Helmut Lethen: Die Attitüde der «Asphaltliteratur» besetzt den Pol von «Mobilität/ Kälte/Vergessen». Ziemlich abrupt wird die vertraute Entfremdungsklage der Lebensphilosophie in ihr Gegenteil verkehrt. Das alte Stereotyp vom «Wunschbild Land - Schreckbild Stadt» wird umgepolt: «Es befriedigt, diesen blankgewichsten Asphalt zu sehen. Das Benutzte ist erfreulich; es ist eine Parabel der Aktualität» (Wilhelm Hausenstein 1929). [222; S. 180], An die Stelle des Schreckens vor der Standardisierung tritt die Entdeckung der Schönheit des industriellen Serienprodukts. Die Anonymität der Großstadt wird als Schutz vor familiärer und staatlicher Überwachung begrüßt. «Verwurzelt» ist nur das Opfer: «Somit hör ich immer, man sollt verwurzelt sein», läßt Brecht seinen neusachlichen Zif- fel noch in den Flüchtlingsgesprächen bemerken, «Ich bin überzeugt, die einzigen Geschöpfe, die Wurzeln haben, die Bäume, hätten lieber keine, dann könhtens auch in einem Flugzeug fliegen.» 1926 findet man in einem Artikel von Hannes Meyer die ganze Skala der Umpolungen, aus der hier nur ein Auszug zitiert werden kann: «Die genaue Stundeneinteilung der Betriebs- und Bürozeit und die Minutenregelung der Fahrpläne läßt uns bewußter leben (...). Bouroughs Rechenmaschine befreit unser Gehirn, der Parlograph unsere Hand, Fords Motor unseren ortsgebundenen Sinn und Handley Page (Verkehrsflugzeug) unseren erdgebundenen Geist. Radio, Marconigramm und Telephoto erlösen uns aus völkischer Abgeschiedenheit zur Weltgemeinschaft. Grammophon, Mikrophon, Orchestrion und Pianola gewöhnen unser Ohr an das Geräusch unpersönlich-mechanisierter Rhythmen: , und regulieren den Musikbedarf von Millionen Volksgenossen (...). Unsere Wohnung wird mobiler denn je: Massenmiethaus, Sleeping-car, Wohn- jacht und Transatlantique untergraben den Lokalbegriff der .» [31; S. 27f\ Diese plötzliche Dominanz des verfemten Pols der Werteskala löst den ästhetischen Reiz mancher neusachlicher Texte aus, begründet ihre Ein- dimensionalität und erklärt ihre Tendenz zur Allegorie. Sie mag auch begründen, warum diese riskante Attitüde nur sehr kurze Zeit im Kultursektor aufrechterhalten werden konnte; warum sie den Künstlern die Feindschaft derer eintrug, die die Modernisierung in der sozialen Entwurzelung erfuhren, und warum diese um den Pol von «Transparenz/Typus/ Zerstreuung» gelagerte Literatur von einer Literatur des Magischen Realismus ergänzt wurde.