Strum und Drang 1773 -Von deutscher Art und Kunst - eine programmatische Aufsatzsammlung des SuD. Hier erschienen auch unsere zwei Texte. Insgesamt 5 Abhandlungen, darunter auch Goethes Von deutscher Baukunst und Deutsche Geschichte von Justus Möser. Poesie kann immer wieder neu entspringen von der Randzonen der Kultur aus. Die Randzone stellt hier der Sohn eines Wundarztes und verbummleter Student Johann Georg Hamann (1730 - 1788), ein „Magus des Nordens“, wie ihn Moser bezeichnete. Hamann und Herder Hamann ist die Bibel zwar vom rationalistischen Standpunkt aus durchaus anfechtbar (siehe Riemarus), mit den Augen „eines Freundes, eines Vertrauten, eines Liebhabers“ enthält sie aber die „Strahlen der himmlischen Herrlichkeit“. Herder zufolge übersehe die rationalistische Kunstauffasung die allgemeine Naturgesetzlichkeit der räumlich-zeitlichen Bedingtheit, diese Naturgebundenheit der Kunst. Shakespeare sei des Sophokles Bruder, beide stellen Menschen in Übereinstimmung mit ihrem Volkscharakter dar. Ossians popular ballads wird als Volkslied übersetzt: im vollen Kreise des Volkes entsprungen, unter ihnen lebend und würkend. Von deutscher Art und Kunst I. Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker. ● II. Shakespear. III. Von Deutscher Baukunst. IV. Versuch über die Gothische Baukunst. Livorno, 1766. IV. Versuch über die Gothische Baukunst. V. Deutsche Geschichte. ● ● ● ● Herders Paradigmenwechsel Der Mensch sei mehr ein sinnliches als ein rationales Wesen, deshalb wettert Herder gegen „sylbenzählende Kunstrichter“ und gegen die papierene Poesie: Je entfernter von künstlicher, wissenschaftlicher Denkart, Sprache und Letternart das Volk ist: desto weniger müssen auch seine Lieder fürs Papier gemacht, und tote Lettern Verse sein. ● Gegen das Nachahmen fremder Kulturen, sei es Antike, sei es der französische Klassizismus. Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker Ein Dichter, so voll Hoheit, Unschuld, Einfalt, Thätigkeit, und Seligkeit des menschlichen Lebens, muß,[…] gewiß würken und Herzen rühren, die auch in der armen Schottischen Hütte zu leben wünschen, und sich ihre Häuser zu solchem Hüttenfest einweihen … ● Ossian Singing, Nicolai Abildgaard, 1787 (Lehrer von Caspar David Friedrich und Oto Runge) James Macpherson (1736-1796) Fragments of Ancient Poetry, collected in the highlands (1760) angeblich ein Werk eines gälischen Sängers Ossian, Aufzeichnung einer sehr alten gälischen mündlichen Überlieferung, die er in Schottland gesammelt habe. ● Da sie älter als englische oder irische Literaturdenkmäler sein sollten, förderten sie den schottischen Nationalismus. Macpherson 1762 Fingal. An Ancient Epic Poem in Six Books; Together with Several Other Poems, Composed by Ossian, the Son of Fingal, 1765 The Works of Ossian, the Son of Fingal. Samuel Johnson: Journey to the Western Isles of Scotland (1775) Samuel Johnson (1709-1784) unternahm 1773 eine Reise und veröffentlichte seine Journey to the Western Isles of Scotland (1775). Darin geht er von der Fälschung Macphersons aus: "in those times nothing had been written in the Earse [i.e. Gaelic] language". Herder schreibt über eine deutsche Übersetzung der englischen Ausgabe Ossians. Wer war der deutsche Übersetzer und wie wertet Herder diese Übersetzung? ● Sined der Barde, wie er seine eigenen Gedichte signierte. Die Übersetzung stammte aus den Jahren 1768/69. ● https://www.uni-due.de/lyriktheorie/texte/1769_herder.html Einer aus der Gesellschaft Jesu der Uebersetzer Oßians, in deutsche Hexameter, fast nach Klopstocks Manier, der Klopstocks Freundschaft und seinen Meßias rühmet, der uns durch seine Uebersetzung mit dem Hexameter aussöhnen will – die Erscheinung ist neu und schön. […] Die Gedichte Oßians, des Sohns Fingal, diese kostbaren Ueberbleibsel der Vorwelt hatte Macpherson aus der alten celtischen oder gallischen Sprache in englische Prose übersezt. Wir bekamen schon vor Jahr und Tag aus Hamburg zwey gute, sehr wohlklingende Uebersetzungen auch in Prose, die die Stärke, die Kürze, die Erhabenheit und das Rührende des Barden ungemein ausdrücken. Herders Einwände Hätte der Herr D. die eigentliche Manier Ossians nur etwas auch mit dem innern Ohre überlegt - Ossian so kurz, stark, männlich, abgebrochen in Bildern und Empfindungen - Klopstocks Manier, so ausmalend, so vortrefflich, Empfindungen ganz ausströmen, und wie sie Wellen schlagen, sich legen und wiederkommen, auch die Worte, die Sprachfügungen ergießen zu lassen welch ein Unterschied! und was ist nun ein Ossian in Klopstocks Hexameter? in Klopstocks Manier? Fast kenne ich keine zwo verschiednere, auch Ossian schon würklich wie Epopöist betrachtet. Herders Einwände, 2 die Entzückung, die Triebfeder, der ewige Erb- und Lustgesang des Volks! Das sind die Pfeile dieses wilden Apollo, womit er Herzen durchbohrt, und woran er Seelen und Gedächtnisse heftet! Je länger ein Lied dauern soll, desto stärker, desto sinnlicher müssen diese Seelenerwecker sein, daß sie der Macht der Zeit und den Veränderungen der Jahrhunderte trotzen - wohin wendet sich nun die Sache? Ohne Zweifel waren die Skandinavier, wie sie auch in Ossian überall erscheinen, ein wilderes rauheres Volk, als die weich idealisierten Schotten: mir ist von jenen kein Gedicht bekannt, wo sanfte Empfindungströme: ihr Tritt ist ganz auf Felsen und Eis und gefrorner Erde, und in Absicht auf solche Bearbeitung und Kultur ist mir von ihnen kein Stück bekannt, das sich mit den Ossianschen darin vergleichen lasse. Positive Zuschreibungen einem „wilden Volk“ je wilder, d.i. je lebendiger, je freiwirkender ein Volk ist (denn mehr heißt dies Wort doch nicht!) Sie lachen über meinen Enthusiasmus für die Wilden beinahe so, wie Voltaire über Rousseau, daß ihm das Gehen auf vieren so wohl gefiele Da die Gedichte der alten, und wilden Völker so sehr aus unmittelbarer Gegenwart, aus unmittelbarer Begeisterung der Sinne, und der Einbildung entstehen, und doch so viel Würfe, so viel Sprünge haben: so hat mich dies längst, aus vielen Wahrnehmungen, auf die Gedanken gebracht, die ich Ihnen hier zum freundschaftlichen Gutachten mitteile. Zuerst, sollten also wohl für den sinnlichen Verstand, und die Einbildung, also für die Seele des Volks, die doch nur fast sinnlicher Verstand und Einbildung ist, dergleichen lebhafte Sprünge, Würfe, Wendungen, wie Sie's nennen wollen, so eine fremde böhmische Sache sein, als uns die Gelehrten und Kunstrichter beibringen wollen? Positive Zuschreibungen einem „wilden Volk“ Gefühlsbetont ● ● ● ● ● ● Lebendig, Ungekünstelt Schöpferisch Leidenschaftlich Intuitiv Dunkel, düster Erlebnis und Dichtung Wissen Sie, warum ich ein solch Gefühl teils für Lieder der Wilden, teils für Ossian insonderheit habe? [...] Sie wissen das Abenteuer meiner Schiffahrt; aber nie können Sie sich die Würkung einer solchen, etwas langen Schiffahrt so denken, wie man sie fühlt. Auf einmal aus Geschäften, Tumult und Rangespossen der bürgerlichen Welt, aus dem Lehnstuhl des Gelehrten und vom weichen Sofa der Gesellschaften auf einmal weggeworfen, ohne Zerstreuungen, Büchersäle, gelehrten und ungelehrten Zeitungen, über einem Brette, auf offnem allweiten Meere, […] mitten im Schauspiel einer ganz andern, lebenden und webenden Natur, zwischen Abgrund und Himmel schwebend, […] - nun die Lieder und Taten der alten Skalden in der Hand, ganz die Seele damit erfüllet, an den Orten, da sie geschahen ... Von der normativen Poetik zur deskriptiven Ästhetik Keine scheinbar zeitlosen und unverrückbaren Regeln des Dramas bzw. der Normen der Kunstkritik, sondern ein Kunstverständnis, das auf die Bedingungen der Entstehung des Werkes eingeht. Das gilt nach Herder sowohl für Aristoteles als auch für Shakespeare. ● ● Zeitgeist: ein Begriff von Hamann und Herder Shakespeare-Kult im 18. Jh. Shakespeare-Tag das Shakespeare-Fest von 1768 in Stratford, bei dem David Garrick anhand der europäischen Shakespeare-Rezeption Shakespeare zu ewigen Werten erhoben hatte. ● ● Herder: ein "Sterblicher mit Götterkraft begabt": Da aber Genie bekanntermaßen mehr ist, als Philosophie, und Schöpfer ein ander Ding, als Zergliederer: so war's ein Sterblicher mit Götterkraft begabt, eben aus dem entgegengesetztesten Stoff, und in der verschiedensten Bearbeitung dieselbe Würkung hervorzurufen, Furcht und Mitleid! und beide in einem Grade, wie jener erste Stoff und Bearbeitung es kaum vormals hervorzubringen vermocht! Shakespeare-Kult im 18. Jh. Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur Philosophie und Politik 1750-1945 - Band 1 . Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1985 Lessing argumentiert in der Hamburgischer Dramaturgie noch abwägend, Gerstenberg, Herder und Goethe schwärmen für Shakespeare. Genie-Diskurs bei Kant Kritik der Urteilskraft, 1790: Genie ist das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel gibt. Da das Talent, als angebornes produktives Vermögen des Künstlers, selbst zur Natur gehört, so könnte man sich auch so ausdrücken: Genie ist die angeborne Gemütsanlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt. Herders Shakespeare Der theatralischen Praxis entrückt: ● „hoch auf einem Felsengipfel sitzend! zu seinen Füßen Sturm, Ungewitter und Brausen des Meers; aber sein Haupt in den Strahlen des Himmels!« so ist's bei Shakespeare!“ Mir ist, wenn ich ihn lese, Theater, Akteur, Kulisse verschwunden! Lauter einzelne im Sturm der Zeiten wehende Blätter aus dem Buch der Begebenheiten, der Vorsehung der Welt! - einzelne Gepräge der Völker, Stände, Seelen! ● Herders Shakespeare Da die Bildung eines Kindes doch unmöglich durch Vernunft geschehen kann und geschieht; sondern durch Ansehen, Eindruck, Göttlichkeit des Beispiels und der Gewohnheit: so sind ganze Nationen in allem, was sie lernen, noch weit mehr Kinder. Der Kern würde ohne Schlaube nicht wachsen, und sie werden auch nie den Kern ohne Schlaube bekommen, selbst wenn sie von dieser ganz keinen Gebrauch machen könnten. Es ist der Fall mit dem griechischen und nordischen Drama. Schlaube Schale von Kern-, Hülsenfrüchten Wie verstehen Sie folgenden den Satz in Bezug auf die Poesie verstehen? Der Kern würde ohne Schlaube nicht wachsen, und sie werden auch nie den Kern ohne Schlaube bekommen, selbst wenn sie von dieser ganz keinen Gebrauch machen könnten. ● Herders Shakespeare Die griechische Tragödie entstand gleichsam aus einem Auftritt, aus dem Impromptus des Dithyramben, des mimischen Tanzes, des Chors. Dieser bekam Zuwachs, Umschmelzung: Äschylus brachte statt einer handelnden Person zween auf die Bühne, erfand den Begriff der Hauptperson, und verminderte das Chormäßige. Sophokles fügte die dritte Person hinzu, erfand Bühne - aus solchem Ursprunge, aber spät, Herders Shakespeare hob sich das griechische Trauerspiel zu seiner Größe empor, ward Meisterstück des menschlichen Geistes, Gipfel der Dichtkunst, den Aristoteles so hoch ehret, und wir freilich nicht tief genug in Sophokles und Euripides bewundern können. […] »das Künstliche ihrer Regeln war keine Kunst! war Natur!« Shakespeare – ein Bruder von Sophokles – half die eigenen Tendenzen der Geniezeit zu legitimieren, sein Werk wurde dafür intsrumentalisiert. Shakespeare in Deutschland Wielands Shakespeare-Übersetzungen (1762-1764) ● Herder kritisiert diese prosaische Übersetzung in Ossian, weil Wieland auf die Übersetzung golgender liedhaften Einlage verzichtet: aus Twelfth Night, or What You Will: Come away, come away, death! And in sad cypress let me be laid! Fly away, fly away, breath! I am slain by a fair cruel maid! Der liebesieche Herzog will von hinnen scheiden: ● Auch Shakespeare wird veraltern Garrick, der Wiedererwecker und Schutzengel auf seinem Grabe, muß so viel ändern, auslassen, verstümmeln , und bald vielleicht, da sich alles so sehr verwischt und anders wohin neiget, auch sein Drama der lebendigen Vorstellung ganz unfähig werden, und eine Trümmer von Kolossus, von Pyramide sein wird, die jeder anstaunet und keiner begreift. "Glücklieh, daß ich noch im Ablaufe der Zeit lebte, wo ich ihn begreifen konnte". Auch Shakespeare wird veraltern Goethes Götz wird implizit als neuer deutscher Shakespeare bezeichnet. Aber nach einem ersten Brief Herders musste Goethe das bloße Nachahmen, das bloße Shakespearisieren überwinden. Kurze Szenen mit Verstößen gegen die Einheit der Ortes und der Zeit blieben, aber es kam eine neue Leitmotivstruktur der zweiten Fassung hinzu. Die zweite Fassung hat schon Herder gelobt.