berliner Ausstellung 1912) lehrte manche junge Künstler, die Darbietungsformen der technischen Medien für die Wirklichkeitsdarstellung der Literatur zu nutzen. Als dann so angesehene Schauspieler wie Albert Bassermann und Paul Wegener in Filmen Hauptrollen übernahmen (Wegener hatte mit Der Golem, 1915, auch als Regisseur einen weltweiten Erfolg), als der bekannte Literaturkritiker und Lektor Kurt Pinthus im Verlag Wolff sein Kinobuch (1914)[7] herausbrachte und berühmte Schriftsteller (z. B. Hauptmann, Hofmannsthal, Schnitzler, Wassermann) einzelne ihrer Werke für ›Autoren-Filme‹ freigaben, schien die Kunstfähigkeit dieses Mediums erwiesen, wenn auch die konservative Kulturkritik bis zum Ende der Weimarer Republik nicht von ihrer Abwehrhaltung dem Film wie dem Rundfunk gegenüber abging. Ja gerade dadurch, daß die technischen Medien im Denken der linksbürgerlichen Kunsttheoretiker (Kracauer, Benjamin) und Schriftsteller (Döblin, Heinrich Mann, Arnold Zweig) eine kunstpolitische Aufgabe, nämlich die Verbreitung und damit Demokratisierung der Kunst in bisher vom traditionellen Literaturbetrieb ausgeschlossene Schichten, zugewiesen erhielten, wuchsen im kulturkonservativen Denken Ängste vor diesen neuen Vermittlern und verstärkten sich die Ausgrenzungsbestrebungen des ›Fabrizierten‹ vom künstlerisch ›Geschaffenen‹ als dem einmaligen Originalitätskunstwerk. Max Reinhardt, der selbst dem Theater jenes ›Leben‹ zuerkannte, das dem Film seiner Ansicht nach fehlte (Von der Not des Theaters, 1930), inszenierte 1930 Unruhs Phaea, ein Stück, das – wenig glücklich – am Beispiel eines privaten Filmkonzerns die Bedingungen der Filmproduktion thematisierte, um das Parasitäre des technischen Mediums, das dem traditionellen Theater eine ernsthafte Konkurrenz beim Publikum geworden war, zu demonstrieren. Die anspruchsvollen, zum Teil an expressionistische Vorstellungen anschließenden Filme von Wiene (Das Kabinett des Dr. Caligari, 1920, Drehbuch Hans Janowitz, Carl Mayer), Lang (Dr. Mabuse, der Spieler, 1922) und Murnau (Nosferatu, 1922) ermutigten viele Schriftsteller, selbst aktiv für das Kino zu arbeiten: Döblin und Kaiser schrieben einige zum Teil erst jüngst veröffentlichte Szenarios, Brecht hatte bereits 1921 vielfältige Filmpläne, Arnold Zweig suchte gar eine Theoretische Grundlegung des Films in Thesen (1922), eine Aufgabe, an deren Lösung vor allem Soziologen (Urban Gad[8], Béla Balasz, Rudolf Arnheim[9], Siegfried Kracauer) in den zwanziger Jahren arbeiteten. Im Zentrum stand dabei das Problem einer zu entwickelnden ›Massenkultur‹, in der nicht nur neue Rezeptionsmöglichkeiten für die Arbeiterschichten entwickelt werden, sondern die verschiedenen Künste wieder eine zentrale gesellschaftliche Aufgabe erhalten sollten. Interessant war die Ansicht Adolf Behnes (Die Stellung des Publikums zur modernen deutschen Literatur) in der »Weltbühne« 1926, weil hier die modernen Medien in einen engen Zusammenhang mit dem amerikanischen Wirtschaftssystem gebracht wurden (»von der Luxus-Produktion zur Bedarfs-Produktion«) und weil Behne im Film das wichtigste Kunstmedium des Massenzeitalters sah: »Der Film ist recht eigentlich die Dichtung unserer Zeit [...] von seiner Geburtsstunde an demokratisch.« Enttäuschungen blieben nicht aus, gerade nicht bei jenen Schriftstellern, die selbst an der Herstellung von Filmen mitwirkten, wie Brecht und Döblin. Sie mußten rasch erfahren, daß die Filmproduktion, in ihrer Organisationsstruktur liberal-kapitalistischen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts verpflichtet, kaum im gewünschten Sinn eines kulturpolitischen Mediums zur Emanzipation der Masse eingesetzt werden konnte (von einer »neuen Region des Bewußtseins« schrieb Benjamin bei der deutschen Erstaufführung des Eisenstein- Films Panzerkreuzer Potemkin, 1926), weil die Kapitalgeber – Privatbesitzer oder Medienkonzerne wie Hugenbergs[10] Ufa – primär kommerzielle Interessen verfolgten. Als 1923 in Deutschland unter dem bestimmenden Einfluß Bredows der staatlich kontrollierte, privatwirtschaftlichen Interessen entzogene Rundfunk[11] eingeführt wurde, richteten sich die Hoffnungen vieler linksbürgerlicher und sozialistischer Autoren vermehrt auf dieses Medium, auch hier begleitet von Kulturvernichtungsängsten konservativer Stimmen. Daß dabei auch politische Animositäten gegen linksdemokratische Bestrebungen eine Rolle spielten – die Rede war von »Vergesellschaftung unseres geselligen Lebens« (Victor Engelhardt, 1924) –, hängt mit der bedeutenden Rolle zusammen, die dem Rundfunk von Anfang an in der UdSSR zugedacht worden war. Hinzu kamen Produktionsbedingungen, die – gerade in genuinen Rundfunkformen wie dem seit 1925 entwickelten Hörspiel – dem seit dem 18. Jahrhundert tradierten Ideal individuellschöpferischer Kunstherstellung deutlich entgegenstanden, insofern hier die Sendearbeit im Team von Autor, Redakteur und Techniker notwendig wurde. Gewisse Rezeptionshoffnungen der rundfunkfreundlichen Künstler wurden in den zwanziger Jahren erfüllt: binnen kurzem erreichte das neue Medium weite Teile der Bevölkerung (1925 waren etwa eine Million, 1928 bereits 2,3 Millionen Geräte angemeldet, davon allein in Berlin 600.000), dagegen verhinderte die geradezu ängstlich auf Politikfreiheit bedachte Medienpolitik Bredows, daß, wie es Brecht wünschte, aus dem Distributions- ein Kommunikationsapparat werden konnte. Wie weit dennoch an den Rundfunk überzogene Popularitätsansprüche gerichtet waren, läßt sich an Benjamins interessantem Essay Zweierlei Volkstümlichkeit (1932) ablesen, in dem die Ansicht zu finden war, daß im neuen Medium Wissenschaft und öffentliches Bewußtsein in ein dialektisches Spannungsverhältnis neuer Qualität treten können. Amerikanisierung und Kulturindustrie Die neuen Medien spielten für jene Positionen eine wichtige Rolle, die Technik nicht kulturkritisch dämonisierten und damit verdammten, sondern im ›Amerikanismus‹ (»Amerika war eine gute Idee, es war das Land der Zukunft. Es war in seinem Jahrzehnt zuhause«, schrieb Hans A. Joachim[12] 1930 in seinem Bericht Romane aus Amerika), eine ›realistische‹ Aussöhnung mit dem technischen Fortschritt akzeptierten: »wir lernten sehen, was die Kamera sah, wir strengten die Augen an. Sie adaptierten an die Welt der Technik. Wir hatten uns für unser Jahrhundert entschieden [...]« (ebd.). Das Automobil wurde zum Symbolgegenstand der ›neuen Zeit‹, zum integrativen Bestandteil des modernen Lebens. Futuristisch-aktivistische Überlegungen hatten hierauf deutlichen Einfluß; technischen Geräten wurde eine ›sachliche Schönheit‹ zuerkannt, der kulturkritische Technikverdacht dagegen zurückgewiesen (z. B. in Alfred Döblins wichtigem Essay Der Geist des naturalistischen Zeitalters, 1924). Film und Rundfunk wurden nun als zeitgemäße Kommunikationsmedien akzeptiert, zum Teil geradezu mythisiert (wie in den verschiedenen »Funkturm«-Hymnen der frühen Radiozeit). Der Soziologe Siegfried Kracauer ließ 1926 in der Frankfurter Zeitung die Berliner Lichtspielhäuser unter dem Titel Kult der Zerstreuung Revue passieren und kam zu dem Ergebnis: »Gepflegter Prunk der Oberfläche ist das Kennzeichen dieser Massen-Theater. Sie sind wie die Hotelhallen Kultstätten des Vergnügens, ihr Glanz bezweckt die Erbauung.« Den bereits hier im Ansatz gesehenen Zusammenhang von Zerstreuung mit der Arbeitswelt der Massen (»Gewiß ist die Zerstreuungssucht hier [in Berlin, D. M.] größer als in der Provinz, aber größer und fühlbarer ist auch die Anpassung der arbeitenden Massen – eine wesentlich formale Anspannung, die den Tag ausfüllt, ohne ihn zu füllen«) hat Kracauer später im Essay Das Ornament der Masse[13] für die »Frankfurter Zeitung« (1927) genauer verfolgt. Die amerikanische Unterhaltungsindustrie, vertreten u. a. durch die berühmte Truppe der ›Tillergirls‹, sah Kracauer als Ausdruck des fremdbestimmten Individuums im kapitalistischen Produktionsprozeß, der durch Fords Taylor-System in ein neues, kostensparendes Stadium getreten war (Henry Fords Autobiographie Mein Leben und Werk erschien 1923 und wurde auch in Deutschland rasch ein Bestseller, in dem die künftige Sozialharmonie von Unternehmer und Arbeiter verheißen wurde). Die entindividualisierte massenhafte Organisation menschlicher Körper in Sportstadien und Revuen als Widerspiegelung der gesellschaftlichen Gesamtsituation sah Kracauer auch positiv als Signal der endgültigen Überwindung des bildungsbürgerlichen Elitismus, ebenso wie für ihn die ›Sachlichkeit‹ einer von Rationalität bestimmten Industriegesellschaft den emotionalen Überschwang expressionistischen Denkens zurecht ablöste. Er überschätzte dabei wohl doch die von ihm akzentuierte Sonderstellung Berlins in der Weimarer Republik (ähnlich wie Heinrich Mann in seinem Essay Berlin 1923 glaubte er in der Hauptstadt deutliche Anzeichen für die zunehmende Einebnung der Klassenwidersprüche zu sehen). Elemente einer ›Amerikalegende‹, in der der Einfluß Amerikas auf Wirtschaft und Kultur seit dem Dawes-Plan (1924) und der daraus folgenden relativen wirtschaftlichen Stabilisierung (Jazz, Musical, Sportbewegung) durchweg positiv beurteilt, zum Teil sogar emphatisch begrüßt wurde, finden sich auch in anderen der zahlreichen Essays Kracauers für die »Frankfurter Zeitung«. ›Amerika‹ war Mitte der zwanziger Jahre nicht nur das Stichwort für technischen Fortschritt, sondern Ausdruck eines optimistischen Lebensgefühls, des raschen Genusses und der Abwechslung. In seiner Oper Jonny spielt auf (1927) machte sich Ernst Krenek[14] zum – wenn auch durch mancherlei Ironie gebrochenen – Anwalt des Neuen, auch in der Weise, daß die technischen Medien (Film, Radio), die Unterhaltungsindustrie (Revue) und der Jazz in die traditionelle Opernform integriert wurden. Auch Ernst Blochs 1918 in erster Fassung veröffentlichte, 1923 in überarbeiteter Form vorgelegte philosophische Essaysammlung Geist der Utopie ging von dem Faktum der entfremdeten Arbeit im Fließbandzeitalter aus und war getragen von dem Willen, die Kriegskatastrophe als Erschütterung zu begreifen, aus der ein verändertes, sozialistischen Vorstellungen verpflichtetes Denken entstehen konnte. Die geschichtliche Notwendigkeit von gleichzeitiger ›Zweckform‹ und ›ausdrucksvollem Überschwang‹ (Ornament) wurde von Bloch als die beiden Seiten der gleichen Sache, nämlich des Ausdrucks menschlichen Bewußtseins im Industriezeitalter, begriffen. Von hier aus dachte er in dem Abschnitt Angestellte und Zerstreuung seines 1932 abgeschlossenen Buches Erbschaft dieser Zeit weiter über den Zusammenhang von Gesellschaftszustand und Kulturindustrie nach, deutlich pessimistischer als Kracauer und bereits auf Adornos späteres Résumé über Kulturindustrie vorausweisend: »Überall der gleiche Spaß [...], das Leben als ›Betrieb‹: als Öde bei Tag, als Flucht bei Nacht. Die neue Mitte spart nicht, denkt nicht an Morgen, zerstreut sich und bald alles.« Der rasch wachsende ›neue Mittelstand‹ der kaufmännischen und technischen Angestellten bildete die Hauptmasse derjenigen, die den ›american way of life‹ der großstädtischen Freizeitkultur bewunderten, in der die Riesenstädte mit ihren Wolkenkratzer-Cities der USA und die dortige Unterhaltungsindustrie zu Leitbildern modernen Lebens wurden. Der Kreditgeber USA, bisher als kulturlos verschrien, wurde für breite Kreise der großstädtischen Bevölkerung zum bewunderten Vorbild; seine hochtechnisierte Wirtschaft und auch seine Formen von Unterhaltung wünschte man rasch zu übernehmen, was angesichts der Prosperität der Jahre nach 1923 durchaus möglich schien. In der großstädtischen Unterhaltungsindustrie war ihnen nun gegeben, worauf die reformistischen Parteien (SPD, DDP) hofften: die Überwindung der Klassengesellschaft in neuen Formen der Öffentlichkeit, die nicht mehr exklusiven Gruppen vorbehalten waren, sondern sich an alle Interessierten wandten, wie dies bei Film, Rundfunk, Schallplatte und Illustrierten der Fall war. ________________________________ [1] Steyer. Das Auto, das in der Kurve sitzt. Das Auto, in dem man überlebt. [2] geb. 1897 Berlin, † 1982 Jerusalem Scholems 1977 in Frankfurt/M. erschienene Autobiographie Von Berlin nach Jerusalem; Zeugnis seines Lebens gibt darüber hinaus seine ausführl. Korrespondenz mit der Mutter (Mchn. 1989). Über Brenjamin schrieb Scholem ein Buch: Walter Benjamin - Die Geschichte einer Freundschaft. Ffm. 1975) und er gab seinen Briefwechsel mit Benjamin heraus (Ffm. 1980). 1923 wanderte Scholem ins damalige Palästina aus, wurde 1925 Dozent, 1933 Professor für jüd. Mystik an der Hebräischen Universität in Jerusalem. S. schrieb eine Fülle von Einzelstudien u. Kommentaren zur Kabbala u. ihrer Symbolik, zum Verständnis der messian. Idee im Judentum, zur kabbalistischen Sprachtheorie u. zur Sozialpsychologie der Juden in Deutschland. [3] »Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, dass sie den Menschen den gesellschaftlichen Charakter ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zu Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen.« (Marx 1962, 86). [4] Im Frühjahr 1935 reiste Brecht nach Moskau, wo er sich mit Erwin Piscator , Carola Neher, Bernhard Reich, Sergej Tretjakov, Asja Lacis, und Gordon Craig traf. Tretjakov bekannte sich zur operativen Kunst: "Wir haben keine Veranlassung, die Erzeugnisse der Kunst trotz all ihrer Verschiedenartigkeit und ihres spezifischen Charakters aus der Reihe der Dinge herauszugreifen. Die Erzeugnisse der Kunst sind die Instrumente zur Bearbeitung der menschlichen Emotionen. Das Erzeugnis der Kunst ist das Werkzeug für die direkte oder indirekte soziale Handlung." Die lettische Regisseurin Asja Lacis ist mit ihrer Tochter Daga und ihrem Lebensgefährten, dem Regisseur Bernhard Reich, im Frühjahr 1924 nach Capri gekommen. Als sie Benjamin kennenlernt, arbeitet Reich gerade für einige Wochen in München. 16.1. 1937 Liquidierung des Internationalen Revolutionären Theaterbundes Verhaftung von Sergej Tretjakow und Deportation von Piscators vormaliger Mitarbeiterin Asja Lacis in Moskau . Asja Lacis war es auch, die 1929 in Berlin bei Brecht als Assistentin arbeitete,die Benjamin mit Brecht bekannt machte. [5] vom Zuschauerraum durch einen Vorhang abtrennbare Bühne mit seitlichen Kulissen u. rückwärtigem Prospekt [6] vorderer, etw. erhöhter Rand der Bühne als Grenzlinie zwischen Spielfläche u. Zuschauerraum [7] Vierzehn Autoren, u. a. Franz Blei, Walter Hasenclever, Max Brod, Else Lasker-Schüler, Albert Ehrenstein, präsentieren hier ihre Filmvorschläge und Szenarios. [8] Afgrunden (1910) mit Asta Nielsen [9] Film als Kunst (1932), Filmkritiker für die Weltbühne seit 1928. [10] 1927 kauft er die Universum Film AG (Ufa) und saniert die wirtschaftlich angeschlagene Firma. 1928 Nach einer deutlichen Wahlniederlage der DNVP wird Hugenberg als Führer des rechten, alldeutschen Flügels zum Parteivorsitzenden gewählt. Er stellt die DNVP in den Dienst einer "nationalen Sammlung" zur Errichtung eines autoritären Regimes. 1929 Bei dem Volksentscheid gegen den Young-Plan arbeitet Hugenberg mit der NSDAP und dem Stahlhelm zusammen. 1931 Mit Bildung der Harzburger Front will Hugenberg unter Einschluß der NSDAP die nationalistischen Kräfte gegen das Kabinett Brüning bündeln. Seine Ziele sind hierbei eine republikfeindliche Politik unter Einbindung des Nationalsozialismus. [11] Am 29. Oktober 1923 wurde in Deutschland der Rundfunk als Massenmedium eröffnet, der Sender war König Wusterhausen, südöstlich von Berlin. Die Berliner Funkstunde startete mit dem "Radio für alle" und erhielt eine doppelte Zielsetzung: Zum einen sollte es den Arbeitern und Arbeiterinnen Zerstreuung und Unterhaltung bieten, zum anderen der Industrie neue Absatzmöglichkeiten in Form von Rundfunkempfängern erschließen. Hans Bredow, Generaldirektor der Firma Telefunken, wurde erster Reichsrundfunkkommissar. In seiner Eröffnungsrede zur Freigabe des neuen Mediums sagte er: "In einer Zeit schwerster wirtschaftlicher Not und politischer Bedrängnis wird der Rundfunk für die Allgemeinheit freigegeben.Die Rechnung ging auf: Zu Beginn des Jahres 1926 gab es eine Million Rundfunkteilnehmer.. [12] Die letzte Generation des Wilhelminischen Deutschland „hatte noch Reiterdenkmäler errichtet, indes sie schon Auto fuhr. Sie hatte das Schwert zu ihrer Linken besungen, während sie das Giftgas zu ihrer Rechten erfand“. [13] Revue, Zirkus, Sportveranstaltungen, Rummelplätze, Fotografien, Filmen, Reklame, Stadtlandschaften und Interieurs, Tourismus, Tanz usw. sind Themen seiner Essays in in diesem Schlüsselwerkeaus dem Jahre 1927. [14] Die 1927 in Leipzig uraufgeführte Jazz-Oper war eine der meistgespielten Opern der zwanziger Jahre und brachte ihm internationale Anerkennung. 1927 heiratete er Anna Mahler, die Tochter Gustav Mahlers, die ehe wurde aber bald geschieden,