Zugänge zur Literaturtheorie 17 Modellanalysen zu E.T. A. Hoffmanns Der Sandmann Herausgegeben von Oliver Jahraus Reclam Postcolonial Studies / Ethnographie der Literatur postcolonial StuDIES / ethnographie der literatur Alterität als Medienspektakel in Der Sandmann Von Mario Grizelj I Beunruhigend und befremdlich Identitätsprobleme durchziehen E. T. A. Hoffmanns gesamtes Werk; vor allem in seinen Nachtstücken (1816) - Der Sandmann ist ihr erstes Stück - sind Identitätsprobleme strukturbildend. Dabei sind zumindest zwei Aspekte beunruhigend: Erstens geht es bei den Identitätsproblemen vor allem um die Probleme und weniger um die Identität. Hoffmanns Texte bringen uns an den Punkt, »wo michts mehr stimmt« [...]. Dasjenige, was gelöst erscheint, erweist sich immer wieder und unvermerkt nur als Kehrseite des Ungelösten, ja Unlösbaren« (Neumann 2005, 9), Das Disparate, das Uneindeutige, das Unstimmige werden nicht bewältigt. Hoffmanns Texte sind gleichsam Einübungsdiskurse in die Handhabung von unlösbaren Konstellationen. Wir lernen an ihnen, dass wir das Unlösbare aushalten müssen und dass soziale Ordnungen nicht zusammenbrechen, auch wenn sie massiv gefährdet sind. Beunruhigend ist zweitens, dass wir mit den Augen Hoffmanns zu sehen bekommen, dass die beobachteten Krisen und Probleme unsere Krisen und unsere Probleme sind. Das mag banal klingen, ist es aber keineswegs. Denn am Sandmann wird sichtbar, dass unsere scheinbar vertraute Welt fremd wird, sobald wir die Mechanismen hinterfragen, die ihr zugrunde liegen. Ein Student wird wahnsinnig, sobald er von Medien (Perspektiv, Fenster usw.) und Puppen umgeben ist, und rückt so in die Position eines unbekannten Wesens, das nicht nur abweicht, sondern das sogar (zuerst) gar nicht zu verstehen ist und selbst kaum etwas versteht. Nathanael verhält sich »like a visitor from another planet«. Er ist »totally out of place«, er gehört irgendwie nicht zu der Welt, in der er sich bewegt; er ist »both alienatedand alien in [...] [his] worldthatcomesacross [...] [him] as bizarre, sense-less, mad« (Murray 1991,153f.). Die Literatur agiert wie die Ethnographie, indem sie nach dem Status des Anderen, des Fremden, nach der Form von Alterität fragt. Dabei muss es gar nicht in einem empirischen und positivistischen Sinne um tatsächlich Andere gehen (andere Völker oder Außerirdische), sondern darum, dass das Andere und Fremde schon im Eigenen enthalten ist. Die Ethnographie ist nicht auf eine Reise nach Papua-Neuguinea oder in die Tropen angewiesen; sie beobachtet vielmehr schon die eigene Kultur als fremd (vgl. Geertz 1987, 22, Anm. 1). Der ethnographische Mario Grizelj »Blick auf die kulturellen Einrichtungen, ob entfernte oder benachbarte [oder eben eigene*, M. G.], ist indirekt. Sie [die Ethnographie, M. G.] macht das Vertraute fremd und das Exotische alltäglich« (Clifford, 2010, 223). Literatur als Ethnographie zu lesen bedeutet, die eigene Kultur und Gesellschaft so zu beobachten, dass man in ihnen nicht mehr so ohne Weiteres heimisch ist. Und Alexander Honold spricht von einer zweifachen Bewegung, die darauf zielt, einerseits das Fremde zu verstehen und andererseits das Verstehen zu verfremden (Honold 1997). Literatur agiert ethnographisch, indem sie das Vertraute verfremdet. Erst indem der vertraute Umgang mit Welt die obskure Form einer lebenden Puppe oder eines Doppelgängers bekommt, also erst dann, wenn Alltäglichkeit, Selbstverständlichkeit und Gewohnheit verunsichert werden, können die gesellschaftlichen Mechanismen in den Blick geraten, die es überhaupt erst erlauben, zwischen Alltäglichkeit und Obskurität, zwischen Eigenem und Fremdem zu unterscheiden. Mit der Verfremdung ist solchermaßen nicht schlicht ein Akt der Entfremdung markiert, sondern weit eher ein Akt der Selbsterkenntnis des mit der eigenen Identität ringenden Individuums. Ethnographie kann als Literatur gelesen werden, indem Ethnograph, Autorund Literaturwissenschaftler im Modus der Interpretation (so der Ethnograph Clifford Geertz) und im Modus des Schreibens (so der Ethnologe und Historiker James Clifford) konvergieren;' umgekehrt kann jedoch auch Literaturals Ethnographie gelesen werden.2 Sowohl Ethnographie als auch Literatur definieren sich hierbei über ihren Umgang mit Alterität. Literatur ist keine Ethnographie, sie konstituiert aber ihre Beobachtungsobjekte analog zur Ethnographie als Objekte, an denen Alteri-tätserfahrungen gemacht werden können, sei es, dass andere Kulturen in den Fokus rücken, oder sei es, dass die eigene Kultur als anders und fremd erfahren wird. Im Zentrum solch einer »anthropologisch-ethnologische[n] Literaturwissenschaft« steht »die Konstruktion des Eigenen durch die Wahrnehmung von Fremdheit und Alterität« (Bachmann-Medick 22o04,13). Entscheidend wird hierbei, dass die Konstruktion des Eigenen einen verstörenden Prozess der iBefremdlichkeiti durchmachen muss, der entlang von Alteritätserfahrung Konstruktion und Kon-struktionsbruch miteinander korreliert: 1 Vgl. Bachmann-Medick ^2004,7, die von Bronislaw Malinowskis Argonauts als einem »Hterarisch-ethnographische[n] Text[ ]« spricht und »frappierende Ähnlichkeiten zur Beschreibungsrhetorik in Joseph Conrads Heart of Darkness« ausmacht. Siehe hierzu auch Clifford 2010. Kirschstein schließt sich dem grundsätzlich an, warnt aber davor, dass »poetogene Strukturen an ethnographischen Texten abzulesen, [...) nicht gleich bedeuten muss, Ethnographie als Literatur zu beobachten« (Kirschstein 2014, 31). 2 Siehe hierzu Honold 1997, Scherpe 1997, Bachmann-Medick 22004, Assmann/Gaier/ Trommsdorff 2004, Holdenried 2004, Schwab 2012 und Kirschstein 2014. 270 Postcolonial Studies / Ethnographie der Literatur »Literarische Texte sind Medien kultureller Selbstauslegung, deren Horizont die Auseinandersetzung mit Fremdheit bildet. Die Literaturwissenschaft erschließt neue Fragehorizonte, wenn sie sich wie die Ethnologie die Praxis einer >defamiliarization by crosscultural juxtaposition« [Verfremdung durch transkulturelle Gegenüberstellung) zu eigen macht. (...] Auch literarische Texte werfen je spezifische Fremdheitsprobleme auf [...] und machen auf kulturinterne Brüche und Fremdheiten aufmerksam. [...] Literarische Texte kommen als kulturelle Darstellungsformen, ja gleichsam als Formen von >autoethnography< in den Blick.« (ebd., 9,11 f.) Mit Hilfe von Literatur - ethnographisch gelesen - werden Brüche, Grenzüberschreitungen, komplexe Differenzkonstellationen in einer gewissen Übertreibung (Rhetorizität, Poetizität, Fiktionalität) präsentiert, damit die Übertreibung und der Bruch selbst Informationswert gewinnen. Dabei kommt das Vergessene, Verdrängte und der als Routine unsichtbar gewordene semantische und praxeo-logische (d. h. auf das menschliche Handeln bezogene) Bestand der Gesellschaft in den Blick. Mit Hilfe von Literatur erscheinen ihre >Normalitäten< als unwahrscheinlich, und auf solche Weise wird sichtbar, dass das Vertraute, »Zivilisierte«, Domestizierte, Kommensurable immer in Verbindung zu seinem Obskuren, Unheimlichen, >Wilden<, Verbotenen, Inkommensurablen steht. Womit denn sonst als mit Hilfe von Literatur könnte eine Gesellschaft »lerneni, dass das Verbotene auch das Begehrte ist, dass Traum und Grauen gar nicht klar auf zwei Seiten einer Grenze verteilt werden können. Was ist befremdlicher als die Beobachtung, dass das, was man dem Fremden zuschreiben möchte: Andersheit, Obskurität, Barbarentum im Kontakt mit dem Fremden, zu einem konstitutiven Teil des Eigenen wird oder vielmehr immer schon war? Klaus Scherpe schlägt in dieselbe Kerbe, indem auch er Alterität, Bruch und Identitätskonstruktion miteinander korreliert, noch stärker das Moment des Befremdlichen als Erschrecken einbezieht und damit gleichsam Literatur grundsätzlich an Alterität bindet: »Die Aporien der Ethnologie als einer Wissenschaft vom Fremden, die im eigenen Diskurs >die Anderem zur Sprache kommen lassen will, erzeugen offenbar diejenigen Motive und Fragestellungen, die eine besondere Affinität zu Literatur und Literaturwissenschaft erkennen lassen: Fragen nach der subjektiven Autorschaft, der erzählerischen Perspektivierung und den Redeformen, nach Fiktionalität und Polysemie, Fragen nach der Projektion und Imagination anlässlich der Begegnung mit dem Fremden, Codierungen von Gewalt, Neugier, Erstaunen, Erschrecken usw.« (Scherpe 1997,299) 271 Mario Grizelj In Hoffmanns Der Sandmann finden wir all dies in frappierend direkter Form wieder: die Korrelation von iEntfremdung!, erzählerischer Perspektive und Redeformen (erstens Briefe, zweitens der Erzähler), daraus sich ergebend die Proliferation bzw. Weiterverbeitung von Polysemie, die eng an Nathanaels Projektion von Liebe und seine Imagination von Leben gebunden ist (die lebende Puppe Olimpu als Geliebte), Neugier (Nathanael hinter dem Vorhang), Gewalt (der Tod des Vaters, die Zerstörung Olimpias), Erstaunen über die Künstlichkeit Olimpias und Erschrecken über eine mindestens doppelt codierte Welt (Selbstmord). Im Vergleich zu Michel Leiris L'Afrique fantöme (1934, Phantom Afrika) oder Hubert Fichtes Xango (1976), also dort, wo Schriftsteller beziehungsweise Ethnologen tatsächlich andere Kulturräume besucht haben, um danach einen »ethnographischein] Roman« (Kirschstein 2014,32, Anm. 95) zu schreiben, ist Der Sandmann natürlich keine explizit literarische Ethnographie (vgl. ebd.). Im Sandmann wird jedoch die eben geschilderte »grundlegende Ambiguität des Ethnographischen, die aus einer willentlichen oder unwillentlichen Überdeterminierung und Transkodierung von Eigenem und Fremdem besteht, [...] gerade dominantes Strukturmerkmal« (Schwab 1999, 2). Der Sandmann begibt sich und führt uns in das Heart ofDarlcness der eigenen Kultur; wir laufen mit den Augen Nathanaels und mit Hilfe von optischen Geräten und erzählerischen Perspektiven durch eine Welt, die strukturell einer anderen, fremden Welt ähnelt. Olimpia bewegt sich anders, schaut anders, spricht anders, ist also durchaus einer exotischen Prinzessin» vergleichbar, und dass Nathanael, der Ent- und Ver-rückte, sie scheinbar versteht, bestätigt gerade ihre Alterität. Nathanael bewegt sich durch seine und damit unsere Tropen, durch die Tropen seiner und damit unserer Kultur. Und es ist deshalb signifikant, dass Gerhard Neumann gerade in einem Sammelband zu Hoffmanns Texten formulieren kann, dass »Literatur als die Ethnographie der eigenen Kultur aufzufassen ist]« - also als »Beschreibung von deren impliziter Fremdheit und das Staunen über sie« (Neumann 2005,10). ■ ■ ---*-•-■! «1 „1_t_I_ « .. « - «. ■ «•