Lessings kritische Theologie aus: [Geschichte der deutschen Literatur: Phasen der Aufklärung von der Didaktik bis zur Gefühlskultur (Christoph Siegrist). Zmegac-GddL Bd. I/1, S. 140 ff.) (c) Beltz Athenäum Verlag] Die Hamburger Zeit endete 1770 mit einem doppelten Fiasko für Lessing: zum Scheitern des Nationaltheaters kam der Zusammenbruch seines Verlagsunternehmens; in dieser Situation mußte er froh sein, das in finanzieller Hinsicht keineswegs glänzende Angebot zu erhalten, Leiter der traditionsreichen herzoglichen Bibliothek in Wolfenbüttel zu werden, der einst Leibniz vorgestanden hatte. Als Bibliothekar konnte Lessing gleich mit einer bedeutenden Entdeckung aufwarten: er fand in der herzoglichen Bibliothek ein unbekanntes Manuskript des häretischen Theologen Berengar von Tours aus dem 11. Jahrhundert, dem Lessing sich als theologischer Selbstdenker zutiefst verwandt fühlte und über den er 1770 eine umfangreiche ›Rettung‹ publizierte. Unter dem Vorwand, es handle sich um eine Handschrift aus der Bibliothek, gab er 1774 ff. eine Reihe von Fragmenten aus der Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes des 1768 verstorbenen Hamburger Gymnasialprofessors H. S. Reimarus heraus, mit dessen Familie er während seiner Hamburger Zeit Freundschaft geschlossen hatte. Der Autor konnte zu seinen Lebzeiten nicht an eine Veröffentlichung seines Lebenswerks denken, das die Bibel und den Offenbarungsbegriff einer radikalen rationalistischen Kritik unterzieht, welche auf eine Ablehnung der christlichen Glaubenslehre schlechthin hinausläuft. Die Fragmente eines Ungenannten – vor allem dasjenige Über die Auferstehungsgeschichte, welches Jesus als einen die jüdische Messias-Erwartung raffiniert ausschlachtenden politischen Abenteurer darstellt, dessen Jünger später seinen Leichnam aus dem Grab stehlen, um also durch Betrug den Auferstehungsmythos in die Welt zu setzen – erregten einen Sturm der Entrüstung, der sich zunächst gegen den ungenannten Autor, bald aber auch gegen Lessing selbst richtete, obwohl dieser in den Gegensätzen des Herausgebers Reimarus' Angriff auf das Christentum entschieden zurückgewiesen hatte. Da er sich jedoch zugleich gegen die Unfehlbarkeit der Bibel und die Idee der Verbalinspiration erklärte, machte er sich die Orthodoxen nicht weniger zu Feinden. Unter den Gegnern, deren Stellungnahmen Lessing einer schriftlichen Antwort gewürdigt hat, ragt einer durch seine Wortgewalt hervor: der Hamburger Hauptpastor Johan Melchior Goeze. Gegen ihn verfaßte Lessing eine Serie von Streitschriften (1777/78). Goeze verließ als Sieger den Kampfplatz, da der Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel Lessing durch Aufhebung der ihm bis dahin gewährten Zensurfreiheit eine Fortsetzung des Streits unmöglich machte. Lessing hat sich in nahezu allen Phasen seines Lebens intensiv mit religiösen und kirchengeschichtlichen Fragen beschäftigt. Die meisten seiner theologischen Schriften sind freilich unveröffentlicht und Fragment geblieben, ein Zeichen dafür, wie wenig er – im Unterschied etwa zu seinen dezidierten dramaturgischen Überzeugungen – auf seine theologischen Fragen endgültige Antworten gefunden hat. Daher ist es unmöglich, ein System aus seinen theologisch-philosophischen Äußerungen herauszulesen, ihn auf irgendein Dogma festzulegen. Seine Theologie ist der Prozeß eines unausgesetzten Suchens und Forschens, einer permanenten kritischen Überprüfung alles vom Glauben und Denken als sicher und endgültig Hingestellten; jede Überzeugung trägt für ihn das Stigma der Widerlegbarkeit an sich. So haben auch die von ihm selbst gewonnenen ›Überzeugungen‹ den Charakter der Vorläufigkeit, sind mehr nur Hypothesen, auf die immer wieder das Licht der eigenen Kritik fällt. Dieser Prozeßcharakter seines Denkens entfernt Lessing von den meisten zeitgenössischen Repräsentanten der Aufklärung, welche in derselben ein Erreichtes, Etabliertes sahen, auf dessen sicherem Grund sie sich im Lichte ihrer Vernunft sonnten. Die ›beati possidentes‹ hat Lessing unermüdlich befehdet, aus welchem weltanschaulichen Lager sie ihm auch gegenübertraten. »Je bündiger mir der eine das Christentum erweisen wollte, desto zweifelhafter ward ich. Je mutwilliger und triumphierender mir es der andere ganz zu Boden treten wollte, desto geneigter fühlte ich mich, es wenigstens in meinem Herzen aufrechtzuerhalten« (G. E. Lessings Bibliolatrie[1]. Aus d. Nachlaß, 1779). »Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist oder zu sein vermeinet«, so schreibt er in der gegen einen seiner Gegner im Fragmenten-Streit gerichteten »Duplik«, »sondern die aufrichtige Mühe, die er aufgewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen aus ... Der Besitz macht ruhig, träge, stolz.« Und an anderer Stelle sagt er: »Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen, immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: ›Wähle!‹ ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und spräche: ›Vater, gib! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!‹« Diese beiden Äußerungen sind gewissermaßen der Schlüssel zu seiner gesamten Theologie. Der unvoreingenommenen Überprüfung herrschender Überzeugungen sollte auch die Publikation der Fragmente dienen. Die Erschütterung seiner biblischen Stützen sollte das Christentum dazu führen, den »Buchstaben« vom »Geist«, d.h. die »Bibel« von der »Religion« zu unterscheiden. Die christliche Religion überzeuge nicht aufgrund ihres historischen Offenbarungsdokuments, sondern aufgrund ihrer mit unmittelbarer Gefühlsgewißheit erfahrenen »inneren Wahrheit« sowie ihrer tätigen Auswirkung. Gegen diese Unterscheidung von Geist und Buchstabe hat Goeze sich mit allen Mitteln seiner Kanzelrhetorik gewehrt. Lessing ist allerdings nicht ganz zu Unrecht den Verdacht nicht losgeworden, daß die »wahre Absicht« Goezes bei seiner Verteidigung der Autorität der Bibel keine rein religiöse sei. Was Goeze Lessing nämlich vor allem vorwirft, ist die Tatsache, daß er die »ärgerliche Schrift« des Reimarus »durch öffentlichen Druck gemein« gemacht hat. Wenn man sich gegen die Bibel und die christliche Religion wende, so müsse das in lateinischer Sprache, d.h. unter Gelehrten, nicht »vor den Augen des ganzen christlichen Publici« geschehen: denn »mit der Ehrerbietung gegen die hl. Schrift und Religion« werde auch die »Bereitwilligkeit« der Untertanen, »ihren Oberherren den schuldigen Gehorsam zu leisten, und der Abscheu gegen Rebellion in ihren Herzen ausgelöschet werden«. Goeze hegt deshalb die »Hoffnung zu Gott«, daß »große Herren um ihrer eigenen Sicherheit willen« solchen »verwegenen Ausbrüchen« wider die Religion »Grenzen setzen werden«. Man hat den Eindruck, daß Goeze sich in seinem Gefecht mit Lessing ständig nervös über die Schulter schaut, ob nicht endlich von hinten – von den ›Großen‹ – ein energischer Vorstoß erfolgt, der ihn der Mühen des Kampfes gegen einen Gegner enthebt, welcher ihn schon bedenklich in die Enge getrieben hat. Und wirklich hat er am Ende durch das Eingreifen des Herzogs von Braunschweig-Wolfenbüttel die ersehnte Schützenhilfe erhalten. Lessing hat die politisch-sozialen Hintergründe der Polemik Goezes rücksichtlos bloßgelegt und zugleich seine eigene Absicht deutlich herausgestellt: das literarische Publikum zum Richter in theologischen Streitfragen zu machen, die bisher nur hinter dem Rücken der Öffentlichkeit, unter den Gelehrten erörtert wurden (weshalb sie auch keine politischen Konsequenzen hatten). Er habe den Ungenannten »in die Welt gestoßen«, seine eigene private Auseinandersetzung mit demselben ins Licht der Öffentlichkeit gerückt, um die Stimme eines »Dritten« zu hören, der in dieser Auseinandersetzung richten und vermitteln könne – »und dieser Dritte kann niemand sein als das Publikum«. Wem es um Wahrheit zu tun ist, der darf die Stimme der Allgemeinheit nicht scheuen. Erweckt es nicht »dem gemeinen Manne notwendig Verdacht gegen die Güte einer Sache ..., die man sich unter seinen Augen zu behandeln nicht getraute«? Lessing hegt freilich den Verdacht, daß es dem Hauptpastor gleichgültig sei, »was die Verständigen im Verborgenen (!) glauben; wenn nur der Pöbel, der liebe Pöbel fein in dem Gleise bleibt, in welchem allein ihn die Geistlichen zu leiten verstehen«. Dieser Pöbel könnte dann ja auch, so befürchtet Goeze, aus dem Gleise des Gehorsams treten, in dem die ›Großen‹ ihn zu halten suchen. Lessing, der als Kritiker und Dramatiker mit der literarischen Öffentlichkeit besonders vertraut ist, erhebt diese nun also auch zur richtenden Instanz in den großen Streitfragen der Theologie. Wie das Räsonnement des Publikums dieselben aus dem ›Verborgenen‹ ans Licht, vor das Forum der Öffentlichkeit zieht, so wird deren Stimme bald auch der (Arkan-)Politik der ›Großen‹ richtend gegenübertreten; dann freilich ist die von Goeze als Teufel an die Wand gemalte ›Rebellion‹ in der Tat nicht mehr fern. Lessing allerdings muß sich der Macht der Großen und der mit ihr verbündeten Amtskirche noch beugen. Daß das gewaltsame Ende des Fragmentenstreits jedoch nicht das Verstummen des Theologen Lessing bedeutet hat, zeigt nicht nur die Übersetzung der theologischen Kontroverse in die dramatische Parabel des Nathan, sondern vor allem die Fertigstellung der Schrift Die Erziehung des Menschengeschlechts (1780), deren 53 erste Paragraphen 1777, ebenfalls in Zusammenhang mit den Fragmenten, erschienen waren. In Widerspruch zu Reimarus, der Vernunft und Offenbarung für unvereinbare Gegensätze hielt, sucht Lessing beide durch folgenden Gedankengang aufeinander zu beziehen: »Was die Erziehung bei dem einzelnen Menschen ist, ist die Offenbarung bei dem ganzen Menschengeschlechte« (§ 1). Wie es der Grundsatz der Erziehung ist, den Zögling nur das zu lehren, was seinem Alter, seinem Fassungsvermögen und seinen Fähigkeiten angemessen ist, so geschieht es auch in der Offenbarung (im jüdisch-christlichen Raum): diese wird die Wahrheit nur allmählich enthüllen, bestimmte Wahrheiten, die das Menschengeschlecht auf einer bestimmten Stufe seiner Entwicklung noch nicht zu fassen vermag, zurückhalten und für eine zu abgezogenem Denken noch nicht fähige Menschheit die »nicht wohl zu übergehenden abstrakten Wahrheiten in Allegorien und lehrreiche einzelne Fälle« einkleiden. Wie aber anderseits die Erziehung dem Menschen nichts gibt, was er nicht aus sich selber haben könnte, so »gibt auch die Offenbarung dem Menschengeschlechte nichts, worauf die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde«. Damit ist ausgedrückt, daß die Offenbarung für Lessing nichts die Vernunftgrenzen prinzipiell Überschreitendes mitteilt; der Fortschritt des Menschengeschlechts besteht demgemäß in der »Ausbildung geoffenbarter Wahrheiten in Vernunftswahrheiten«, eine Idee, die bereits auf die idealistische Religionsphilosophie vorausweist. Je selbständiger die Vernunft wird, desto mehr kann sie die Stützen der Erziehung, d. h. Offenbarung von sich werfen. Diese ist freilich nicht etwas weit Zurückliegendes, sondern geschieht immer noch (§ 2); d.h. der Entfaltungsvorgang der Vernunft ist – wie Lessing ja im Gegensatz zu den meisten Aufklärern annimmt – noch längst nicht abgeschlossen. Indessen, die »Zeit der Vollendung« wird kommen, wie sie seit Joachim von Floris (†1202) immer wieder von häretischen Theologen angekündigt worden ist: die Zeit eines »neuen, ewigen Evangeliums«, welches die Offenbarung des Neuen Testaments ebenso entbehrlich machen wird wie dieses das Alte Testament entbehrlich gemacht hat. Es wird die Zeit der Vernunftreligion sein, da der Mensch »das Gute tun wird, weil es das Gute ist«, die Tugend um ihrer selbst willen, d.h. ohne Lohn- und Straferwartung üben wird, wie sie die Offenbarung dem Menschengeschlecht auf der Stufe seiner Kindheit eingepflanzt hat. Lessing konnte nicht ahnen, daß nach seinem Tode seine Person noch einmal im Mittelpunkt eines heftigen theologischen Disputs stehen würde: im Juli 1780 soll er sich im Gespräch mit F. H. Jacobi zum Spinozismus bekannt, den pantheistischen gegen die »orthodoxen Begriffe der Gottheit« ausgespielt haben. Die Ratlosigkeit, die diese Äußerung bei den Zeitgenossen auslöste, entspricht der Unsicherheit, die sein religionsphilosophisches Denken selbst prägt: seine Theologie ist eine solche der Fragen, nicht der Antworten. ________________________________ [1] übertriebene Verehrung (heiliger) Bücher, besonders der Bibel