VORTRÄGE UND FORSCHUNGEN Herausgegeben vom Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte Band ĽV Tb JAN THORBECKE VERLAG STUTTGART 2002 FRANTIŠEK GRAUS AUSGEWÄHLTE AUFSÄTZE (1959-1989) Herausgegeben von Hans-Jörg Gilomen, Peter Moraw und Rainer C. Schwinges (i ť • ä sa r--V■ ttlBOURG Al 5 MAI02 f JAN THORBECKE VERLAG STUTTGART 2002 Die Ohnmacht der Wissenschaft gegenüber Geschichtsmythen Der Titel meines Vortrages formuliert eine These, die für jeden, der mit den Geschicken historischer Erkenntnisse auch nur einigermaßen vertraut ist, keine große Überraschung in sich birgt. Sie scheint den Referenten dazu zu verurteilen Allgemeinbekanntes zu illustrieren, es bestenfalls durch weniger bekannte Beispiele zu erhärten. Denn die Tatsache, daß über vergangene Ereignisse viel Unsinn, oft mit bewußter Tendenz und Absicht, erzählt wird, ist allbekannt und nur zu oft werden alle Entstellungen und Fabeleien »Geschichtsmythen« genannt, wobei diese Bezeichnung sehr allgemein aufgefaßt wird. Es wäre einfach Beispiele zu häufen, die die Machtlosigkeit der Geschichtswissenschaft gegenüber falschen Darstellungen beweisen, den vergeblichen Kampf gegen fest verwurzelte Vorstellungen illustrieren, und solch eine Aufzählung könnte schier endlos sein. Man könnte etwa - für Deutschland - bei Caesars bewußt tendenziöser Darstellung der Germanen beginnen, über Tacitus, die Humanisten, Historiker und Schriftsteller hin bis zur Gegenwart die Darstellung der Geschichte abschreiten, bei Arminius verweilen, der sich zu Hermann dem Cherusker wandelte, den Kaisern des Mittelalters, Friedrich d. Gr. und viele andere als Beispiele wählen und so die Peripetien von Entstellungen, Legendenbildung und Mythisierung illustrieren. Das Ergebnis dieses Vorgehens wäre das erhebende Gefühl, daß wir es doch etwas besser wüßten als der »Mann auf der Straße« - und die Frustration, daß wir einen letztlich aussichtslosen Kampf durchfechten. Der Kampf gegen offensichtliche Irrtümer erscheint selbst auf wissenschaftlichem Gebiet als wahre Sisyphusarbeit: Kaum vermeint man einen Unsinn ausgerottet zu haben, entstehen flugs zwei neue - und die Mitarbeiter der Massenmedien versäumen keine Gelegenheit, selbst den größten Stumpfsinn auszugraben, wenn er nur recht »aktuell« aufgemöbelt werden kann und einet Zeitmode oder den entsprechenden Vorurteilen ihres Publikums entspricht. Aber das Aufzählen von solchen Fällen würde diesen Vortrag zu einer geistigen Klagemauer umfunktionieren, der vielleicht zu einer Art von Selbstbestätigung, aber kaum weiter führen könnte. Gestatten Sie mir daher, einen anderen Weg einzuschlagen: Ich möchte die These von der Machdosigkeit der Geschichtswissenschaft gegenüber den Geschichtsmythen als erwiesen voraussetzen und die Frage nach der Art dieser Gebilde aufwerfen und mich der Untersuchung zuwenden, inwiefern die Geschichtswissenschaft (Historie) an diesem Zustand mitschuldig ist. 50 I. HAGIOGRAPHIE - TRADITION - GESCHICHTSSCHREIBUNG DIE OHNMACHT DER WISSENSCHAFT GEGENÜBER GESCHICHTSMYTHEN 51 Wie bereits bemerkt, wird der Begriff »Geschichtsmythen« oft ungemein weit gefaßt; zuweilen dient er einfach zur Bezeichnung aller Ansichten, die man für unrichtig hält; j selbst als Sammelname für Ansichten wissenschaftlicher Gegner, die man bekämpft, fin- \ det er nicht selten Verwendung. Auch künstlerische Typenbildungen, die mit der »historischen Wirklichkeit«, wie wir sie aus den Quellen erschließen können, nicht in Einklang zu bringen sind, dabei aber Vorstellungen der einzelnen Epochen entscheidend geprägt haben (ein Musterbeispiel dafür sind etwa die Dramenhelden Shakespeares), werden zuweilen als Geschichtsmythen bezeichnet, ohne daß durch diese Bezeichnung viel für die Charakterisierung der Darstellung oder zur Klärung ihres prägenden Einflusses gewonnen wäre. Wir werden gleichfalls zögern, glorifizierende Verherrlichung von Helden verschiedenster Art ohne weiteres als Geschichtsmythen zu bezeichnen. »Helden« sucht man in der Regel in vergangenen Zeiten, da man die Zeitgenossen zu gut kennt, um sie als Helden ansehen zu können - höchstens kurzfristig können Stars oder Fußballspieler auf diesen Titel Anspruch erheben - nur der bereits tote Held ist ein wirklicher Held - dies hat früh die katholische Kirche begriffen, die den lebendigen Heiligen vollständig eliminiert hat, und auch das Mittelalter hat von aller Anfang an die vorbildlichen Ritter in der Vergangenheit gesucht. Nur einige historische Heldengestalten weisen wohl Ansätze zu einem echten mythologischen Charakter auf, wie etwa Karl d. Gr. oder Jeanne dArc. Für die Gegenwart sind höchstens politisch motivierte Versuche lebende Machthaber zu strahlenden Helden zu stilisieren zu verzeichnen, eine Kunst, die bereits antike Panegy-riker beherrschten. Bezeichnende Beispiele zu ihrer Zeit waren Hitler oder Stalin (zu unseren Zeiten ist es in Europa etwa Ceausescu); in stärkerem Ausmaß ist diese Axt mythi-sierender Glorifizierung in den Staaten der sog. Dritten Welt verbreitet. In der Regel entstehen jedoch glorifizierende Legenden erst posthum - der längst verstorbene Amis konnte zum verklärten Leitbild für Don Quichotte werden; in unserer Zeit sind Ansätze zur Glorifizierung etwa bei Marilyn Monroe, festzustellen und als echten Mythos, mit einem eigenen Kultzentrum, kann auf den Lenin-Kult in der UdSSR hingewiesen werden. Einfache Geschichten zur Verherrlichung der Vergangenheit können kaum Anspruch erheben, bereits als Mythen bezeichnet zu werden - es mag sich dabei um Erzählungen über die fabelhafte Abkunft der Franken von den Trojanern, um die vermeintliche Gründung eines Bistums durch sog. Apostelschüler handeln oder um bramarbasierende Erzählungen von Kriegsteilnehmern, um wiederum nur einige wenige illustrative Beispiele zu nennen. In allen diesen Fällen werden in die Vergangenheit Wunschbilder rückprojiziert, die die eigene Gegenwart aufbessern sollen - aber von einer Mythenbildung ist wenig zu verspüren. Wenn wir die einfachen verherrlichenden Erzählungen als Geschieh biegenden bezeichnen wollen, so merken wir, daß einige dieser Legenden überaus lebensfähig sind, sich bald gewißen Grundmustern anpassen und dadurch eine echte Mythisierung durchmachen. Sie gleichen sich »bewährten« Beispielen an, werden z.B. nach einem allgemeinen Heldenideal modelliert, und erheben den Darsteller zum verehrungswürdig-verpflichtenden Vorbild für nachkommende Generationen. Sie weisen dadurch mythenartige Züge auf. An diesem Punkt der Betrachtung angelangt, muß die Frage aufgeworfen werden, was denn eigentlich unter historischer Mythenbildung zu verstehen sei. Seien Sie unbesorgt; Ich will Ihnen jetzt nicht das in den deutschen Geistes- und Sozialwissenschaften so überaus beliebte Definitions-Spiel vorführen, das darin besteht, zunächst alle dem Referenten bekannten Definitionen aufzuzählen, sie zu verdammen, um dann nach Dutzenden von Seiten das eigene Unvermögen, eine Definition zu bieten, einzugestehen. Ich wähle ein rein pragmatisches Vorgehen und schlage als bloße Umschreibung vor, die Bezeichnung »Geschichtsmythos«, zum Unterschied von einfachen bewußt-tendenziösen Verzerrungen, auf diejenigen Erklärungsversuche zu beschränken, die die Vergangenheit verabsolutisieren und einen Zusammenhang der eigenen Existenz mit der Geschichte herstellen, unter Verzicht auf jede Beweisführung mit dem Anspruch auf die (ausschließliche) Wahrheit auftreten. Der Geschichtsmythos ist (wie jeder Mythos) geschlossen, erklärt alles, und ausgehend von der Rückprojizierung von Wunschvorstellungen in die Vergangenheit, postuliert er eine Verpflichtung für die Gegenwart und die Zukunft. Der Geschichtsmythos verzichtet auf jede Uberprüfung, sogar auf den bloßen Schein einer Nachprüfbarkeit. Diese Deutungen arbeiten mit vorfabrizierten Deutungsmustern, angeblich sinngebenden Konstanten, und bedütfen vermeintlich überhaupt keiner weiteren Verifizierung. Sie postulieren eine strikte historisch unveränderliche, of monokausale Reihenfolge von Ereignissen und leiten daraus konkrete Folgerungen für ihre Gegenwart ab. Einen typischen Geschichtsmythos illustriert etwa Felix Dahns Artikel aus dem Jahre 1872, der den bezeichnenden Titel trägt: Wodan und Donar als Ausdruck des deutschen Volksgeistes; er weist beispielhaft alle Aspekte auf, die den historischen Mythos kennzeichnen. Die Rückprojizierung vermeintlich unveränderlicher und damit die Gegenwart verpflichtender Eigenschaften, hier noch dazu durch germanische Gottheiten symbolisiert. Ich wähle dieses Beispiel nicht etwa deshalb, um mich billigerweise über Dahn lustig zu machen, sondern weil es klar eine Art von Mythos zum Ausdruck bringt, der uns zeitlich und sprachlich bereits fremd und daher einfach erkennbar ist. (Wir selbst teilen gleichfalls vieletlei Mythenvorstellungen; nur erscheinen sie uns gar nicht befremdend -viel eher neigen wir dazu, sie als »völlig selbstverständlich« anzusehen.) Eine mythisieren-de Geschichtsinterpretation erfordert nicht nur den »Glauben« an ihre Richtigkeit (mit diesem Anspruch treten bekanntlich die meisten Deutungen auf) - sie erhebt den Anspruch auf Ausschließlichkeit und sie scheint zwangsläufige Folgerungen aus der Vergangenheit für die Zukunft nahe zu legen. Bei so manchen Geschichtsmythen standen Machthaber am Anfang der Legendenbildung und nutzten die mythenbildende Kraft der Vergangenheit für ihre Zwecke aus - so etwa bereits bei den dynastischen Uberlieferungen des Mittelalters, die öfter sakral überhöht wurden und der herrschenden Dynastie eine göttliche Herkunft oder eine besonde- 52 I. HAGIOGRAPHIE - TRADITION - GESCHICHTSSCHREIBUNG DIE OHNMACHT DER WISSENSCHAFT GEGENÜBER GESCHICHTSMYTHEN 53 re Weihe zusprachen, um dadurch ihre Herrschaft zu legitimieren. Aber auch in unserer Zeit ist dieser Aspekt der Überlieferung gezielt genutzt worden, und besonders die totalitären Staaten wissen sehr wohl von der Gefährlichkeit der Vergangenheit und von ihrem Nutzen - ein Beispiel dafür kann etwa z.Zt. die »dakische« Urgeschichte in der offiziellen rumänischen Geschichtsromantik sein. (Zuweilen nötigen allerdings die Peripetien der | Politik zu Änderungen der offiziellen Geschichtsmythen: Als Paradigma dieser Art von \ mythisierender Geschichtsschreibung im Sog der Tagespolitik kann auf den Haupthelden j von Orwells 1984, auf Winston Smith verwiesen werden, der im »Wahrheitsministe- i rium« an dem täglichen Umschreiben der Geschichte teilnimmt.) i Aber nicht nur totalitäre Staaten sind an der Bildung von Geschichtsmythen beteiligt. Einige Musterbeispiele solcher geglückter Schöpfungen seien kurz erwähnt, wie etwa der j Quatorze Juillet in Frankreich, der Tag der Erstürmung der Bastille im Jahre 1789, der als ; Sieg des Volkes zu einem echten Fest und zum verbindlichen Vorbild wurde - obzwar bei I der Eroberung der Festung nur sieben namentlich bekannte Gefangene befreit wurden, j mit denen man bei bestem Willen keinen Staat machen kann (vier Falschmünzer und drei ! Irre). Der Symbolgehalt der Bastille war so prägend, daß er das Ereignis selbst überhöhte und mythisierte. Die Schicksale und die verhängnisvolle Rolle der sog. Dolchstoßlegende, wonach das deutsche Heer 1918 »im Felde unbesiegt« von einem heimtückischen Feind meuchlings »erdolcht« wurde, wie einst Siegfried in der Sage, ist bekannt, ebenso wie die Nutzung dieser Fabel durch Nationalisten verschiedenster Prägung, die aus dem »Novemberverrat« vermeintlich zwingende Konsequenzen für alle künftigen Zeiten ableiteten. Weniger bekannt ist etwa, daß die berühmte Kanonensalve der Aurora, die angeblich das Schicksal der russischen Oktoberrevolution entschied, sich historisch auf einen einzigen Schuß reduzierte, der überdies gar nicht traf. Dennoch hallt dieser vermeindiche Geschützdonner nicht nur in den Schulbüchern wider - das Kriegsschiff, auf der Newa in Leningrad verankert, ist weiterhin das Symbol des Sieges der Revolution über den Zarismus geblieben. (Wieviel politischen »Sprengstoff« die Darstellung der Vergangenheit auch in unseren Tagen haben kann, beweisen schlagend die Auseinandersetzungen über die Darstellung der Vergangenheit in den japanischen Schulbüchern.) Mythen müssen absolut nicht kurzfristig nach den Ereignissen entstehen; selbst viele Jahrhunderte nach dem Geschehen können gehörig interpretierte Ereignisse zum Kernpunkt einer erfolgreichen neuen Mythenbildung zum leuchtenden Vorbild für die Nachkommen werden - ein Musterbeispiel dafür ist etwa Massada in Israel, wo im Jahre 73 jüdische Aufständische - im Kampf mit Rom - den Selbstmord einem Tod durch Feindeshand ev. einer langen Gefangenschaft vorgezogen haben. Diese Episode ist nur durch Josephus Flavius überliefert - die jüdische Tradition hat beinahe zwei Jahrtausende lang selbst den Namen Massada nicht gekannt, bis er - nach der Entstehung des Staates Israel (1948) - neu aufgegriffen (der Ort 1963-65 archäologisch erforscht), zu etwas wie einem Nationalheiligtum und zum Zentrum einer Mythenbildung wurde. Nicht alle Versuche die Vergangenheit für eigene Zwecke einzuspannen; müssen glük-ken und auch gescheiterte Versuche von Mythenbildungen sind bezeugt, wie etwa das Unternehmen Schah Reza Pahlewis, die eigene Dynastie durch einen Rekurs auf den Perserkönig der Antike Kyros II. d. Gr. (559-530 v. Chr.) zu stützen oder das Streben in der Bundesrepublik, den 17. Juni zu einem Tag der deutschen Einheit zu stilisieren. So manche Versuche aber waren von Erfolg gekrönt und sind zu verbindlichen Mustern erklärt und gefeiert worden, als Vorbilder, nach denen nachfolgende Generationen ihr Verhalten ausrichten sollten. Nicht nur Machthaber haben ihre Geschichtsmythen - auch ihre Gegner, selbst eine politische Opposition vermag sie zu schaffen. Das wohl bekannteste mittelalterliche Beispiel für diese Art der Überlieferung ist Robin Hood, der edle Räuber im Wald von Sher-wood, der dem Sheriff und allen Machthabern immer wieder ein Schnippchen schlug, die Reichen beraubte und die Armen beschenkte, eine typische Variante des alten Topos vom edlen Räuber, der bis in unsere Tage hinein Blüten treibt und mythenbildende Kräfte besitzt. Modern hat sich etwa ein Mythos der sog. Freiheitskriege gegen Napoleon gebildet und verschiedene Varianten einer verpflichtend-sein-wollenden Avantgardelegende können wir auch in der Gegenwart immer wieder hören. (Ob sich etwa die Deutung des Jahres 1968, bereits Gegenstand einer oppositionellen Nostalgie, zu einem Mythos wandeln wird, ist vorläufig noch nicht abzusehen.) Das Gemeinsame aller bisher behandelter Spielarten der Mythenbildung ist, daß ihr Ausgangspunkt, bzw. ihre Initiatoren, bekannt sind; sogar der Zweck der Erzählung ist meist einfach zu erraten - daher ist auch in der Regel die mythenbildende Kraft und die Lebensdauer dieser Erzählungen nur beschränkt, ihr Modellcharakter von relativ begrenzter Gültigkeit. Anders bei den, ich bin beinahe versucht zu sagen »echten« Geschichtsmythen^ denen wir anonym begegnen und die oft geradezu archetypische Vorstellungsmuster heraufbeschwören. Um mit einem der ältesten Mythen dieser Art anzufangen - mit der Fabel vom Goldenen Zeitalter, das einst am Anfang der Zeiten existiert haben soll und das man ir-gendwann-irgendwie erneuern müsse. Der »Primitive« wird zum idealisierten wenn nicht Vor- so doch zum Abbild eines Menschenwesens, das nicht von all den Übeln betroffen ist, die den nostalgischen Betrachter bedrücken. (Daß er dafür eine Fülle anderer Übel in Kauf nehmen muß, wird großzügig übersehen). Auch heute, in der modernisierten Form von dem »Sich selbst nicht-entfremdeten Menschen«, eine Formel, unter der sich jedermann vorstellen kann, was ihm beliebt, ist dieser Mythos überaus lebenskräftig und verbindet sich mit einer Vergötterung des »einfachen Volkes« als des ewigen Bornes echter Lebenskraft und Güte. Den mächtigsten Impuls erhielten neuzeitliche Geschichtsmythen durch sog. nationale Vorstellungen. Alt war das Streben, sog. Helden zu Repräsentanten von Nationen zu erklären, in ihrem Schicksal eine Parallele zur Geschichte von Völkern zu sehen. Im Dunstkreis des modernen Nationalismus wird das Volk selbst heroisiert-vergöttert. Allge- 1 54 I. HAGIOGRAPH1E - TRADITION - GESCHICHTSSCHREIBUNG mein bekannt ist die deutsche Spielart dieses Mythos - nicht nur in der erwähnten Fotm von Felix Dahn, 1945 zur Genüge diskreditiert - wenigstens vorläufig. Lassen Sie mich daher diese Art von Mythenbildungen an einem weniger bekannten Beispiel aus der Geschichte Böhmens illustrieren, das für diesen Typus der Mythenbildung ungemein aussagefähig ist. Nach der Schlacht am Weißen Berg 1620 (in der Nähe von Prag) folgte 1621 das Blutgericht des Siegers, Ferdinands IL, mit 27 Hinrichtungen auf dem Prager Altstädter Ring und der gewaltsamen Rekatholisierung des Landes. Der Widerstand gegen den Habsburger war religiös und landespolitisch geprägt gewesen, und dementsprechend wurde der Sieg von böhmischer katholischer Seite durch die Erbauung einer Kirche auf dem Schlachtfelde, der siegreichen Jungfrau Maria geweiht, gefeiert. Im 19. Jahrhundert, infolge der sog. nationalen Wiedererweckung der Tschechen, begann sich jedoch das Bild charakteristisch zu ändern: Die Niederlage wurde zu einer nationalen Katastrophe umgedeutet, die Hingerichteten wandelten sich zu 27 böhmischen Herren, obzwar nur drei von ihnen dem Herrenstand angehörten und ein Großteil der Opfer des Blutgerichtes deutschsprachig war. Insbesondere aber wurde bewußt und systematisch eine Parallele zwischen dem Karfreitag und der Passion Christi einerseits und der verhängnisvollen Schlacht und dem Leidensweg des tschechischen Volkes andererseits gezogen. Die Vollendung der Mythisierung brachte dann die Nationaloper Bedrich Smetanas, Libuse, in der das Volk - wie einst Christus - die Schrecken der Hölle überwindet und in vollem Glanz dasteht. Hier ist die Mythisierung, mit ihren geradezu klassischen Attributen, vollendet -es wäre leicht, Parallelbeispiele v.a. aus dem Bereich kleiner und unterdrückter Völker zu mehren, wie etwa aus Irland und besonders aus Polen, mit seinem voll ausgebildeten Kranz historischer Mythen, die sich immer wieder als eine überaus starke politische Kraft erweisen. Als ein russisches Spezifikum erscheint dagegen die Mythisierung des »heiligen« Mütterchens Rußland, das in seiner säkularisierten Form bis zum heutigen Tag zu den unabdingbaren Requisiten des russischen Nationalismus gehört und dazu führt, daß sogar das atheistische Politbüro in seinen Proklamationen von den »heiligen Grenzen unseres Vaterlandes« spricht. So wie es glorifizierende Mythen des eigenen Volkes gibt, die nicht erst erarbeitet oder bewiesen werden müssen, die jeder »intuitiv« erfaßt und als Richtschnur für sein eigenes Verhalten akzeptieren soll, so gibt es auch einen Mythos vom Feind (in Deutschland sprach man früher bezeichnenderweise vom Erbfeind), zu dem meist Nachbarvölker aufrückten, die ganz selbstverständlich die Rolle des Schurken gegenüber den glorreichen Helden des eigenen Volkes übernehmen - und überdies standen, gewißermaßen als Schurken vom Dienst, im christlichen Europa jederzeit die Juden, lange Zeit auch die Türken zur Verfügung - ihnen gesellten sich alle jene Randständigen hinzu, die man liebevoll als lichtscheues Gesindel zu titulieren pflegte. So wie die eigenen Helden durchaus edel, vom Scheitel bis zur Sohle im makellosen Glanz erstrahlten, so waren die Feinde schurkisch bis tief in ihre schwarze Seele hinein, fähig zu jeder Untat, jederzeit bereit sich DIE OHNMACHT DER WISSENSCHAFT GEGENÜBER GESCHICHTSMYTHEN 5 5 zum Untergang der Tugendbolde zu verschwören. Sie können dämonisiert werden und zu Handlangern des Ewigen Widersachers, des Herrn der Finsternis stilisiert werden. Auch ihnen gegenüber war ein bestimmtes, auf vermeintlich historischen Erfahrungen beruhendes Verhalten »Pflicht«. Es sollte zu denken geben, daß während die Positiv-Mythen sich in unseter Zeit, mindestens in Europa, abgeschwächt haben, sich Negativ-Mythen offensichtlich als viel resistenter erweisen - und Mythen sind im allgemeinen langlebig, haben die Tendenz wie der Vogel Phoenix immer wieder aus der Asche aufzuerstehen. Dieser Umstand zwingt uns, die Frage zu stellen, warum diese Deutungen so lebensfähig und resistent sind, warum die Geschichtsmythen immer wieder Glauben und Anklang finden, obzwar jedes historische Elementarbuch die Unhaltbarkeit ihrer meisten Axiome offen darlegt. Damit gelangen wir zu dem zweiten Punkt unserer Überlegung, zur Rolle der Geschichtswissenschaft in der Auseinandersetzung mit den Mythen, und dies zwingt mich, mich mit einigen Aspekten der Arbeit des Historikers zu befassen, die oft gar nicht oder nur sehr wenig beachtet werden. Um die Eigenart der Stellung der Geisteswissenschaft in der Auseinandersetzung mit anderen Deutungsarten der Vergangenheit zu verstehen, muß etwas weiter ausgeholt werden. Daß der Historiker sich in der Konkurrenz mit dem Künstler, besonders dem Romanschriftsteller im Hintertreffen befindet, ist gewißermaßen selbstverständlich: Der Künstler hat bei der Schilderung des vergangenen Geschehens einen uneinholbaren Vorsprung dadurch, daß er - völlig legitim - seine Quellen beliebig ergänzen und umdeuten kann, Tendenzen personifizieren, den Verlauf dramatisieren kann. Für ihn sind, und nochmals sei betont - völlig zu Recht - bloß künstlerische Kriterien und nicht historische Maßstäbe entscheidend. Durch die Massenmedien, bei ihrem weitgehenden Verzicht auf künstlerische Kriterien, und durch die so überaus suggestive Verbindung von Wort und Bild, hat sich dieser Vorsprung noch stark vergrößert. Während bis in die erste Hälfte unseres Jahrhunderts verbale Schilderung und bildliche Darstellung oft noch getrennt wirkten, potenzieren sich heute beide Darstellungsformen zur besonders eindringlichen Gestaltungskraft. Kein Wunder, daß der Historiker in der Konkurrenz zur Effekthascherei und zur Geschichtsverfälschung aus individuellen, politischen und sozialen Gründen immer wieder ins Hintertreffen gerät. Mit dem geistreichen M. Bergeret aus Anatole Frances Amethystenring könnte ich behaupten, daß die Wahrheit immer unterliegen muß, weil sie allein ist und ihr eine ganze Anzahl von Lügen gegenüber stehen; sie ist unveränderlich, wogegen die Lügen sich bereitwilligst der jeweiligen Situation anpassen und sie steht überdies im Einklang mit der Alltagspraxis der Menschen - wo meist eben auch nicht die Wahrheit triumphiert. Ich befürchte, daß Herr Bergeret nicht Unrecht hat - aber bei der Erklärung unseres Phänomens hilft uns diese Erkenntnis nicht weiter, so hilfreich sie etwa bei der Deutung der von den Massenkommunikationsmitteln präsentierten Geschichtsbilder sein kann. Bei der Deutung der Geschichtsmythen hilft sie deshalb nicht weiter, 56 I. HAGIOGRAPHIE - TRADITION - GESCHICHTSSCHREIBUNG weil gerade sie ein nicht wandelbares Geschichtsbild kodifizieren und als verpflichtend darstellen. Ob man sich etwa ein Bild der französischen Geschichte des 16. Jahrhunderts aus den farbenprächtigen und einprägsamen Darstellungen Prosper Merimes, Alexander Dumas oder Heinrich Manns macht - man erhält jeweils ein zwar plastisches, aber ein zu nichts verpflichtendes Bild. Anders bei den Geschichtsmythen und ich furchte, daß deren Resistenz und ihr Sieg über andere Deutungsmuster daraus entspringen, daß sie einem gewißen Bedürfnis entgegenkommen, eine Lücke füllen, die in vergangenen Zeiten Religion und Philosophie unbeachtet lassen konnten und die auch die Wissenschaft offen läßt und die Geschichtswissenschaft in ihrem gegenwärtigen Wissenschaftsverständnis noch gar nicht richtig erkannt hat. Aber eine solche Behauptung muß begründet werden. Die alte Ansicht, der Historiker solle die Vergangenheit richten, ist im 20. Jahrhundert zwar nicht völlig verschwunden, aber sie hat nur mehr wenige Anhänger - zu Recht. Denn es stehen uns keinerlei Maßstäbe zur Verfügung, die allgemein anerkannt, zu einem akzeptierten Urteilsspruch führen könnten (bekanntlich war dies nicht einmal in den Zeiten der Fall, als man noch meinte allgemein gültige Normen des Verhaltens zu besitzen) — und so überlassen denn die Historiker meist den Journalisten die Rolle, gleichzeitig den Staatsanwalt, den Gesetzgeber und den Richter zu mimen. Keine Lösung vermag ich in dem Konkurrenzkampf mit den Massenmedien zu sehen - bei aller Nützlichkeit der Propagierung von historischen Erkenntnissen ist das Wort, das einzige Medium des Historikers, viel zu schwach um dem Massenansturm der kombinierten Bild- und Ton-Suggestion standzuhalten und der Effekt, selbst der besten und verbreitetsten historischen Werke, bleibt recht beschränkt. Die eigentliche Funktion der Geschichtswissenschaft scheint eher auf, dem Gebiet einer kulturellen Kontinuität und der Aufdeckung von Beweggründen zu suchen zu sein; sie sollte auch ein Korrektiv zu »herrschenden Meinungen« und Tagesparolen jeder Art sein. Übrigens muß im Zusammenhang mit der Verbreitung von Faktenwissen davor gewarnt werden, die bloße schulmäßige »Kenntnis« der Vergangenheit zu überschätzen. Immer wieder erschallt, etwa bei neonazistischen Umtrieben, der Chor der Stimmen, der bedauert, daß die Jungen den Nazismus nicht kennen - als ob eine einfache faktographi-sche Kenntnis etwas ändern könnte. Propagatoren dieser Einstellung sollten sich vergegenwärtigen, daß eine relativ gute Kenntnis der schulischen Geschichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, etwa in Deutschland, nicht imstande war, die schlimmste Fehlentwicklung weiter Teile der Intellektuellen zu verhindern. (Übrigens kann man sich auch im eigenen Leben - sobald man erst ein gewißes Alter erreicht hat - recht einfach davon überzeugen, daß eine einfache »Kenntnis« noch lange nicht imstande ist eine Wiederholung von Fehlern zu vermeiden.) Diese Erwägungen sollten nicht als Einwand gegen die absolut nötige Propagierung historischer Tatsachen aufgefaßt werden, wohl aber als eine Einschränkung der Wirksamkeit von bloßen »Kenntnissen«. Die meisten Historiker sind denn auch der Überzeugung, daß der Historiker die Vergangenheit nicht nur schildern, sondern deuten und erklären muß. Dies ist beileibe kein Novum - diese Ansicht begleitet die Geschichtsschreibung von einer sehr frühen Stufe ' DIE OHNMACHT DER WISSENSCHAFT GEGENÜBER GESCHICHTSMYTHEN 57 i i i ■ ' an, wobei man die längste Zeit glaubte, eine Erklärung durch die Aufweisung von Kau- salreihen vergangener Ereignisse bieten zu können - das heißt, man schildert den Ablauf j des Geschehens als eine Abfolge von Ursachen und Folgen, überwiegend durch Entschei- [ düngen von Individuen bestimmt. Die kausal-deutende Ereignisgeschichte ist im 1 20. Jahrhundert in Verruf geraten, die einfache Erzählung wird aus der Historie verbannt, und wenn in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts sich einige Historiker bemühen neuerlich Ereignisgeschichte zu schreiben, so ist das Ergebnis meist kläglich, wobei sie [ sich allerdings damit trösten können, daß auch die meisten Romanschriftsteller die Kunst I des Erzählens gründlich verlernt haben. Man suchte daher Lückenbüßer in den verschie- densten Richtungen um eine sinnvolle Geschichtsschreibung zu ermöglichen. Während es lange Zeit die Philosophie mit ihren großen Systemen war, die dem Historiker dabei zur Verfügung stand, kam in der Mitte des 20. Jahrhunderts die Soziologie in Mode, von der man meinte, sie könne helfen das berüchtigte Theoriedefizit der Geschichtswissenschaft zu überwinden. Nachdem sich die Grenzen dieser Konzeption klar abzuzeichnen beginnen, diese Geschichtsschreibung an dem Begriff der historischen Zeit und vor allem des Wandels scheitert, die erbitterten Kanonaden der Wortdispute sich immer deutlicher als ein bloßes Hornberger Schießen erweisen, suchen so manche Historiker ihre Zuflucht bei der Anthropologie - ob mit Erfolg bleibt abzuwarten, wobei eine gewisse Skepsis gegenüber dieser zeitbedingten Variante eines alten, bereits aus der Aufklärung bekannten Deutungsmusters wohl am Platz sein dürfte. Jedenfalls muß die Historie, sofern sie danach strebt wirklich aussagefähig zu bleiben, auch das Individuum ansprechen; sie kann nicht nur Sozialwissenschaft sein. Das Ergebnis der bisherigen Bestrebungen ist nicht allzu ermutigend und die Mängel erweisen sich klar an historischen Deutungen, die uns unmittelbar betreffen. Als Beispiel sei das weitgehende Scheitern der Geschichtsschreibung bei der Deutung des modernen Totalitarismus deutscher und sowjetischer Spielart erwähnt, das auch bereits von einigen Historikern eingestanden worden ist. Bei einer immensen Fülle von Einzelangaben und Erkenntnissen fehlt ein sinnvolles Gesamtbild, und unier Scheitern ist z.B. deutlich an der Unfähigkeit, eine adäquate Terminologie für die Phänomene dieser Zeit zu schaffen, abzulesen. Die übliche Gesamtbezeichnung NS-Zeit ist völlig nichtssagend und bezeichnenderweise rezipieren selbst Historiker, die absolut nicht verdächtigt werden können mit dem Nazismus zu sympathisieren, Bezeichnungen wie »Judenausrottung« ohne sich dessen Barbarismus bewußt zu sein. Immer klarer zeigt sich auch die Unmöglichkeit, mit den gängigen Mitteln der Wissenschaft, etwa ein KZ wie Auschwitz zu beschreiben oder gar zu deuten - selbst für jene Historiker, die diese »Realität« erlebt haben, die wohl noch klarer als andere ihre Unfähigkeit verspüren, sie auch nur annähernd wiederzugeben. Die Geschichtswissenschaft hat bei der Deutung mit ihrer Arbeit nach 1945 genau dort begonnen, wo die Sozialwissenschaften 1933 gescheitert sind und ihre Machtlosigkeit bewiesen haben, was das Gros der Zunftgenossen nicht stört, unverdrossen diesen Weg weiter zu trotten. 58 I. HAGIOGRAPHIE - TRADITION - GESCHICHTSSCHREIBUNG DIE OHNMACHT DER WISSENSCHAFT GEGENÜBER GESCHICHTSMYTHEN 59 Aber Kritik ist einfach, schwieriger ist es einen Ausweg zu suchen. Wenn wir davon ausgehen, daß jede Disziplin nur dann Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben kann, wenn ihre Einzel- und Gesamtaussagen verifizierbar bzw. falsifizierbar sind, so führt uns diese Erkenntnis bei der Historie zu Schlußfolgerungen, die nicht allgemein bekannt sind. Begriffe wie »Vergangenheit« und »Gegenwart« sind keine Realitäten, sondern bloße Abstrakta-Konstrukte in den Vorstellungen der Betrachter, Konstrukte, die in Wahrheit aus einer Auswahl der Fülle von Einzelheiten bestehen, die unter diesen Oberbegriffen jeweils vom Standpunkt eines Beobachters aus zusammengefaßt werden. Aber in der Erkennbarkeit und in der Verifizierung von Ereignissen der Gegenwart und der Vergangenheit bestehen grundlegende Unterschiede, obzwar — genau genommen, bei der Betrachtung jedes Einzelteils der sog. Gegenwart, sie sich bereits zur Vergangenheit gewandelt ha-" ben und in ihrer konkreten Form weder wiederholbar sind noch ungeschehen gemacht werden können. Aber bei Untersuchungen der Gegenwart kann in den meisten Fällen dieser Aspekt ohne weiteres ausgeklammert werden - jedoch nicht bei einer Untersuchung der Vergangenheit. Ein vergangenes Ereignis ist nicht mehr realexistent und nur in sehr begrenztem Bereich (etwa im biologischen) wiederholbar. Das historische Ereignis hat sich einmal abgespielt - es existiert längst nicht mehr - aber es hat seine realen »Spuren« hinterlassen, einerseits in der Form von historischen Quellen (im weitesten Sinn des Wortes), andererseits in unterschiedlichen Nachwirkungen. Die Arbeit des Historikers unterscheidet sich grundsätzlich von der Arbeitsweise anderer Sozialwissenschaftler, deren Untersuchungsobjekte praktisch ständig real vorhanden sind, und schon diese Tatsache macht es unmöglich, die Historie etwa durch eine historisierende Soziologie zu ersetzen (was man zuweilen versucht). Bei der Diachronie spielt das Weiterwirken (und nicht nur im zeitlichen Rahmen von einigen Jahren oder Jahrzehnten) eine mitentscheidende Rolle, sie beteiligt sich zwangsläufig an der Formierung der »Vergangenheit«. Geschichte ist nicht nur, wie heute oft behauptet wird, das Vergangenheitsbild der jeweiligen Gegenwart; sie ist mit ihr unmittelbarer verbunden. Aphoristisch zugespitzt kann formuliert werden: Jede Vergangenheit spielt sich immer in zwei Ebenen ab - in der unveränderlichen vergangenen und in einer jeweils gegenwärtigen (existenten und heraufbeschworenen), die zwangsläufig veränderlich ist. Die Erkenntnis davon, daß die Vergangenheit nicht mehr real existiert, sondern nur noch in »dem Jetzt und Hier noch Unvergangenem, mögen es Erinnerungen von dem, was war und geschah oder Überreste des Gewesenen und Geschehenen sein«, ist nicht neu; sie ist mit diesen Worten bereits klar vor mehr als hundert Jahren von Johann Gustav Droysen formuliert worden, aber - obzwar man immer wieder auf Droysens Grundriß der Historik hingewiesen hat, haben die meisten Historiker gerade diese Erkenntnis erfolgreich verdrängt, um getrost immer wieder positivistische Rekonstruktionsversuche der Vergangenheit zu starten, die von der Voraussetzung eines realen »Weiterbestehens« der Vergangenheit ausgehen, wobei es letztendlich keine entscheidende Rolle spielt, ob man das Interesse auf Machthaber oder auf das Volk, auf Staatsaktionen oder auf die hi-stoire cottidienne konzentriert. Nie und unter keinen Umständen kann ein »Bild« der Vergangenheit durch bloße Summierung von Einzelheiten der gelehrten Forschung entstehen, denn es gibt immer in den Quellen - selbst für Ereignisse, die zeitlich von uns nur sehr wenig entfernt sind - immer Lücken, die überbrückt werden müssen. Mehr noch: Jede historische Interpretation (und die beginnt bereits beim einfachen, schulmäßigen Übersetzen eines alten Textes in unsere Sprache) erfordert sowohl eine synchrone als auch eine diachrone Einreihung - d.h. die Einzelangaben müssen sowohl in ihrem jeweiligen zeitlichen Kontext, als auch in eine historische Abfolge eingereiht werden, Aufgaben ohne die bereits die einfachste Interpretation unmöglich ist. Diese Tatsache haben im 20. Jahrhundert etwa Benedetto Croce und Edward H. Carr sehr nachdrücklich betont und damit die Diskussion über die Objektivität in der Geschichte neu angefacht. Nun ist der Historiker auf Quellen angewiesen - im Unterschied etwa zu dem Künstler - denn nur die Interpretation von Quellen kann verifiziert bzw. falsifiziert werden. Dabei stoßen wir wiederum auf eine Eigenart der Historie: wie bereits ausgeführt, ist die Vergangenheit einerseits unmittelbar aus den Quellen erkennbar, andererseits wirkt sie nach (z.B. verändert sie im langwährenden Prozeß die Landschaft in der wir leben, sie verleiht vielen Worten der Sprache, die wir sprechen, einen bestimmten Inhalt, sie überliefert Traditionen usw.). Die Historie hat jedoch in dem bisher üblichen Instrumentarium historischer Kritik und Interpretation bloß Methoden für die Behandlung der historischen Quellen entwickelt, und gerade in unserem Jahrhundert hat man auf diesem Gebiet, unter dem Einsatz moderner technischer Mittel, überaus beachtliche Erfolge erzielt (z.B. im Bereich der Archäologie). Völlig unbeachtet blieb aber der zweite Strom, aus dem jedes Vergangenheitsbild zwangsläufig mitgeformt wird: Das »Überleben« der Vergangenheit das bei det Geschichtswissenschaft - und auch bei historischen Exkursen anderer Wissenschaften - zwangsläufig eine überaus große Rolle spielt. Eine Folge der positivistischen Annahme, daß aufgrund der Quellen allein die objektive und unveränderliche Vergangenheit rekonstruiert werden könne, war der Glaube, daß man sich im Laufe der Forschung immer mehr dem »richtigen Bilde« der Vergangenheit annähere. Diese Annahme klammert unbewußt die zweite Komponente der Vergangenheit - ihr Nachwirken - aus und nährt die Illusion eines Historikers, der »über« den Dingen steht, unvoreingenommen den Verlauf der Ereignisse betrachtet und sich um eine bloße - nicht wertende - Rekonstruktion der Geschichte bemüht. Dagegen bin ich der Meinung, daß nicht erst jeweils nachgewiesen werden muß, daß der eigene Standpunkt oder der sog. Zeitgeist ein Geschichtsbild beeinflussen - eine andere Möglichkeit ist nicht gegeben und dem eigenartigen Charakter der Vergangenheit entsprechend undenkbar, schon deshalb, weil es sich immer nur um eine Rekonstruktion bereits nicht mehr real existierender Tatsachen handeln muß. Bekanntlich kann kein Sozialwissenschaftler in dem Sinn objektiv sein, daß er sich selbst bei der Erforschung und 60 I. HAGIOGRAPHIE - TRADITION - GESCHICHTSSCHREIBUNG DIE OHNMACHT DER WISSENSCHAFT GEGENÜBER GESCHICHTSMYTHEN 61 Deutung ausklammern kann. Für den Historiker kommt noch hinzu, daß die Summe dieser subjektiven und kollektiven Bindungen zwangsläufig eine unabdingbare Komponente seines eigenen Forschungsgegenstandes selbst, eben der »Vergangenheit« bilden. Die so oft gepriesene Methode des »Einfühlens« in die Vergangenheit ist in der Praxis die Bestätigung der eigenen Vorurteile, die man in der Geschichte sucht und vermeintlich auch findet oder - im Goethejahr ist es vielleicht sogar gestattet, wieder einmal Faust zu zitieren: »Das ist im Grund der Herren eigener Geist, in dem die Zeiten sich bespiegeln.« Aus dieser Erkenntnis folgert zwangsläufig, daß Methoden gesucht werden müssen, um eine »Standortbestimmung« des Betrachters innerhalb des Überlieferungsstromes zu ermöglichen. Die bisher erarbeiteten Ansätze von Methoden, erweisen sich dabei als unzulänglich, v.a. die zwei verbreiteten und beliebten Vorgehen: Die eine - die bekanntere Variante, wird vom Marxismus repräsentiert, der von der vermeintlichen Kenntnis der »Gründlinien« der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft ausgeht und dadurch die Positionen absteckt; in der Praxis führt er zwangsläufig zu einem starken Schematismus, da das Ergebnis vorausgegeben ist. Der Historie bleibt nur übrig, ein Schema zu illustrieren und den jeweiligen Standpunkt des Betrachters innerhalb dieses Schemas zu bestimmen. Erfolgversprechender erscheint der Ansatz der Ideologiekritik, die mancherorts in der Form des »Hinterfragens« zu etwas wie zu einem beliebten intellektuellen »Gesellschaftsspiel« an den Universitäten geworden ist. "Wenn man dabei aber nicht von der naiven Annahme ausgeht, daß der Fragende allein die Wahrheit kennt und daher alle anderen Standpunkte »richtig« einzureihen vermag, so gelangt man mit dieser Methode nur zur Kenntnis relativer, beschränkter Unterschiede zwischen den einzelnen zeitgenössischen Standpunkten - zweifellos ein wichtiger Fortschritt, aber für das eigentliche Anliegen der Untersuchung des Fortlebens der Geschichte offensichtlich unzureichend. Nachdem ich nun versucht habe, die eigenartige Stellung der Geschichtswissenschaft in ihrer Auseinandersetzung mit anderen Geschichtsdeutungen zumindest zu skizzieren, möchte ich zu dem eigentlichen Thema, dem Kampf der Geschichtswissenschaft mit den Geschichtsmythen, zurückkehren. "Wir können zunächst von der banalen Erkenntnis ausgehen, daß die Vergangenheit immer unsere Gegenwart mitformt, egal ob wir sie als Quelle eines Stolzes und einer Ermunterung oder aber als Bürde und als schwere Last empfinden. Tagtäglich können wir uns im Eigenleben oder durch politische Ereignisse davon überzeugen, daß man der Vergangenheit nicht entkommen kann, so sehr man sich das auch wünschen mag - Beispiele wie das Auftreten eines Ayatola Chomeni, der Bestrebungen der Armenier oder die Ereignisse im Nahen Osten können nur den überraschen, der diese Tatsache vergessen hat. Sie führen uns den Einfluß von Vergangenheit und der Geschichtstradition neuerlich drastisch vor Augen. Wenn wir jedoch die Deutungen der Vergangenheit betrachten, so sehen wir, daß bisher etwas wie eine Arbeitsteilung zwischen wissenschaftlicher Geschichtsschreibung und Geschichtsmythos stattgefunden hat. Die Historie hat sich - und man wird mit Stolz sa- gen dürfen - mit beachtlichem Erfolg - bemüht, die Quellen zu sichten, kritisch zu überprüfen und Einzelepisoden säuberlich zu rekonstruieren. In der historischen kritischen Methode hat sie ein brauchbares Mittel entwickelt, das auch außerhalb des engeren Fachbereiches erfolgreich anwendbar ist. Den Kampf mit Geschichtsmythen hat sie jedoch bloß auf ihrem eigenen Felde geführt v.a. mit dem Nachweis, daß integrierende Bestandteile des mythischen Geschichtsbildes unrichtig sind. Auch die Geschichtsmythen haben ihre Tätigkeitsbereiche abgegrenzt, die Fakten voll Verachtung der »Schulweisheit« gelehrter Historiker überlassen. Sie konzentrieren sich auf das »Nachleben« der Geschichte, das von den Historikern weitgehend ausgeklammert worden ist, und sie beriefen sich nicht auf Kritik und Nachprüfbarkeit, sondern auf das Gefühl und auf ein »Einleben« in die Vergangenheit - vermochten dabei aber der Vergangenheit einen vermeintlichen Sinn zu geben und kamen dadurch offenbar einem echten Anliegen der Menschen entgegen, die wenigstens im zeitlichen Ablauf der Geschichte die Wahrheit siegen lassen möchten. Nicht aus Dummheit, oder zumindest nicht nur aus Dummheit, verfallen Menschen immer wieder Geschichtsmythen, sondern auch aus dem echten Bedürfnis, etwas wie einen »Sinn« des Geschehens zu ergründen. Man kann darüber vornehm-gelehrt die Nase rümpfen; die Tatsache bleibt bestehen, daß wedet ein Individuum noch eine Gesellschaft ohne Sinnsuche und Sinngebung existieren können. Unwillkürlich hat jeder Mensch die Tendenz, entweder die Vergangenheit in einen unmittelbaren Bezug zu sich zu sehen - er empfindet dabei zuweilen das Gefühl einer Sensation, oder aber in der eigenen oder fremden Vergangenheit einen versteckten, einen sinnvollen Bezug zu suchen, der eine Deutung erfordert. Diese Sinngebung kann äußerst primitiv geschehen, sie kann kompliziert vor sich gehen, aber ohne sie geben sich sowohl Individuen als auch Gesellschaften sehr schnell auf. Große Teile des Jugendprotestes und der Flucht in eine Radikalisierung um ihrer selbst willen dürften dem ohnmächtigen Gefühl einer völligen persönlichen und gesellschaftlichen Sinnlosigkeit entspringen. Die Konsequenz die sich m.E. daraus für die Geschichtswissenschaft - und vielleicht darüber hinaus auch für so manche andere Sozialwissenschaft - ergibt, ist, daß es nicht genügt, nur Fakten richtigzustellen. Gewiß ist dies eine Aufgabe, die immer wieder und wieder unternommen werden muß - aber man darf dabei nicht stehen bleiben und keine Lösung erscheint mir eine Historie, die sich in Publizitätssucht überschlägt. Die Ansprechbarkeit auf wissenschaftliche Argumentationsweisen ist wohl überhaupt begrenzt. Die Historie muß OTz'melfen eine wirkliche Lücke auszufüllen, die den Geschichtsmytho-logen als Jungbrunnen dienen: Der Mangel an Orientierungshilfen, sich jetzt und hier in unserer Welt zurechtzufinden; es muß jener Hiat in der Wissenschaft überwunden werden, die die Historie nicht mit der Gegenwart und die anderen Sozialwissenschaften nicht mit der Vergangenheit fertig werden läßt. Die Historiker müssen einen bescheidenen Beitrag dazu leisten, unserem individuellen und sozialen Dasein einen Sinn zu geben. Wenn die Geschichtsmythen eine verbindliche Sinngebung von der Vergangenheit her postulieren, so muß die Geschichtswissenschaft m.E. einem Sinnsuchen mit Hilfe der Be- 62 I. HAGIOGRAPHIE - TRADITION - GESCHICHTSSCHREIBUNG DIE OHNMACHT DER WISSENSCHAFT GEGENÜBER GESCHICHTSMYTHEN 63 Stimmung des historischen Faktors im Geschehen verpflichtet sein. Die Historie kann diese Aufgaben mit Sicherheit nicht allein bewältigen und gerade eine strikte Geschichtsgläubigkeit im Sinn der Annahme eines zwangsläufig-unausweichlichen Geschichtsablaufes hat sich als überaus gefährliches »Opium der Intellektuellen« erwiesen. Dies ist aber kein Grund dafür ein jedes Suchen nach Sinngebung in der Wissenschaft zu tabuisieren, mit dem Hinweis auf eine vermeintlich wertfreie und über dem Sozialbereich stehende Wissenschaft. Ein solches Vorgehen verdammt überdies die Historie zur völligen Wertlosigkeit selbst den stupidesten Geschichtsmythen und ihren Verfälschungen gegenüber -sie zwingt ihr die Rolle des bescheidenen Lückenbüßers und eines pedantischen Beckmessers geradezu auf. Sie verdammt sie im Kampf mit den Geschichtsmythen zur völligen Machtlosigkeit - und wenn nicht alles trügt, so steht der Geschichtswissenschaft ein neuer und schwerwiegender Kampf bevor: Neuerlich erschallen im Chor Stimmen, die alte Geschichtsmythen auffrischen oder retten möchten, wiederum mit dem Hinweis auf vermeintlich alte erprobte Werte, auf die man nur zurückgreifen brauche um aller Schwierigkeiten Herr zu werden. Der a la longue wohl gefährlichste Geschichtsmythos mythisiert die Geschichte selbst - er verwandelt sie in einen vermeintlich ruhenden Pol in einer sich wandelnden Welt, in ein Buch voller »guter Lehren«, die nur von den Uneinsichtigen befolgt werden müßten, damit die Welt neuerlich in Ordnung sei. Gerade dies ist aber die Vergangenheit nicht - sie ist selbst voller Widersprüche und kein ruhender Pol und kein Magazin gültiger Maßstäbe, sondern sie ist zugleich ein Bestandteil unserer Gegenwart, die, wie alle anderen Komponenten teilweise ererbt, zum Teil aber erarbeitet werden müssen - auch wenn sie eine für sie typische Mischung dieser Bestandteile aufweist. Die Illusion der Vergangenheit als ruhendem Fixpunkt ist eine der gefährlichsten Demagogien, weil sie anscheinend so naheliegend und plausibel ist. Dagegen muß darauf hingewiesen werden, daß gerade dies ein gefährlicher Mythos ist, daß es gesicherte Werte, soziale und individuelle Harmonie, ein goldenes Zeitalter nie gegeben hat, weder am Anfang der Geschichte, noch vor der Industrialisierung, noch im 19. Jahrhundert oder in den Sechzigerjahren unseres Jahrhunderts. Nie haben bisher auch die etablierten Werte und die Verbote Grausamkeit, Ungerechtigkeit und Morden zu verhindert vermocht und Theologen verschiedenster Konfessionen, die sich auf den Dekalog beriefen, haben es beispielsweise noch immer vorzüglich verstanden zu begründen, warum das Gebot »Du sollst nicht töten« in diesem besonderen Fall keine Gültigkeit hätte und Kriege oder Hinrichtungen doch gestattet seien. Die »Rückbesinnung auf die eigene Geschichte«, als Tarnkappe eines engstirnigen Nationalismus verwendet, war nur zu oft ein direkter Weg - um an die bekannt Charakteristik Grillparzers zu erinnern - zur Bestialität. Man suche doch in der Vergangenheit »Werte«, die Kriege verhindern, soziale Ungerechtigkeiten beseitigen, die Verfolgung Ausgestoßener verunmöglicht haben - und erst dann werden wir bereit sein sie als Vorbild zu akzeptieren. Die Geschichtsschreibung hat quasi von Haus aus den Hang zum Konservativismus, weil der Historiker nur zu leicht der Versuchung verfällt, alles Vergangene als natürlich »als gewachsen« zu werten und daher als erhaltenswert anzusehen. Genauso begreiflich ist die Tendenz der Anhänger eines Fortschrittsglaubens unbesehen Vergangenheit mit Rückständigkeit, die überwunden werden muß, gleichzusetzen - ein Bestreben, das die Aufklärung und ihre Nachfolger kennzeichnet. Zur Zeit, wenn nicht alle Anzeichen trügen, steht die Historie auch in der Bundesrepublik vor einer neuen literarischen Modewelle, die ihr wahrscheinlich eine gesellschaftliche Aufwertung bescheren wird. So verlockend diese Perspektive für die Historiker - ihres Sozialprestiges wegen - erscheinen mag, so gefährlich ist sie für das eigentliche Geschichtsbewußtsein. Denn im Wesen des Modischen ist seine Unverbindlichkeit, eine Schein-Aktualität, die schon morgen von einem anderen zeitgemäßeren modischen Trend abgelöst werden wird. Aber leider ist die Vergangenheit kein Kleidungsstück, das beliebig abgelegt, oder modisch abgeändert, bei passender Gelegenheit hervorgeholt werden kann. So lange Anhänger der Verdammung der Vergangenheit nicht einsehen werden, daß ihr verbaler Exorzismus nicht imstande ist, das Erbe oder besser gesagt die Bürde der Geschichte zu verändern, und Anhänger einer Historisierung sich mit nostalgischer Befriedigung in der Vergangenheit bespiegeln werden, so lange wird wohl der Geschichtsmydios lebendig sein und sein Unwesen treiben. So lange sich die Historie darauf beschränken wird, dem Phantom einer Rekonstruktion der Vergangenheit nur aus Mosaiksteinchen ihrer Quellen nachzujagen, wird sie zur Machtlosigkeit verdammt bleiben. Erst eine Uberwindung dieser Gegensätze wird m.E. eine neue Chance bieten.