Leseverstehen Gesellschaft Mitbürger ohne Rechte Eine Einschätzung des Schriftstellers Zafer Senocak „Die Geschichte eines jeden Fremden endet mit seiner Geburt," sagt Zafer §enocak in seinem Buch „Atlas des tropischen Deutschland." Dass also jemand sich in die deutsche Gesell- 05 schaft integriert oder auch nicht, liegt allein an ihm - so muss man diesen Satz wohl deuten. Die Herkunft der Eltern oder gar der Großeltern sollte dabei eigentlich keine Rolle spielen. Doch die Realität sieht anders aus. 10 „Alle Ausländer sind in den Augen der Deutschen gleich, alle sind Außenseiter", sagt §e-nocak. Zafer §enocak lebt seit 1970 in Deutschland, aber er fühlt sich immer noch wie ein 15 Türke. Die Deutschen nennen die Ausländer immer noch „Gastarbeiter". Dieser Begriff stammt aus der Zeit des Wirtschaftswunders, Anfang bis Ende der 1950er Jahre, als Deutschland intensiv um Arbeiter in anderen 20 Ländern warb. Viele Männer waren im Zweiten Weltkrieg gefallen oder in Kriegsgefangenschaft, sodass der stark wachsenden Wirtschaft zu wenig Arbeitskräfte zur Verfügung standen. „Gastarbeiter" sollten den Mangel 25 ausgleichen. Dabei war vorgesehen, dass die ausländischen Arbeitskräfte, zumeist Männer, nur eine begrenzte Zeit in Deutschland leben und arbeiten sollten. Von daher sagt der Begriff „Gastarbeiter" sehr viel aus, denn für die 30 meisten Deutschen lag und liegt die Betonung des Begriffs auf „Gast": Gäste gehen irgendwann wieder; so gab es denn auch kaum inte-grative Maßnahmen. Angemessene Wohnungen? Deutschkurse? - Fehlanzeige. 35 Doch es kam anders, als sowohl Deutsche wie auch „Gastarbeiter" gedacht hatten: Viele der Gäste blieben; sie hatten in der Bundesrepublik eine zweite Heimat gefunden. Und nach und nach zogen ihre Familien hinterher. 40 Heute leben sie in der dritten, manchmal sogar in der vierten Generation in Deutschland. Wenn der Begriff ,Gastarbeiter' vielleicht noch auf die Elterngeneration zutrifft, wäre der des ,Mitbürgers' für die zweite und dritte Genera- 45 tion daher angemessener. Zur Person: Zafer Senocak wurde 1961 in Ankara (Türkei) geboren. 1970 übersiedelte er mit seiner Familie nach München, wo er das Gymnasium besuchte. Anschließend studierte er Germanistik, Politikwissenschaften und Philosophie. Sein erstes (in Deutsch geschriebenes) Werk „Elektrisches Blau" erschien im Jahre 1983; „Atlas des tropischen Deutschland" kam 1992 heraus. Quellen: http://www.uni-marburg.de; http://de.' Ausländer in Deutschland, insbesondere die Nachkommen der „Gastarbeiter", haben Identitätsprobleme: Ist die zweite Generation der Einwanderer Deutsch oder Türkisch? Die meisten fühlen sich keiner Nationalität zugehörig und nennen sich die „Heimatlosen" und 50 „Sprachlosen." Sie können die Sprache ihrer Eltern nicht mehr sprechen, aber deutsche Muttersprachler sind sie ebenfalls nicht. Wo mancher Deutscher eine multikulturelle Gesellschaft beobachten will, sagt §enocak: 55 „Darunter versteht er wohl das berührungslose Nebeneinander von Kulturen und Lebensanschauungen." Und zum Schlagwort der „Integration" meint er: „Die meisten verstehen darunter nichts anderes als eine glatte 60 Assimilation: die ,fremden' Gesichter verschwinden hinter deutschen Masken." Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen) ist ein Nichtdeutscher, in Deutschland als Sohn türkischer Einwanderer geboren. Er saß 65 von 1994 bis 2002 im Deutschen Bundestag -der erste Abgeordnete türkischer Abstimmung. Er stimmt mit §enocak überein: „Es ist nach den 70er Jahren für die Ausländer besser geworden, als die neuen sozialen Bewe- 70 gungen begannen. Aber nach dem Mauerfall 1989 verschlechterte sich ihre Situation. In dem Ruf ,Wir sind das Volk!' waren die Ausländer nicht eingeschlossen." Es gebe laut §enocak keine leichte Lösung 75 des Ausländerproblems. Immer noch spielt die Herkunft der Eltern bei der Staatsangehörigkeit eines Kindes eine große Rolle, anders als etwa in den USA, wo ein Kind durch Geburt amerikanischer Staatsbürger wird. Zwar 80 sind auch hierzulande geborene Kinder nichtdeutscher Eltern deutsche Staatsbürger, jedoch nur unter bestimmten Voraussetzungen. Bis zur Vollendung des 23. Lebensjahres haben sie zwei Staatangehörigkeiten. Dann müs- 85 sen sie sich entscheiden, ob sie die deutsche oder die Nationalität der Eltern behalten. Unklar ist auch, was den Deutschen eigentlich ausmacht. §enocak fragt, ob Einwanderer wirklich die eigene Herkunft verleug- 90 nen, wenn sie eine andere Kultur in ihre eigene aufnehmen. Und werden die Deutschen etwa weniger „deutsch", wenn sie wirklich eine multikulturelle Gesellschaft schaffen? Besonders schwer für §enocak ist, wenn 95 jemand sein „gutes Deutsch" komplimentiert. „Doch so lange man hierzulande glaubt, einem deutschsprachigen türkischen Schriftsteller ein Kompliment zu machen, wenn man sein gutes Deutsch lobt, verkennt man die 00 wirkliche Tragweite der Migration in diesem Land." Offenbar ist für viele Deutsche ein Zuwanderer, der die deutsche Sprache fließend beherrscht, immer noch ein Wunder. fikipedia.org; http://www.migration-online.de [618 Wörter/4407 Zeichen inkl. Leerzeichen] ©Bensch&Stetter http://www.mein-deutschbuch.de Leseverstehen Gesellschaft Fragen und Aufgaben zum Text [Die Aufgaben folgen dem Textverlauf.] Stimmen die folgenden Aussagen mit dem Text überein? - Kreuzen Sie an! Immer noch sehen die Deutschen ihre ausländischen Mitbürger nicht als vollwertige Mitglieder der deutschen Gesellschaft an. Zafer Senocak kam 1970 als „Gastarbeiter" nach Deutschland. In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts entstand der Begriff „Gastarbeiter". Viele der türkischen Zuwanderer sprechen weder richtig Deutsch noch richtig Türkisch. „Integration" bedeutet für Senocak, dass von Zuwanderern erwartet wird, ihre kulturelle Herkunft aufzugeben. Cem Özdemir ist bislang der einzige Abgeordnete türkischer Herkunft im Deutschen Bundestag. In den 1980er Jahren war die Lage der Ausländer in Deutschland besser als heute. Wenn Kinder nichtdeutscher Eltern 24 Jahre alt werden, müssen sie sich entscheiden, welche Staatsangehörigkeit sie haben wollen. Zafer Senocak lehnt die deutsche Kultur ab. Senocak möchte nicht für sein gutes Deutsch gelobt werden. R F □ □ oi □ □ 02 □ □ 03 □ □ 04 □ □ 05 □ □ 06 □ □ 07 □ □ ob □ □ 09 □ □ io Welche der folgenden Aussagen stimmen mit dem Text überein? - Kreuzen Sie an! Es ist nur ein Satz richtig! 11 A \^\ In der Nachkriegszeit standen der deutschen Wirtschaft nicht genug männliche Arbeitskräfte zur Verfügung. B \^\ Zahlreiche deutsche Männer suchten in den fünfziger Jahren im Ausland nach Arbeit. C \^\ Der deutschen Wirtschaft fehlten Arbeitskräfte, da die Männer noch im Krieg kämpften. 12 A \^\ Viele Gastarbeiter kehrten bald wieder heim, sodass sich Integrationsmaßnahmen nicht lohnten. B \^\ Es kamen so viele Gastarbeiter nach Deutschland, dass nicht genug Wohnungen und Deutschkurse angeboten werden konnten. C Q Die Deutschen hatten kein sonderliches Interesse, die Gastarbeiter zu integrieren. 13 A \^\ Gastarbeiter der zweiten Generation gehören keiner Nationalität an. B \^\ Vor allem die Kinder und Enkel der zugewanderten Gastarbeiter leiden unter Identitätsproblemen. C \^\ Türken haben es besonders schwer, sich in Deutschland zu integrieren. 14 A \^\ Cem Özdemir lehnt die Wiedervereinigung wegen der vielen daraus resultierenden Probleme für Zuwanderer ab. B \^\ Von 1989 an wurde die Lage für Ausländer besonders in Ostdeutschland immer schlechter. C \^\ Mit dem Mauerfall wurden Ausländer laut Özdemir wieder zunehmend ausgegrenzt. 15 A \^\ Nur wenige Zuwanderer beherrschen die deutsche Sprache so gut wie Zafer Senocak. B \^\ Zahlreiche Deutsche haben im Grunde immer noch nicht verstanden, was Migration für dieses Land wirklich bedeutet. C \^\ Zahlreiche Deutsche bewundern Zuwanderer, die neben ihrer Muttersprache die deutsche Sprache perfekt beherrschen. ©Bensch&Stetter http://www.mein-deutschbuch.de Leseverstehen Gesellschaft Textfragen und -aufgaben Wovon sollte die Integration der Zuwanderer nicht abhängen? (Ergänzen Sie in Stichworten!) Von_ Aus welchem Grund gab es im Nachkriegsdeutschland nicht genug männliche Arbeitskräfte? (Ergänzen Sie!) a) Sie waren_ b) Sie waren_ Was drückt der Begriff „Gastarbeiter" aus? (Ergänzen Sie!) Sie sollten nach_ Welcher Begriff würde heute auf Migranten besser passen? (Stichwort) Welche sprachlichen Schwierigkeiten haben viele Angehörige der „Gastarbeiter zweiter Generation"? (Ergänzen Sie!) a) Sie_ b) Sie_ Wie bezeichnen sich die Nachkommen der „Gastarbeiter" selbst? (Stichworte) a) _ b) _ Ergänzen Sie die fehlenden Daten in der Tabelle! (Stichpunkte) Geboren in ... Deutschland USA Staatsangehörigkeit abhängig von: Staatsangehörigkeit: Staatsangehörigkeit wird endgültig bei: ©Bensch&Stetter http://www.mein-deutschbuch.de