HISTORISCHE ZEITSCHRIFT BEGRÜNDET VON HEINRICH VON SYBEL FORTGEFÜHRT VON FRIEDRICH MEINECKE UND THEODOR SCHIEDER In Verbindung mit Jochen Bleicken, Knut Borchardt, František Graus, Erich Meuthen, Gerhard A. Ritter, Eberhard Weis herausgegeben von Lothar Gall BAND 240 R. OLDENBOURG / MÜNCHEN 1985 ÜBERLIEFERUNGS-CHANCE UND ÜBERLIEFERUNGS-ZUFALL ALS METHODISCHES PROBLEM , DES HISTORIKERS von arnold esch In den folgenden Überlegungen1) sei versucht, ein methodisches Problem vor Augen zu führen, ein spezifisches Erkenntnisproblem des Historikers, das freilich nicht so zutage liegt wie die vielreflektierte Frage nach „Subjektivität" und „Objektivität" historiographi-scher Quellen. Es geht um das Problem von Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall - ein Problem, hinter dem sich die Frage nach der Maßstäblichkeit der historischen Erkenntnis auftut. Überlieferung ist das, was der Historiker in Händen hält: was ihm über frühere Zeiten, was ihm aus früheren Zeiten überliefert ist. Der Historiker weiß, daß sein Wissen Stückwerk ist - aber welche Stücke er in Händen hält, das wird ihm nicht ebenso deutlich, und so erliegt er nicht selten dem natürlichen Gefühl seiner Hände, das, was er hat, für schwerer, für gewichtiger zu halten als das, was er nicht in Händen hat. Und so fragen wir in einem ersten Schritt: was wird eigentlich überliefert, was mag alles nicht überliefert sein, und warum nicht? Wovon wollen wir denn, daß es überliefert sei? Beginnen wir mit der idealen, mit einer scheinbar idealen Überlieferungslage aus dem Bereich der Denkmäler, der nicht-schriftlichen Quellen: Pompeji, 24. August des Jahres 79 n.Chr. Da wissen wir sozusagen alles: wir wissen sogar, was gerade in den Töpfen einer Küche kochte, und in welchem Winkel zur Wand die Fensterläden eines Hauses gerade offen standen; was Virgula über ihren Tertius dachte, Wann ') Erweiterte Fassung meiner 1978 vor der Phil.-hist Fakultät der Universität Bern gehaltenen Antrittsvorlesung. Ich danke meinen Freunden für Rat und Kritik. 530 Historische Zeitschrift Band 240 (1985) einer seiner Henne Eier unterlegte (denn auch das.steht an der Wand), und welche Zahlen sich der Bankier Lucius Caecilius Iucundus auf seine Wachstäf eichen notiert hatte2). Wir wissen also sozusagen "alles - und doch wird niemand meinen, dieses Leben genommen und wie in Zement gegossen, dieses Leben überrascht von Vulkan- Asche,";sei die ideale Überlieferungslage, dieses Präparat, diese gigantische1 Momentaufnahme bilde Geschichte ab. Halten wir also den Film der Geschichte nicht weiter an, lassen wir auch auf diese Stadt versuchsweise einmal den historischen Prozeß los und damit den Prozeß der Auslese: Iucundus hätte noch am gleichen Abend seine Zahlen gelöscht, überlebt hätten ihn nur seine ' Grundbesitz-Urkunden. Die letzten literarischen Handschriften wä-" rerr wohl ^nigruTide-gegangen, als sich hier-später die Ostgoten unter Teja kämpfend auf den Vesuv zurückzogen. In dem Laren-Heiligtum am Forum würde sich vielleicht eine Marien-Kirche einrichten, in den verfallenden Gewölben des Amphitheaters die Kapelle eines lokalen Märtyrers, zukünftige Pfarrkirche eines Vorstadtviertels. Von den Säulen des Jupitertempels, sonst spurlos vergangen, mag sich ein Kapitell, ausgehöhlt zum Taufbecken, in die Hauptkirche gerettet haben. Die letzte antike Statue würde wohl um 1600 verschwunden sein, zu Kalk gebrannt oder umgearbeitet zu einer Figur des Hl. Sebastian3). Kurz: ein unbeachtetes Landstädtchen, das -nach seinen antiken Gewölben - heute vielleicht den Namen Santa Maria delle Grotte trüge. Dies wäre gewissermaßen der „normale" historische Verlauf: ein Bestand wird reduziert, hier: abnehmende Antike - eine Vorstellung, wie sie jedem von uns geläufig ist, daß nämlich Überlieferung (und damit das, was wir über eine Zeit wissen) sich einigermaßen gleichmäßig verdünne mit dem Maße ihrer Entfernung von heute; oder in der Figurenfolge alter Weltgeschichten: von Napoleon wissen wir mehr als von Karl dem Großen, von Karl dem Großen mehr als von Julius Caesar (das stimmt schon nicht), von Caesar mehr als von Ramses II. - sich verdünne also gewissermaßen wie die Resümees eines Fortsetzungs-Romans, die zu Beginn einer neuen Folge jeweils den Inhalt der voraufgehenden Folgen zusammenfassen, 2) CIL.IV 1881 (Virgula), 3340 (Iucundus: das Beispiel sei erlaubt, auch wenn es sich im Grunde um die Reste eines abgeschlossenen Geschäftsarchivs handelt), 6873 (Henne). 3) Beispiele s. A. Esch, Spolien. Zur Wiederverwendung antiker Baustücke und Skulpturen im mittelalterlichen Italien, in: AKG 51 (1969), S. 1-64. A. Esch, Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall 531 ohne dabei doch länger zu werden (nach der zehnten Folge verschwindet bereits eine ganze Episode, eine ganze Figur aus dem Resümee und damit aus unseren Augen). Oder andersherum: die Nachrufe auf lebende Politiker, wie sie von eigenen Redakteuren etwa der „New York Times" vorsorglich verfaßt und stets auf dem neuesten Stand gehalten werden, damit sie gegebenenfalls sofort zur Verfügung stehen, werden deswegen doch nicht immer länger: nicht der Umfang dieser Nachrufe zu Lebzeiten ändert sich, sondern ihre Perspektive - mit wachsender Entfernung sinkt vieles unter den Horizont. Natürlich ist einiges richtig an der Vorstellung, daß auch die Auslese der Überlieferung eine perspektivische sei oder doch wenigstens eine historische, daß sie also in irgendeiner Relation zur Zeit stehe - daß nämlich die Zeit Überlieferung nicht nur erzeuge, sondern auch fresse. Aber gerade die Abweichungen von diesem idealen Prozeß sollen uns hier beschäftigen, weil sie, in kaum wahrnehmbarer Weise, die Erkenntnis des Historikers beeinträchtigen. Denn Überlieferung ist zunächst einmal ungleichmäßig. Auch das ist eine triviale Einsicht - über dieses wissen wir wenig, über jenes viel, ja bisweilen mehr als wir wissen wollen: wir wissen sogar, wie viele Ziegelsteine der Arzt Iacopo Bonavia um 1390 in sein Haus in Lucca verbaute (es waren genau 53913) und bis auf wieviel Zentimeter unter dem Rand die Weinfässer im Hospiz auf dem Großen St. Bernhard am 24.Februar 1447 gefüllt waren; ja neuerdings wissen wir sogar von dem großen Florentiner Architekten Filippo Brunelleschi die Blutgruppe4)! Sicherlich ist das irrelevant; aber es ist eben so, als stülpe sich die Materie dem Historiker an einigen Stellen entgegen und weiche an anderen zurück - Beispiele für das, was wir nicht wissen und doch gerne wüßten, müssen nicht eigens genannt werden, denn die Bezeichnung „dunkle Jahrhunderte", dark ages für das frühe Mittelalter nimmt dessen Quellenarmut geradezu als Charakteristikum: „dunkel" meint hier nämlich nicht die Uner-leuchtetheit (wie beim Wort vom „finsteren" Mittelalter), sondern die Unŕeleuchtetheit des Zeitalters, eben seinen Quellenmangel. ") II memoriale di Iacopo di Coluccino Bonavia medico lucchese (1373-1416) ed. P. Pittino Calamari in: Studi di filológia italiana 24 (1966), S.374. Les comptes de l'Hospice du Grand Saint-Bernard (1397-1477) ed. L. Quaglia in: Vallesia 28 (1973), S.83. Brunelleschi (Grabfund): G. Morozzi, F. Toker, J. Herrmann: Santa Reparata, ľantica cattedrale fiorentina. I risultati dello scavo condotto dal 1965 al 1974 (Firenze 1974), S.38. 532 Historische Zeitschrift Band 240 (1985) Aber es geht hier nicht einfach um die Ungleichmäßigkeit von Überlieferung, sondern um die Frage, ob sich darüber mehr aussagen lasse als nur, daß Überlieferung eben ungleichmäßig sei; wodurch wird sie denn ungleichmäßig? Nur durch Willkür und Zufall (so scheint es, und das ist fatal); oder gibt..es womöglich auch eine Ungleichmäßigkeit der Chance, überliefert zu werden? - Doch, damit soll es der Vorüberlegungen und Problemstellungen-endlieh genug sein. Ich werde vielmehr- versuchen, das Überlieferungs-Problem in einem möglichst dichten, konsistenten Material anzuschneiden: dem Urkunden-Bestand der toskanischen Stadt Lucca. .„v. Die Archive von Lucca verwahren heute allein* für das I2.Jahr-hundert rund 3700 Urkunden5). Mehr als .dreieinhälbtausend Originalurkunden für eine einzige Stadt in einem einzigen Jahrhundert des hohen Mittelalters - das ist ein Bestand, wie er selbst in Italien seinesgleichen wohl nicht hat. Also geradezu, ein Pompeji der Ur-kundenüberlieferung, sollte man meinen - müßte man nicht annehmen, daß die Geschichte hindurchgefahren sei. Dreieinhalbtausend Urkunden aus dieser Zeit sind viel (andere Archive wären stolz, wenn sie deren hundert vorweisen könnten) -und doch kann es nur ein Bruchteil des ursprünglichen Bestandes sein. Von diesem ursprünglichen Bestand können wir uns nämlich eine gewisse Vorstellung machen, weil wir einerseits aus den überlieferten Originalurkunden die Zahl, die Mindestzahl der in einer Stadt gleichzeitig tätigen Notare ersehen können; und weil uns andererseits die Unterlagen, in denen die Notare fortlaufend die von ihnen auszufertigenden Urkunden notierten (das sind die sogenannten Notars-Imbreviaturen, deren früheste aus dem Genua des 12. Jahrhunderts erhalten sind), ein grobes Bild von der Jahresproduktion solcher Notare vermitteln: ein vollbeschäftigter Notar konnte danach im Jahresdurchschnitt auf mehrere hundert, ja auf tausend und mehr Urkunden kommen. Um es kurz zu machen: bei vorsichtiger Schätzung wird man doch sagen dürfen, daß Städte ver- 5) Die folgenden Beobachtungen zur Urkundenüberlieferung der Stadt Lucca sind ein Ergebnis von Archivstudien für meine Habilitationsschrift „Lucca im 12. Jahrhundert", die ich bei Gelegenheit zum Druck zu bringen hoffe. Zur Überlieferungslage vor 1100 H. Schwarzmaier, Lucca und das Reich bis zum Ende des 11. Jh.s (Tübingen 1972), S.9ff. Für das benachbarte Pisa (rund 3500 Urkunden Für den Zeitraum 774-1200) vgl. C. Violante, in: Thesaurus ecclesiarum Italiae VII 4 (Carte dell'Archivio Capitolare di Pisa 4, 1969), S.VIIf. ■ A. Esch, Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall 533 gleichbarer Bedeutung wie Genua, Lucca, Pisa, Florenz im späten 12. oder im 13. Jahrhundert jedes Jahr an die 20-30-40000 Notars-Urkunden produziert haben*). Zehntausende im Jahr - und wir bestaunten schon die dreieinhalbtausend im Jahrhundert! Was mag da verloren sein? Daß die Verluste groß sind und daß sie ungleichmäßig sind, ist dem Histori-i ker bewußt und wird ihn nicht schon zu falschen Schlüssen verfüh- ren: wenn Luccaaus dem Jahre 1067 2: Urkunden und :aus=dem Jahre 1068 40 Urkunden verwahrt, dann sagt das nicht schon etwas über diese Jahre aus - so wenig wie der Befund, daß Farfa oder St. Gallen viel überliefern, Bobbio oder die Reichenau hingegen wenig, schon in irgendeine Beziehung zu ihrer vormaligen Bedeutung gesetzt werden darf (ja in Zentren wie Cluny muß die Überlieferung schon früh geradezu übergeflossen sein, so daß ihr Schwall bereits von den Zeitgenossen gar nicht mehr gefaßt werden konnte7)). Daß da vielmehr Überlegungen vorausgehen müssen, die sorgfältig auch nach der Art, der Zeit, dem Anlaß der mutmaßlichen Verluste fragen8), ist dem Mediävisten eine Selbstverständlichkeit. Aber verfolgen wir diese Frage doch einmal in die Überlieferungs-Massen italienischer Kommunen, da die Großprojektion uns deutlicher zu se-i hen erlaubt, und bleiben beim Beispiel Lucca. Was also mag da ver- 1 loren sein - nicht nur wieviel, sondern was, denn es geht hier um die I Maßstäbe unserer historischen Erkenntnis und ihre mögliche Beein- é) Berechnungen für Lucca in meiner Anm. 5 gen. Arbeit, für Pisa und Genua (55000 bzw. 80000 im späten 13. Jh.) bei D. Herlihy, Pisa nel Duecento (Pisa 1973), S.41. 7) So K. Schmid, Die Erschließung neuer Quellen zur mittelalterlichen Geschichte, in: Frühmittelalterliche Studien 15 (1981), S. 13 am Beispiel der Totenbücher. s) Etwa ob durch normale Kassation wie beim Salvatorskloster vom Monte Amiata oder durch chaotische Nachlässigkeit wie bei der Reichenau: H. Schwarzmaier, Ein Reichenauer Schuldregister des 9. Jh.s Ein Beitrag zum Überlieferungsproblem in der Abtei Reichenau, in: H. Maurer (Hrsg.), Die Abtei Reichenau (Sigmaringen 1974), S.17ff. u. 29f.; W. Kurze, Die lango-bardische Königsurkunde für S. Salvátore am Monte Amiata, in: QuFiAB 57 (1977), S.321. Zu St. Gallen (größter Archivbestand an frühmittelalterlichen Privaturkunden nördlich der Alpen) P. Staerkle, Die Rückvermerke. der älteren St. Galler Urkunden (=Mitteil, zur Vaterland. Gesch. 45, 1966), der anhand der Dorsualnotizen auch die ursprüngliche Archivordnung erschloß (regional, z. B. im obersten Gefach die Besitzungen nördlich und östlich des Bodensees). 534 Historische Zeitschrift Band 240 (1985) trächtigung. Versuchen wir darum, wenigstens einmal einzukreisen, welche Stücke von Wirklichkeit uns abhanden gekommen sein könnten. Sehen wir darum zunächst einmal die Zusammensetzung des erhaltenen Materials, sehen wir uns diese Überlieferung auf ihre Konsistenz an. Rund 3500 Urkunden, das könnten also(sagen wir:) 35mal Nachrichten über 100 verschiedene Arten menschlicher Tätigkeit sein (=3500), oder doch wenigstens 350mal Nachrichten über 10 verschiedene Arten von Betätigung (wie etwa Landwirtschaft, Gewerbe, Fernhandel, öffentliche Verwaltung; Testamente und fromme Stiftungen usw.). Doch leider ist es ganz anders, die Relation enttäuschender: Diese beispiellose Urkunden-Masse enthält Tausende von Nachrichten über immer dieselben drei oder vier Geschäfte: Verkauf von Land, Verpachtung von Land, Verkauf von Pachtzins und Renten - seltsamer Eindruck von einer Stadt, die in ihrem politischen Rang Florenz damals nicht nachstand; seltsame Umverteilung der Wirklichkeit durch die Überlieferung! Was aber gibt uns das Recht (oder: den archimedischen Punkt) zu behaupten, das Lucca des 12. Jahrhunderts sei nicht die Stadt gewesen, die diese dreieinhalbtausend überlieferten Urkunden abbilden? Zunächst einmal wird man sich betroffen fragen: war diese Stadt so bedeutend, weil sich ihre Bewohner gegenseitig Grundstücke verkauften? Und wo kamen wohl die Kapitalien her, die da in Land und Renten angelegt wurden? Daß Lucca eine bedeutende Stadt war und daß ihr Rang auf Handel und Gewerbe beruhte (darunter der damals beginnenden lucchesischen Seidenindustrie), das wissen wir durch außer-lucche-sische Quellen, über die wir in diesem Fall auch noch verfügen -aber dieses Modell Lucca soll uns zunächst, isoliert, zu Einsichten darüber verhelfen, was reine Urkunden-Überlieferung abbildet und was nicht; und Luccas Quellen-Überlieferung eignet sich dazu um so mehr, als die urkundliche Überlieferung beispiellos dicht ist, die erzählende Überlieferung, die Chronistik des 12. Jahrhunderts, aber beispiellos dürftig. In der lucchesischen Urkunden-Überlieferung dieser Zeit kommen Handel und Gewerbe also praktisch nicht vor. Und doch muß der größere Teil der (vorhin erschlossenen) Tausende von kleinen Notars-Urkunden jährlich gerade diesen Bereichen gegolten haben. Warum gingen gerade sie verloren? Größere Kriegsverluste sind bei den lucchesischen Archivalien nicht anzunehmen'), und es wäre im A. Esch, Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall 535 i übrigen auch seltsam genug, wenn Krieg und Brand in solcher Aus- * schließlichkeit einzig die Nachrichten über Handel und Gewerbe I dahingerafft und die Nachrichten über Grundbesitz verschont ha-I ben sollten. ^ Dieses Überlieferungs-Schicksal, diese einseitige Auslese, kann * mehrere Gründe haben, darunter aber sicherlich einen: diese Ur-J künden gingen verloren, weil sie nicht verwahrt wurden, weil sie I weggeworfen wurden. Und sie wurden weggeworfen, weil-sie kurz-i fristige Alltagsgeschäfte betrafen, Termingeschäfte, von denen jene INotars-Imbreviaturen (mit ihren Eintragungen sämtlicher ausgefertigter Urkunden) denn auch voll sind. Vergegenwärtigen wir uns auch die Schriftlichkeit, die hier bereits einen Grad erreicht hatte, a - der jenseits der Alpen noch unvorstellbar war: sogar das den Eltern Igegebene Versprechen, ein Jahr lang aufs Kartenspiel zu verzichten, wird schriftlich vor dem Notar niedergelegt - und verfällt doch » schon nach einem Jahr: warum sollte man das verwahren? Nun ist I das vielleicht ein extremes Beispiel, aber Termingeschäft ist auch I der Lehrlingsvertrag, der Liefervertrag über zwei Ballen Rohseide, 1 das Darlehen, kurz: fast der gesamte geschäftliche Alltag einer Gell werbestadt. Solche Urkunden verloren nach Ablauf ihren Wert, 1 t wurden weggeworfen oder doch nicht mit gleichbleibender Sorgfalt I aufbewahrt, ihr Pergament wurde womöglich wiederverwendet. I Ganz anders bei Grundbesitz, bei Grundstücksgeschäften. Hier i legte man auf Urkunden großen Wert, das heißt man kaufte mit I dem Grundstück immer auch sämtliche zugehörigen Urkunden und I verwahrte sie sorgfältig, um sich notfalls gegen Ansprüche Dritter I ausweisen zu können. So kennen wir aus der Urkundenüberliefe-I rung (die eben einer Gegenwart diente) die Geschichte einzelner i Grundstücke über Jahrhunderte - und erfahren doch nichts über 1 das, was die Bedeutung dieser Stadt eigentlich ausmachte. Ähnliche 1 Beobachtungen lassen sich auch für andere Orte machen: Aus dem § Amalfi des 11. Jahrhunderts - damals noch eine Fernhandelsstadt t von Rang - sind uns durchschnittlich 3 Urkunden pro Jahr überlie-I fert. Daß der Überlieferungsbestand so gering ist, erstaunt uns so I wenig wie die Tatsache, daß all diese Urkunden, obwohl überwie-I gend von Laien für Laien geschrieben, in kirchlichen Archiven H ') Über mutmaßliche Verluste vgl. M. Giusti, Lucca archivistica, in: Lucca H archivistica storica economica (=Fonti e studi del Corpus membranarum 1 italicarum 10, 1973), S.120f. 536 Historische Zeitschrift Band 240 (1985) rerungs-L nance una uneriiejenings-. überliefert sind. Überraschender ist auch hier vielmehr die Zusammensetzung des überlieferten Materials: Darlehen, geschäftliche Vereinbarungen, Gesellschaftsverträge, all das kommt in der Handelsstadt Arnalfi sozusagen gar nicht vor - die Überlieferung kennt fast nur Grundstücksgeschäfte (ein Grundstück gibt es, für das haben wir gleich 41 Urkunden vor 1050!), hebt die Stadt im Umland auf und -verzerrt- die Stadtgeschichte zur Agrargeschichte10). Denn die reine Urkunden-Überlieferung begünstigt den Grundbesitz und benachteiligt Handel und Gewerbe; sie gibt - auch in relativ entwickelten Gewerbegebieten wie hier - dem Grundbesitz ein höheres spezifisches Gewicht, oder in den Begriffen unseres Themas: Grundbesitz hat die größere Chance, überliefert zu werden. Reine Urkunden-Überlieferung bildet alsa nicht proportional, nicht maßstäblich ab (was dann allenfalls die Registerüberlieferung tun wird), oder um es als Nutzanwendung; als Korrektiv unserer Erkenntnis zu formulieren: Urkundliche Überlieferung macht das Mit- -telalter noch agrarischer, als.es ohnehin schon ist. Diese erste Einsicht, was Überlieferuhgs-Chance ist und was sie anrichten kann, war also gewonnen aus der Natur des Geschäftes (ob Liefervertrag für zwei Monate oder ob Landkauf für immer). Eine zweite Einsicht, und vielleicht noch wichtiger, ergibt sich aus der Natur der Überlieferung, oder anders: Wenn, nun etwas überliefert werden soll, wie wird es dann überliefert? Gehen wir auch hier zunächst von unserem Beispiel Lucca aus. Lucca hat drei Archive, nämlich zwei geistliche (Archivio Arcives-covile und Archivio Capitolare) und das Staatsarchiv, dessen früh-und hochmittelalterliche Bestände jedoch (wie man von vornherein unterstellen wird) zum überwiegenden Teil aus säkularisierten geistlichen Archiven übernommen wurden11): von jenen dreieinhalbtausend Urkunden des 12. Jahrhunderts (das sind die Fonds aller drei Archive zusammengenommen, eben die gesamte lucchesische Urkundenüberlieferung), von diesen dreieinhalbtausend Urkunden stammen nicht weniger als gut 95% aus den Archivfonds geistlicher Institutionen. I0) Über die Eigenarten der Amalfitaner Überlieferung U. Schwarz, Regesta Amalfitana I, in: QuFiAB 58 (1978), bes. S.52ff. ") Vgl. Inventario del R. Archivio di Stato in Lucca I (Lucca 1872), Einleitung. Die Überlieferung geht also auch hier über die geistlichen Archive - man wird es nicht anders erwarten, denn dies ist bei früh-und hochmittelalterlicher Überlieferung die Regel. Tun wir darum gleich den nächsten Schritt und fragen uns wieder: Sollte das nicht auch wieder Folgen haben können für unsere Erkenntnis? Wäre es nicht denkbar, ja eigentlich zu erwarten, daß sich auf diesem Überlieferungs-Weg, daß sich unterwegs Proportionen verschoben haben könnten, daß also die Maßstäblichkeit unseres historischen Urteils dadurch beeinträchtigt werden könnte? " Suchen wir auch hier nach Indizien, wo sich Disproportionie-rung zu erkennen geben könnte. So fällt etwa auf, daß in den uns überlieferten Gerichtsurkunden meistens der Bischof gewinnt, das Domkapitel, kurz: die geistliche Seite. Diese auffallende Überlegenheit darf nicht zu der (zugegebenermaßen naheliegenden) Folgerung führen, der Bischof, der Klerus, habe eben das Gewicht gehabt und die Wege gewußt, sich vor Gericht durchzusetzen. Zwar wäre es bei näherem Zusehen schon nicht ganz verständlich, warum die junge Kommune, die sich damals doch gerade vom Bischof als Stadtherrn gelöst hatte12), diesem großen Widersacher nun im städtischen Gericht alles zugegeben haben sollte. Aber die Überlieferung will es eben so wahrhaben, und viele werden diesem Eindruck um so leichter Glauben schenken, als er ihrer undifferenzierten Vorstellung von mittelalterlichen Herrschaftsverhältnissen so wunderbar entspricht. Aber es liegt wohl doch etwas anders. Denn versuchen wir einmal, uns den Überlieferungsweg vorzustellen. Nehmen wir einen denkbaren Fall: Der Bischof, das Klöster, gewinnt vor Gericht; die Urkunde darüber, der gewonnene Rechtstitel, wird von Anfang an in ein geistliches Archiv geraten und somit eine relativ große Chance haben, uns zu erreichen. Öder aber, umgekehrt: Der Bischof, das Kloster verliert vor Gericht: da gibt es für die geistliche Seite nichts zü überliefern; in diesem Fall ist es nämlich, als siegreiche Prozeßpartei, der Laie, der den Rechtstitel, die Urkunde, endlich in Händen hält, zu Hause irgendwo ablegt - und damit ist sie für uns bereits verloren: es sei denn, diese Urkunde gerate später in ein geistliches Archiv (etwa weil das umstrittene Grundstück dann ,2) Wenngleich hier in Lucca weniger spektakulär als in anderen Kommunen; zur Verfassung des frühkommunalen Lucca zuletzt V. Tirelli, Lucca nella seconda metá del secolo XII. Societa e istituzioni, in: I ceti dirigenti dell'eta. comunale nei secoli XII e XIII (Pisa 1982), S. 157 ff. 538 Historische Zeitschrift Band 240 (1985) A. Esch, Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall 539 an eine Kirche geschenkt oder verkauft wurde) - und so gewinnen denn auch einmal Laien vor Gericht, läßt die Überlieferung auch einmal Laien vor Gericht gewinnen. Daß geistliche Archive einzelne Urkunden oder gar ganze Urkundenbestände aus Laienhand aufgesogen und uns damit überhaupt erst erhalten haben, ist recht häufig: Von den dreieinhalbtausend lucehesischen Urkunden des 12. Jahrhunderts, die zu gut 95% über geistliche Archive überliefert sind, betreffen doch immerhin 25,5% oder fast genau ein Yiertel Geschäfte äuss'chließlich=zwischen Laien13); mindestens diese Urkunden können darum zunächst auch nur im Besitz von Laien gewesen und erst später in einem geistlichen Archiv geendet sein. Das ist ein relativ hoher Prozentsatz, und doch läßt uns diese Relation immer noch ahnen, wie sehr auch hier der Bezugsrahmen verzerrt ist, in den wir unsere: Urteile einpassen. Daß die Kirche so viel erwirbt und so wenig verliert (geistliche Überlieferung zeigt weltlichen Grundbesitz eigentlich immer nur in Auflösung14)) und daß sie so oft gewinnt und so selten unterliegt, ist eben immer auch: eine Frage der Überlieferungs-Chance - also (wenn man so will): nicht Klassen-Justiz, sondern Klassen-Überlieferung. Kurz, zweite Einsicht: Urkunden-Überlieferung macht das Mittelalter noch kirchlicher, als es ohnehin schon ist. Nicht daß es hier vor Gericht darum immer mit rechten Dingen zugegangen oder daß es den Pächtern gut gegangen wäre: wenn man es darauf absah, dann brauchte man'auch bei striktester Anwendung des Rechts nicht lange darauf zu warten, daß der Pächter ins Unrecht geriet; ein oder zwei Mißernten, und die Nichtzahlung des Pachtzinses (weil damals noch überwiegend in fixen Raten und nicht in Anteilen an der Ernte ausgedrückt) setzte ihn ins Unrecht. 1S) Dazu im einzelnen meine Anm. 5 angekündigte Arbeit. 14) Wenn etwa in dem Bergdorf Compito bei Lucca im Laufe des 12. Jh.s von 191 bekannten Grundstücken nicht weniger als 87 aus Laienhand in geistlichen Besitz übergehen (66 durch Schenkung, 21 durch Verkauf) und nur 5 aus geistlicher in weltliche Hand überwechseln, dann gibt das sicherlich keine richtigen Proportionen wieder; von der Überlieferung etwas weniger abhängig ist die Statistik der Anrainer: bei den genannten Grundstücken in Compito werden 448mal Laien und 160mal Kirchen als benachbarte Besitzer genannt. S. a. G. Duby, La societ6 aux XV et XIIe siecles dans la region mäconnaise (Paris 21971), S.72 am Beispiel der Urkundenüberlieferung von Cluny: „les documents ecclesiastiques montrent seulement ceux qui se rui-nent en aumönes; les autres, ceux qui gardent leur bien, n'apparaissent pas". Also vielleicht doch Klassen-Justiz - nur daß man, wenn man sie schon nachweisen will, nicht mit der statistischen Häufigkeit von gewonnenen Gerichtsverfahren argumentieren darf, denn der von einem" Laien gewonnene Prozeß hat eine viel geringere Chance, uns bekannt zu werden, die Siege der Kirche werden durch die Überlieferung unverhältnismäßig vermehrt. In den bisher genannten Fällen ging es absichtlich um reine Urkundenüberlieferung, weil sie das freie Spiel der Überlieferung -das für unsere Fragestellung die meisten Einsichten erbringt - am deutlichsten abbildet und Versuchsanordnungen erlaubt, die geradezu in die Nähe des naturwissenschaftlichen Experiments geraten: etwa bei korrespondierenden Stücken, die nachweislich ausdemsel-ben Rechtsgeschäft hervorgegangen sind und dann ihre (wie von Anfang an vorgesehen) getrennten Überlieferungswege gehen, das eine Stück womöglich in weltliche, das andere in geistliche Hand geratend - da macht Gegenüberstellung der Überlieferungswege geradezu abmeßbar, was geistlich erhalten und weltlich verloren ist. Denn in einer Zeit, die den Nachweis von Recht und Besitz dem Eigentümer überließ und nicht mehr der öffentlichen Aktenführung von Behörden15), mußten die Überlieferungswege stark auseinandertreten. Man vergleiche die auseinanderstrebenden Wege solcher zusammengehöriger Stücke (am handgreiflichsten in der Form des Chirographs, des entzweigeschnittenen Pergaments) mit der Überlieferung ägyptischer Orakelanfragen: als Fragenpaar in alternativer Formulierung (soll ich, soll ich nicht?) bisweilen auf demselben Blatt eingereicht, wurde die eine Fragefassung als Antwort dem Fragesteller zurückgereicht, während die andere beim Orakel verblieb, dementsprechend einen anderen Überlieferungsweg nahm - und endlich in einer anderen Papyrussammlung endete16). Es bedarf keiner näheren Ausführung, daß der Historiker in der Regel der Willkür reiner Urkundenüberlieferung nicht ganz hilflos ausgeliefert ist, sich bei der rechten Einordnung des unerforsch-lich Fragmentarischen vielmehr von anderen Überlieferungsformen leiten lassen kann: Ein Urbar will vollständig sein, ein Register will (mehr oder weniger) vollständig sein; „Formularsammlungen ... ergänzen die Quellen vor allem durch die Fülle jener Urkundentypen, ls) Dazu P. (Hassen, Fortleben und Wandel spätrömischen Urkundenwesens im frühen Mittelalter, in: Vorträge und Forschungen 23 (1977), S. 17. 1S) Beispiel s. Hengstl (wie Anm. 24), Nr. 66. 540 Historische Zeitschrift Band 240 (1985) A. Esch, Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall 541 die keinen Wert für kirchliche Rechts- und Besitznachweise besaßen und darum archivalisch nie oder fast nie überliefert sind"17). Solche Überlieferungsformen und Quellengattungen bewahren auch aus dem:frühen Mittelalter schon immer mal'den ganzen Bestand von Wirklichkeit bis an seine ursprünglichen Ränder, die sonst im Laufe der Zeit weggeschliffen wären. Und so ist es eben die Kombination der Überlieferungsformen--von Urkunde^nd Register, von Notä-riatsinstrument und Imbreviätur usw. -, diedem Historiker eine gewisse Kontrolle ermöglicht und ihm die Grundvorstellung von der Verhältnismäßigkeit der Überlieferung eingibt. Ein Beispiel: In das Register Gregors VII. sind bei weitem nicht alle ausgegangenen Briefe eingetragen worden, sondern offensichtlich nur die, die man, .damals, für wichtig hielt. Das haben wir uns ja auch gedacht. Wenn wir dann aber diese, gleichen Briefe in der Empfänger-Überlieferung verfolgen, dann sehen wirj wie Chance und Zufall sich darüber hermachen. Während in: den ersten beiden Pontifikatsjahren auf 15 registrierte Briefe nur; ein Brief in Empfänger-Überlieferung kommt, sind auf dem Höhepunkt des Investiturstreits für den Jahrgang 1076/77 von nur noch 28 registrierten Briefen nicht weniger als 12 auch über Empfänger-Überlieferung erhalten: meist programmatische Briefe von politischer Aktualität, die in Chroniken und Briefsammlungen (den sichersten Vehikeln der Überlieferung) gleich mehrfach überliefert sind, und zwar vor allem in dem vom Irivesti-turstreit besonders getroffenen Deutschland18). Hier und in manch anderen Fällen ist die Überlieferungs-Cnähce also groß und auch 4eutbar, und das gibt der historischen Methodik die Zuversicht, derer sie bedarf. Aber davon ausgehen dürfen wir nicht, schon gar nicht wenn, wie wir noch sehen werden, der Zufall hinzutritt. Die Chancen-Ungleicheit der Überlieferung prämiert also, sahen wir, den Grundbesitz und diskriminiert Handel und Gewerbe; sie begünstigt die Kirche und benachteiligt die Laien. Und sie tut noch etwas anderes: sie begünstigt das Unerhörte, das Ungewöhnliche, das Fatale, und benachteiligt den Alltag, das Übliche, das Normale. Das Schiff, das heil nach Hause zurückkommt, werden wir möglicherweise gar nicht wahrnehmen, es segelt unterhalb unserer Wahrnehmungsschwelle.' es würde allenfalls in einem Zöllregister ") Oassen.ß.n. 18) H. Hoffmann, Zum Register und zu den Briefen Papst Gregors VII., in: DA 32 (1976), bes. S. 121 ff. vermerkt werden, soweit solche überhaupt geführt wurden - und was ist uns davon schon erhalten. Geht das Schiff aber unter, dann findet es vielleicht Eingang in eine Chronik, in einen Brief, wird womöglich zum Versicherungsfall, zum Fall vor Gericht mit all den Akten, die dazugehören1'), kurz: das untergehende Schiff erzeugt viele Quellen und erhöht damit die Chance, daß wir 500 Jahre später von4iesem (und vielleicht nur von diesem) Schiff noch hören. Nicht zufMljg trägt-eine-von den .Übfirses-Historikern vielbenutzte portugiesische Sammlung den sprechenden Titel Histöria trägico-maritimd10): tragische Seegeschichte, maritime Geschichte als Geschichte untergehender Schiffe, r Doch ist es zu Lande nicht anders: Der gute Wechselbrief hat eine viel geringere Chance, auf uns zukommen,-als der schlechte, der sich vor Gericht und damit doppelt und dreifach in Erinnerung bringt. Alles ging schief, sagen wir uns erschrocken - und wissen davon vielleicht überhaupt nur, weil es schief ging. Denn die größere Überlieferungs-Chance hat alles, was zusätzlich Quellen erzeugt: der Streit vor Gericht (um wieviel weniger wüßten wir von Gutenberg ohne seine Prozesse, von Cölumbus ohne die Pleitos Colombi-nos, die gegen seine Erben geführten Verfahren!)21); die Mehrausgabe (die bewilligt und gerechtfertigt sein will und darum vielleicht zusätzlich Eingang in weitere Registerserien findet - überhaupt hat eine Chance alles, was etwas kostet und abgerechnet werden muß); die Repression („toute revolte qui eehappe ä la repression echappe ä Fhistoire" - und so ist eine wachsende Zahl von Bauernunruhen nicht notwendig Indiz für zunehmende Aufsässigkeit, sondern vielleicht nur für den zunehmenden Ausbau wachsamer Behörden)22). Und eben das Fatale hat die größere Überlieferungs-Chance, ja bis- ") Ein spektakuläres Beispiel: Was wüßten wir von der Florentiner Galeere mit Memlings „Jüngstem Gericht" an "Bord, wäre sie nicht 1473 von einem hansischen Korsaren gekapert worden? Die dadurch produzierten Quellen (vom Chronik-Eintrag bis zum päpstlichen Breve) bei A. v. Reumont, Di al-cune relazioni dei Fiorentini colla cittä di Danzica, in: Arch. stor. ital. NS 13,1 (1861), S.37ff. 20) B. Gomes de Brito (Lissabon 1735-36) aufgrund der 1550-1650 entstandenen Berichte. 21) Und so auf allen Ebenen: den Bürger, der vor dem Stadtgericht fortwährend prozessiert, kennen wir recht gut, seine friedfertigen Nachbarn vielleicht nur, wenn sie mit ihm zu tun kriegten. ") F. Füret, Le quantitatif en histoire, in: J. Le Goff/P. Nora (Hrsg.), Faire de l'histoire (Paris 1974), S.51, nach Ch. Tilly. 542 Historische Zeitschrift Band 240 (1985) weilen scheint es geradezu die einzige Chance: Der Kaufmann, der gesund aus Indonesien zurückkehrt, hat für uns nie gelebt, der Indo-riesien-Handel des hohen Mittelalters für uns nie existiert; stirbt der Kaufmann aber dort, dann ergeben sich Nachlaßprobleme23), das erzeugt Quellen und hebt einen Fernhandel vor unsere Augen, dessen Existenz wir sonst verkannt, ja dessen Existenz wir - mit dem argumentum e silentio - vielleicht sogar geleugnet hätten. Bei Wissenschaften, für die bisweilen einmal,keinmal V zweimal aber schon ,immer' heißt, ist das argumentum e silentio ein sehr delikates argumentum. Zwar ist es für den Historiker glücklicherweise nicht die Regel, daß er auf dem Grat zwischen einmal und zweimal balancieren müßte ; aber es gibt - wie in dem genannten Beispiel - Überliefe-rungskgen, in denen nur noch der-Tod oder die Katastrophe dieses Schweigen durchbricht. Überlieferungs-Chance kann aber noch ganz anders bedingt sein, ja sogar durch natürliche Faktoren, wie die klimatischen Verhältnisse Ägyptens, wo der Wüstensand des Fayum zahllose Papyri konserviert hat: Briefe vom Typ „Liebste Mutter, ich bin gut angekommen", die den Filter historischer Auslese niemals passiert hätten, Verträge mit Ammen, Tänzerinnen, Homer-Rezitatoren, Mäusefängern, Stenographie-Lehrern24), die für den Tag geschrieben waren und gar nicht überliefert sein wollten, „Überreste" (in Droysens Schema) in einem ganz wörtlichen Sinne. Ja, da und dort sehen wir den Prozeß der Auslese gerade begonnen: denn die Makulatur für die Mumien-Konservierung besteht, zur Freude der Althistoriker und Philologen, eben aus damals willentlich weggeworfenen Briefen, damals ausdrücklich ausgeschiedenen Rechnungen, ja sogar aus Fragmenten von Literatur, die (aus welchen Gründen auch immer) den antiken oder mittelalterlichen Ausleseprozeß nicht überstehen .sollte. 23) Beispiel bei 5. D. Goitein, Letters of Medieval Jewish Traders (Princeton 1973), Nr. 47. ") Vgl. gängige Anthologien (wie A. S. Hunt/C. C. Edgar, Select Papyri = Loeb Classical Library, 1932ff.; H. Thierfelder, Unbekannte antike Welt, Gütersloh 1963; J. Hengstl, Griechische Papyri aus Ägypten = Tusculum-Bücherei 1978). Welctfgeringen Bruchteil ursprünglichen Bestandes selbst diese ungewöhnliche Überlieferung darstellt, ersehen wir aus der Aktenführung eines ägyptischen Dorf-Büros, das binnen 4 Monaten 247 Urkunden registrierte: E. G. Turner, Greek Papyri (Oxford 1968), S. 134. A. Esch, Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall 543 War es hier das Wüstenklima, das den Vorgang der Selektion einmal aussetzte und Schriftliches ohne Ansehen der Bedeutung überdauern ließ, so hat im gleichen Ägypten noch ein änderer ungewöhnlicher Überlieferungsweg Ähnliches bewirkt und Alltägliches vor der unerbittlichen Frage nach der Überlieferungswürdigkeit bewahrt: Die Scheu, Schriftstücke zü vernichten, die beiläufig den Namen Gottes enthielten oder auch nur durch die hebräische Schrift geheiligt waren, ließ strenggläubige Juden ihre Briefe und Verträge zu ritueller Bestattung in einem eigenen Depotraum (Geniza) der Synagoge niederlegen. Glückliche Umstände, darunter wiederum das dortige Klima, haben den Inhalt einer solchenGeniza erhalten. Das sind die berühmten Bestände der Geniza von Alt-Kairo,-seit 1890 in zahllose Sammlungen zerstreut und doch aus demselben, in tausend Jahren nie geleerten Raum stammend: Geschäftsbriefe von Marokko bis Indien, Privatbriefe, Zahlungsanweisungen, Frachtlisten, die Autobiographie eines normannischen Proselyten und ein mittelhochdeutsches Epos in hebräischer Schrift, Verträge jeder Art, vom Heiratsvertrag aus dem Jahre 871 bis zum Scheidungsakt von 1879 aus Bombay, und vorzugsweise Stücke aus dem 11. und 12. Jahrhundert in totalem, immer wieder durchwühlten Durcheinander25). Ein weiterer Fall außerordentlicher Überlieferung also, der nicht auf die Nachwelt zielt (und insofern dem konservierenden Wüstensand näher ist als dem bewahrenden Archiv); ein Bestand, der nicht von der Geschichte ausgelesen wurde und nun - wie die Papyri auf den Alltag des antiken Ägypten - einen scharfgebündelten Lichtstrahl auf den Alltag einer Gruppe auch des mittelalterlichen Ägypten wirft - und ringsum jene Dunkelheit, an die das Auge des Mediävisten gewöhnt ist. Auch bei diesem Bestand ist die Zusammensetzung freilich höchst ungleich und muß - von außen - als solche erkannt werden, bevor man die Proportionen der Überlieferung für Proportionen vergangener Wirklichkeit nimmt. Daß im 11. Jahrhundert Tunesien und Sizilien so häufig genannt werden (mindestens 80% der Betreffe) und Spanien und Irak so wenig, bildet nicht etwa maßstäblich die damaligen Handelsbeziehungen Ägyptens ab, sondern erklärt sich wohl daraus, daß die spanischen und irakischen Juden in ") Über diesen Quellenbestand grundlegend S. D. Goitein, A Mediterranean Society. The Jewish Communities of the Arab World as Portrayed in the Do-cuments of the Cairö Geniza, I, (Berkeley 1967). ... 544 Historische Zeitschrift Band 240 (1985) Alt-Kairo eine andere Synagoge besuchten - und damit auch eine andere Geniza füllten, deren Bestände verloren sind. Und wenn seit " dem 12. Jahrhundert, dem Geniza-Material zufolge, der Handel seinen weiten Radius verliert und provinziell wird, so dürfte dieses (doch wohl täuschende) Bild dadurch entstanden sein, daß die meisten Kaufleute inzwischen nach Neu-Kairo übersiedelten und somit in den Einzugsbereich einer anderen Geniza26). .■ Überlieferungsverluste, wie wir sie bisher zu ermessen versuchten, sind das, wovon der Historiker mit mehr oder weniger Grund annimmt, daß sie ihm fehlen, oder genauer: daß sie verloren gegangen sind, aber doch einmal existiert haben. Doch hat das Problem der Überlieferungs-Chance auch noch eine andere Dimension: Es gibt ganze Bereiche, die in Quellen nie hineingefunden haben. Das bekannte, meist karikierend verwendete Argument, wonach, was in Quellen nicht vorkomme, auch nicht existiert habe (quod non est in actis, riönest in mundo), meint unter, den beiden Möglichkeiten (nie - in die Akten gekommen, oder: mit den Akten verloren) gerade diesen Aspekt, und da er für unsere Fragestellung gleich wichtig ist, sei er wenigstens für einen Bereich vor Augen geführt. So ist die Chance, in eine Quelle zu kommen und überliefert zu werden, auch sozialbedingt. Nicht nur der Mediävist, auch der Neuhistoriker weiß, daß historische Überlieferung von der Masse der Namenlosen wenig Individuelles, wenig Spezifisches zu berichten weiß, es sei denn wiederum Fatales: Nur das Inquisitionsverfahren gegen die Bewohner des Dorfes Montaillou hat uns Lebensschicksale einzelner Bauern und Schäfer aus dem Languedoc des frühen 14.Jahrhunderts[überliefert - Selbstaussagen, so eindringlich und so persönlich, als öffne sich dem Historiker ein neuer Raum; und nur der tödliche Inquisitionsprozeß wird dem kleinen Müller aus Friaul die Chance geben, seine eigenwillige Kosmogonie vom Käse und den Würmern Mitwelt und Nachwelt bekanntzumachen (und das war ihm diesen Preis anscheinend auch wert)27). Überhaupt schaffen Gerichtsakten da eine Gerechtigkeit besonderer Art: vom kleinen Paoletto kennen wir viele seiner Lebensstationen - aus den Florentiner Gerichtsakten, weil er zum Mörder wurde; vom 26) Ebd., S. 19 ff. u. 148 f. 27) C. Ginzburg, II formaggio e i vermi. II cosmo di un mugnaio del '500 (To-rino 1976); er möchte seine Vorstellungen Höheren zu Gehör bringen und dafür-dann gerne sterben (ebd., S. 11 f.); E. Le Roy Ladurie, Montaillou (deutsch: Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1980). A. Esch, Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall 545 Stoffel Weber kennen wir Taten und Lebensumstände - weil der Nürnberger Scharfrichter Meister Franz bei seinen Delinquenten darüber Buch führte28): Hunderte von abnormen Kurzporträts, arme Teufel, denen ihre Gegenwart vollauf genügte und die mit der Nachwelt nichts im Sinn hatten. Seinen Namen auch einer Nachwelt zu überliefern, dafür ersann sich, wie er vor Gericht bekannte, nur jener Herostratos eigens eine monströse Überlieferungs-Chance _ (mit. Erfolg, wie man sieht) - indem er eines der sieben Weltwunder, den Diana-Tempel in Ephesus, anzündete. Bis zur Überlieferung der knappsten Personalien bringen es selbst die Ärmsten bisweilen auch dort, wo alle Menschen gleich sind:im Tod - etwa in den Flo-- rentiner Totenlisten (zumal die konzessionierten Bestattungsunternehmen ihre karitativen Pflichten gegenüber der Öffentlichkeit weniger mit dem reichen Mann als mit dem armen Lazarus ausweisen mußten): Name, letzte Tätigkeit (forensis quiyolebat ire Romam;fa-mula de piacere), Todesursache (di bombarda; affoghö in Arno), Bestattungsort2'). Da greifen wir kümmerliche Einzelschicksale, immerhin, wenn auch keine Individualitäten. Gewöhnlichen Menschen ein Gesicht zu geben, ihre Individualität aufzunehmen, dazu bestand kein Anlaß, es sei denn, man wollte sie identifizierbar, steckbrieflich greifbar halten: „Giovanni aus Perugia: schwarze Augen, Kahlstellen im Bart", notiert eine Söldnerliste aus Rieti 139630), oder: „Battista aus Gonessa: jung, schlank, mit ausgeschlagenem Vorderzahn", und weitere Physiognomien wie von Kriegsknechten unter dem Kreuz Christi - aber jedenfalls Individualitäten. Doch zu uns sprechen können sie nicht. Wirklich zu Wort kommen gewöhnliche Menschen eben eigentlich nur im Verhör: wenn sie über ein Verbrechen aussagen müssen, wenn sie über ein Wunder aussagen dürfen und dabei zwangsläufig auch auf die eigene Person zu sprechen kommen (und so spricht aus den 180 Zeugen und Zeuginnen im Heiligspre- M) Das Tagebuch des Meister Franz, Scharfrichter zu Nürnberg (Nachdruck Dortmund 1980); G. Brucker, The Society of Renaissance Florence (New York 1971), etwa Nr. 48. ") D. Herlihy u. Chr. Klapisch-Zuber, Les Toscans et leurs familles (Paris 1978), S. 449 ff. 30) A. Bettucci, Riccardo da Pavia e altri conestabili agli stipendi di Rieti nel 1396-1398, in: Bollettino d. R. Societä di storia patria per l'Umbria 7 (1907), S.593f.: niger oculis, sine pilis in bärba; iuvenis gracilis cum dente anteriori avulso; cum naso longo et magno; usw. 546 Historische Zeitschrift Band 240 (1985) chungsverfahren für Santa Francesca Romana3!) endlich einmal ein anderes Rom zu uns als das beredte Rom der päpstlichen Kurie und der Humanisten). Oder in Petitionen: Wenn in Florenz bei der Steuererklärung der einfache Bürger gelegentlich aus seinem Leben erzählt, weil es glücklos war und zu. Steuernachlaß Hoffnung gibt (wobei die Zweckbestimmtheit der Aussage und der lamentierende Ton - per avere anchéogni anno una criatura e la donna non á latte-uns den sozialen Abstand noch unmerklich vergrößert)32); oder wenn in Venedig zur Begründung ihres Pensionsanträges schlichte Matrosen, Schiffszimmerleute, Kalfaterer, Sandträger die Stationen ihres bescheidenen Lebens im Dienste des Staates erinnern33). Geriehtsakten, Zeugen Vernehmungen; Petitionen - solche Quellen .allenfalls geben Antwort auf Brechts „Fragen eines lesenden Arbeiters". Die Masse der Namenlosen ist eben auch die Masse der Sprachlosen. Selbstzeugnisse aus dem sogenannten „niederen Volk" gibt es fast nicht, sie fallen in die Kategorie der nie geschriebenen Quellen, und wo sie überhaupt einmal niedergeschrieben sind, da haben solche Arbeiter-Memoiren, in der Schuhschachtel zu Hause für eine oder zwei Generationen verwahrt, eine weit geringere Überlieferungs-Chance als die publizierten Memoiren eines Diplomaten34). Warum auch sollte ein Rickschuster oder ein Hausie- 31) A. Esch, Die Zeugenaussagen im Heiligsprechungsverfahren für Santa Francesca Romana als Quelle zur Sozialgeschichte Roms im frühen Quattrocento, in: QuFiAB 53 (1973), S.93ff. 32) Beispiele: Herlihy/Klapisch und Brucker (wie Anm. 29 u. 28). ") Venedig, Archivio di Stato: Cassier delia bolia ducale, Mariegola dei poverí del pevere = Matrikel der staatlichen, aus einer Pfefferabgabe gespeisten Unterstützungskasse für alte verdiente Matrosen: a poverí vechi citadini origináli nostri de etä de anni 60 e piü i qual habiano speso la sua zoventü é la vita e i so' dia honor del stado nostro esono homeni da mar e perla vechiezza e debilita de le suo'persone sono besognosi({. 51); die Listen nennen mariner, mar-angon, chalefao, sabioner (Sandträger für den Ballast), remer (Rudermacher), chiodaruol(Nagelschmiede); s.a. den Fall Collegio Notatorio 14f. 31r. Ich danke der Direktorin des Staatsarchivs, Frau Maria Francesca Tiepolo, für freundlichen Rat. Pensionsantrag mit Lebenslauf (etwa 1381) in: Dalla guerra di Chioggia alla pace di Torino 1377-81. Catalogo della mostra docu-mentaria Venezia 1981, Nr. 168. M) Über solche Selbstzeugnisse etwa W. Fischer, Arbeitermemoiren als Quellen für Geschichte und Volkskunde der industriellen Gesellschaft, in: ders., Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung (Göttingen 1972), S.214ff.; W. Emmerich (Hrsg.), Proletarische Lebensläufe 1 (Reinbek 1974). A. Esch, Überlieferungs-Chance und Überlieferüngs-Zufall 547 rer oder ein Dienstmädchen sein beschränktes Leben niederschreiben? Solche Überlieferung bedarf besonders förderlicher Um^ stände: etwa des pietistischeh Bedürfnisses nach Rechenschaftslegung35) oder des korrigierenden Eingriffs von oben, des Eingriffs aus der höheren Sphäre der Namhaften und Sprachfähigen in diese Sphäre der Namenlosen und Sprachlösen: Goethe schreibt den Memoiren eines Bediensteten das Vorwort und bringt sie zur Publikation (Der deutsche Gil-Blas); .der sozialdemokratische Pfarrer Goehre ermuntert einen Hilfsarbeiter zur Niederschrift und schreibt ihm ein Vorwort (Karl Fischers Denkwürdigkeiten); ein der Helvetischen Gesellschaft nahestehender Pfarrer ermutigt den Kleinbauern und Garnhausierer Ulrich Bräker zur Veröffentlichung seiner Lebensgeschichte. Das Wenige, was uns überliefert ist -und kein besseres Beispiel als eben dieser arme Mann im Toggenburg -, läßt uns ahnen, was wir entbehren müssen. Wenn Bertolt Brechts „Lesender Arbeiter" fragt: „Der junge Alexander eroberte Indien. Er allein? Caesar schlug die Gallier. Hatte er nicht wenigstens einen Koch bei sich? Philipp von Spanien weinte, als seine Rotte untergegangen war. Weinte sonst niemand?"36) - wenn er so fragt, dann meint er, daß nach Caesars Koch oder nach Philipps Soldaten nicht "gefragt werde (und damit hat er, oder hatte er, sicherlich auch recht). Aber daß Brechts lesender Arbeiter auf seine treffenden Fragen nicht so leicht eine Antwort findet, liegt nicht allein an der Bosheit der herrschenden Klasse, die diese Fragen nicht stelle, die diese historische Fragestellung nicht zulasse, sondern ist wiederum zugleich ein Problem der Überlieferung (und das heißt allerdings wieder: daß nie einer danach gefragt hat). Caesars Koch hat keine sehr große Chance, in eine historische Quelle zu kommen - es sei denn, er täte das Unerhörte und vergifte Caesar. Immerhin ist diese Überlieferungslücke - die sozial bedingte -so augenfällig, daß der Historiker sie als solche wahrnimmt, als weißen Reck sieht, und daß er, wenn er will, diese weiße Räche in einigermaßen angemessenen Proportionen freihalten oder in sie hineinfragen kann, während er Disproportionalität an anderen Stellen ") Vgl. A. Esch, Pietismus und Frühindustrialisierung. Die Lebenserinnerungen des Mechanicus Arnold Volkenborn 1852 (= Nachrichten d. Akad. d. Wiss. in Göttingen, Phil.-hist. Kl. 1978 Nr. 3). M) Gesammelte Werke (Werkausgabe Suhrkamp) 9, S. 656. 548. Historische Zeitschrift Band 240 (1985) nicht immer währzunehmen vermag. Im allgemeinen aber gelten die genannten Probleme gerade für die Sozialgeschichte, da sich deren Fragestellung Wenig von der Quellenüberlieferung leiten lassen' kann und die Auslese der Überlieferung darum um so empfindlicher erfährt. Da überkommen den Historiker manchmal die bitteren Gefühle "eines Robinson Crusoe, als er aus der Katastrophe,zwar mehrere Faß Pulver, aber keinen Topf rettete: die ungleichgewich-tige Überlieferung der Quellengattungen ist eine seltsame Sache, und es ist schon viel, wenn der Historiker sie wenigstens als solche erkennt: erkennt, daß er bisweilen alle möglichen Überlieferungs-trümmefhät, aber nicht einmal einen Topf, um die wichtigste Fragestellung zu fassen, v Um den Sonderfall von sozial bedingter Überlieferungs- . Chance aufzuheben in unser größeres Thema: wir sahen, daß Überlieferung ungleichgewichtet ist einmal durch die ungleiche Chance (von Personen, Vorgängen, Quellengattungen), überliefert zu werden. Doch gibt es noch einen weiteren Faktor, der bestimmt, ob etwas überliefert wird oder nicht, und das ist: der Zufall - ein Faktor, der nicht historisch ableitbar ist und schon gar nicht berechenbar. Wenn Überlieferungs-Chance immer noch irgendwie die (Überliefe-rungs-)Absichten einer Zeit widerspiegelt, so ist der Überlieferungs-Zufall von jeder Absicht frei, souverän über alle unsere Fragen und Erwartungen, und für unsere Erkenntnis darum womöglich noch tückischer. Überlieferung ist eben nie, was man so leichthin von ihr sagt: sie ist nie „dezimiert" in dem eigentlichen Sinn, daß (wie bei der meuternden römischen Truppe, bei der jeder zehnte Mann ausgelesen und getötet wurde, daher der Begriff „Dezimierung") in mechanischer Auslese jedes zehnte Stück fortgefallen sei. Natürlich nicht. Wäre es so, dann würde die Maßstäblichkeit des Einblicks gewahrt bleiben wie bei einem Lattenzaun, bei dem in schöner Regelmäßigkeit jede dritte (oder zehnte) Latte fehlt und dem Vorübergehenden gleichmäßig Einblick gewährt. Aber der Überlieferungs-Zufall tut uns diesen Gefallen nicht: der Landsknecht, der bei der Plünderung Roms verwüstend in die Amtsstuben auf dem Kapitol eindringt, . wird nicht jeden zehnten Band der Gemeinde-Register aus dem Regal nehmen und sie aus dem Fenster werfen, sondern alles, was seine wüsten Arme zu fassen kriegen - was er Uns übrig läßt, ist wahrhaftig vom Zufall bestimmt, und doch wird diese zufällige Auslese Unsere Vorstellung vom Rom der Renaissance irgendwie beein- Esch, Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall 549 Aussen. Oder: Der über die Ufer tretende Fluß, der verwüstend in das Klostergebäude eindringt, wird nicht jede zehnte Urkunde des Klosterarchivs vernichten, sondern die.ganze untere Regalreihe und damit womöglich einen ganzen Fonds* sagen wir: die gesamten Unterlagen über Besitz außerhalb der Diözese, während der nächstgelegene Grundbesitz, mit Mühlenrechten und Rentengeschäften, im Fach darüber verschont bleibt; noch ein Regentag mehr, und unser Bild von diesem Kloster wird sich abermals ändern: Das Wasser steigt um einen weiteren Meter und verkürzt unsere Sicht der Dinge um eine weitere Kategorie, übriggeblieben sind nur noch die Schuldverschreibungen auf dem obersten Fach. Es geht auch andersherum, der, Vorgang, läßt sich auch karikierend .umkehren; Kommt das Wasser von oben, als Regen durchs schadhafte Dach, so verkürzt es uns die Perspektive in umgekehrter Reihenfolge: Zuerst tilgt es die Schulden oben ... usw. - das Kloster ist für uns wiederum ein anderes geworden. In der Regel wird es nicht ganz so schlimm sein, weiL gerade die eigenwillige, wenig systematische Ordnung eines mittelalterlichen Klosterarchivs am besten gegen zufällige Auslese schützt. Wo das Fatale aber in systematische Ordnung einbricht, da gibt es freilich kein Halten mehr, da werden dann alle Proportionen über den Haufen geworfen. Das Beispiel vom Kloster übertreibt, gewiß - aber es ist nun einmal so: Nehmen wir etwa aus einem spätmittelalterlichen Pontifikát die eine Registerserie weg und behalten nur die andere übrig, dann ist der Pontifikát ein anderer. Und der Zufall vernichtetgerne gattungsweise (wo er kann, wo eine systematische Ordnung ihn läßt - und ein relativ wohlgeordnetes Archiv wie das päpstliche läßt ihn): Nicht einzelne Bände, sondern Hunderte von Kisten (und das heißt eben: ganze Fonds) gingen bei der Rückführung des Vatikanischen Archivs von Paris nach Rom verloren37) - und so etwas hat Folgen, Folgen für die Perspektive des Historikers. Ein Beispiel: Papst Bonifaz IX. (1389-1404) verdoppelt gegen Ende seines schwierigen Pontifikats seine Zahlungs-Anmahnungen. Es wurde ihm also immer weniger gezahlt, hat man daraus gefolgert, es ging 37) R. Ritzler, Die Verschleppung der päpstlichen Archive nach Paris unter Napoleon I. und deren Rückführung nach Rom in den Jahren 1815-1817, in: Römische Historische Mitteilungen 6/7 (1962-64), S. 144ff., zu den Verlusten (rund ein Drittel) bes. S. 156 ff. Vgl. die Bestands- und Verlustrechnungen von H. Dienerza einzelnen Serien, z.B. in: Miscellanea Historiae Ponti-ficiae 45 (1979), S. 107 ff. 550 Historische Zeitschrift Band 240 (1985) I A. Esch, Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall 551 ihm also immer schlechter. Aber nein, es ging ihm im Gegenteil immer besser: Er forderte immer lauter und dringender, weil er jetzt mit Aussicht auf Erfolg fordern konnte. Der umgekehrte Eindruck entsteht nur deshalb, weil die gesamten Finanzregister verlorengegangen sind und damit die gelassene Folge von Einnahmen und Ausgaben, die Quittungen, der Alltag der Apostolischen Kammer; erhalten ist die politische Korrespondenz der Vatikan-Register, und das heißt: nicht die Routine, sondern die Initiative; Briefe, in denen der Papst nicht spricht, sondern schreit, in denen er nachdrücklich fordert, in denen er ausdrücklich verzichtet38). Was wir in diesem Fall noch zu erkennen und zu entzerren vermögen, das bleibt uns an anderen-Stellen, wo Überlieferung noch drastischer verkürzt worden ist, womöglich verborgen. Der Historiker kann sich diese Einsicht aber jederzeit selbst verschaffen und geradezu experimentell herstellen: Er nehme aus dem ihm vertrautesten Forschungsthema doch nur einmal versuchsweise den wichtigsten überlieferten Quellenfonds weg und spiele durch, wie dieser fiktive Verlust seine Sicht der Dinge verändern würde. Das gilt, wie gezeigt, für einzelne Quellengattungen (und ist da besonders fatal); das gilt für ganze Überlieferungsbestände und hat auch da Folgen. Denn täuschen wir uns nicht: das Vorhandene hat bei uns größere Rechte, les absents ont fort. Wenn die altera pars gar nicht oder nur undeutlich gehört werden kann, dann ist es dem Historiker schwer, etwa gegen den Wortschwall der Florentiner Archivalien anzuargumentieren - ein ungewöhnlich gut erhaltener Überlieferungsbestand (plus florentinische Beredsamkeit!), das überschreit sogar die andere Weltmacht der Überlieferung, die päpstliche. Über das, was sich dokumentiert und verständlich macht, wird aber auch mehr gearbeitet werden, und das läßt den Abstand zwischen dem von der Überlieferung Prämierten und dem von der Überlieferung Diskriminierten stellenweise noch größer werden - wer da hat, dem wird auch in unserer Wissenschaft gegeben. Die Frage,, wieviel und vor allem: was verloren gegangen sein mag und inwieweit es unserem Bild der Dinge empfindlich abgehe, stellt sich nicht nur dem Historiker: es ist ein Problem aller historischen Disziplinen, seien sie nun auf Monumente oder auf Literaturen gerichtet. Vom ursprünglichen Bestand weiß man auch da in aller Regel nichts (es sei denn, die Polizei habe für uns einmal die Feststel- 38) Vgl. A. Esch, in: GGA 221 (1969), bes. S. 134f. lung übernommen, wie in jenem Razzia-Protokoll aus der nordafrikanischen Stadt Cirta/Constantine, das zum Stichjahr 303, während der diokletianischen Christenverfolgung, dort den - beschlagnahmten - Bestand von .34 biblischen lateinischen Handschriften aufnahm)39). Vermutungen über das Ausmaß der Verluste sind denn auch verwegen und werden selbst im Bereich des unbestreitbar Zählbaren selten gewagt, da sie in ihrem Berechnungsverfahren sehr án die Schätzungen des Kammerjägers erinnern, der aufgrund von Erfahrungswerten aus einer bei Nacht gesichteten Ratte auf deren zehn schließt und, wo sich eine Ratte gar bei Tage zu zeigen wagt, dahinter hundert Ratten vermutet. Das Verfahren ist, wie jede Hochrechnung, leicht zu karikieren. Und doch kann die Schätzung solcher Dunkelziffern hilfreich sein, um die Dimensionen des ursprünglichen Bestandes und die Proportionen der Überlieferung in Umrissen sichtbar zu machen. Zwei einfache Beispiele aus dem Bereich der Denkmäler. Um die Bedeutung des Mithraskultes zu veranschaulichen, hat man die Zahl seiner Kultstätten zu schätzen versucht: Für das kaiserzeitliche Rom schloß Vermaseren von 45 ergrabenen auf 100 zu vermutende Mithräen, Coarelli hingegen (in Analogie zu der in Ostia festgestellten Dichte von 1 Mithräum auf je 2 ha) schloß sogar auf deren 200040) - und das wäre wirklich ein anderes Rom! Die Berechnung eines ursprünglichen Denkmälerbestandes in Gegenüberstellung mit dem überlieferten Bestand läßt sich zuverlässiger am Beispiel der römischen Meilensteine vornehmen: Rechnet man41) für den gallisch-germanischen Raum mit ursprünglich rund 30000 Meilensteinen, von denen heute nur noch 472 erhalten sind, so wäre von diesem Denkmälerbestand nur etwa ein Sech-zigstel auf uns gekommen; und davon wiederum rettete sich mehr als die Hälfte dadurch, daß nachantike Zeiten diese Stücke wiederverwendeten. Dieses Zahlenverhältnis ist interessant auch insofern, als es gewissermaßen historische und antiquarische Überlieferung auseinandertreten läßt: Über der Erde hat eine Chance zunächst nur das, was Lebende sich aneignen; die Masse dessen, was dann die ") Vgl. H. Fuhrmann, Die Sorge um den rechten Text, in: DA 25 (1969), S.4. 40) Mystéria Mithrae, Atti del Seminario internazionale su ,La specifická sto-rico-religiosa dei Misten di Mithra (a eura di U. Bianchi, Roma 1979), S.76f. 41) Vgl. G. Walser, Bemerkungen zu den gallisch-germanischen Meilensteinen, in: ZPE 43 (1981), S. 386. 552 Historische Zeitschrift Band 240 (1985) A. Esch, Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall 553 Museen füllt, ist erst später mit antiquarischer Absicht ergraben oder geborgen worden - ein nachträgliches Rückgängigmachen des historischen Prozesses; und das hat mit unserer Fragestellung nichts mehr zu tun. Auch im Bereich der Literatur wird der Bestand historisch reduziert, wobei der Prozeß der Selektion da wiederum nach anderen Regeln verlaufen wird als bei der Überlieferung von Denkmälern oder Urkunden. Also auch hier: Wieviel, und was, mag verloren sein? Am entschiedensten hat sich dazu Walter Muschg in seiher „Tragischen Literaturgeschichte" geäußert: „Die Werke der früheren Kunst und Kultur sind nur in zufälligen Trümmern erhalten geblieben. Das griechische und römische Altertum, auch seine Literatur, ist ein Ruinenfeld, das von unersetzlichen Verlusten spricht... Nicht nur die Werke gingen unter, sondern auch die Namen einst hochgeliebter Dichter, dafür wurde von fleißigen Schulmeistern und müßigen Schreibern viel unnützer Wust gerettet"; und endlich: „Auf ein Werk, das noch da ist, kommen tausend verlorene"42). Eine erschreckende Vorstellung (selbst wenn sie nicht bei der Zahl genommen sein will): Der größere Teil und da gerade manches Große sei verloren, die römische Literatur „ein Ruinenfeld, das von unersetzlichen Verlusten spricht". Das Ruinenfeld läßt sich des näheren inspizieren, die klassische Philologie hat nicht nur das vollständig Überlieferte, sondern auch die verstreuten Fragmente inventarisiert. Dieses Inventar weist-rund 780 Namen lateinischer Autoren auf, von denen uns in ihren Werken etwa 40 leidlich vollständig und weitere 100 unvollständig überliefert sind43)- Welche Umstände uns gerade diese Auslese zugeteilt haben, ist eine alte Frage an den klassischen Philologen (und an den Mediävisten: denn dies ist ein A2) W. Muschg, Tragische Literaturgeschichte (Bern 1948), S.452. 43) Zur Überlieferungsgeschichte s. etwa H. Bardon, La- litterature latine in-connue, 2 Bde. (Paris 1952-56), bes. II S.317 ff.; L. Bieler, Geschichte der römischen Literatur I (Berlin 1961), S. 11 ff.; E. J. Kenney u. P. G. Walsh, in: The Cambridge History of Classical Literature II (Cambridge 1982), S. 23 ff. bzw. 789ff.; J. de Ghellinck, Litt6rarure latine au moyen äge I (Paris 1939), S. 142ff. (Zahlen); B. Bischoff, Paläographie und frühmittelalterliche Klassikerüberlieferung, in: ders., Mittelalterliche Studien III (Stuttgart 1981), S.55ff. Einzelschicksale in: Geschichte der Textüberlieferung I, Überlieferungsgeschichte der antiken Literatur (Zürich 1961). Am Beispiel des von Cassiodor empfohlenen Kanons von Historikern B. Guenee, Histoire et culture historique dans l'Occident medieval (Paris 1980), S.301 ff. i Nachlaß, der durch den Zoll des Mittelalters mußte). Wir wissen j nur gerade wieder, daß diese Auslese eine historische ist - aber über die bestimmenden Faktoren können wir nur mutmaßen: Inwieweit bestimmt der literarische Rang die Chance der Überlieferung? Hat das Mittelmaß die geringere Chance? Was ist durch die kanonische Auswahl der Schulen schon früh ausgeschieden worden, und was erst spät durch das Christentum? Haben die verschiedenen literari-I sehen Gattungen unterschiedliche Chancen (da doclrganze Gattun- gen untergegangen sind)? „Warum ist Ciceros Hortensius unterge-j gangen und nicht sein Cato maior, ... warum Gallus und nicht Ti- j bull"44)? Inwieweit ist die Auslese bestimmt durch Geschmack und . j Maßstäbe der Lebenden - und inwieweit durch die der Toten (da i man doch gern aus antiken Autoren deren Urteile über ihresglei- I chen übernahm)? Was die Spätantike überlebte, ist in aller Regel dann nicht mehr verloren gegangen. Aber die Arche Noah, auf der sich die an-] tike Literatur ins Mittelalter und zu uns rettete, war klein, und wer ] da am Einlaß stand und den Zutritt gestattete, hatte seine eigenen ' Maßstäbe (ließ freilich auch den Goldenen Esel hinein). Wo ent- I schied den Weg der Überlieferung das tätige Interesse großer Ein- zelner? Und wo war es der bloße Zeitpunkt erster Übertragung von Papyrus auf Pergament, der den Text rettete, oder der Übertragung von der Rolle in die Buchform (oder durch was für „Flaschenhälse der Überlieferung"45) die Texte, sonst noch getrieben wurden)? Hat Fachliteratur eine besonders große Überlieferungs-Chance? Und wie wirkt sich das Exzerpt auf die Überlieferung aus: Wird es den I Autor mit Gewißheit in die Kategorie der 780 Namen bringen und ihn ebenso sicher aus der Kategorie der 40 Namen ausschließen, da sich das Werk als Exzerpt des Exzerpts des Exzerpts endlich verflüchtigt? Und wieviel ist uns überliefert, gerade weil es ausgemerzt werden sollte:. Des Kelsos' Schrift gegen den Christenglauben ist überliefert nur durch die Gegenschrift des Origines, also gewissermaßen im Negativabdruck (und wie viele Häresien sind nur auf diesem Wege polemischer Überlieferung bekannt geblieben); das Verzeichnis zu vermeidender Vulgarismen, die sogenannte Appendix Probi, wollte der eigenen Zeit die korrekte Wortform einschärfen (clamis non clamus, tabula non tabla) und übermittelt uns dabei un- 44) Bardon II, S.320. 40 Wieacker [ms Anm. 52), S.93. 554 Historische Zeitschrift Band 240 (1985) A. Esch, Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall 555 gewollt die unkorrekte, aber übliche Form, die sprachgeschichtlich ; weit interessanter ist. I Wie viele Überlieferungsschicksale sind überhaupt deutbar und j wieviele einzig und allein dem Zufall zuzuschreiben - der immerhin, blind wie er ist, für mehr Streuung sorgt und so unsere Maß- ' stäbe weniger determiniert. Wo sich die ursprünglich verwahrende 1 Ordnung rekonstruieren läßt, da werden bisweilen sogar Verluste, die der Zufäll schlug, berechenbar: Euripides geht in^Fünfer-Packs. verloren, nämlich topfweise - was Codex L überliefert, ist Teil einer 1 antiken Euripides-Gesamtausgabe, die die Dramen nach den Anfangsbuchstaben ihrer Titel alphabetisch zu je fünf in einen Buch- j topf ordnete, wobei der Topf zwischen „Herakliden" und „Ky-klops" in frühbyzantinischer Zeit bereits abhanden gekommen war46). Der Verlust aus alphabetischer Ordnung ist wenigstens nicht auslesend, sondern eben - wie es dem Zufall ansteht - blind und so mechanisch, daß man diese Art von Zensus gar für künftige absichtliche (freilich nichtliterarische) Überlieferurtgsreduktion erwogen hat47). Auch für andere Literaturen hat man sich ein Bild zu machen j versucht von der Relation zwischen Erhaltenem und nachweislich oder mutmaßlich Verlorenem. Gegen Muschgs elegisch übersteigerte Verlustrate hat, für seinen Bereich, der Altgermanist Gerhard Eis zu besserer Feststellung „literarhistorischer Proportionen" eine näher begründete Kalkulation setzen wollen48). Makulaturforschung, Handschriftenzahlen, Auflagenhöhen erlauben nämlich exaktere „Schlüsse auf die Menge und den Rang der verlorenen Denk- \ mäler". Und tatsächlich wird man sagen dürfen, daß Makulatur (also ausgeschiedene Stücke mittelalterlicher Handschriften, die zu Bucheinbänden verarbeitet wurden) bis zu einem gewissen Grade geeignet ist, in der Berechnung ursprünglichen Bestandes als Gegenprobe zu dienen: denn Makulatur ist ja gerade das willentlich Ausgeschiedene, ist Nicht-Überlieferung, und insofern der positiven Auslese durch Bedürfnisse und Geschmack lebender Generationen **) B. Snell, Zwei Töpfe mit Euripides-Papyri, in: ders., Gesammelte Schriften (1966), S. 176 f., mit weiteren Beispielen für Überlieferung bzw. Verlust in Einheiten zu 5 Büchern. 47) S. u. S. 566 f. 4S) G. Eis, Von der verlorenen altdeutschen Dichtung, in: ders.. Vom Werden altdeutscher Dichtung. Literarhistorische Proportionen (Berlin 1962), S.7ff. diametral entgegengesetzt. Eis kam zu dem Ergebnis, daß Makulaturfunde und erhaltene Handschriften, unwillkürliche und willkürliche Überlieferung, einander in ihren zahlenmäßigen Proportionen weitgehend entsprechen, daß also die Zahl der gänzlich verschollenen Werke so groß nicht sein kann. Ob man aber so weit gehen darf, zwischen heute erhaltenen und einmal vorhandenen mittelhochdeutschen Handschriften allgemein ein Verhältnis von 1:150 ermitteln zu wollen und daraus dann 57000 Schwabenspiegel und 13 000 Par-zivals herauszumultiplizieren49), muß bezweifelt werden, weil das unserer Einsicht in die Ungleichmäßigkeit von Überlieferung widerspricht. Immerhin vermag gerade die Inkünabelförschung zu solchen Fragen beizutragen, da sie in einigen Fällen (etwa für Pannartz und Sweynheym in Rom) Verlagsprogramm und Auflagenhöhe feststellen und mit dem heutigen Bestand vergleichen kann50) - mit den bekannten tröstlichen Ergebnissen (die man freilich auf die voraufgehenden Uberlieferungsverhältnisse nicht einfach übertragen sollte). Wenn sich dabei erweist, daß oft gerade die ah ein breiteres Publikum gerichteten Titel die geringere Überlieferungs-Chance haben, so entspricht das dem höheren Grad an Gefährdung - eine Einsicht, die sich, zu methodischer Nutzanwendung, doch wohl auch umkehren läßt: Daß nämlich die spärliche Überlieferung bestimmter Titel nicht ein Indiz für mangelndes Interesse der Zeitgenossen sein muß, sondern bisweilen geradezu ein Indiz dafür sein kann, daß diese Bücher in ihrer Zeit von breiteren Kreisen gekauft und gelesen worden sind und eben dadurch zugrunde gingen. Wer aber wird schon Großformatig-Gelehrsames zerlesen? Die bisherigen Überlegungen galten dem Verlust literarischer Werke, von deren früherer Existenz wir immerhin wissen - Gallus gibt es nicht mehr, aber es gab ihn; Varius gibt es nicht mehr, aber 49) Gegen diese Berechnung (Eis ging dabei vom Druck des Passauer Missale aus) vgl. die Einwände von P. J. Becker, Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen (Wiesbaden 1977), S.221 f.; H.-J. Koppitz, Studien zur Tradierung der weltlichen mittelhochdeutschen Epik im 15. und beginnenden 16.Jh. (München 1980), S.27ff.; als Gegenbeispiel die Gutenberg-Bibel, deren Auflagenhöhe nun gesichert sein dürfte s. E. Meuthen, in: Gutenberg-Jährbuch 1982, S. 116. 50) Beispiele bei F. Geldner, Inkunabelkunde (Wiesbaden 1978), S.244ff.; oder die Schedeische Weltchronik anhand der Endabrechnung der Gesellschafter mit Angaben über die (an die Buchführer versandten) verkauften und unverkauften Exemplare, s. A. Wibon, The Making of.the Nuremberg Chronicle (Amsterdam 1976), S. 233 ff. 556 Historische Zeitschrift Band 240 (1985) ■i A. Esch, Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall 557 es gab ihn-, und über die sich darum auch schreiben läßt: la littera-ture \a£ine jnconnue, The lost literature of medieval England51). Daß sich jenseits dieses wahrnehmbaren Horizontes noch weite dunkle Räume von literarischer oder historischer Wirklichkeit auftun könnten, die Überlieferungs-Chance oder Überlieferungs-Zufall indes auf immer verschlossen haben, scheint ein; müßiger Gedanke, über den wir uns aber doch einen Augenblick lang beunruhigen sollten. Denn daß die Nachwelt sieh das wirklich Wesentliche nicht entgehen lasse, ist eine nicht beweisbare Vermutung. Auch der Gegenbeweis ist nicht zu führen, aber man kommt ihm doch nahe, wenn man sich jene Grenzfälle vor Augen führt, bei denen die Überlieferung sogar von wahrhaft grundlegenden Texten am seidenen Faden einer einzigen Handschrift hing, und deren Nachleben, darum wie eine Auferstehung von den Toten wirkt: Catull etwa, Petrons Satyri-con oder große Teile des Tacitus - und schon diese Namen lassen uns ermessen, daß, wären sie verloren, in unserem Bild der Antike nicht einfach ein Strich, sondern eine Schattierung fehlen würde. Oder ein nichtliterarisches Beispiel, das Überlieferungsschicksal von Justinians Digestenwerk, das sich selbst bereits als Auslese aus fast 1400 Jahren römischer Rechtsgeschichte verstand, ausdrücklich als Reduktion von gesichteten 3 Millionen Zeilen auf deren 15000052). Doch selbst diese Auslese auf etwa ein Zwanzigstel, die leidlich gesicherte Überlieferung versprach;, drohte gänzlich verloren zu gehen, bis auf vermutlich nur eine öder zwei Handschriften, von denen dann im späten 11. Jahrhundert das Studium des vollständigen Corpus iuris seinen Ausgang nehmen konnte - mit Folgen, die die Welt veränderten. Wir sollten über solchen Überlieferungsschicksalen nicht elegisch werden und dürfen uns getrost eingestehen, daß das so oder so nicht die Antike ist, sondern unsere Antike, deren Bild sich dann auch schwerlich durch einen neuen Fund, sondern periodisch durch eine neue Sicht der Dinge wandelt. Vergleicht er mit dem Quellenbestand der dann folgenden Jahrhunderte (gemeint ist immer die Zusammensetzung, weniger die Quantität), dann mag sich der Hi- 5I) H. Bardon (wie Anm. 43) bzw. R. W. Chambers (1925). ") So der Erlaß Tanta (Cod. 1.17,2). Zur Überlieferungsgeschichte vgl. F. Wieacker, Textstufen klassischer Juristen (Göttingen 1960), S. 151 ff., und die Literatur bei P. Weimar in: H. Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte I (München 1973), S.132ff. u. 158ff. storiker zufrieden geben, ja manchmal mag ihm scheinen, als liege das Exemplarische der Antike auch in der glücklichen Proportionie-rungihjerlüberlieferung, in vielen Bereichen (sieht man einmal von der Musik ab: Was davon erhalten ist, paßt auf eine einzige Schallplatte), bis hin zu den Realien: Da haben wir eine Straßenkarte der ganzen antiken Welt; wir haben, einen Reiseführer, und gerade, durch Griechenland; wir haben, in der Forma Urbis, ausgerechnet den Stadtplan des antiken Rom; wir haben ein Staatshandbuch mit den Dienststellen des-spätrömischen-Reiches, eiiieh ganzen Preßtarif usw. usf. - und obendrein noch eine vollständige Stadt in ihrem Alltag erstarrt und konserviert, daß sie uns als Musterprobe diene. Der Sinn dieser Ausführungen ist denn ja auch nicht, Verlorenes zu beklagen, sondern zu fragen, ob und inwieweit Überlieferungsverluste bei einer gewissen Zusammensetzung die Maßstäblichkeit unseres Urteils in kaum wahrnehmbarer Weise beeinträchtigen: beeinträchtigen dadurch, daß wir Unvollständigkeit nicht immer erkennen oder gar nicht wahrhaben wollen; daß wir Verlorenes unbewußt kompensieren, statt es in klarem Bewußtsein über das Gefälle unserer Argumentation (von dem, was wir haben, zu dem, was wir brauchen) zu erschließen; daß wir Fehlendes durch lineare Verlängerung von Vorhandenem beiläufig auffüllen (weil uns im Zweifelsfall nichts Besseres einfällt als die Annahme, es müsse wohl geradeaus weitergegangen sein: die Städte immer größer, die Bibliotheken immer reicher53), usw.); daß_wir Mittelwerte rekonstruieren, wo Extremsituationen im Spiel gewesen sein könnten. Für den Bereich der antiken Literatur, deren Überlieferungsschicksale im Voraufgehenden kurz einbezogen wurden, hat Wolf-Hartmut Friedrich in seinem Aufsatz „Philologen als Teleologen"54) - ausgehend von dem bekannten Streit, wie vollständig, wie geschlossen die überlieferte Ilias sei - treffend dargelegt, worin' die Gefahr besteht: Es ist die Versuchung, „die Vollständigkeit des Unvollständigen zu behaupten", „eine fragmentarische Existenz in eine erfüllte umzudeuten" (die erhaltene Ilias gerade richtig lang, der 35jährige Mozart gerade rechtzeitig gestorben usw.); es ist „die Fähigkeit, sich mit dem Gegebenen einzurichten". Eine solche Interpretation „kommt niemals in 53) Aus dieser unreflektierten Vorstellung erklärt Bischoff (wie Anm. 43), S.56, die allzu häufige Zuweisung von Handschriften an das 10. statt 9. Jh. ") In: Festschrift für J. Klein zum 70. Geburtstag (Göttingen 1967), und jetzt in: W.-H. Friedrich, Dauer im Wechsel (Göttingen 1977), S.22-35. 558 Historische Zeitschrift Band 240 (1985) A. Esch, Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall 559 Verlegenheit. Man mag den Befund noch so sehr verändern, sie wird immer über Argumente verfügen, warum er sich gerade so und nicht anders darbieten müsse. Man darf ein. Bauglied nach-dem anderen entfernen, es bleibt immer ein Parthenon übrig". Und wahrhaftig: nicht allein die Philologen, irgendwo sind wir alle Ideologen, die wir mit Geschichte und mit (von der Geschichte zensierter) Überlieferung zu tun haben; Teleologen sowohl in der Darstellung historischer Entwicklung (als habe es keine Ätíejnativen_gegeben) wie in der Bewertung des Überlieferten (als könnten uns nicht ganze Stücke von Wirklichkeit abhanden gekommen sein). Doch um auf die Beispiele des Historikers zurückzulenken: sahen wir die Überlieferungs-Chance bereits ihre Verzerrende Wirkung tun und aus einer Handels- und Gewerbestadt just Händel Und Gewerbe fortnehmen, so wollen wir uns - nach Würdigung auch des Zufalls und einem Seitenblick auf das Überlieferungsproblem in benachbarten Disziplinen - noch einmal und nun begründeter die Frage vorlegen: hat diese von Chance und Zufall gewollte Auslese der Überlieferung Folgen für unsere Erkenntnis? Sie hat Folgen, wie könnte es anders sein. Auf dem Bild, das uns die Überlieferung von einer Zeit gibt, bildet sie uns - Chance und Zufall wollen es so - gewissermaßen dieses im Maßstab 1:5000, jenes im Maßstab 1:50000 ab, wieder anderes gar nicht, und es bleibt uns (und unserer Fragestellung) überlassen, wie wir das auf unser Bild von dieser Zeit übertragen wollen, und das heißt auch: abzuschätzen, welche Hachen wir weiß lassen müssen - Flächen, die wir nicht füllen können und die wir doch als solche erkennen sollten, womöglich in ihren richtigen Proportionen erkennen sollten. Denn wenn wir uns darüber nicht ausdrücklich Rechenschaft geben, könnten wir der natürlichen Versuchung erliegen, ein Vollständiges zu postulieren und den fragmentarischen Charakter (zwar nicht der Überlieferung, aber des von ihr vermittelten Bildes) zu verkennen und diese Flächen unbewußt in irgendeiner Weise zu füllen, statt sie als Aussparung zu erkennen und zu belassen. Die Maßstäblichkeit dessen zu erkennen, was die Überlieferung uns abbildet, uns anbietet, und das heißt: die auslesende Überlieferung zu entzerren, ist schwer, schwerer jedenfalls, als es das (für die Arbeit des Historikers gewöhnlich verwendete, hier möglichst vermiedene) Bild vom Mosaik und seinen fehlenden Steinen zu erkennen gibt. Zwar nimmt der Mensch auch seine Gegenwart nicht anders als auslesend wahr: eine Auslese vermittelt uns natürlich auch die Tageszeitung heute, eine extreme Auslese sogar. Man hat errechnet, daß eine große Presse-Agentur von den rund 500000 Wörtern, die täglich bei ihr eingehen (und ihrerseits bereits eine Auswahl auf rund 10% durch die Zulieferer, darstellen), nur wiederum etwa 10% an die Zeitungen weitergibt - und die übernehmen davon wiederum nur soviel, wie in ihre Zeitung hineinpaßt. Kurz: „die Wahrheit der Presse kann ... ihrem Wesen wie ihrer Technik nach gar nichts anderes sein als eine .Wahrheit nach Maß'"55). Was aber mag dann das Maß dieser Wahrheit sein? Aber belassen wir es bei einfachen Grundeinsichten: Solange es die von Christian Morgenstern erdachten Zeitungen nicht gibt, „die immer gerade das mitteilen und betonen,' was augenblicklich nicht ist; zum Beispiel: keine Cholera! Kein Krieg! Keine Revolution! Keine schlechte Ernte! Keine neue Steuer"!56) - solange wird uns die Zeitung grundsätzlich mehr das Ungewöhnliche, das Berichtens-werte mitteilen so wie jede bewußte Überlieferung und Mitteilung mehr dem Außergewöhnlichen als dem Alltäglichen gilt, auch im privaten Bereich: „wie viele Fotos gibt es von Sonntagen, und wie viele von ... Montagen"57)? Eine Sonntag/Montag-Grenze eigener Art, die wir für unsere eigene Gegenwart leicht, für.frühere Zeiten schwer ziehen können. Und so, wie die Nachrichten dann auf die Seiten der Zeitung sortiert sind, würde es für das Bild, das sich eine spätere Zeit von der unsrigen machen wird, einen großen Unterschied bedeuten, ob ihr von einer Tageszeitung zufällig die Weihnachts-Beilage oder aber die 14. Seite eines Dienstags im Februar überliefert wäre. Für die Überlieferung und ihre Bewertung hat der Informations-Verbund, den die Presse unter der Menschheit herstellt, im übrigen noch tiefgreifende Folgen: Eines der aufregendsten Erlebnisse der jüngeren Menschheitsgeschichte, die erste Mondlandung, wird in den Abertausenden von Postkarten, die an jenem Juli-Sonntag geschrieben worden sind, vermutlich gar nicht erwähnt worden sein, einfach weil jedermann diese Information bei jedermann voraussetzen durfte - ein silentium, aus dem der Historiker kein argumentum mehr machen wird. ") Steffens, Das Geschäft mit der Nachricht (Hamburg 1969), S.21; Berechnung des eingehenden und weitergegebenen Nachrichtenmaterials am Beispiel von dpa, ebd. S. 28 f. ")Zit. ebd. S.45. 5') D. u. I. Bertaux, in: L. Niethammer (Hrsg.), Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der „oral history" (Frankfurt a. M. 1980), S. 111. 560 Historische Zeitschrift Band 240 (1985) A. Esch, Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall 561 Noch einmal: Auch uns heute also werden von unseren Zeitungen gewissermaßen nur die Spitzen des Geschehens oberhalb einer gewissen Wahrnehmungsschwelle übermittelt, eben das Berichtens-, werte, die abgestürzten Flugzeuge und nicht die heil gelandeten, die Abweichungen nach oben und nach unten, die Rekorde und nicht die Durchschnittsleistung - aber da wir in diesem Alltag leben, ist es uns möglich, diese Nachrichten zu re-dimensionieren, sie immer sogleich auf die Proportionen zurückzuführen, die_sie im Alltag haben. Denn für unsere Zeit haben wir diesen Bezugsrahmen, der uns (wie beim Puzzle, wenn man den Rahmen erst einmal beisammen hat) abzuschätzen erlaubt, was auf den fehlenden Stücken abgebildet sein mag - oder in einem anderen, dem Geographen vertrauten Bild: Weil wir gewissermaßen das „Verzerrungsgitter" zeichnen können, das uns zu erkennen erlaubt, wo es die Darstellung an Maßstabstreue fehlen läßt. Für frühere Zeiten hingegen haben wir diesen Bezugsrahmen nicht, und so sind wir, wenn wir Nachrichten gewichten wollen, oft wehrlos den Proportionen ausgeliefert, die uns die Überlieferung zu vermitteln beliebt. Es gibt natürlich Disproportionalität, die in die Augen springt: 100 Barbiere überliefert und nur 1 Bäcker - da werden wir uns gleich sagen, daß das wohl nicht gut möglich ist. Oder wenn bei nachweislich vollständiger Überlieferung im Imbreviaturbuch eines Notars in einer großen Hafenstadt wie Genua dennoch das Meer praktisch nicht vorkommt, so werden wir leicht durchschauen, daß hier eben nur der spezifische Kundenkreis eines Notars und nicht das Wirtschaftsleben dieser Stadt abgebildet sei, daß hier also Untypisches überbelichtet werde. Aber wo die UnVerhältnismäßigkeit weniger zutage tritt, wird es kritisch, wird es kontrovers. Wenn man etwa aus den Eidlisten italienischer Kommunen (lange Namenslisten derer, die für ihre Stadt einen Vertrag beschworen) die Sozial-und Berufsstruktur einer Stadt rekonstruieren will, dann muß man sich erst einmal darüber klar werden, wie vollständig diese Listen sind: Nennen sie alle Bürger der Stadt? (fast nie); nennen sie den Beruf wirklich zu jedem Namen? (nie).; oder nennen sie den Beruf womöglich nur dort, wo ein Johannes von einem anderen Johannes unterschieden werden soll? (so ist es oft)58). Von diesen unsicheren Relationen schließt man dann womöglich wieder auf die Einwoh- ss) Beispiele bei D. Waley, Die italienischen Stadtstaaten (München 1969), S.34f. nerzahl: Da lesen wir über das kleine Ulübrae in den Pontinischen Sümpfen, in der Antike habe es nachweislich 10 Bäcker gehabt, und Leipzig habe I Bäcker auf 500 Einwohner .:.S9). Nun, Rom hat heute 1 Friseur auf 1200 Einwohner, Bern hat heute 297 Friseure, also müßte Bern 350000 Einwohner haben (die es nicht hat). Fehlrechnungen solcher Art sind für die Gegenwart leicht zu karikieren, aber für die Vergangenheit schwer zu erkennen. Soweit -sich eine Gesellschaft nicht schon so vollständig registriert wie das Florenz des Katasters von 1427 oder die avignonesische Kurie im 14. Jahrhundert, müssen wir uns darüber klar sein, daß uns der feste Bezugsjahmen fehlt und durch nichts zu ersetzen ist. Es gibt zwar Quellen, die Vollständigkeit wenigstens näherungsweise zu bieten scheinen: Eine detaillierte Totenliste mag in fatalen Fällen sogar mehr als die Hälfte einer Stadt umfassen - und doch muß man sich bewußt bleiben, daß diese Überlieferung ein sondage pestewfa), eine von der Pest ausgelesene Mustersammlung ist, deren Tücken wir nicht durchschauen, wenn wir sie zu einer Berufsstatistik verwenden wollten. In dieser Problematik, zu richtiger Bewertung quantifizierten Materials erst einmal ein Ganzes vor Augen zu haben, liegt im übrigen auch der spezifische Wert von normativen Quellen, die in der Wertschätzung der Historiker gegenwärtig etwas zurückgefallen sind (früher war es umgekehrt). Daß man Quellen dieser Art - etwa Verordnungen, Zunftstatuten - nicht für ein photographisches Abbild historischer Wirklichkeit halten sollte, ist evident, da sie Wirklichkeit oft wohl mehr postulieren als wiedergeben (man kann Historiker geradezu danach einteilen, öb sie die wiederholte Einschärfung einer Norm als mehrmaligen Nachweis bestehender Verhältnisse interpretieren oder aber gerade umgekehrt als Beweis dafür, daß die Wirklichkeit dem nicht entsprach und die Norm eben darum immer wieder eingeschärft werden mußte); aber solche normativen Texte geben uns doch einen gewissen Anhalt. Allzu anhaltslose Quantifizierung hat denn auch bei einigen Historikern die quantifizierende Methode an sich in Mißkredit gebracht -zu Unrecht, da Quantifizierung, mit der gebotenen Behutsamkeit dort angewendet, wo es möglich ist, auch dem Mediävisten wichtige neue Einsichten, ja bisweilen auch gerade Proportionen zu geben vermag, ohne die er seine Eindrücke nicht gewichten könnte: ") M. Hofmann, RE Suppl. VIII, 1194. 60) E. Le Roy Ladurie, Le Carnaval de Romans (Paris 1979), S. 13. 562 Historische Zeitschrift Band 240 (1985) A. Esch, Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall 563 „quantification is an antidote to impressionism""). Freilich müssen auch diese Ergebnisse dann erst noch interpretiert werden, die Zahlen nicht nur gezählt, sondern auch gewogen werden - denn andernfalls käme man zu Einsichten, die so wenig hilfreich wären wie die Erkenntnis: Bern hat 18 Kinos, aber nur 1 Universität. Aber lassen wir die Zahlenspiele, die das Problem nur besonders augenfällig machen sollten. Wenn nun; aber schon auf dieser Ebene Zahlenverhältnisse nie ein rein quantitatives, sondern immer zugleich schon ein qualitatives Problem sind, um wieviel fataler ist es bei Relationen auf einer höheren Ebene unserer Fragestellung: dem Verhältnis von überlieferten Nachrichten zu Kirche und Laien, Grundbesitz und Handel, Handel und Produktion usw. Was unterschiedlich dichte Überlieferung da anrichten kann, läßt sich eben gerade auch im Bereich der Wirtschaftsgeschichte anhand der verschiedenen wirtschaftlichen Sektoren sehen: wie sie von der Überlieferung bedacht - und dann vom Historiker beachtet werden. Wenn oben über die Chancen-Verteilung bei rein urkundlicher Überlieferung festgestellt wurde, daß sie den Handel benachteilige und den Grundbesitz begünstige, so kann sich dieses Verhältnis in anderen Überlieferungslagen auch ganz anders darstellen. In erzählenden Quellen (wo es sie gibt, im frühen Lucca gibt es sie nicht) kann der Fernhandel durchaus gegenwärtig, ja überrepräsentiert sein:.Man denke an die Nachrichten über den Orienthandel bei Gregor von Tours, aus denen Henri Pirenne so weitgehende Schlüsse gezogen hat. Und zweitens kann im späten Mittelalter -mit wachsender Schriftlichkeit, abnehmender Bedeutung geistlicher Archive, zunehmender Bedeutung von Familien- und Geschäftsarchiven (125000 originale Geschäftsbriefe allein aus dem Archivio Datini!) - auch im Bereich der Akten der Sektor des Handels ein großes Gewicht bekommen, das dann durch das entgegenkom- 61) D. Herlihy, Quantification in the Middle Ages, in: V. R. Lorwin and J. M. Price (Eds.), The Dimensions of the Past. Materials, Problems, and Oppor-tunities for Quantitative Work in History (New Häven 1972), S. 18. Musterbeispiel für gelungene statistische Auswertung ist die Bearbeitung der 60000 Florentiner Steurerklärungen von 1427 durch Herlihy/Klapisch (wie Anm. 29). Statistisch auswertbare frühe Serien zusammengestellt (und die Gründe 9 ihrer Entstehung besprochen) bei E. Pitz, Entstehung und Umfang statistischer Quellen in der vorindustriellen Zeit, in: W. Ehbrecht (Hrsg.), Voraussetzungen und Methoden geschichtlicher Städteforschung (1979), S.47ff. mit weiterer Literatur. inende Interesse des Historikers womöglich noch verdoppelt wird: Der Handel, zumal der spektakuläre, nun gut dokumentierte Fern-- handel, erregt seine besondere Erwartung, da wiegt ihm ein Gramm Pfeffer mehr als eine Tonne Salz. Und so gehen auch hier Problemlagen der Überlieferung einerseits und der Bewertung andrerseits bisweilen bruchlos und kaum wahrnehmbar ineinander über. Nicht alles, was überliefert ist, wird vom Historiker auch entsprechend zur Kenntnis genommen; was er nicht zur Kenntnis nimmt, ist so gut wie nicht überliefert. Man vertraue bis zu einem gewissen Grade auf die Abfolge der Historikergenerationen und ihren wechselnden Appetit, ihre unterschiedlichen Fragestellungen, die ganze Bereiche von Überlieferung aufleben oder dahindämmern lassen"), und daß so der massenhafte, doch unansehnliche Nahhandel auch einmal sein Recht bekomme gegenüber dem spektakulären, mehr Überlieferung produzierenden Fémhandel. Aber solche Fehlproportionie-rungen - bedingt durch Überlieferung, durch Fragestellung oder un-unterscheidbar durch beides - haben ihre Wirkung auch schon an großen Gegenständen erwiesen: Wie bei der Diskussion um die-These Pirennes so hat auch bei der Diskussion über den krisenhaften Charakter des Spätmittelalters in Italien die Übergewichtung des Fernhandels (da besser überliefert, besser erforscht, als spannender empfunden) die Bedeutung des agrarischen Sektors allzu sehr in den Hintergrund treten lassen und zeitweilig zu einem allzu düsteren Gesamtbild geführt"). Aber kehren wir auf den Ausgangspunkt zurück. Überlieferungsprobleme, wie sie im Mittelpunkt dieser Überlegungen stehen, betreffen vor allem den Mediävisten, und da besonders den Historiker des frühen und hohen Mittelalters. Denn mit dem Beginn des Akten-Zeitalters werden die Probleme andere. Das beginnt - ohne daß hier auf die Kausalzusammenhänge eingegangen sei - mit dem geradezu unvorstellbaren Anwachsen der Schriftlichkeit, wie es sich bereits im 12. Jahrhundert ankündigt: in Italien zumal (davon war schon die Rede), aber etwa auch in England, wo sich der Ausstoß 62) Vgl. Füret (wie Anm. 22), S.49, doch scheint dem Mediävisten Furets Zuversicht in die „elasticite extraordinaire et presque illimitée de ses sources" allzu optimistisch. ™) Wie vor allem C. M. Gpolla hervorgehoben hat (s. die Zusammenfassung der Diskussion in meinem Forschungsbericht „Über den Zusammenhang von Kunst und Wirtschaft in der italienischen Renaissance", in: ZHF 8 (1981), bes. S. 184ff.); s.a. Waley (wie Anm. 58), S. 16. 564 Historische Zeitschrift Band 240 (1985) A. Esch, Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall 565 der königlichen Kanzlei nun alle zwei bis drei Jahrzehnte verdoppelte; wo die Privaturkunden schon im 13. Jahrhundert in die Mil-Honen gegangen sein müssen; wo die 2000 Urkunden^ die aus angelsächsischer Zeit insgesamt überliefert sind, im späten 13.Jahrhundert dann jeweils schon binnen 4-5 Wochen in einer einzigen Sitzungsperiode der königlichen Reiserichter in jeder normalen Grafschaft produziert wurden64). Solche Quantensprünge der Schriftlich-keit ändern nicht einfach den Quellenbestand, ändern nicht nur unsere Kenntnis von der Geschichte, nein: die Geschichte selbst wird eine andere. Ein nächster Schub in diesem Sinn wird dann die Erfindung des Buchdrucks sein - daß dadurch auch die Überlieferungs-Chance gemehrt wurde, ist da nur noch ein beiläufiger Ne--beneffekt, der aber schon den Zeitgenossen bewußt war, wenn sie an der neuen Erfindung nämlich ausdrücklich auch rühmten, daß künftig kein klassischer Autor mehr verloren gehen könne, ja: wäre der Buchdruck früher erfunden worden, so wären Plinius oder Li-vius nicht so unvollständig überliefert65). Daß der zunehmende Grad von Schriftlichkeit, der Übergang vom Urkunden- zum Aktenzeitalter, das neue Reproduktionsverfah-ren des Buchdrucks usw. unsere Fragestellung direkt berühren, liegt auf der Hand. Für den Neuhistoriker sind die Probleme eben andere (wenngleich in der Frühneuzeit gegenüber dem Spätmittelalter zunächst nur graduell) - und abermals andere sind sie natürlich für den Zeithistoriker. Doch auch für ihn ist es ein Problem der Proportionen, freilich nicht der von einer fragmentarischen Überlieferung übermittelten Proportionen, sondern der Proportionen, die er seinem Material abgewinnt, die er der Materialmasse einzieht, und so muß er andere Tugenden entwickeln als der Historiker des frühen und hohen Mittelalters. Rühmt der wohlwollende Rezensent beim Mediävisten vorzugsweise den „kombinatorischen Scharfsinn", so beim Zeithistoriker eher den „sicheren Zugriff - und wahrhaftig, M) M. T. Clanchy, From Memory to Written Record. England 1066-1307 (London 1979), bes. S. lff. u. 29 ff. mit Graphik S.44. Daß der Überlieferungsbestand in England bekanntlich schon im ganzen ein anderer ist als vielfach auf dem Kontinent (s.a. Clanchy, S.7), fällt an sich schon unter unsere Fragestellung. ") So Polidoro Vergilio und Sebastian Franck, s. H. Widmann, Vom Nutzen und Nachteil der Erfindung des Buchdrucks - aus der Sicht der Zeitgenossen des Erfinders (=Kleine Drucke der Gutenberg-Gesellschaft 92, 1973), S.38f. u. 39f. den braucht es angesichts der Materialfülle. Man denke nur an die Aktenproduktion der modernen Verwaltung auf allen ihren Ebenen: Nach fünfeinhalb Jahren Regierungszeit hat die Nixon-Administration 42 Millionen Seiten Dokumente hinterlassen - wobei noch sehr die Frage ist, ob wichtige Entscheidungen nicht per Telephon gefallen sind und in dieser Papiermasse vielleicht gar nicht mehr überliefert werden: In immer mehr Akten steht immer weniger - - drin. Oder ein anderes, näherliegendes Beispiel: In modernen Staatsarchiven von der Größenordnung des Staatsarchivs Bern wachsen die Aktenbestände inzwischen womöglich schon alle zehn Jahre um einen Kilometer Stellfläche! Daß sich der Archivar, daß sich die Gegenwärt solcher Überlieferungs-Massen erwehren muß, liegt auf der Hand. Aber wie sich erwehren? Diese Frage läßt uns, ganz praktisch, unser Thema noch einmal von einer anderen Seite sehen: Wir begannen mit der Frage, was wir denn gern überliefert bekämen, und sehen uns nun zum Schluß der Frage gegenüber, was wir denn unsererseits überliefern wollen. Denn mit dem (unter Archivaren so genannten) „Aussonderungs-und Wertungsverfahren" bestimmen wir, bestimmt der Archivar, was endlich der Überlieferung für wert zu halten sei - er vereinigt gewissermaßen Chance und Zufall in seiner Person: Wahrhaftig eine fast göttliche Macht, freilich mit durchaus menschlichen Zügen, mit (manchmal sehr persönlichen) Auswahlkriterien, die dann noch von Generation zu Generation wechseln. Einer der nützlichsten Fonds des Berner Staatsarchivs trägt die bemerkenswerte Signatur „Unnütze Papiere" - eben darum, weil diese Papiere im 18. Jahrhundert der Überlieferung nicht für wert befunden wurden, während sie heute sehr willkommen sind. Unter der Aufschrift „Unnütze Handelssachen" lagen die Akten der Großen Ravensburger Handelsgesellschaft vergessen in Salem, bis Aloys Schulte darin einen Schatz erkannte und aus dieser größten spätmittelalterlichen Handelsgesellschaft nördlich der Alpen zugleich auch die bestdokumentierte machte. Ein eigenes bureau de triage gab im Frankreich der Revolution eine Fülle von Archivalien als überholte Feudalsachen zur Vernichtung frei, darunter die Gagen-Listen des burgundischen Hofes, deren handlich-einheitliche Pergamentstreifen sich vorzüglich für die Verarbeitung zu Patronenhülsen und Kartuschen eigneten (die 5-10%, die von der halben Million dieser täglichen es-croes des gaiges übrigblieben, sind eine ganz und gar zufällige Auslese): Der größte Teil dieser und anderer „erledigter Feudaltitel" 566 Historische Zeitschrift Band 240(1985) A. Esch, Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall 567 wurde - in drastischer Verkehrung ihrer ursprünglichen Funktion -seit 1793 von der französischen Armee unter die reaktionären Gegner der Revolution geschossen. Öder: Prozeßakten des Hl. Offiziums dienten 1817 in grotesker Zweckentfremdung als Einwickelpapier in Pariser Feinkostläden, da der zuständige päpstliche Kommissar längst nicht alle verschleppten vatikanischen Akten der Rückführung nach Rom für wert hielt66) - und was es an spektaku-~ lären (Und vielleicht schlimmer noch: unauffällig-alltäglichen) Beispielen vermeidbarer Überlieferungsverluste in jüngerer Zeit sonst noch geben mag. Der Historiker wird darüber nicht die Fassung verlieren, zumal er sich solches Aussondern ganzer Fonds wiederum historisch erklären kann. Was aber, wenn er selbst der Auslesende ist? Gerade die Umkehrung, die Frage nicht mehr nach früherem, von uns nicht zu verantwortendem Überlieferungsverlust, sondern nach künftiger verantwortlicher Überliefemngsbildung, sollte uns zutiefst beunruhigen. Wie würden wir denn moderne Gesellschaft repräsentativ abbilden, wenn wir nur 10 oder 5 oder 1% der anfallenden Akten auslesen dürften? Und wie wird man einmal über unser Ausleseverfahren, über unsere Vorstellung von Archivwürdigkeit urteilen? Die kompetenten und verantwortungsvollen Überlegungen, die von Seiten der Archivare zu diesem Thema angestellt worden sind67), können hier nicht in der ihnen zukommenden Ausführlichkeit behandelt werden; doch sei wenigstens darauf hingewiesen, daß neben der weiterhin unverzichtbaren Auslese besonderer, wichtiger Stücke (deren Überlieferungs-Chance dann womöglich durch Sicherheitsverfilmung noch zusätzlich vermehrt wird) auch die Aufbewahrung massenhafter einförmiger Akten in irgendeiner Auswahl für notwendig gehalten wird. Die Frage ist nur, nach welchen Kriterien: ob in Form von „Specimina", „typischen" Akten, „repräsentativen" M) Ritzler (wie Anin. 37), S. 156f.; zum Überlieferungsschicksal der ecroes des gages s. W. Paravicini, .Ordonnances de l'Hötel* und .Ecroes des gages'. Wege zu einer prosopographischen Erforschung des burgundischen Staates im 15.Jh., in: Mittelalterliche Prösopographie. Tagung Bielefeld 1982 (im Druck). 67) Vgl. die Literatur bei F. G. Franz, Einführung in die Archivkunde (Darmstadt 1974), Kap. 27; etwa: H. Booms, Gesellschaftsordnung und Überlieferungsbildung. Probleme archivarischer Quellenbewertung, in: AZ 68 (1972), S.3ff.; F. W. Zimmermann, Theorie und Praxis der archivalischen Wertlehre, in: ebd. 75 (1979), S.263ff. Serien, oder aber in ganz mechanischer Auswahl, etwa: aus den massenhaften Akten einer Stadtverwaltung z.B. bei den (alphabetisch nach Familiennamen geordneten) Registraturen der Sozialverwaltung nur die Akten des Anfangsbuchstabens H aufzubewahren68). Solch mechanischer Zensus würde die künftige Forschung am wenigsten determinieren, ist gewissermaßen künstlich herbeigeführter Überlieferungszufall. Aber wäre da wirklich maßstäbliche Abbildung gewährleistet? Die Frage, wie^verhältnismäßig Überlieferung sein müßte, läßt sich hier gewissermaßen experimentell durchspielen - aber tun wir es lieber nicht, es könnte uns um den Verstand bringen. Ich komme zum Schluß. Was Überlieferung uns gibt und was nicht, wie Überlieferung uns leitet und wie sie uns verleitet, ist ein Problem, das dem Mediävisten vielleicht besonders augenfällig ist, das sich aber, wie schon hervorgehoben, mehr oder minder in allen Disziplinen stellt, die mit historischen Prozessen zu tun haben. Der Vor- und Frühhistoriker, dem sich das Problem eher in einer Gemengelage von Überlieferungs-Chance und Fund-Chance darbietet, wird sich angesichts einer Fundkarte von Gräberfeldern immer fragen, ob ein weitragender Streifen von Gräbern gleichen Typs nun wirklich einen (sagen wir:) alemannischen Siedlungskorridor abbilde, oder ob er nicht einzig der Tatsache verdankt wird, daß der Bau einer Autobahnlinie hier, und vorerst nur hier, Gräber zutage förderte - ob der kartierte Streifen also Völkerwanderung abbilde oder nur den massierten Zufall von Fundumständen. Er wird sich auch fragen, inwieweit beigabenlose Gräber (und noch fataler: Gräber aus beigabenloser Zeit!) nicht prinzipiell unterdokurrientiert sind^ einfach deshalb, weil sie bei Aufdeckung die geringere Chance haben, erkannt, gemeldet und damit von der Wissenschaft registriert zu werden. Auch: ob die Kartierung von neuen Funden römischer Villen unter mittelalterlichen Dorfkirchen römische Siedlungsverhältnisse abbilde oder nicht eher Kirchgemeinden, die die Mittel hatten, sich jüngst eine Fußbodenheizung zuzulegen, deren Einbau dann zur Aufdeckung alter Fundamente führte. Hier suchte man nicht und fand. Oft aber sucht der Bodenforscher und findet nicht: 6t) H. Stehkämper, Die massenhaften gleichförmigen Einzelsachakten in einer heutigen Großstadtverwaltung, dargestellt am Beispiel Kölns, in: AZ 61 (1965), S. 100 f. (H stellt mit 8,5% den Mittelwert dar zwischen dem seltensten und dem häufigsten Anfangsbuchstaben). 568 Historische Zeitschrift Band 240 (1985) A. Esch, Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall 569 Denn die Kontinuität, die nachzuweisen ihn der Historiker bittet, muß er gerade dort suchen, wo sie am wenigsten zu finden ist: in lebendigen, sich wandelnden Städten auf längst durchwühltem Boden. Die Überlieferungs-Chance ist da gering - die Fundchance hingegen gerade in städtischen Neubauzonen umso größer, und so versammeln sich die christlichen Funde für das merowingische Bayern in irreführender Massierung gerade im Räume München*'). Der Archäologe wird sich fragen müssen, was denn wohl - aus -den Statuenwäldern des antiken Rom - jenes Dutzend Statuen ausgelesen und über der Erde gehalten habe, das dann am Ende des Mittelalters Künstlern und Humanisten die einzige Anschauung von antiker Vollplastik vermittelte70). Angesichts der dann spater ergrabenen Menge von Statuen machen wir uns nicht klar genug,, daß das vielleicht eine besondere Antike sein könnte, denn was das Mittelalter von all dem über der Erde gelassen hatte, war eine extrem kleine und dann vor allem eine extrem eigenwillige Auslese (über deren mutmaßliche Auslesekriterien, wie etwa interpretatio christiana) Archäologen und Mediävisten einander viel zu sagen haben würden. Oder: Der Kunsthistoriker weiß, daß eine Botticelli-Madonna eine relativ große Chance hat, die rettende Kirche, das rettende Museum zu erreichen, während die billige Devotionalie, der kolorierte Holzschnitt für den Rompilger, die seriengefertigte Pappmache-Madonna eine geringe Überlieferungs-Chance haben. Doch kann sich das Verhältnis genau umkehren, wenn es uns durch Quellen der Zeit überliefert wird: Die römischen Zollregister der Frührenaissance nennen uns die importierten Madonnenbildchen gleich bündelweise, die Heiligenfigürchen und anderen Pilgerbedarf gleich kistenweise - von Botticelli-Madonnen wissen sie nichts, weil deren Käufer, Papst und Kardinäle und ändere hohe Berechtigte,' zoll/rei H) Vgl. die Fundkarte bei V. Milojcic, Zur Frage des Christentums in Bayern zur Merowingerzeit, in: Jb. d. röm.-german. Zentralmuseums Mainz 13 (1966), S.257 C/4-/3). Zur Problematik des Kontinuitäts-Nachweises in alten Siedlungskernen E. Zöllner, in: Vorträge u. Forschungen 25 (1979), S.262. '») Vgl. R. Krautheimer, Lorenzo Ghiberti (Princeton 1956), S.277f.; Beispiele und mutmaßliche Auslese-Kriterien s. Esch, Spolien (wie Anm. 3), S.33ff. u. 46f.; eine genauere Vorstellung von der unglaublichen Statuenmenge - noch im 6. Jh. wie eine eigene Bevölkerung, populus copiosissimus statuarum (Cassiodor) - vermittelt die Zusammenstellung der Nachrichten bei Th. Pekäry, Der römische Bilderstreit, in: Frühmittelalterliche Studien 3 (1969), S. 13 ff. importieren durften. So überliefert uns diese Quelle (ausnahmsweise, aber die Ausnahme nun verkehrend) Kunst nur unterhalb einer gewissen Schwelle - wir müssen das nur erkennen! Der Verlust des einen oder des anderen würde nicht einfach die Menge unserer Erkenntnis reduzieren, sondern wiederum die Proportionen verfälschen und somit das Bild verzerren. Erst beides zusammen läßt die ganze Wirklichkeit der römischen Frührenaissance begreifen, und die hieß eben: Oben kaufte man (unverzollte) florentinische Renaissance, unten kaufte man (verzollte) deutsche Spätgotik71). Diese Beispiele mögen zugleich noch einmal zeigen, worum es bei diesen Überlegungen ging: nicht um das, von dem wir ausdrücklich wissen, daß es verloren ist (der Ungläubige Thomas von Paolo Uccello ist verloren, die päpstlichen Finanzregister der Schismazeit sind verloren, aber wir wissen doch, daß sie existiert haben) - es ist vielmehr die beunruhigende Frage nach den ganzen Stücken von Wirklichkeit, die unteifden Horizont unserer Wahrnehmung gesunken sind, weil uns die Überlieferung, in ihrer Eigenwilligkeit, dieses gibt und jenes versagt. Was kann der Historiker also tun? Wahrscheinlich nicht viel mehr, als sich dieses Problem wenigstens ins Bewußtsein zu heben und der Versuchung zu widerstehen, sich ganz von seinen Quellen leiten zu lassen, sich selbst und den Gutachtern als „case-study", als „exemplarisch" auszugeben, was doch nur einfach übrig geblieben ist: das erinnert an Kinder, die um den Zufallstreffer herum nachträglich die Zielscheibe malen72). Wir sollten uns bei überlieferten Beständen deutlicher fragen: Was könnte verlorengegangen sein, was muß dagewesen sein, und dabei noch mehr auf Indizien achten, die die Verzerrung, die Umverteilung von Wirklichkeit durch die Überlieferung anzeigen, und Kriterien entwickeln, die zur Entzerrung beitragen könnten. Wir sollten versuchen, dem allzuoft angerufenen Zufall einiges zu entreißen und Überlieferungsschicksale statt dessen nach all unseren Möglichkeiten aus unterschiedlicher Chance zu erklären. All das diene der Aufgabe, ein maßstabsgerechtes Bild zu gewinnen. Freilich: die Maßstäbe unserer Erkenntnis liegen dann nicht allein im Material, sondern auch in uns selbst, in unserer Fra- 71) A.u.D. Esch, Die Grabplatte Martins V. und andere Importstücke in den römischen Zollregistern der Frührenaissance, in: Römisches Jahrbuch für Kunstgeschichte 17 (1978), S.211ff. ") Vgl. Friedrich (wie Anm. 54), S. 33. 570 Historische Zeitschrift Band 240 (1985) gestellung, in unserem Bild vom Menschen - ob wir im mittelalterlichen Menschen den Fremden erkennen oder den Vertrauten suchen. Der Historiker widerstehe darum der Versuchung, sich seine Erkenntnisse von der Überlieferung zuteilen zu lassen, oder: in jenen unbeleuchteten Zeitaltern nur dort finden zu wollen, wo es hell ist: er gliche dem Manne, der Verlorenes nachts unter der Laterne sucht, weil man nur dort etwas sehe. Lassen wir uns nicht entmutigen, in das Dunkel hineinzufragen - fragen auch dort, wo wir auf eine Antwort nicht hoffen dürfen.