Nr. 39 • September 2008 • 3. Jahrgang Krise im Kaukasus: Russland und der Westen in der Zerreissprobe Russlands Militärintervention in Georgien und die völkerrechtswidrige Anerkennung Südossetiens und Abchasiens haben den Kaukasus wieder zu einem sicherheitspolitischen Brennpunkt werden lassen. Das unbedarfte militärische Vorgehen Georgiens und die russische Machtdemonstration stellen wichtige Parameter der europäischen Sicherheitsordnung in Frage. Die instabile Lage im Kaukasus droht zudem die Bemühungen Europas um eine Verminderung der energiepolitischen Abhängigkeit von Russland zu unterminieren. Die westlichen Handlungsoptionen sind begrenzt,eine Isolierung Moskaus wäre aber kontraproduktiv. EU-Ratspräsident Sarkozy und Russlands Präsident Medwedew in Moskau, 12. August 2008 Aus sicherheitspolitischer Sicht kommt dem Konflikt um Georgiens territoriale Integrität eine dreifache Bedeutung zu. Erstens hat der Angriff georgischer Truppen auf die abtrünnige Republik Südossetien am 7. August 2008 vor Augen geführt, dass ethnische Spannungen und Sezessionsbestrebungen in der kaukasischen Vielvölkerregion nach wie vor ein grosses Konfliktpotential darstellen. Zweitens hat Russland durch sein militärisches Vorgehen gegenüber Georgien demonstriert, dass es bereit ist, seinen Machtanspruch im Kaukasus mit allen Mitteln durchzusetzen. Das Zurückdrängen der georgischen Streitkräfte aus Südossetien und der Vormarsch russischer Truppen weit ins georgische Kerngebiet waren dabei mit dem übergeordneten Ziel verbunden, der von den USA trainierten georgischen Armee eine schmerzhafte Niederlage beizufügen und die proamerikanische Regierung Georgiens zu destabilisieren. Gleichzeitig signalisierte Moskau seinen Nachbarn und dem Westen, dass es willens und fähig ist, als regionale Ordnungsmacht aufzutreten. Die Ablehnung westlicher Einflussnahme hat Russland durch seine einseitige Anerkennung Südossetiens und Abchasiens vom 26. August 2008 unterstrichen. Drittens dürften die Georgienkrise und das harsche russische Vorgehen sicherheitspolitische Folgen zeitigen, die weit über den Kaukasus hinausreichen. Die NATO und die EU sehen sich gezwungen, ihr Verhältnis zu Russland im Kontext ihrer sicherheitspolitischen Beziehungen zu den Ländern des post-sowjetischen Raumes zu überdenken. Auch gefährdet die Krise die Bemühungen der Europäer, ihre Abhängigkeit von russischen Energielieferungen zu reduzieren, führen doch die einzigen Pipelines, die kaspisches Öl und Gas in Umgehung russischen Territoriums westwärts transportieren, durch Georgien. Kaukasische Konfliktlandschaften Angesichts der Probleme in Afghanistan und Nahost verschwanden die kaukasischen Konfliktherde in den letzten Jahren vorübergehend vom sicherheitspolitischen Radar des Westens. Dabei geriet bisweilen in Vergessenheit, dass in dieser Region seit dem Zerfall der Sowjetunion eine Reihe grösserer Konfliktzonen bestehen: Im Nordkaukasus, der Teil des russischen Staatsgebiets ist, intervenierte Moskau zweimal militärisch gegen das nach Unabhängigkeit strebende Tschetschenien. Die russische Menschenrechtsorganisation Memorial schätzt, dass die beiden Tschetschenienkriege (1994 – 1996, 1999 – 2005) rund 75’000 zivile Opfer forderten. Über 10’000 russische Soldaten und wohl mindestens ebenso viele tschetschenische Kämpfer verloren ihr Leben. Heute bleibt die Lage angespannt. Fast täglich kommt es zu bewaffneten Zwischenfällen zwischen tschetschenischen Rebellen und staatlichen Ordnungskräften. Auch herrscht ein Dauerkonflikt zwischen tschetschenischen Clans. Zudem beschränkt sich der Konflikt längst nicht mehr auf Tschetschenien, sondern hat auch Dagestan und Inguschetien erfasst. Auch zwischen den nordkaukasischen Nachbarrepubliken Inguschetien und Nordossetien gibt es Spannungen. 1992 entbrannte ein kurzer, aber heftiger Krieg um den so genannten Prigorodni-Distrikt, ein umstrittenes Territorium, das beide Republiken für sich beanspruchen. Der Krieg © 2008 Center for Security Studies (CSS), ETH Zürich  CSS Analysen zur Sicherheitspolitik ETH Zurich CSS AlexanderNatruskin/Reuters CSS Analysen zur Sicherheitspolitik Nr. 39 • September 2008 • 3. Jahrgang forderte über 500 Menschenleben. Mehrere zehntausend Inguschen wurden vertrieben. Die Landfrage ist bis heute nicht endgültig geklärt. Auch die Rückkehr der Vertriebenen ist längst nicht abgeschlossen. Ein neuerlicher Gewaltausbruch ist nicht auszuschliessen. In den Südkaukasusstaaten Armenien,Aserbaidschan und Georgien lassen sich drei grössere Krisenzonen identifizieren. Zwischen Aserbaidschan und den KarabachArmeniern besteht ein Konflikt um Nagorni Karabach, das zwar völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehört, jedoch mehrheitlich von Armeniern besiedelt wird. Ein blutiger Sezessionskrieg forderte zwischen 1992 und 1994 mehr als 20’000 Tote und rund eine Million Vertriebene. Seither ist die Statusfrage Nagorni Karabachs ungeklärt. In Georgien führte der Zentralstaat unmittelbar nach dem Zerfall der Sowjetunion zwei Kriege gegen Minderheiten: die Südosseten (1991-92) und die Abchasen (1992-93). Besonders blutig war der abchasisch-georgische Konflikt, in dem es zu schlimmen Massakern an der georgischen Bevölkerung und zur Vertreibung von rund 250’000 Georgiern kam. Der Angriff georgischer Truppen auf Südossetien und die russische Militärintervention im Sommer 2008 haben erneut grosse Flüchtlingsströme ausgelöst und die Situation noch einmal dramatisch verschärft. Die geopolitische Bedeutung des Kaukasus Aufgrund ethnischer Überlappungen sind die Konfliktzonen im kaukasischen Vielvölkerstaat eng miteinander verwoben. Zum hohen Eskalationspotential trägt bei, dass in dieser Region seit Jahren ein massives Wettrüsten stattfindet. Russland hat im Nordkaukasus grosse Truppenverbände stationiert und führt in der Region immer wieder Kriegsmanöver durch. Die drei Südkaukasusstaaten haben ihreVerteidigungsausgaben in den letzten Jahren drastisch erhöht: Georgien hat seine Ausgaben für die Armee zwischen 2002 und 2007 mehr als verzehnfacht. Aserbaidschan konnte die Verteidigungsausgaben nicht zuletzt dank Mehreinnahmen aus dem Export von Öl massiv steigern. Insbesondere die Konflikte im Südkaukasus haben internationale Sprengkraft, weil sie von geopolitischen Rivalitäten überlagert werden. Im Vordergrund steht dabei das Ringen um Einflusszonen zwischen Russland und den USA (respektive der NATO). Aber auch die EU dehnt ihr Einflussgebiet immer weiter nach Osten aus, was sich vorläufig vor allem im Ausbau der Handelsbeziehungen manifestiert. Die Türkei und der Iran als unmittelbare Nachbarstaaten haben ebenfalls handfeste Interessen in der Region, hielten sich bisher aber politisch zurück. Als dominante Militärmacht spielt Russland in allen südkaukasischen Krisenzonen eine grosse Rolle. Am engsten sind die Verbindungen mit Südossetien und Abchasien,wo sich Russland nach den Waffenstillstandsvereinbarungen Anfang der 1990er Jahre durch die Stationierung von Friedenstruppen als faktische Schutzmacht der Abchasen und Südosseten etabliert hat. Moskau unterhält seither enge wirtschaftliche und politische Beziehungen zu den abtrünnigen Gebieten und hat diesen wohl seit Jahren auch militärische Hilfe zukommen lassen. Die Karabach-Armenier werden zwar massgeblich von Armenien unterstützt, doch kommt Russland dank seiner Militärallianz mit Eriwan auch hier grosse Bedeutung zu. Die USA ihrerseits unterstützen seit 1991 zahlreiche Initiativen, die darauf abzielen, die Staaten der ehemaligen Sowjetunion dem Einfluss Russlands zu entziehen. Washington war von Anfang an ein starker Befürworter des Baus der Ölpipeline von Baku über Tiflis ins türkische Ceyhan (BTC), unterstützte regionale Zusammenschlüsse ex-sowjetischer Staaten wie etwa die GUAM (Georgien, Ukraine, Aserbaidschan, Moldau) und bot allen drei Südkaukasusstaaten militärische Hilfe an. Besonders intensiv entwickelte sich die sicherheitspolitische Partnerschaft mit Georgien. Mit grosszügigen Finanzbeiträgen und Ausbildungsprogrammen haben die USA massgeblich zur Modernisierung der georgischen Armee beigetragen. Die Rivalität zwischen Washington und Moskau im Kaukasus wurde kurz vor Ausbruch der Georgienkrise Mitte Juli 2008 sichtbar, als beide Seiten gleichzeitig Militärmanöver durchführten. So trainierten über 1000 US-Soldaten zusammen mit mehreren hundert Georgiern drei Wochen lang den militärischen Ernstfall in der Nähe von Tiflis. An dieser jährlich stattfindenden Übung beteiligten sich auch Truppenteile aus Aserbaidschan, Armenien und der Ukraine. Russland seinerseits hielt im Nordkaukasus nahe der georgischen Grenze ein grosses Militärmanöver mit über 8000 Soldaten ab. Dieselben russischen Truppen standen wenige Wochen später tief im georgischen Kernland. Aus der Sicht Russlands war der russisch-georgische Krieg von August 2008 der erste Stellvertreterkrieg zwischen Russland und den USA seit dem Zerfall der Sowjetunion von 1991. Die überregionale Dimension der Krise Russlands Vorgehen in der Georgienkrise wird nicht nur das Ringen um ordnungspolitischen Einfluss im Kaukasus intensivieren, sondern droht auch überregionale Folgen zu haben. Moskaus unmissverständliche Warnung an den Westen, seinen Einfluss im post-sowjetischen Raum nicht noch weiter auszudehnen, bezieht sich insbesondere auf den Konflikt um die aussen- und sicherheitspolitische Ausrichtung der Ukraine. Eine NATO-Mitgliedschaft Kiews ist aus russischer Sicht inakzeptabel, würde das westliche Bündnis damit doch in einer für Russland zentralen geostrategischen Region bis an die russischen Grenzen vorrücken. Auch wird die Ukraine,in der eine grosse russische Minderheit lebt,von vielen Russen alsWiege der russischen Zivilisation betrachtet. Über die Ukraine hinaus hat die Georgienkrise im vormaligen Einflussgebiet der Sowjetunion Befürchtungen genährt, wonach Moskau seine Interessen wieder vermehrt mit militärischen Mitteln verfolgen könnte. Das damit verbundene Bedürfnis nach stärkerer Westanbindung hat © 2008 Center for Security Studies (CSS), ETH Zürich  Wachsende Militärausgaben im Südkaukasus ( Millionen US$) 2002 2003 2004 2005 2006 2007 Georgien US$ 49.3 57.7 80.6 214 362 592 % BIP 1.0 1.1 1.4 3.3 5.2 Armenien US$ 90.5 104 115 141 157 194 % BIP 2.7 2.7 2.7 2.9 2.8 Aserbaidschan US$ 172 215 260 305 625 667 % BIP 2.2 2.4 2.6 2.3 3.6 Quelle: sipri Konflikte und Energietransit im Kaukasus CSS Analysen zur Sicherheitspolitik Nr. 39 • September 2008 • 3. Jahrgang sich etwa in Polens überraschend schneller Zustimmung zur Stationierung von USRaketen im Rahmen der strategischen Raketenabwehr manifestiert. Aus Sicht des Westens stellt sich jedoch die Frage, ob eine Eskalation der Spannungen mit Russland, die im Falle einer neuerlichen Osterweiterung der euro-atlantischen Sicherheitsinstitutionen unvermeidbar wäre, in Kauf genommen werden soll und kann. Wie sich die Beziehungen zwischen dem Westen und Russland entwickeln werden, bleibt abzuwarten. Derzeit wird die sicherheitspolitische und wirtschaftliche Kooperation, die – ähnlich wie die Osterweiterung der NATO und der EU – zu einem wichtigen Parameter der europäischen Sicherheitsordnung geworden ist, von beiden Seiten in Frage gestellt. Allerdings dürften die Machthaber in Moskau erkannt haben, dass sie den Bogen überspannt und sich sowohl in der UNO als auch bei Russlands vermeintlichen Verbündeten in der Shanghai Cooperation Organization in einem Masse isoliert haben, das russischen Interessen und vor allem dem Ziel grösserer Einflussnahme in der Nachbarschaft zuwider läuft. Insbesondere für Europa hat die Georgienkrise auch energiepolitische Implikationen. Die jahrelangen Bemühungen des Westens um die Schaffung eines sicheren OstWest-Energiekorridors unter Umgehung Russlands haben einen herben Rückschlag erlitten. Russland war zwar während dem Krieg darauf bedacht, keine Pipeline-Infrastruktur zu beschädigen, da dies seinem Ansehen unter den kaspischen Energieproduzenten geschadet hätte. Die russische Luftwaffe bombardierte allerdings georgische Häfen und Infrastruktur, worauf die Pipeline-Betreiber das gesamte PipelineNetz innerhalb Georgiens stilllegten. Aufgrund der unruhigen Situation in Georgien stellt sich für die Europäer die Frage, ob es sinnvoll ist, die Kapazitäten für den Transport von Öl und Gas über Georgien weiter auszubauen. Schwierig präsentiert sich die Situation insbesondere im Falle von Gas, das im Unterschied zu Öl nicht in Fässern auf dem Seeweg transportiert werden kann, sondern stark von einer Pipeline-Infrastruktur abhängig ist. Turkmenistan und Kasachstan, die zwei wichtigsten Gasexporteure Zentralasiens, werden sich genau überlegen, ob sie künftig die unsichere Route durch das Kaspische Meer und durch Georgien wählen wollen, die sie in Konflikt mit russischen Interessen bringt. Die Alternative, ihre Energie wie bis anhin zu einem guten Preis an Russland und künftig vermehrt auch an China zu verkaufen, dürfte nach dem Georgienkrieg wieder an Attraktivität gewonnen haben. Da Aserbaidschan alleine zu wenig Gas für die geplante Nabucco-Pipeline produziert, ist dieses energiepolitische Vorzeigeprojekt der Europäer zunehmend gefährdet (siehe CSS Analyse 36). Damit schwinden auch die Perspektiven der EU, ihre energiepolitische Abhängigkeit von Russland durch direkten Zugang zu den kaspischen Energieressourcen signifikant zu reduzieren. Begrenzte Optionen Der Westen hat Russlands Vorgehen in Georgien zu Recht scharf kritisiert. Die Frage der angemessenen westlichen Reaktion bleibt aber umstritten. Aus heutiger Sicht scheint eine Isolierungsstrategie gegenüber Russland nicht vielversprechend. Sie würde Moskau kaum zum Einlenken bewegen,sondern diejenigen Kräfte innerhalb Russlands stärken, die schon lange auf eine konfrontative Politik gegenüber dem Westen drängen. Auch würde sich die russische Politik gegenüber den Nachbarstaaten nur noch verhärten. Für die Stabilität und Energieversorgung Europas und für die Lösung internationaler sicherheitspolitischer Herausforderungen wie das iranische Atomprogramm bleibt der Westen auf Zusammenarbeit mit Moskau angewiesen. Umgekehrt kann auch Russland angesichts seiner fragilen, auf hohen Energiepreisen gründenden Machtbasis kein Interesse an einer weiteren Eskalation der Spannungen haben. Selektive Kooperation ist für beide Seiten unabdingbar. Wichtig ist, dass sich die westlichen Staaten vermehrt um eine Lösung der kaukasischen Konflikte bemühen. Während Russland eine Vermittlung in den nordkaukasischen Krisenherden kaum akzeptieren würde, kann und muss der Westen eine aktivere Rolle in allen südkaukasischen Konfliktzonen spielen. Im Fall Georgiens sind die Optionen des Westens vor dem Hintergrund der starken russischen Position derzeit begrenzt. Als Russlands wichtigster Handelspartner kann die EU noch am ehesten Druck auf Russland ausüben. Die Europäer sollten Moskau insbesondere dazu drängen, sich für die Aufnahme eines Dialogs unter den Konfliktparteien einzusetzen. Dieser Dialog muss unter internationaler Vermittlung stattfinden und unter anderem die Rückkehr der Vetriebenen,den Schutz der Minderheiten und die Hilfe beim Wiederaufbau zerstörter Wohngebiete und Infrastruktur thematisieren. Eine überhastete Aufnahme von Staaten aus dem post-sowjetischen Raum in die euro-atlantischen Sicherheitsinstitutionen sollte vermieden werden. Keinesfalls darf die NATO falsche Hoffnungen in diesen Staaten schüren, denn dies kann wie im Falle Georgiens dazu führen, dass die betroffenen Regierungen ihre Sicherheitslage falsch einschätzen. Ein allfälliger Ausbau der Partnerschaften mit Russlands Nachbarn sollte soweit wie möglich parallel zur Normalisierung der Beziehungen mit Moskau erfolgen. Schliesslich darf Europa auch die kaspische Energieoption nicht vorschnell abschreiben, käme dies doch einer de factoAnerkennung der geo-ökonomischen Vorherrschaft Russlands gleich. Die EU sollte Russland in direkten Verhandlungen unmissverständlich zu verstehen geben, dass der kaspische Raum für Öl und Gas offen bleiben muss. Gleichzeitig kommt der Westen aber nicht umhin, sich dem Problem zu stellen, wie Pipelines in Krisenzonen besser geschützt werden können. © 2008 Center for Security Studies (CSS), ETH Zürich Verantwortlicher Editor: Daniel Möckli analysen@sipo.gess.ethz.ch Bezug und kostenloses Abonnement: www.ssn.ethz.ch