Aufsätze Otto Brunner über Otto den Großen Aus den letzten Tagen der reichsdeutschen Mediävistik von Hans-Henning Kortüm I. Einleitung Der 2i.Januar 1945 fiel auf einen Sonntag. Der Reichspropagandaleiter Joseph Goebbels war noch „nachmittags" in sein Refugium auf der Havelinsel Schwanenwerder1 gefahren, „um die Kinder wiederzusehen": „Lanke liegt im tiefsten Frieden. Die Landschaft ist von Schnee überdeckt. Es ist frostklar; ein herrliches Wetter, das einem in normalen Zeiten nur die größte Erquickung bereiten könnte. Magda und die Kinder freuen sich sehr, daß ich wenigstens für ein paar Stunden herauskomme; aber ich finde nur wenig Ruhe und Entspannung: Die Lage ist so geworden, daß man sich auch nicht für eine Minute davon freimachen kann."2 Goebbels war an jenem Januarsonntag im Übrigen auch wieder einmal zu der kaum noch in Abrede zu stellenden Einschätzung gekommen, dass „die Krise im Osten [...] sich immer mehr einem katastrophischen [!] Zustand [nähert]": „Das Kartenbild ist ganz unübersichtlich geworden und bietet einen geradezu tollen Anblick. Die Panzerspitzen der Sow- 1 Zum umfangreichen Immobilienbesitz von Goebbels auf Schwanenwerder Peter Longerich, Joseph Goebbels. Biographie. München 2010, 402 f. 2 Die Tagebücher von Joseph Goebbels. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte und mit Unterstützung des Staatlichen Archivdienstes Rußlands. Hrsg. v. Elke Fröhlich. Teil 2: Diktate 1941-1945. Bd. 15: Januar-April 1945. Bearb. v. Maximilian Gschaid. München/New Providence/London 1995, 174t: Eintrag zum 21.1.1945. DOi io.i5i5/hzhz-20i4-04i8 297 Downlodd D&16 I 5/26/15 10i46 Pfl jets sind bis 60 km vor Breslau vorgedrungen".3 - Wir können natürlich nicht wissen, ob auch ein damaliger Besucher der Reichshauptstadt, der, aus der südöstlichen Ecke des Reiches, aus Wien kommend, sich am 21. Januar 1945 in Berlin aufhielt, diese Einschätzung teilte. Aber vieles spricht dafür. Nicht nur im ,richtigen' Osten, also in Ostpreußen, im Baltikum und in Polen, hatte sich seit dem 12. Januar 1945, dem Beginn der großen sowjetischen Offensive, die militärische Lage bedrohlich zugespitzt. Genauso düster sah es auch im ,Südosten' aus: Das von deutschen und ungarischen Truppen verteidigte Budapest, die letzte entscheidende strategische Bastion vor Wien, war endgültig seit dem 2 5. Dezember 1944 von sowjetischen Truppen eingekesselt und sollte dann schließlich am 14. Februar 1945 kapitulieren. Aber sicherlich hätte der Wiener Besucher seine Einschätzung der militärischen Lage nicht ganz so burschikos-umgangssprachlich und schnoddrig-journalistisch formuliert, wie es Goebbels in seinen Tagebüchern häufiger zu tun pflegte.4 Vermutlich hätte er die dramatische Situation mit eher gesetzteren Worten beschrieben. Denn immerhin handelte es sich bei dem erwähnten Besucher um keinen Geringeren als den Ordinarius für Mittlere und Neuere Geschichte an der Reichsuniversität Wien, Professor Dr. Otto Brunner (1898-1982). Brunner gehörte bekanntlich - nach einer längeren Karriere Unterbrechung zwischen 1945 und 1954 - zu den einflussreichsten Historikern der frühen Bundesrepublik, wo er als ordentlicher Professor an der Hamburger Universität von 1954 bis 1967 lehrte.5 So firmiert sein Name als einer unter den drei Herausgebern der „Geschichtlichen Grundbegriffe", jenes Opus ma-gnum, das seit 1972 unter der maßgeblichen Ägide von Werner Conze, Reinhart Ko- 3 Ebd. i68f.: Eintrag zum 21.1.1945. 4 Zur Charakteristik des Tagebuchs vgl. Longerich, Goebbels (wie Anm. 1), 16. 5 Zu Brunners Vita und Werk vgl. noch immer Otto Gerhard Oexle, Sozialgeschichte - Begriffsgeschichte -Wissenschaftsgeschichte. Anmerkungen zum Werk Otto Brunners, in: VSWG 71, 1984, 305-341; James Van Horn Melton, Otto Brunner and the Ideological Origins of Begriffsgeschichte, in: Hartmut Lehmann/ Michael Richter (Eds.), The Meaning of Historical Terms and Concepts. New Studies on Begriffsgeschichte. (German Historical Institute Washington D. C, Occasional Paper N0.15.) Washington 1996, 21-33.-Zur Tätigkeit Brunners als Direktor des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung zwischen 1940 und 1945 vgl. Anm.9. - Zu seinem Wirken in Hamburg: Hans-Werner Goetz, Geschichtswissenschaft in Hamburg im „Dritten Reich", in: Rainer Nicolaysen/Axel Schildt (Hrsg.), 100 Jahre Geschichtswissenschaften in Hamburg. (Hamburger Beiträge zur Wissenschaftsgeschichte, Bd. 18.) Berlin/Hamburg 2011, 103-160, hier 155 f. - Zur jüngsten Literatur vgl. jetzt Frank-Rutger Hausmann, Die Geisteswissenschaften im „Dritten Reich". Frankfurt am Main 2011, 426 mit Anm.333. Historische Zeitschrift // band 299 / 2014 Downlodd D&16 I 5/26/15 10i46 Pfl seileck und Otto Brunner entstand.6 Auch wenn dieser das Erscheinen der letzten Bände selbst nicht mehr erlebt hat - der letzte (8.) Band, der das Register enthält, erschien erst siebzehn Jahre nach Brunners Tod 1997 -, sichert ihm seine Mitherausgeberschaft doch bis heute einen hohen Bekanntheitsgrad auch und gerade unter den Neuzeithistorikern. Im Unterschied zu anderen bekannten Historikern der frühen Bundesrepublik hat Otto Brunner aber bis heute keinen Biographen gefunden. Zwar hat sich die Forschung seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts immer wieder intensiv mit dem nach wie vor höchst kontrovers beurteilten Brun-ner'schen Oeuvre und auch seiner Person auseinandergesetzt7, doch stößt ein so wünschenswerter historischer Rekonstruktionsversuch auf ein entscheidendes Hindernis: Es gibt von ihm keinen mit demjenigen anderer Historiker, wie beispielsweise des schon erwähnten Werner Conze, vergleichbaren Nachlass. Der dürftige Uberrest, der sich heute im Hamburger Staatsarchiv befindet, bietet diesbezüglich vergleichsweise wenig.8 Vor allem aber hat sich Otto Brunner als höchst erfolgreicher Spurenverwischer betätigt. So schon zu Kriegsende, als er in seiner Eigenschaft als Direktor des „Instituts für Geschichtsforschung und Archivwissenschaft" kurz vor dem Einmarsch sowjetischer Truppen in Wien die Vernichtung einschlägiger belastender Dokumente verfügte, worüber man aber - Ordnung muss sein - ein „Vernichtungsprotokoll" anfertigte.9 Aber auch sonst finden sich keine archivali-schen Selbstzeugnisse für die von Brunner im Januar 1945 unternommene Reise in die Reichshauptstadt10, die gleichwohl, wie noch näher zu zeigen sein wird, eine „Dienstreise" war. So nimmt es nicht Wunder, dass in der einschlägigen Forschung Brunners Berliner Aufenthalt in der zweiten Januarhälfte des Jahres 1945 weitestgehend unbemerkt geblieben ist, sieht man einmal von einem kurzen Hinweis von Thomas Etzemüller auf ein im Hamburger Staatsarchiv liegendes Redemanuskript 6 Dazu ausführlich jetzt Jan Eike Dunkhase, Werner Conze. Ein deutscher Historiker im 20. Jahrhundert. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 194.) Göttingen 2010,145-153. 7 Das bis heute umstrittenste Werk Brunners ist seine 1939 erschienene Darstellung „Land und Herrschaft", die, noch im Zweiten Weltkrieg mehrfach aufgelegt, in den 50er Jahren dann massiv textlich verändert wurde. Vgl. dazu mit weiterer Literatur Hans-Henning Kortüm, „Wissenschaft im Doppelpass?" -Otto Brunner, Carl Schmitt und die Konstruktion der Fehde, in: HZ 282, 2006, 585-617. 8 Vgl. dazu Staatsarchiv (künftig: StA) Hamburg 622 - 2. Wissenschaftlicher Nachlass Otto Brunner. 9 ManfredStoy, Das Österreichische Institut für Geschichtsforschung 1929-1945. (MIÖG, Ergänzungsbd. 50.) Wien/München 2007, 286 mit Anm. 161. 10 Anfragen beim Österreichischen Bundesarchiv, Archiv der Republik und dem Institutsarchiv blieben ergebnislos. h.-h. kortüm, otto brunner über otto den grossen 299 Downlodd D&16 I 5/26/15 10i46 PM Otto Brunners über Otto den Großen ab.11 Bis heute unbekannt geblieben ist der Inhalt von Brunners Rede, da dieser sie nie publiziert hat. Ebenfalls unbekannt ist, wer Brunner eingeladen und wo in Berlin der Vortrag stattgefunden hat. Bislang unbeantwortet geblieben ist auch die Frage, zu welchem möglichen Publikum Brunner gesprochen und warum der Wiener Historiker in der Endphase des „Dritten Reiches" ausgerechnet über Otto den Großen gehandelt hat. Die Klärung dieser Fragen, die im Folgenden versucht werden soll, ist nicht nur einem primär biographiegeschichtlichen Interesse geschuldet. Die historische Aufarbeitung einer solchen Episode ist weit mehr als nur eine Marginalie. Denn sie offenbart, wie zu zeigen sein wird, paradigmatisch die starke intellektuelle Abhängigkeit eines Historikers vom Range Brunners von beliebten geschichtlichen Deutungsmustern selbst noch in der Schlußphase eines verbrecherischen Systems, dem er selbst in öffentlicher Rede und damit ganz bewusst in legitimatorischer Absicht bis zum bitteren Ende diente. Auch Brunner gehört demgemäß zur langen Reihe jener, die ein österreichischer Zeithistoriker als „Pflichterfüller" bezeichnet hat.12 Aber Brunner hatte noch entschieden mehr getan als seine „Pflicht": Offensichtlich zutiefst geschmeichelt von einer Einladung, die ihn aus dem Zentrum der Macht ereilt hatte, kam er dieser nach, was er angesichts der Kriegsereignisse nicht hätte tun müssen, und eilte in die Reichshauptstadt. 13 Was aber ungleich bedenklicher erscheint: Brunner hat, wie noch ausführlicher zu belegen sein wird, die ihm zugeschriebene historische Expertise als einer der schon damals renommiertesten deutschen Mediävisten konsequent benutzt, um noch Ende Januar 1945 ganz bestimmte normative Handlungsanweisungen aus einer von ihm rekonstruierten angeblichen Wirklichkeit des Jahres 955 abzuleiten: Es gelte jetzt, in Zeiten höchster Gefahr, einig zu bleiben und durch „deutsche Waffentaten" - wie schon in der Mitte des 10. Jahrhunderts - Chaos und Zerstörung zu verhindern, die „Europa" wieder einmal aus dem Osten drohten.14 So etwas ließ sich umso leichter einfordern, da Brunner als einer der wenigen Historiker durch Intervention allerhöchster Stellen seit 1944 „unabkömmlich" (u.k.) gestellt war: Gleich dreimal, nämlich am 2 2. Juni 1943 und dann erneut zweimal am 11 Thomas Etzemüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945. (Ordnungssysteme, Bd. 9.) München 2001,83. 12 ReinhardPohanka, Pflichterfüller. Hitlers Helfer in der Ostmark. Wien 1997. 13 Vgl. dazu unten Abschnitt II. 14 Vgl. dazu unten Abschnitt V. 300 Historische Zeitschrift // band 299 / 2014 Downlodd D&16 I 5/26/15 10i46 Pfl 3o.August 1943 per Fernschreiben, erreichten „Vorschläge vom Hauptamt Wissenschaft" der „Dienststelle Rosenberg" die Partei-Kanzlei und damit deren Leiter Martin Bormann, betreffend die „Uk-Stellung von Geisteswissenschaftlern". Unter den insgesamt acht genannten Professoren aus der Alten, Mittelalterlichen und Neueren Geschichte befand sich auch „Professor Dr. Otto Brunner, Wien", der infolgedessen auch im Juni 1944 aus dem Wehrdienst entlassen worden war.15 Dem geschätzten Wiener Historiker versuchten die Berliner Stellen im Übrigen die Zugreise nach Berlin so angenehm wie möglich zu machen. Es war, um es mit Wiener Schmäh zu formulieren, einfach nur „charmant", konnte man wieder bequem per reserviertem Schlafwagenplatz16 nach Hause reisen und war eben nicht, wie so viele andere seiner Generation, zu „Volkssturm" und „Stellungsbau" zwangsverpflichtet.17 Vermutlich war Brunner von der Richtigkeit seiner vorgetragenen Thesen weit über das Kriegsende hinaus zutiefst überzeugt. Vielleicht sogar bis zu seinem Lebensende. Denn er, der ansonsten fast alles zu vernichten pflegte18, bewahrte ausgerechnet seinen Berliner Vortrag als einziges größeres Schriftstück auf, der somit für ihn wahrscheinlich mehr als nur ein souvenir an eine längst vergangene Zeit darstellte. II. Die Situation in Berlin um den 21. Januar 1945 Zahlreiche Zeitzeugen, die schon bald nach Kriegsende ihre Erinnerungen aufschrieben19, und die in den letzten Jahren intensivierten Forschungen über Berlin in der Zeit des Nationalsozialismus20 machen es etwas leichter, sich in Situation und Stimmungen hineinzuversetzen, die in der Reichshauptstadt zur Zeit des Besuches 15 Antrag des Amtes Rosenberg: Bundesarchiv Berlin, NS 8/241, Bl. 116; vgl. auch Stoy, Das Österreichische Institut für Geschichtsforschung (wie Anm.9), 268. 16 Vgl. dazu unten Anm. 2 3. 17 Der „Erlass über die Bildung des Deutschen Volkssturms" datiert vom 26.September 1944: „Am 12.November wurde im gesamten Reich der Volkssturm vereidigt", Longerich, Goebbels (wie Anm. 1), 651. 18 Kortüm, „Wissenschaft im Doppelpass?" (wie Anm. 7), 597 mit Anm. 51. 19 Helmut Altner, Totentanz Berlin. Hrsg. v. Tony Le Tissier. 2. Aufl. Berlin 2009; Ursula von Kardorff, Berliner Aufzeichnungen 1942-1945. Unter Verwendung der Original-Tagebücher neu hrsg. u. komm. v. Peter Hartl. München 1992; Sven Felix Kellerhoff, Berlin im Krieg. Eine Generation erinnert sich. Berlin 2011. 20 Grundlegend: Wolfram Wette/Ricarda Bremer/Detlef Vogel, Das letzte halbe Jahr. Stimmungsberichte der Wehrmachtpropaganda 1944/45. (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte, NF., Bd. 13.) Essen 2001; Michael Wildt/Christoph Kreutzmüller (Hrsg.), Berlin 1933-1945. München 2013. h.-h. kortüm, otto brunner über otto den grossen 3OI Downlodd D&16 I 5/26/15 10.46 PM von Brunner herrschten. Brunner reiste vermutlich per Bahn von seinem Amtssitz Wien21 in die Reichshauptstadt, frühestens am Donnerstag, den 18. Januar, und al-lerspätestens am Sonntag, den 21. Januar. An welchem Wochentag er genau in Berlin eintraf, entzieht sich unserer Kenntnis.22 Doch steht zu vermuten, dass Brunner noch am Abend des Vortragstages selbst, also noch am 21. Januar, entweder bereits um 17.30 Uhr oder um 20.29 Uhr, oder spätestens am darauffolgenden Abend, Montag, den 2 2. Januar, wieder die Heimreise im reservierten Schlafwagenabteil antrat.23 Denn schon in der Nacht zum 23. Januar 1945 wurde jeder nichtmilitärische Bahn-Fernverkehr im Rahmen der Operation „Gneisenau" eingestellt.24 Berliner An-kunfts- bzw. Abreiseort Brunners war der berühmte „Anhalter", der traditionelle Fernbahnhof für die süddeutschen Länder und Osterreich. 1881 fertiggestellt, war er bislang von den alliierten Bombenangriffen verschont geblieben.25 Nur wenige Gehminuten vom Potsdamer Platz entfernt, war es für Brunner dann nicht mehr allzu weit zum Ort seines Vortrages.26 Vielleicht hatte man den Gast aus Wien auch in dem mit dem Anhalter Bahnhof durch einen unterirdischen Tunnel verbundenen und damals ebenfalls noch nicht beschädigten „Hotel Excelsior" untergebracht, das 21 Stoy, Das Österreichische Institut für Geschichtsforschung (wie Anm.9), 261-315, mit genauer Beschreibung des Instituts- und Lehrbetriebs in den Kriegsjahren. 22 Zwischen dem 15. und 17. Januar 1945 nahm Brunner an einer Tagung in Braunau teil - vgl. dazu unten Abschnitt III. 23 Da man laut Brunners eigener Aussage ihm „in Berlin einen Schlafwagenplatz besorgen" wollte [so die Aussage Brunners in seinem Antwortschreiben vom 18. Dezember 1944 auf eine Einladung Theodor Mayers zu einer für Januar 1945 geplanten Tagung in Braunau-vgl. dazu unten Anm. 52], kommen ausschließlich die D-Züge 156 bzw. 26 in Betracht, die laut „Deutsches Kursbuch. Gesamtausgabe der Reichsbahn-Kursbücher. Jahresfahrplan 1944/45. Gültig vom 3.Juli 1944 bis auf weiteres. Deutsche Reichsbahn. Kursbuchbüro der Generalbetriebsleitung Ost, Berlin SW 11" als einzige Verbindungen über Schlafwagenabteile verfügten. Brunner kam demnach am Montag, den 22.1.1945, oder spätestens am Dienstag, 23.1.1945, um 8.37 Uhr bzw. um 11.03 Uhr wieder am Wiener Westbahnhof an. 24 Deutsche Allgemeine Zeitung, Ausgabe Groß-Berlin 84/18, 21.1.1945,1, „Die Beschränkung des Reiseverkehrs" mit dem Hinweis: „Schlafwagen verkehren letztmalig in der Nacht vom 22. zum 23. Januar"; vgl. dazu Goebbels, Tagebücher (wie Anm. 2), T. 2, Bd. 15,164: Eintrag zum 20.1.1945: „Wir sind nunmehr durch die Entwicklung im Osten gezwungen, eine radikale Einschränkung unseres Zugverkehrs vorzunehmen. Ab Montagabend verkehren keine D- und Eilzüge mehr; das reisende Publikum ist ausschließlich auf die Personenzüge verwiesen." 2 5 Schwer getroffen und nachhaltig beschädigt wurde der Anhalter Bahnhof erst durch den großen Bombenangriff vom 3. Februar 1945. Siehe dazu auch unten Anm. 3 4. 2 6 Vgl. dazu unten Abschnitt V. 302 Historische Zeitschrift // band 299 / 2014 Downlodd D&16 I 5/26/15 10i46 Pfl sich in unmittelbarer Nachbarschaft befand.2 7 Noch auf dem B ahnsteig konnte Brunner am eigenen Leib erfahren, in welch schwierige Situation die Reichshauptstadt mit dem am 12. Januar 1945 beginnenden sowjetischen Vormarsch geraten war: Die „Flüchtlinge aus dem Osten" begannen jetzt die Reichshauptstadt zu überschwemmen28, und ihr erster Anlaufpunkt waren naturgemäß die „für Züge aus dem Osten in Betracht kommenden Berliner Bahnhöfe [...]", wo man „am 20. 1. allgemein stark darüber geklagt" [hatte], „daß die N[ational]S[ozialistische]V[olkswohlfahrt]-Schwes-tern lieber in ihren warmen Zimmern blieben, anstatt sich um die Ankömmlinge zu kümmern [...]. Einen üblen Eindruck hinterließen die meisten beamteten Gepäckträger, so z.B. auf dem Schles. Bhf, Anhalter Bhf. und Görlitzer Bhf. Die Betreffenden glaubten keine Hilfsbereitschaft beweisen zu brauchen, weil angeblich eine Vorschrift verfüge, daß nur Schwerstversehrten usw. zu helfen sei. Hier griff der Sondereinsatz Berlin' selbständig ein".29 Aber nicht erst durch den verstärkten Zustrom aus dem Osten zu Beginn des Jahres 1945 hatte sich die Situation in Berlin dramatisch verändert. So war es zwischen Mai 1939 und Oktober 1944 zu einem Exodus der angestammten Berliner Bevölkerung in Höhe von ca. 2,1 Millionen gekommen, dem aber andererseits ein Zuzug „dienstverpflichteter" „deutscher Zivilarbeiter" und vor allem auch „eine nicht unerhebliche Zahl ausländischer Zwangs- und Fremdarbeiter" von „mindestens 600000 Personen" gegenüberstanden.30 In den „Stimmungsberichten der Wehrmachtpropaganda 1944/45" ist deshalb das „Ausländer"-Thema omnipräsent. So auch im Berichtszeitraum vom 15. bis 21. Januar 1945, in den Brunners Berlinbesuch fällt, wo über „das Benehmen der Ausländer in öffentlichen Verkehrsmitteln" Klage geführt wird, wobei namentlich junge „russische Volksangehörige, deren Betragen bisher durchaus als bescheiden zu bezeichnen war, [...] sich vor älteren Deutschen auf die Sitzplätze drängen, [...] rücksichtslos schiebend die Abteile in der S-Bahn usw. verlassen". „Eine außerordentliche Gereiztheit den Ausländern gegenüber war in vielen Speiselokalen festzustellen." - Damit unterschied sich die 27 Zum „größten kontinentalen Hotel Europas" mit 600 Zimmern vgl. http://www.potsdamer-platz.org/ excelsior.htm (Zugriff am 9.9.2013). 28 Wette/Bremer/Vogel, Das letzte halbe Jahr (wie Anm.20), 219, und Thomas Schaarschmidt, Die Mobilisierung der Berliner Bevölkerung im Krieg, in: Wildt/Kreutzmüller (Hrsg.), Berlin (wie Anm. 20), 343-3 56, hier 353. 29 Wette/Bremer/Vogel, Das letzte halbe Jahr (wie Anm. 20), 2i9f. 30 Laurenz Demps, Berlin im Bombenkrieg, in: Wildt/Kreutzmüller (Hrsg.), Berlin (wie Anm.20), 3 57-371, hier 367. h.-h. kortüm, otto brunner über otto den grossen 3O3 Downlodd D&16 I 5/26/15 10i46 PM Berliner Situation aber nicht grundlegend von derjenigen, die in Wien herrschte; auch hier war eine vergleichbar große Fremdenfeindlichkeit feststellbar: „Als eine wachsende Gefahr wird die Frage der Ausländer angesehen, deren Verhalten immer herausfordernder wird, so daß es wiederholte Male zu ernsten Zwischenfällen in der Öffentlichkeit z.B. in der Straßenbahn usw. kommt."31 Offen gezeigte Ausländerfeindlichkeit stellte also, sollte Brunner sie während seines Berliner Aufenthaltes überhaupt registriert haben, für ihn keine wirklich neue Erfahrung dar. Das Ausmaß der Zerstörungen hingegen, mit der er bei seinem Weg durch die Straßen der Reichshauptstadt konfrontiert wurde, stand in keinem Verhältnis zu den Schäden, die Wien, zeitweilig als der „Luftschutzkeller des Reiches" bezeichnet, bis zum Tage seines Vortrages hatte hinnehmen müssen.3 2 Die „Schlacht um B erlin", die die Royal Air Force am i8.November 1943 begonnen hatte und die bis März 1944 siebzehn Großangriffe mit sich brachte, hatte der Reichshauptstadt größte Zerstörungen zugefügt: „Am schwersten wurden die Bezirke Wedding, Mitte, Prenzlauer Berg, Schöneberg, Steglitz, Friedrichshain und Kreuzberg, vor allem aber das Zentrum zwischen Alexanderplatz und Brandenburger Tor getroffen."33 So hatten einige markante Bauwerke wie zum Beispiel der Französische Dom, dessen Dach eingestürzt war, oder das Hauptgebäude der Friedrich-Wilhelms-Universität bereits schwerste Treffer erlitten.34 Brunner dürfte auch nicht umhin gekommen sein zu bemerken, dass man mittlerweile mitten in der Großstadt, so auch ganz in der Nähe seines Vortragsortes, damit begonnen hatte, freie Flächen, wie etwa am Gendarmenmarkt, landwirtschaftlich zu nutzen.35 Noch aber war Berlin nicht zu einer „Geisterstadt" geworden.36 Stattdessen versuchten diejenigen, die sich in der Reichshauptstadt aufhielten, an- 31 Wette/Bremer/Vogel, Das letze halbe Jahr (wie Anm. 20), 2 2 5 f. und 66 (für die Situation in Wien im Juli 1944)- 3 2 Vgl. Stoy, Das Österreichische Institut für Geschichtsforschung (wie Anm. 9), 285, über die vergleichsweise geringen Schäden an Brunners Institut infolge von Bombenangriffen im September und Oktober 1944; sowie Hermann Hagspiel, Die Ostmark. Österreich im Großdeutschen Reich 1938 bis 1945. Wien 1995, 74- 33 Demps, Berlin im Bombenkrieg (wie Anm. 30), 3 59. 34 Der entscheidende Luftangriff, der Berlin Mitte fast vollständig zerstören sollte, fand erst am 3.Februar 1945 statt: Demps, Berlin im Bombenkrieg (wie Anm.30), 360. 35 Vgl. dazu das zur Ikone gewordene Photo in: Kellerhoff, Berlin im Krieg (wie Anm. 19), 205. 36 Dazu Roger Moorehouse, Berlin at War. Life andDeathinHitler's Capital, 193 9-1945. London 2010; das letzte Kapitel (357-381), das die Zeit zwischen Februar und April 1945 behandelt, ist überschrieben mit dem Titel „Ghost Town". 304 Historische Zeitschrift // band 299 / 2014 Downlodd D&16 I 5/26/15 10i46 Pfl gestammte Berliner, Zwangsverpflichtete und Soldaten auf Fronturlaub oder auf der Durchreise, soweit es ihnen persönlich möglich war, sich nach Kräften abzulenken. Dieses Bedürfnis nach Ablenkung und Entspannung versuchte auch der Rundfunk zu stillen. So begann der lokale Berliner „Reichssender" sein Radioprogramm am Tag von Brunners Vortrag (Sonntag, 21. Januar 1945) in der Frühe mit „Orgelkonzert" und „Morgensingen der Jugend"; im Anschluss daran folgten „Unterhaltungsmusik", „Kleines Konzert", „Botschaft der Berge", „Musikalische Skizzen", „Das Deutsche Volkskonzert", „Kapelle Erich B öschel", „Franz Weber erzählt Märchen", „Lieder von Schubert, Schumann, Brahms u.a." und „Was Soldaten sich wünschen", „Unsterbliche Musik deutscher Meister" und „Zeitspiegel", ehe am späten Abend „Operettenlieder und neuzeitliche Unterhaltungsmusik" den Tag beschlossen.37 Ungeachtet dieser schon überreichen „Präsentation heiterer Normalität" wurden „die ständigen Klagen der Bevölkerung über die Programmgestaltung im Rundfunk [...] von Woche zu Woche lauter. Schwere Musik wie Bach, Bruckner, Wagner usw. werde nach Ansicht der Berliner stets zu äußerst ungünstigen Zeiten gebracht. [...] Der schwer arbeitende Mensch wolle zur Entspannung und besonders nach Fliegerangriffen heitere und beschwingte Musik hören."38 Dem Bedürfnis nach „heiterer" Entspannung, das Goebbels vor allem in der zweiten Kriegshälfte nach Kräften zu stillen bemüht war39, entsprach insbesondere auch die Filmindustrie mit ihrem Angebot an Unterhaltungsfilmen. Vor den Kinos im Zentrum Berlins40 drängten sich die Menschenmassen. Bereits Vormittagsvorstellungen großer Lichtspielhäuser, wie zum Beispiel die des Marmorhauses am Kurfürstendamm, waren überfüllt.41 Auch Brunner dürfte mitbekommen haben, welche enorme Attraktivität die Berliner Lichtspieltheater in 37 Vgl. dasinderDeutschenAllgemeinenZeitungvonSonntag, 21.1.1945, Ausgabe 84/18 veröffentlichte Radioprogramm. 38 Zur „kriegswichtigen" Funktion des Radioprogramms, namentlich auch in Gestalt des sogenannten Wunschkonzertes, und der mit ihnen verbundenen Inszenierung „heiterer Normalität": Monika Pater, Rundfunkangebote, in: Inge Marßolek/Adelheid von Saldern (Hrsg.), Zuhören und Gehörtwerden, I. Radio im Nationalsozialismus. Zwischen Lenkung und Ablenkung. Tübingen 1998,129-241, hier 239. - Klagen der Bevölkerung über das Programm: Wette/Bremer/Vogel, Das letzte halbe Jahr (wie Anm. 20), 208. 39 Dazu Longerich, Goebbels (wie Anm. 1), 561-565. 40 Die meisten großen Filmtheater im Zentrum Berlins, wie beispielsweise das UFA-Kurfürstendamm, das UFA-Marmorhaus, das UFA am Admiralspalast, das UFA am Alexanderplatz und das UFA am Europahaus, spielten zur Zeit von Brunners Aufenthalt noch, wie aus dem Kinoprogramm der Deutschen Allgemeinen Zeitung, Ausgabe Groß-Berlin 84/16 vom 19. Januar 1945 hervorgeht, wenn auch viele Kinos in anderen Stadtteilen schon zerstört waren; vgl. dazu Moorehouse, Berlin (wie Anm. 3 6), 3 56 mit Anm. 57 41 Wette/Bremer/Vogel, Das letzte halbe Jahr (wie Anm. 20), 216. h.-h. kortüm, otto brunner über otto den grossen 3O5 Downlodd D&16 I 5/26/15 10i46 PM j ener Zeit entfalteten. Denn in unmittelbarer Nachbarschaft zum Anhalter B ahnhof, an dem Brunner ja angekommen war und von dem er auch wieder abreisen sollte, befand sich der „Europapalast", das UFA am Europahaus, damals eines der größten Berliner Filmtheater mit fast zweitausend Sitzplätzen. Dort wurde an jenem Januarwochenende eine der für die NS-Filmindustrie so zahlreichen typischen Komödien42 gespielt: „Es fing so harmlos an" erzählt die Geschichte eines tollpatschigen Ministers und seiner nicht minder tollpatschigen Legationssekretäre, bei der schon die beiden überaus beliebten männlichen Hauptdarsteller Theo Lingen und Johannes Hee-sters den Publikumserfolg garantierten.43 III. Wissenschaftliche Aktivitäten Brunners im Januar 1945: Die Tagung in Braunau am Inn vom 15. bis zum 17. Januar 1945 Am 4. Dezember 1944 schrieb der Präsident des „Reichsinstituts für ältere deutsche Geschichtskunde" in seiner Funktion als Leiter des „Einsatzes der Geisteswissenschaften im Kriege. Abtlg. Mittelalterliche Geschichte", Prof. Dr. Theodor Mayer44, aus dem fränkischen Pommersfelden einen Brief an seinen „hochverehrten Herrn Kollegen", „Herrn Prof. Dr. O. Brunner", den er am oberen linken Briefkopf mit dem Zusatz „Vertraulich" versehen und folgerichtig auch an dessen Wiener Privat- 42 Von den 1094 Spielfilmen, die zwischen 1933 und 1945 in Deutschland entstanden, waren 523 Komödien oder Musikfilme; so Mary-Elizabeth O'Brien, Nazi Cinema as Enchantment. The Politics of Entertainment in the Third Reich. Woodbridge 2004, 9. 43 Laut dem Kinoprogramm der Deutschen Allgemeinen Zeitung handelte es sich bei der erstmalig am 20.Oktober 1944 ins Kino gekommenen Komödie „Es fing so harmlos an" (am Freitag, 19.1.1945, in fünf Kinos gespielt) zusammen mit dem Filmdrama „Der Grüne Salon" (am Freitag, 19.1.1945, in zehn Kinos) um den in Berliner Kinos im Januar 1945 am häufigsten gespielten Film; die auch heute noch gern gesehene „Feuerzangenbowle" war am Freitag, 19.1.1945, in zwei Kinos vertreten. 44 Allgemein zu Theodor Mayer (1883-1972): Weitgehend unkritisch: Walter Schlesinger, Theodor Mayer und der Konstanzer Arbeitskreis. Festvortrag. Gehalten am 24. August 1963 im Ratssaal der Stadt Konstanz, in: Theodor Mayer und der Konstanzer Arbeitskreis. Theodor Mayer zum 80. Geburtstag. Konstanz [o.J.], 9-29; Helmut Beumann, Gedenkrede im Namen des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte, in: Theodor Mayer zum Gedenken. Sigmaringen 1974,11-23; Horst Fuhrmann, Ansprache des Präsidenten der Monumenta Germaniae Historica, in: ebd. 2 4-2 6. - Die kritische Auseinandersetzung beginnt mit Johannes Fried (Hrsg.), Vierzig Jahre Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte. Sigmaringen 1991. Historische Zeitschrift // band 299 / 2014 Downlodd D&16 I 5/26/15 10i46 Pfl adresse versandt hatte.45 Mayer lud zu einer „wissenschaftlichen Arbeitsbesprechung über Grundfragen einer gesamtbairischen Geschichtsauffassung nach Braunau a. I." für den Januar 1945 ein und bat Brunner in diesem Zusammenhang, „über die Entstehung einer österreichischen Geschichtsauffassung und ihr Verhältnis zu einer gesamtbairischen und gesamtdeutschen Geschichtsauffassung [zu] sprechen."46 Mit den Junkturen „gesamtdeutsche Geschichtsauffassung" und der davon offensichtlich abgeleiteten „gesamtbairischen Geschichtsauffassung" knüpfte Mayer dezidiert an eine Begrifflichkeit an, wie sie von Heinrich von Srbik (1878-1951), dem „Doyen der österreichischen Historiker", geprägt worden war: „eine spezifisch österreichische Variante ,großdeutscher Geschichtswissenschaft', die dem Anschluß' den Weg bereitete".47 Im Übrigen vermied Mayer in seinem Einladungsschreiben für das Braunauer Wissenschaftlertreffen wohl schon deshalb sorgsam den Begriff „Tagung", weil seit einem „Schnellbrief" über die „Abhaltung von Kongressen und Tagungen aller Art" des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Bernhard Rust vom 14. April 1942, also schon lange vor Hitlers Erlass über den totalen Kriegseinsatz vom 25. Juli 1944, nur noch „örtliche Veranstaltungen und solche Tagungen" erlaubt waren, „die als so kriegswichtig angesehen werden, daß sie auch trotz der angespannten Transportlage stattfinden müssen", wobei sich der Minister die Genehmigung derartiger Tagungen ausdrücklich vorbehielt.48 Durch eine Intervention beim zuständigen Gauleiter gelang es Mayer, eine Erlaubnis für die Abhaltung der Tagung zu bekommen.49 - Sie war „die vermutlich letzte Tagung im Rahmen des ,Gemeinschaftswerks' überhaupt."50 Wahrscheinlich 45 Stadtarchiv Konstanz, Nachlass Mayer, Varia 24. 46 Stadtarchiv Konstanz, Nachlass Mayer, Varia 24. 47 Hausmann, Geisteswissenschaften im „Dritten Reich" (wie Anm. 5), 424. - Zur ideologischen Fundierung von Srbiks „gesamtdeutscher" Programmatik ausführlich Gernot Heiss, Die „Wiener Schule der Geschichtswissenschaft" im Nationalsozialismus: „Harmonie kämpfender und Rankescher erkennender Wissenschaft"?, in: Mitchell G. Ash/Wolfram Nieß/Ramon Pils (Hrsg.), Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. Das Beispiel der Universität Wien. Göttingen 2010, 397-426, hier 398-406. 48 Bundesarchiv Berlin R 4901/14026: „Einschränkung des Reiseverkehrs". 49 Anne Christine Nagel, Im Schatten des Dritten Reiches. Mittelalterforschung in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1970. (Formen der Erinnerung, Bd. 24.) Göttingen 2005, 46. 50 Frank-Rutger Hausmann, „Deutsche Geisteswissenschaft" im Zweiten Weltkrieg. (Studien zur Wissenschafts-und Universitätsgeschichte, Bd. 12.) 3.Aufl. Heidelberg 2007,193; ebd. auch Nennung weiterer Einzelheiten über die Braunauer Tagung („Die Kreisleitung der NSDAP besorgte Wild und Fische für die Verköstigung") und Aufzählung der Tagungsteilnehmer („Mayer hatte demnach im allgemeinen Gelehrte aus h.-h. kortüm, otto brunner über otto den grossen 3O7 Downlodd D&16 I 5/26/15 10i46 PM erfüllte sie dieselbe Funktion, die ein Zeitgenosse und mediävistischer Weggefährte Otto Brunners, der Verfassungs- und Landeshistoriker Walter Schlesinger (1908-1984), einer anderen, gegen Kriegsende stattfindenden Mittelalter-Tagung in Erlangen zugeschrieben hatte: „Ich litt unter der unüberhörbaren Drohung des bevorstehenden Zusammenbruches, den ich mir noch grausiger vorstellte, als er dann wirklich eintrat. Aber soviel sagte ich mir doch: hier auf dieser Erlanger Tagung war gleichsam eine Oase in der allgemeinen Wüstenei, unsere Wissenschaft war in der Heimat trotz der Bomben am Leben geblieben [...]."51 Brunner nahm die Einladung mit Schreiben vom 18.Dezember 1944 an, mit dem Hinweis, dass er „am 21. Jänner [...] einen Vortrag in Berlin [halten]" werde52, ohne jedoch Mayer mitzuteilen, wer ihn eingeladen hatte und über welches Thema er denn zu sprechen gedenke. Am 20.Dezember 1944 verschickte Mayer schließlich das detaillierte Tagungsprogramm und informierte die Teilnehmer über organisatorische Einzelheiten: „Die Teilnehmer der Arbeitsbesprechung treffen sich am 15. Januar 19 Uhr im Gasthof Gann, Altdeutsche Stube, 1. Stock, Adolf Hitler Platz. Die Vorträge finden im Führer Geburtshaus, Adolf Hitler Straße (Vortragssall [sie!] 1. Stock) statt."53 Brunner, der dann am 17. Januar 1945 über die „Entstehung einer österreichischen Geschichtsauffassung" sprach, war von Mayer bewusst an das Ende der Tagung vor der „Allgemeinen Aussprache" platziert worden: „Ich habe Ihren Vortrag an den Schluß gestellt, weil ich annahm, daß er einen besonders wirksamen Abschluß geben wird und weil ich fürchtete, daß sonst Spindler54 stark abfallen könnte. Das wollte ich vermeiden. Sie werden also gewiß in dieser Anordnung der Vorträge nicht eine Herabsetzung sehen, weil sie gerade das Gegenteil ist."55 Mit Datum der Umgebung ausgesucht, die auch in diesen schwierigen Kriegszeiten noch anreisen konnten."; ebd. 193 f.). 51 Schlesinger, Theodor Mayer und der Konstanzer Arbeitskreis (wie Anm. 44), 17. 52 Stadtarchiv Konstanz, Nachlass Mayer, Korrespondenzen 11. 53 Stadtarchiv Konstanz, Nachlass Mayer, Varia 2 4. 54 Max Spindler (1894-1986) sollte laut dem von Mayer konzipierten Tagungsprogramm unmittelbar vor Brunner „Über baierische und bayerische Geschichtsauffassung" referieren; vgl. Stadtarchiv Konstanz, Nachlass Mayer, Varia 2 4. - Der überzeugte Katholik Spindler war ein entschiedener Gegner der Nationalsozialisten: „1933 war seine Karriere vorerst zu Ende. Er hatte es nur zum außerplanmäßigen Professor gebracht; sein rechtlicher Status war nicht besser als der eines Privatdozenten.", vgl. Andreas Kraus, Max Spindler. Persönlichkeit und Werk, in: ZBLG 49, 1986, 579-596, hier 579. - Zum Bedeutungsunterschied von „baierisch" und „bayerisch" vgl. unten Anm. 7 o. 55 Stadtarchiv Konstanz, Nachlass Mayer, Korrespondenzen 11. Historische Zeitschrift // band 299 / 2014 Downlodd D&16 I 5/26/15 10i46 Pfl vom 3. Januar 1945 nahm Brunner schließlich endgültig an: „Ich werde alles tun, um kommen zu können, obwohl ich noch gewisse Schwierigkeiten sehe, die sich hoffentlich überwinden lassen."56 Der Briefwechsel zwischen Theodor Mayer und Otto Brunner belegt das schon zu dieser Zeit bestehende überaus enge Verhältnis beider Mittelalterhistoriker, das sich dann auch nach Kriegsende ungebrochen fortsetzen sollte. Brunner gehörte nicht nur zu den ersten Referenten auf so mancher Tagung, die der von Theodor Mayer gegründete Konstanzer Arbeitskreis organisierte57, sondern war einer von Mayers Wunschkandidaten für seine Nachfolge als Vorsitzender des Arbeitskreises, was Brunner aber ablehnte.58 Brunners Vortragsthema auf der Braunauer Tagung kann kaum überraschen. Brunner hatte in seinem Antwortschreiben vom 18.Dezember 1944 an Mayer59 davon gesprochen, er wolle „die Grundlinien seines Gedankengangs" an seiner „Uhlirzbesprechung"60 orientieren. Somit dürfte er sich auch mit seinem unveröffentlicht gebliebenen Braunau-Vortrag „Entstehung einer österreichischen Geschichtsauffassung" vermutlich in den Bahnen bewegt haben, die er ausweislich seines Schriftenverzeichnisses seit 1936, verstärkt aber seit 1938 mit einer gewissen Penetranz beschritten hatte.61 In ihrem Kern liefen sie alle auf einen von ihm immer wieder variierten Grundgedanken hinaus: „Österreichs deutsche Sendung".62 Für 56 Stadtarchiv Konstanz, Nachlass Mayer, Korrespondenzen 11. 57 Brunner hielt bereits am 29.September 1953 auf der Zweiten Tagung (die damals noch „Mainau-Tagung" hieß) einen öffentlichen Abendvortrag im Konstanzer Bürgersaal, drei Jahre später hielt er im Rahmen der Tagung „Geschichte des Lehenswesens" am 11.Oktober 1956 einen öffentlichen Abendvortrag über „Feudalität und Bürgertum" „im Ratssaal der Stadt Lindau"; vgl. dazu Traute Endemann, Geschichte des Konstanzer Arbeitskreises. Entwicklung und Strukturen 1951-2001. (Veröffentlichungen des Konstanzer Arbeitskreises für Mittelalterliche Geschichte aus Anlass seines Fünfzigjährigen Bestehens i95i-200i,Bd. 1.) Stuttgart 2001, 96 u. 98. 58 Ebd. 13 3 f. 59 Stadtarchiv Konstanz, Nachlass Mayer, Korrespondenzen 11. 60 Otto Brunner, Zur Frage der österreichischen Geschichte, in: Mitteilungen des Instituts für Geschichtsforschung und Archivwissenschaft in Wien 55,1944, 433-439. 61 Vgl. dazu das „Verzeichnis der Schriften Professor Otto Brunner 1923-1966, zusammengestellt von Günther Wolgast", Hamburg 1966,1-10, 38, 40, 41-48, 50-52, 55-57, 59-61, 63. 62 So der gleichnamige Titel seines Beitrages, in: Die Wehrmacht-Fachschule 15,1939, 73-80. - Er variiert den Titel eines von Josef Nadler und Heinrich von Srbik herausgegebenen Sammelbandes: „Österreich. Erbe und Sendung im deutschen Raum" (2.Aufl. Salzburg/Leipzig 1936). An ihm hatte sich Brunner mit einem Beitrag über „Österreich, das Reich und der Osten im späteren Mittelalter" beteiligt. h.-h. kortüm, otto brunner über otto den grossen 3O9 Downlodd D&16 I 5/26/15 10i46 PM Brunner gab es eigentlich nur in dem kurzen Zeitraum der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie zwischen 1866 und 1918 „eine wirklich .österreichische' Geschichte überhaupt".63 In einem tieferen historischen Sinne erfüllt hatte sich nach Brunners Meinung hingegen die deutsche Bestimmung Österreichs im sogenannten Anschluss 1938: „Der Führer hat seine Heimat Osterreich zurück ins Reich geführt. Aus dem zähen Bauernblut des niederösterreichischen Waldviertels stammend, im alten Bajuvarenland Oberösterreich herangewachsen, erfuhr er in seiner Jugend das Schicksal des deutschen Österreichers an sich selbst. Von dem hier so lebendigen Gedanken des Volkstums ergriffen, sah er doch zugleich, daß dieser Gedanke nur im Reich zur politischen Geltung und Kraft kommen konnte. Darum ist er aus seiner Heimat hinausgezogen ins Reich [...]. Wenn Österreich nun wieder seine alte Mission aufnimmt, wenn es sich wieder ,am Hofzaun des Reiches' weiß, aber auch in dessen ,Schutz und Schirm', dann ist es heimgekehrt in dem stolzen Bewußtsein, das Seine zum Werden des neuen Großdeutschland, dem es den Führer, den Einiger von Volk und Reich gab, getan zu haben".64 So gesehen, konnte Brunner auch mit der Wahl des Tagungsortes65 ausgesprochen zufrieden sein66: Theodor Mayer wird sie als Leiter des „Einsatzes der Geisteswissenschaften im Kriege" ganz sicher und vor allem auch im Sinne einer politischen Konfession und einer Bekundung unverbrüchlicher Treue zum Führer in schwierigsten Zeiten getroffen haben und weniger aus Gründen historischer Reminiszenz an einen Ort, der an der früheren Grenze zwischen Deutschland respektive Bayern und Österreich lag.67 63 Brunner, Zur Frage der österreichischen Geschichte (wie Anm. 60), 43 4. 64 Otto Brunner, Österreichs Weg zum Großdeutschen Reich, in: Deutsches Archiv für Landes- und Volksforschung 2,1938, 519-528, hier 528. 65 Hitlers Geburtshaus in Braunau befand sich seit 1938 in Parteibesitz und war zu einem Kultur- und Ausstellungszentrum umgewandelt worden; vgl. dazu Marion Kraske, Braunaus Vergangenheit. Mit Hitler leben, online unter: http://einestages.spiegel.de/static/topicalbumbackground/2844/mit_hitler_leben. html. (Zugriff am 18.9.2013). 66 Hitler hatte bereits im Jahre 1924 seinen Geburtsort gepriesen: „Als glückliche Bestimmung gilt mir heute, daß das Schicksal mir zum Geburtstort gerade Braunau am Inn zuwies, liegt doch jenes Städtchen an der Grenze jener zwei deutschen Staaten, deren Wiedervereinigung mindestens uns Jüngeren als eine mit allen Mitteln durchzuführende Lebensaufgabe erscheint"; hier zitiert nach Kraske, Braunaus Vergangenheit (wie Anm. 65). Vgl. hierzu auch Ian Kershaw, Hitler 1889-193 6. Stuttgart 1998, 38. - Beim Anschluss der „Ostmark" im März 1938 sollte Hitler eigens über Braunau reisen: Ian Kershaw, Hitler 1936-1945. 4.Aufl. Stuttgart 2000,127. 67 So hatte Mayer die Wichtigkeit der Tagung gegenüber dem Gauleiter Spengler mit dem Hinweis auf „gewisse separatistische und partikularistische Bestrebungen da und dort" begründet und es als „kriegs- 310 Historische Zeitschrift // band 299 / 2014 Downlodd D&16 I 5/26/15 10i46 Pfl Für Brunner hatte, wie er in seiner Uhlirz-Rezension formulierte, mit der „Entstehung des Großdeutschen Reiches [...] die österreichische Geschichte eine ganz neue Bedeutung gewonnen".68 Der Begriff des „Deutschösterreichers" war für ihn seit dem „Anschluß der Ostmark an das Reich" endgültig obsolet geworden. Bei dem Begriff „Österreicher" - Brunner sprach gerne von „Ostmärkern" - handle es sich eigentlich nur um eine „Wiener Schablone"; „Österreicher" waren in einer „volksgeschichtlichen Betrachtungsweise" eben ,echte' Bajuwaren und damit auch ,echte' Baiern, die es im Laufe der „deutschen Ostbewegung" in den Südosten, an den „Hofzaun des Reiches", verschlagen hatte. Der Wiener' Historiker Brunner, der ,die Wiener' ganz offensichtlich nicht liebte, deutete die „Geschichte des Deutschtums der Alpen- und Donaugaue" dezidiert „als Geschichte des bairischen Stammes". Demgemäß lasse erst eine „volksgeschichtliche Betrachtungsweise" „das wahre Wesen des Deutschen an der Donau und in den Ostalpenländern in seiner Vielgestaltigkeit sichtbar werden".69 Für eine eigenständige „österreichische Geschichtsauffassung" konnte es logischerweise, nachdem Österreich ins Reich ,heimgekehrt' war, endgültig keinen Platz mehr geben, sondern nur noch für eine, wie Theodor Mayer es in seinem Einladungsschreiben formuliert hatte, „gesamtbairische Geschichtsauffassung", die die österreichische Geschichtsauffassung notwendigerweise miteinschloss. Wenn Mayer und Brunner gleichermaßen z statt y in solchen Worten wie „Baiern", „baierisch" und „gesamtbairisch" schrieben, dann war das programmatisch gemeint und sollte auf die völkische Identität von „Bayern" und Österreichern verweisen.70 Wenn das „Ostmarkgesetz" schon ein Jahr nach dem „Anschluß" anordnete, alles „Österreichische" aus der Amtssprache zu tilgen und durch alternative Bezeichnungen zu ersetzen71, dann legitimierte Brunner, der doch immerhin seit 1923 ordentliches Mitglied, seit 1940 zunächst provisorisch, seit Frühjahr 1942 offiziell wichtig" bezeichnet, „gegen derartige Tendenzen vorzugehen", zitiert nach Nagel, Im Schatten (wie Anm.49), 46. Zu Absetzbewegungen im Zuge der sich abzeichnenden Kriegsniederlage vgl. Hagspiel, Ostmark (wie Anm. 32),331-334. 68 Brunner, Zur Frage der österreichischen Geschichte (wie Anm. 60), 43 5. 69 Ebd.436f. 70 Zur bewussten orthographischen Differenzierung zwischen „Baiern" und „Bayern" auch noch in österreichischen Landesausstellungen lange nach dem Zweiten Weltkrieg vgl. Herwig Wolfram, The Public Instrumentalization of the Middle Ages in Austria since 194 5, in: Robert J. Evans / Guy P. Marchal (Eds.), The Uses of the Middle Ages in Modern European States. History, Nationhood and the Search for Origins. New York 2011, 221-244, hier 235. 71 Hagspiel, Ostmark (wie Anm.32), 106. h.-h. kortüm, otto brunner über otto den grossen Downlodd D&16 I 5/26/15 10i46 PM 311 berufener Leiter des „Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung" war, mit seiner Geschichtsinterpretation den Versuch der Nationalsozialisten, „Osterreich" aus dem kollektiven Gedächtnis der Österreicher zu eliminieren. Dies wirkte sich im Übrigen auch auf die Bezeichnung des von Brunner geleiteten Instituts aus, das seit dem Frühjahr 1942 die neue offizielle Bezeichnung „Institut für Geschichtsforschung und Archivwissenschaft" trug.72 IV. Die äußeren Umstände von Brunners Vortrag: Die Reihe „Weltgeschichtliche Bewährungsstunden" An der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität73 begann das Wintersemester 1944/45 am i.November 1944 unter erschwerten Bedingungen.74 Neuimmatrikulationen in den geisteswissenschaftlichen Fächern waren durch Rektorerlass untersagt worden, und ausschließlich den bereits in höheren Fachsemestern befindlichen Studentinnen und Studenten war noch ein Weiterstudium gestattet worden. Dennoch wurde versucht, den universitären Alltag, so gut es ging, weiter aufrecht zu erhalten75: „Das Wintersemester 1944/45 an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin schloss planmäßig zum 28.Februar 1945".76 Zu den rührigsten Fakultäten, die, ungeachtet aller äußeren, nicht zuletzt auch baulichen Beeinträchtigungen durch Bombenschäden, ihren Geschäften nachgingen, gehörte die erst 1940 gegen den Widerstand der Universität als achte Fakultät gegründete „Auslandswissen- 72 Stoy, Das Österreichische Institut für Geschichtsforschung (wie Anm.9), 252-254 u. 2 59f. 73 Zur Berliner Universitätsgeschichte in der Zeit des Nationalsozialismus allgemein vgl. vor allem Rüdiger vom Bruch/Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.), Geschichte der Universität Unter den Linden 1810-2010. Bd. 2: Biographie einer Institution. Die Berliner Universität zwischen den Weltkriegen 1918-1945. Von Michael Grüttner in Zusammenarbeit mit Christoph Jahr, Sven Kinas, Anne Christine Nagel, Jens Thiel. Berlin 2012, sowie Rüdiger vom Bruch/Christoph Jahr (Hrsg.), Die Berliner Universität in der NS-Zeit. Bd. 2: Fachbereiche und Fakultäten. Stuttgart 2005. 74 Helmut Klein (Hrsg.), Humboldt-Universität zu Berlin. Überblick 1810-1985. Von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Adolf Rüger. Berlin (Ost) 1985, 91. 75 Vgl. das Personal- und Vorlesungsverzeichnis der Friedrich-Wilhelms-Universität für das Wintersemester 1944/45, online unter http://edoc.hu-berlin.de (Zugriff am 2.9.2013). 76 Anne Christine Nagel, Die Universität im Dritten Reich, in: vom Bruch/Tenorth (Hrsg.), Geschichte der Universität Unter den Linden 1810-2010 (wie Anm.73), Bd. 2, 405-464, hier 464. 312 Historische Zeitschrift // band 299 / 2014 Downlodd D&16 I 5/26/15 10i46 Pfl schaftliche Fakultät".77 Ihr decanusperpetuusblieb bis Ende Dezember 1943 der Zeitungswissenschaftler und SS-Führer im Reichssicherheitshauptamt bzw. ab 1943 als Leiter der Kulturpolitischen Abteilung im Auswärtigen Amt tätige Franz Alfred Six78, der in Personalunion auch dem „Deutschen Auslands wissenschaftlichen Institut" als „Präsident" bis zum Kriegsende vorstand. Dieser Institution war die Aufgabe zugedacht, „die zur Durchführung ihrer [/. e. der Auslandswissenschaftlichen Fakultät Aufgaben erforderliche enge Verbindung zum politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben des Reiches zu sichern. [...] Es dient ferner der Durchführung gemeinsamer Forschungsaufgaben der Auslandswissenschaftlichen Fakultät und der Förderung der wissenschaftlichen Beziehungen zum Ausland."79 - Von „manischem Publikationszwang" (Hachmeister) besessen, initiierte Six gleich zu Beginn seiner Tätigkeit an Fakultät und Institut ein äußerst „ehrgeiziges Publikationsprogramm" mit zahlreichen Schriftenreihen, Handbüchern, Quelleneditionen, Bibliographien und Einzelstudien80, für deren Abfassung auch Universitätsprofessoren im ganzen Reich angefragt wurden. Es kann kaum überraschen, dass sich unter ihnen auch Otto Brunner befand: Aber „Otto Brunner möchte während des Krieges nicht zusagen, einen Band zu übernehmen."81 Immerhin: Es gab ganz offensichtlich Kontakte zwischen Auslandswissenschaftlichem Institut und dem Wiener Mediävisten, die dann am Kriegsende offensichtlich noch einmal genutzt wurden. Angesichts einer sich immer weiter verschlechternden militärischen Lage wollte und sollte auch das Deutsche Auslandswissenschaftliche Institut seinen Beitrag zum „Endsieg" leisten. Noch stärker als früher stand seit 1944 das Thema „Europa" im Mittelpunkt vieler Aktivitäten des Auslandswissenschaftlichen Instituts.82 Unter deutscher Führung müssten sich die in ihrer Existenz bedrohten Europäer als „europäische Schicksalsgemeinschaft"83 zusammenschließen, um gemeinsam gegen ihre 77 Gideon Botsch, „Politische Wissenschaft" im Zweiten Weltkrieg. Die „Deutschen Auslandswissenschaften" im Einsatz 1940-1945. (Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart.) Paderborn 2006. 78 Lutz Hachmeister, Der Gegnerforscher. Die Karriere des SS-Führers Franz Alfred Six. München 1998. 79 Aus dem Erlass des Reichserziehungsministeriums betreffend die „Errichtung der Auslandswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Berlin und des Deutschen Auslandswissenschaftlichen Instituts", zitiert nach Botsch, „Politische Wissenschaft" (wie Anm. 77), 70. 80 Dazu ausführlich ebd. 144-154. 81 Ebd. 146 Anm. 148. 82 Hachmeister, Gegnerforscher (wie Anm. 78), 139-142; Botsch, „Politische Wissenschaft" (wie Anm. 77), i7of. 83 Vgl. dazu etwa den gleichnamigen Artikel „von Professor Dr. Karl Heinz Pfeffer, geschäftsführender h.-h. kortüm, otto brunner über otto den grossen Downlodd D&16 I 5/26/15 10i46 PM Feinde, die sie vernichten wollten, siegreich bestehen zu können. Was aber lag näher, als aus der Geschichte Kraft und Zuversicht zu schöpfen, die ja zahlreiche Beispiele erfolgreicher „Bewährung" von Deutschen und Europäern in existentiell bedrohlichen Situationen bereithielt? Während sich Goebbels und Hitler in der Endphase des Krieges bekanntlich vor allem durch Rekurse auf die preußische Geschichte im Zeitalter Friedrichs des Großen bzw. auf die römische Geschichte in der Zeit des Zweiten Punischen Krieges seelisch-moralisch zu stärken suchten84, griff das Auslandswissenschaftliche Institut gleich noch eine Nummer höher: Es initiierte für das Wintersemester 1944/45 an der Berliner Universität eine Vortragsreihe mit dem bezeichnenden Titel „Weltgeschichtliche Bewährungsstunden". Veranstaltungsort war höchstwahrscheinlich die repräsentative Schinkel'sche Bauakademie in Berlin Mitte, die im Wintersemester 1944/45 noch keine nennenswerten Bombenschäden aufwies85 und in ihren Räumen Teile der Auslands wissenschaftlichen Fakultät und des Deutschen Auslandswissenschaftlichen Instituts beherbergte.86 Brunner dürfte im sogenannten Schinkelsaal gesprochen haben, „der nicht nur als großer Hörsaal der Fakultät, sondern auch für Vorträge und kulturpolitische Veranstaltungen des Instituts genutzt" wurde.87 Angesichts der schlechten Uberlieferungslage für das letzte Kriegssemester finden sich keinerlei archivalische Spuren mehr, die diese Vorlesungsreihe „Weltgeschichtliche Bewährungsstunden" dokumentieren könnten.88 So ist es auch nicht Präsident des Deutschen Auslandswissenschaftlichen Instituts" im Völkischen Beobachter, Berliner Ausgabe, vom 3 i.Januar 1945,1, mit einem Bericht über eine „Arbeitstagung des Deutschen Auslandswissenschaftlichen Instituts, auf der sich Anfang Januar führende Männer der europäischen Politik und Wissenschaft trafen". 84 Longerich, Goebbels (wie Anm. 1), 659f. 85 Die Bauakademie wurde erst am 3.Februar 1945 durch den größten Luftangriff, den Berlin im Zweiten Weltkrieg erlitt, schwer beschädigt, wobei aber ihre Außenfassaden stehen geblieben waren. Definitiv abgerissen wurde die Bauakademie 1961; vgl. dazu Bruno Flierl, Engagement gegen den Abriß der Bauakademie-Bericht, in: Doris Fouquet-Plümacher (Hrsg.), Mythos Bauakademie. Die Schinkelsche Bauakademie und ihre Bedeutung für die Mitte Berlins. Ausstellungskatalog. Berlin 1998, 102-112 mit zahlreichen Abbildungen der beschädigten Bauakademie. 86 Ernst Haiger, Deutsche Hochschule für Politik, Auslandswissenschaftliche Fakultät und Deutsches Auslandswissenschaftliches Institut in der Bauakademie, 1920-1945, in: Fouquet-Plümacher (Hrsg.), Mythos Bauakademie (wie Anm.85), 91-100. 87 Botsch, „Politische Wissenschaft" (wie Anm. 7 7), 80. 88 Eine Recherche im Berliner Universitätsarchiv blieb angesichts der Überlieferungslage, namentlich im Bestand ,Rektorať, erfolglos. - Als genauso unergiebig erwiesen sich die im Bundesarchiv Berlin liegen- 314 Historische Zeitschrift // band 299 / 2014 Downlodd D&16 I 5/26/15 10i46 Pfl weiter überraschend, dass sie in der einschlägigen Berliner Universitätsgeschichtsschreibung keine Erwähnung findet, sieht man einmal von einer kurzen Bemerkung in einer von einem Autorenkollektiv der Humboldt-Universität im Jahr i960 verfassten Gedenkschrift ab.89 Aber auch dort fehlt ein archivalischer Quellenbeleg für diese Vortragsreihe, wohl deshalb, weil sich die Autoren der Gedenkschrift nicht auf archivalische Zeugnisse, sondern möglicherweise auf ihre eigene Erinnerung aus einstigen Berliner Studententagen gestützt haben.90 Auch für die naheliegende, aber gleichwohl unwahrscheinliche Annahme, Rosenberg habe diese Vorlesungsreihe initiiert, ließen sich keinerlei archivalische Hinweise finden.91 Zehn Tage nach Brunners Berliner Auftritt im Rahmen der Vorlesungsreihe „Weltgeschichtliche Bewährungsstunden" ließ Goebbels in sein Tagebuch notieren: „Das Wetter ist immer noch hart und frostig. Es ist in Berlin sehr viel Schnee gefallen, von der Provinz ganz zu schweigen. Dieser Sauwinter macht durch viele unserer Pläne einen dicken Strick [sid]. Das ist ein 3 o. Januar, wie wir ihn noch nie erlebt haben. Das nationalsozialistische Reich existiert jetzt zwölf Jahre und macht gerade in diesen Tagen seine allerschwerste Bewährungsprobe durch".92 Bei dem Wort „Be- den Bestände der Auslandswissenschaftlichen Fakultät bzw. des Deutschen Auslandswissenschaftlichen Instituts. 89 Die Humboldt-Universität. Gestern - Heute - Morgen. Zum einhundertfünfzigjährigen Bestehen der Humboldt-Universität zu Berlin und zum zweihundertfünfzigjährigen Bestehen der Charite, Berlin. Berlin (Ost) i960,119: „Als schon das erste und zweite , Volkssturmaufgebot' auch aus Berliner Wissenschaftlern und Studenten rekrutiert worden war, veranstalteten noch bis in das Jahr 1945 hinein Nazidozenten unter Leitung Rosenbergs einen Vortragszyklus über das Thema Weltgeschichtliche Bewährungsstunden'". -Siegward Lönnendonker, Freie Universität Berlin. Gründung einer politischen Universität. Berlin 1988, 50, zitiert die genannte Studie des Autorenkollektivs und erwähnt, „daß noch in den letzten Kriegswochen ein Vortragszyklus der im Januar 1940 gegründeten Auslandswissenschaftlichen Fakultät zum Thema Weltgeschichtliche Bewährungsstunden' unter der Leitung des NS-Ideologen Alfred Rosenberg stattfand". 90 Diese Deutung verdanke ich dem Leiter des Archivs der Humboldt-Universität, Herrn Dr. Winfried Schultze. 91 Vgl. Anm.89. Durchgesehen wurden die digitalisierten Bestände des Amtes Rosenberg im Bundesarchiv Koblenz. - An Rosenberg zu denken lag indessen nahe, hatte der „Beauftragte des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung der NSDAP" doch immer wieder in vielen seiner Vorträge intensiv die Geschichte als Kronzeugin seiner Ideologeme bemüht und vor allem seit dem Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 die Rolle Deutschlands als Verteidiger Europas betont; vgl. dazu Ernst Piper, Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe. München 2005, 597-611. Freilich gab es zwischen dem Amt Rosenberg und der Auslandswissenschaftlichen Fakultät starke Spannungen auf Grund der zwischen ihnen herrschenden Konkurrenz. 92 Goebbels, Tagebücher (wie Anm. 2), T. 2, Bd. 15, 282.-Zu einem weiteren Beleg von „Krieg" als der „gro- h.-h. kortüm, otto brunner über otto den grossen 3 i 5 Downlodd D&td I 5/26/15 10i46 PM Währung" und den mit ihm gebildeten Junkturen wie der „Bewährungsprobe" oder auch der „Bewährungsstunde" handelt es sich um bislang in den einschlägigen Untersuchungen noch nicht hinreichend gewürdigte Schlüsselbegriffe der Lingua Ter-tü Imperü93, die nicht von ungefähr gerade in der Endphase des Dritten Reiches von der NS-Propaganda überaus häufig verwendet wurden: So erklärte Goebbels in seiner Rundfunkansprache zu Silvester 1945 rückblickend „das Kriegsjahr 1944" „zum Jahr unserer Bewährung".94 Und schon im November desselben Jahres hatte der Reichspropagandaminister festgestellt: „Der Krieg ist immer eine Zeit der großen Bewährung, nicht nur für die Völker, sondern auch für die einzelnen Menschen".95 Jeder und jedes kann und hat sich zu „bewähren": So die „Ostfreiwilligen", d.h. die „Freiwilligen aus den Reihen der Ostvölker", welche sich im Herbst 1944 „bewährt" haben und deshalb mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet werden.96 Ein vergleichbares Verhalten legt der „Gau Oberschlesien" an den Tag, der im Spätherbst 1944 „groß und unabweisbar aus Leistung, Kampf und täglicher Bewährung hervortritt".97 Aber auch die neuen Waffen „ ,Vi' und V2' bewähren sich also nicht nur, wie ihr Name schon besagt, als Vergeltungswaffen, sondern auch als wirksame Waffe im Felde gegenüber den seit Monaten unternommenen Versuchen unserer Gegner, einen brauchbaren Hafen für ihren Nachschub in die Hände zu bekommen."98 Auch „der deutsche Volkssturm hat vor dem Feinde die ersten Proben seiner Bewährung bewiesen, was in ihm an militärischer Schlagkraft und fanatischer Kampfent- ßen Bewährungsprobe unseres Volkes" vgl. Hausmann, Geisteswissenschaften im „Dritten Reich" (wie Anm.5), 474f. 93 Nicht aufgenommen in der klassischen Darstellung von Victor Klemperer, LTI. Notizbuch eines Philologen. Berlin 1947; ebenfalls keine Nennung bei Dolf Sternherger/Gerhard Storz/'Wilhelm E. Süskind, Aus dem Wörterbuch des Unmenschen. Neue erweiterte Ausgabe mit Zeugnissen des Streites über die Sprachkritik. 3.Aufl. Hamburg/Düsseldorf 1968; Cornelia Schmitz-Berning, Vokabular des Nationalsozialismus. Berlin/New York 1998. - Ausschließliche Erwähnung der Junkturen „Bewährungsbataillone" und „Bewährungsbataillon 999" bei Karl-Heinz Brackmann/Renate Birkenhauer, NS-Deutsch. „Selbstverständliche" Begriffe und Schlagwörter aus der Zeit des Nationalsozialismus. Straelen 1988, 36. 94 Deutsche Allgemeine Zeitung, Ausgabe Groß-Berlin 84/1, 2.1.1945, 4, mit Zwischenüberschrift: „Das Jahr der Bewährung". 95 Das Reich 46/1944,12.11.1944,1. Zu vergleichbaren Junkturen von Goebbels siehe etwa Das Reich 42/ 1944,15.10.1944,1; Das Reich 43/1944, 22.10.1944, 2; Das Reich 48/1944, 26.11.1944, 2. 96 Deutsche Allgemeine Zeitung, Ausgabe Groß-Berlin 83/303,10.11.1944, 2. 97 Deutsche Allgemeine Zeitung, Ausgabe Groß-Berlin 83/298, 4.11.1944,1. 98 Deutsche Allgemeine Zeitung, Ausgabe Groß-Berlin 83/304,11.11.1944, 2. Historische Zeitschrift // band 299 / 2014 Downlodd D&16 j 5/26/15 10i46 Pfl schlossenheit steckt".99 Und Ende Dezember 1944 wurde „als Bewährungsabzeichen [...] der gestickte Sägefisch bestimmt. Er wird an Soldaten der Kleinkampfmittel verliehen, die sich freiwillig als Einzelkämpfer gemeldet haben, oder an solche Soldaten, die kommandiert, aber für Sondereinsätze bestimmt sind und zwar nach vollendeter Ausbildung und Bewährung in der Ausbildung".100 Am 28.November 1944 mahnte die Deutsche Allgemeine Zeitung ihre Leser: „Angesichts des Vernichtungswillens unserer Feinde soll die Spendenbereitschaft für das Winterhilfswerk Gradmesser unseres Bewährungswillens sein, den deutschen Sozialismus zu verteidigen und diesen Krieg mit dem deutschen Sieg zu beenden. Der bevorstehende 4. Opfersonntag des Kriegs-Winterhilfswerkes sei uns eine neue Bewährungsprobe".101 Der Titel der Vortragsreihe „Weltgeschichtliche Bewährungsstunden", in deren Rahmen Brunner am 21. Januar 1945 sprach, spiegelte also in vollkommener Weise den offiziös erwünschten Sprachduktus wider. Auf den großen Angriff der sowjetischen Truppen, der am 12. Januar 1945 begann, wusste aber auch die Deutsche Allgemeine Zeitung nur noch mit einer sprachlich unbeholfen und deshalb umso hilfloser wirkenden superlativischen Wendung zu reagieren: „Seit Freitag früh stehen unsere Armeen im Osten in der vielleicht entscheidungsschwersten Bewährungsprobe dieses Krieges".102 Mit seiner optimistischen Lageeinschätzung „Die sowjetische Welle ist gebrochen - Schirach zum politischen Führerkorps Wiens", wie die Deutsche Allgemeine Zeitung eine Rede des Wiener Reichsgauleiters am 7. Dezember 1944 übertitelte, hatte sich das Blatt jedenfalls gründlich verkalkuliert. Schirach hatte versprochen: „Wir werden die Erde, auf der wir stehen, bis zum Letzten behaupten und es soll uns in der Stunde unserer geschichtlichen Bewährung niemand schwach und feige finden. Deshalb heißt unsere Parole: Nun erst recht!"103 Der Wiener Gauleiter hatte allen Grund für solch aufmunternde Worte, denn jetzt, in der Schlussphase des NS-Regimes, begannen sich „Altreichsdeutsche" und „Ostmärker" mit noch größerem Misstrauen und Distanz zu begegnen, als sie es früher, in den Hochzeiten, schon vereinzelt getan hatten.104 Die Berlinreise von Brunner war, so gesehen, auch bewusster Ausdruck ungebrochener Treue eines „Wieners" zum 99 Deutsche Allgemeine Zeitung, Ausgabe Groß-Berlin 83/306,14.11.1944, 2. 100 Deutsche Allgemeine Zeitung, Ausgabe Groß-Berlin 83/343, 28.12.1944, 2. 101 Deutsche Allgemeine Zeitung, Ausgabe Groß-Berlin 83/318, 28.11.1944, 6. 102 Deutsche Allgemeine Zeitung, Ausgabe Groß-Berlin 84/13,16.1.1945,1. 103 Deutsche Allgemeine Zeitung, Ausgabe Groß-Berlin 83/326, 7.12.1944, 2. 104 Hagspiel, Ostmark (wie Anm.32), 322-325; vgl. dazu auch oben Anm. 67. h.-h. kortüm, otto brunner über otto den grossen Downlodd D&16 I 5/26/15 10i46 PM 317 „Reich", die in veränderter Form auch noch den Zusammenbruch des „Dritten Reiches" überleben sollte.105 Wenn er diese ja alles andere als ungefährliche Reise in die Reichshauptstadt antrat, dann „bewährte" sich Brunner, indem er das zeigte, was den Kern nationalsozialistischer „Bewährung" bildete, nämlich „Haltung". An der „Haltung" erweist sich untrüglich, ob man sich „bewährt". Von der bloßen „Stimmung" ist die „Haltung" sorgsam zu unterscheiden106 und wurde von der NS-Propaganda in semantische Felder untergliedert wie „Trotz", „Selbstbehauptung", „Selbstbewusstsein", „Zuversicht", „über sich selbst hinaus wachsen" und Ahnliches mehr. Dass er sich in der Reichshauptstadt „eigentlich wohl gefühlt habe", führte der seit 1942 in Berlin lebende Theodor Mayer, in seinem Amt als Präsident des „Reichsinstituts für ältere deutsche Geschichtskunde" „der erste Nichtnorddeutsche und gar Österreicher", auf „die Haltung Berlins im Krieg" zurück, die ihm „imponiert [habe]".107 Durch seine Vortragsreise in die schon stark zerstörte und alliierten Luftschlägen weitgehend hilflos ausgelieferte Reichshauptstadt konnte Brunner, wenigstens was die eigene Person betraf, den in Berlin kursierenden Verdacht mangelnder Loyalität und Reichstreue der Ostmärker und speziell der Wiener, der zumal auch durch die in Bälde zu erwartende Kapitulation Budapests genährt wurde, wirksam widerlegen. Er zumindest war entschlossen, „durchzuhalten".108 105 Die Verwendung der „Reichs"-Terminologie findet sich bei Brunner auch noch in einem Schreiben an Carl Schmitt vom 2. September 1950; vgl. Kortüm, „Wissenschaft im Doppelpass?" (wie Anm. 7), 604. 106 Wette/Bremer/Vogel, Das letzte halbe Jahr (wie Anm. 20), 17: „Während mit dem Begriff,Stimmung' die spontane, temporäre, flüchtige, gefühlsmäßige Befindlichkeit bezeichnet wurde, verstanden die Propagandisten und Meinungsforscher unter ,Haltung' eine beständige, durch Charaktere und Erziehung geprägte Gemütsverfassung, die sich auch durch negative Augenblicksstimmungen nicht veränderte." - Zur großen Bedeutung von ,Haltung' für den Reichspropagandaleiter: Longerich, Goebbels (wie Anm. 1), 560. 107 Das Zitat bei Nagel, Im Schatten (wie Anm. 49), 156. 108 Vgl. Evan Burr Bukey, Die Stimmung in der Bevölkerung während der Nazizeit, in: Emmerich Talos u. a. (Hrsg.), NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch. Wien 2001, 73-87, hier 8of: „Das Engagement hinsichtlich der Kriegsleistungen - z.B. in Wien - scheint während der ganzen Dauer des Konflikts halbherzig gewesen zu sein; es bestanden auch eine erhebliche Unzufriedenheit und eine bestimmte Art von österreichischer Identität; nicht zuletzt unter den österreichischen Nazis." - Vgl. auch Wette/Bremer/Vogel, Das letzte halbe Jahr (wie Anm.20), 14: „In der Endphase des Krieges wurde Haltung als Bereitschaft zum Durchhalten definiert." Historische Zeitschrift // band 299 / 2014 Downlodd D&16 j 5/26/15 10i46 Pfl V. „Weltgeschichtliche Bewähmngsstunden" - von Marathon bis zum Lechfeld Die Deutsche Allgemeine Zeitung vermeldete in ihrer Ausgabe vom Samstag, den 2.Dezember 1944: „Die unter dem Leitzeichen Weltgeschichtliche Bewährungsstunden' stehende Winter-Vortragsreihe im Deutschen Auslandswissenschaftlichen Institut eröffnete Prof. Dr. Helmut Berve mit einem Uberblick über die Kriege der Perser gegen die Griechen."109 Mit Helmut Berve (1896-1979) hatten die Organisatoren der Vortragsreihe eine in ihren Augen sicherlich herausragende Persönlichkeit gewonnen. Der Münchner Althistoriker110 hatte sich sowohl durch seine einschlägigen wissenschaftlichen Arbeiten wie durch sein wissenschaftspolitisches Engagement - so war er zusammen mit dem Tübinger Kollegen Joseph Vogt zum Leiter des „altertumswissenschaftlichen Kriegseinsatzes aufgestiegen"111 - für eine solche Aufgabe empfohlen.112 Bereits in seinem zwei Jahre vor Kriegsbeginn erschienenen „Sparta"-Buch hatte Berve den „männlich im Kampf gefundenen" Tod des spartanischen Kriegers „als höchste Bewährung der Mannheit, als Krönung aller jener Tugenden und Leistungen", der „eher zu suchen als zu fliehen [war]", definiert113 und als berühmtes Beispiel die Thermopylenschlacht angeführt: „Wie hätte überhaupt ein lakedämonischer König, wie hätte eine Spartiatenmannschaft ihren Posten verlassen können, ein Leben zu retten, dessen höchste Erfüllung die Bewährung im Kampfe war, gleich, ob er Sieg oder Tod brachte!"114 Die eingeschlagene 109 Deutsche Allgemeine Zeitung, Ausgabe Groß-Berlin 83/322, 2.12.1944, 2. 110 Dazu weitgehend apologetisch: Linda-Marie Günther, Helmut Berve. Professor in München 6.3.1943-12.12.1945, in: Jakob Seifert (Hrsg.), 100 Jahre Alte Geschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München (1901-2001). (Münchener Universitätsschriften, Bd. 19.) Berlin 2002, 69-105.-Kritisch und ausführlich: Stefan Rebenich, Alte Geschichte in Demokratie und Diktatur: Der Fall Helmut Berve, in: Chiron 31, 2001, 457-496. in Dazu zusammenfassend Hausmann, Geisteswissenschaften im „Dritten Reich" (wie Anm. 5), 385-389 (mit ausführlicher Literatur). 112 Berve gilt der wissenschaftsgeschichtlichen Forschung mittlerweile als Musterbeispiel für die Verstrickung der Alten Geschichte in die nationalsozialistische Ideologie: Karl Christ, Neue Profile der Alten Geschichte. Darmstadt 1990,12 5-187; Reinhold Bichler, Alexander der Große und das NS-Geschichtsbild, in: Beat Näf (Hrsg.), Antike und Altertumswissenschaft in der Zeit von Faschismus und Nationalsozialismus. Kolloquium Universität Zürich, 14.-17.Oktober 1998. (Texts and Studies in the History of Humanities, Vol. 1.) Mandelbachtal/Cambridge 2001, 357-361. 113 Helmut Berve, Sparta. (Meyers Kleine Handbücher, Bd. 7.) Leipzig 1937, 57. 114 Ebd. 107. h.-h. kortüm, otto brunner über otto den grossen 3 i 9 PM Linie führte Berve in seiner Leipziger Rektoratsrede über Perikles (io.Februar 1940) konsequent fort: „Nicht besser glaube ich [...] das Bild des Staatsmannes Perikles abrunden zu können, als wenn ich zum Schluß Haltung und Leistung des Mannes in diesen Jahren ernstester Bewährungsprobe darzulegen versuche".115 Berve, so lässt der Zeitungsbericht über seinen Berliner Vortrag erkennen, erfüllte voll und ganz die in ihn gesetzten Erwartungen. Denn der Historiker führte den völlig überraschenden Sieg der zahlen- wie ausrüstungsmäßig weit unterlegenen Hellenen über die „asiatischen Eindringlinge" auf zwei entscheidende Faktoren zurück: „eine Kampfführung, die den Sieg des Unmittelbaren durch Nahkämpfe suchte" und „eine geistige Haltung, die dem mit Schiffen, Fußtruppen, schweren Waffen und Reitern vorgehenden gegnerischen Koloß gewachsen war".116 Die erwünschte und vom Redner hergestellte Analogie zur militärisch verzweifelten Lage Deutschlands Ende 1944 bot sich dem im Schinkelsaal versammelten Auditorium fast schon zwingend an: Auch der vielfach überlegene „sowjetische Koloß" konnte niedergerungen werden, hielten sich die Deutschen nur an das erfolgreiche Konzept der Hellenen: Auf den „Nahkampf" setzen, die „duellartige Form" der Kriegführung bevorzugen und vor allem eine entsprechende „geistige Haltung"117 an den Tag legen; dann würde man auch einen noch so überlegenen Gegner vernichten und die wohlverdienten Früchte dieser „staatlichen Bewährung", die „höchste Blüte geistigen Lebens" und „große Kunst", ernten können.118 Berve legitimierte durch die ihm zugeschriebene historische Expertise die militärisch ebenso sinnlosen wie mit unvorstellbaren Verlusten an Menschenleben verbundenen Volkssturmaktionen der letzten Kriegsmonate, wo „die Männer von fünfzig und noch mehr Jahren, die Jungen von sechzehn und siebzehn, die Bergarbeiter, die Bauern, Kaufleute und Beamten", wohl aber keine Professoren, „mit den Panzerfäusten" „sich den anrollenden Feindpanzern entgegenjwerfen]".119 Gleichwohl verstand es der Althistoriker, den erst vierunddreißig Jahre nach Kriegsende der von ihm verachtete, weil „ruhmlose Strohtod"120 ereilen sollte, überaus geschickt, auch für sich die Tugend der „Hal- 115 Helmut Berve, Perikles. (Leipziger Universitätsreden, H.2.) Leipzig 1940, 23. 116 Deutsche Allgemeine Zeitung, Ausgabe Groß-Berlin 83/3 22, 2.12.1944, 2. 117 Ebd. 118 Ebd. 119 Deutsche Allgemeine Zeitung, Ausgabe Groß-Berlin 84/16, 19.1.1945, 1: „Bewährung des Volkssturms Oberschlesien". 120 Berve, Sparta (wie Anm. 113), 58. 320 Historische Zeitschrift // band 299 / 2014 Downlodd D&16 I 5/26/15 10i46 Pfl tung" zu reklamieren, als er am Schluss seiner oben erwähnten Leipziger Rektoratsrede auf die Aufgabe und Leistung der Historiker, die derzeitig „staatsmännisches Wirken größten Stils, Politik in gigantischem Ausmaß erleben", zu sprechen kam: „So erkennend und uns an einstiger Größe messend, gewinnen wir Klarheit und Kraft für die geschichtlichen Aufgaben unserer Generation, vor denen jeder einzelne sich heute zu bewähren hat. Das ist wissenschaftliche Haltung und ist zugleich echter, tiefer Geistesdienst am deutschen Volke in seiner Schicksalsstunde".121 Auch der nächste Vortrag „Attila. Aufstieg und Untergang des Hunnenreiches", der vermutlich am Donnerstag, den /.Dezember 1944, stattfand122, sah einen weiteren Althistoriker am Rednerpult im Schinkelsaal. Doch im Unterschied zu Berve blieb dem jetzt Vortragenden eine weite Anreise erspart: Mit Prof. Dr. Wilhelm Weber (1882-1 948) hatten die Organisatoren einen erprobten Redner123 aus den Reihen der eigenen Universität gefunden, an dessen nationalsozialistischer Gesinnung keinerlei Zweifel bestehen konnte.124 Vielleicht liegt es an der „Qualität" des Berichterstatters bzw. des Organs, in dem der Bericht über den Vortrag Webers erschien, dem „Völkischen Beobachter", dass „die Parallele zur Gegenwart, der eine nicht minder harte Bewährungsprobe auferlegt ist als vor eineinhalb Jahrtausend [sie!] den jungen germanischen Völkerschaften", weniger eindeutig als im Fall Berves, bei genauerem Nachdenken sogar überraschend zwiespältig ausfällt. ,,[D]ie hunnischen Reiterscharen, die die westliche Welt zu überfluten begannen", werden, wie das Auditorium belehrt wird, „in der Schlacht des Jahres 451" gestoppt und Attila „verzichtet auf den Marsch nach Rom, der die Entscheidung bringen sollte, und „kehrt in seine Residenz 121 Berve, Perikles (wie Anm.115), 28L 122 Der einzige Beleg für diesen Vortrag ist ein Bericht im „Völkischen Beobachter", Berliner Ausgabe vom Freitag, den 8.Dezember 1944, 2. 123 Weber war bereits am 3 o. 1.193 5, an dem uno actu der „Reichsgründung" und der „Erneuerung des Reiches durch den Führer" gedacht werden sollte, als Festredner bei der Berliner Universitätsfeier aufgetreten, vgl. Nagel, Die Universität im Dritten Reich (wie Anm. 7 6), 424. 124 Der Hallenser Ordinarius war gegen den Widerstand der Fakultät auf Grund eines Minderheitsvotums 1931 nach Berlin berufen worden (Michael Grüttner, Die Universität in der Weimarer Republik, in: Geschichte der Universität Unter den Linden [wie Anm. 73], Bd. 2, 67-134, hier 101) und hatte auch maßgeblichen Einfluss auf akademische Karrieren genommen (Stefan Rebenich, Zwischen Anpassung und Widerstand? Die Berliner Akademie der Wissenschaften von 1933 bis 1945, in: Beat Näf [Hrsg.], Antike und Altertumswissenschaft [wie Anm.112], 203-224, hier 221). - Zu Webers dezidiert nationalsozialistischer Gesinnung vgl. Alexander Demandt, Alte Geschichte in Berlin 1810-1960, in: Reimer Hansen/Wolfgang Ribbe (Hrsg.), Geschichtswissenschaft in Berlin im 19. und 20. Jahrhundert. Persönlichkeiten und Institutionen. Berlin/New York 1992,149-209, hier 199-201. h.-h. kortüm, otto brunner über otto den grossen Downlodd D&16 I 5/26/15 10i46 PM 321 zurück". Er stirbt glücklicherweise kurze Zeit später. „Sein Reich zerfiel, als sich die germanischen Völker erhoben", was „das Werk Theoderichs und Chlodwigs" vorbereitete, „das die Geschichte Europas unter den Horizont germanischen Wirkens stellte".125 Die tröstliche Botschaft, die die Geschichte für die jetzt Lebenden bereithält, wird in den Augen des Berliner Althistorikers zeitweilig getrübt durch die Nachricht vom traurigen Ende des Gotenkönigs Ermanerich, der sich „in die uner-schlossenen Weiten des russischen Raumes" offensichtlich allzu weit vorgewagt hatte: „An dieser Ostfront des Germanentums, die der dynamische Wille des Herrschers errichtet hatte, aber kam es im Jahre 375 zur Katastrophe, als der Hunnensturm über das Gotenvolk hereinbrach und König und Werk in den Abgrund riß".126 Doch konnte die Katastrophe in diesem Falle ja glücklicherweise wieder wettgemacht werden, da mit der Entscheidung des Jahres 451 „mit dem Todfeind auch eine alte Kulturwelt zugrunde [ging]. Aber die Stunden der Bewährung, der Entscheidung auf dem Mauriacensischen Feld ließen eine neue Welt erstehen, die Welt des germanischen Europa".127 Mit dem Vortrag von Prof. Dr. Reinhold Lorenz (1898-1976), der Mitte Dezember 1944 stattfand128, war man hingegen wieder in einer unangefochten glücklichen Phase „deutscher" Geschichte angekommen. Brunners Wiener Kollege129, ein ausgesprochener Erfolgsautor der dreißiger und frühen vierziger Jahre130, referierte 125 Völkischer Beobachter, Berliner Ausgabe, 8.12.1944, 2. 126 Völkischer Beobachter, ebd. 127 Völkischer Beobachter, ebd. 128 Deutsche Allgemeine Zeitung, Ausgabe Groß-Berlin 83/334,16.12.1944, 2. 129 Der Srbik-Schüler Reinhold Lorenz, 193 5 außerordentlicher Professor, 1939 außerplanmäßiger Ordinarius, hatte schon 1932 mit Otto Brunner zusammengearbeitet: Beide beteiligten sich an der Entstehung des Sammelbandes „Bekenntnis zu Österreich", der unter dem gemeinsamen Motto „Deutschland, Deutschland über alles!" stand; vgl. Reinhold Lorenz, Der Staat wider Willen. Österreich 1918-1938. 2. Aufl. Berlin 1941, 2i8f, und Günter Fellner, Die österreichische Geschichtswissenschaft vom „Anschluß" zum Wiederaufbau, in: Friedrich Stadler (Hrsg.), Kontinuität und Bruch 1938 - 1945 - 1955. Beiträge zur österreichischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte. (Emigration - Exil - Kontinuität. Schriften zur zeitgeschichtlichen Kultur- und Wissenschaftsforschung, Bd. 3.) Münster 2004, 13 5-155, hier 144. Lorenz wurde, wie Brunner, 1945 zwangspensioniert undflüchtete sich, auch hierin mit Brunner vergleichbar, zunächst in die Kulturgeschichte („Bäderkultur und Kulturgeschichte. Forschungen über den Sozialcharakter der österreichischen Heilquellenorte. Wien 1949"); im selben Jahr 1954, als Brunner nach Hamburg berufen wurde, lehrte Lorenz wieder an der Wiener Universität. 1956 war Lorenz dann an dem von Leo Just herausgegebenen „Handbuch der Deutschen Geschichte, Bd. 2: Deutsche Geschichte vom Zeitalter der Reformation bis zum Tode Friedrichs des Großen" mit einem Beitrag über „Die Grundlegung des Absolutismus" vertreten. 130 Sein 1933 sowohl in Österreich (Wien bei Wilhelm Braumüller) wie in Deutschland (Leipzig bei 322 Historische Zeitschrift // band 299 / 2014 Downlodd D&16 I 5/26/15 10i46 Pfl über „Die Türken vor Wien". Folgte man seiner Interpretation der Ereignisse, dann hatte „das Abendland der späteren Barockzeit" die „Rettung deutscher Kultur und Gesittung vor östlicher Barbarei" in der Schlacht am Kahlenberg (12. September 1683) dem „Herzog Karl von Lothringen" und dem „von Rüdiger von Starhemberg geleiteten Widerstand der Besatzung Wiens" zu verdanken. Damit griff der „rassestolze" Wiener Neuzeithistoriker131 genau die Interpretationslinie wieder auf, die er bereits in seinem „Türkenjahr"-Buch Anfang der dreißiger Jahre entwickelt hatte. Schon dort hatte er diejenigen, denen neben den österreichischen, bayerischen, badischen und sonstigen Reichskontingenten das eigentliche Verdienst gebührte, „das Abendland" durch ihren Schlachtensieg am Kahlenberg gerettet zu haben, nämlich die polnischen und ukrainischen Soldaten mit ihrem Feldherrn, König Jan III. So-bieski, nicht ganz unerwähnt gelassen. Doch versuchte er unter Zuhilfenahme damals üblicher deutscher Heterostereotype über „die Polen"132 deren militärische Leistung und historische Bedeutung für den Sieg am Kahlenberg zu minimieren.133 Georg D. W. Callwey) erschienenes Buch „Türkenjahr 1683. Das Reich im Kampf um den Ostraum" erlebte 1934 bereits die zweite Auflage und erschien 1942 in dritter Auflage. 131 In seinem Beitrag „Österreich in Mitteleuropa 1867-1918" (in: Josef Nadler/Heinrich von Srbik [Hrsg.], Österreich. Erbe und Sendung im deutschen Raum. 2.Aufl. Salzburg/Leipzig 1936, 141-184, hier 182) hatte sich Lorenz entrüstet gegeben: „Auf der Siegerseite zeichneten in Paris [gemeint sind die Friedensschlüsse von Versailles und St. Germain 1918/19] die Vertreter von 27 Nationen (darunter neben rassestolzen weißen Herrenvölkern Gelbe, Schwarze und Mulatten) gegenüber je einem von dieser Koalition Besiegten!" -In seinem noch 1945 erschienenen „Grundriß der Geschichtslehre" (Berlin 1945) hatte Lorenz im Kapitel „Historische Anthropologie" der „Historischen Rassenlehre" einen eigenen ausführlichen Abschnitt eingeräumt und in diesem Zusammenhang von einer „bewußten rassischen Sonderung", „von einem zugleich körperhaften und seelischen Anderssein" der Europäer, natürlich unter Ausschluss der Juden, gesprochen, „dem gegenüber die Unterschiede innerhalb der christlich-abendländischen Völkerfamilie verblaßten" (ebd. i96f). In seiner Bibliographie des „Schrifttums zum Grundriß der Geschichtslehre aus bekannten Reihenwerken" (ebd. 29 5 f.) waren „nichtarische Autoren" mit einem Asterisk gekennzeichnet. 132 Rudolf Jaworski, Deutsch-polnische Feindbilder 1919-193 2, in: Wolfgang Jacobmeyer (Hrsg.), Die deutsch-polnischen Beziehungen 1919-1932. Braunschweig 1985,177-193. 133 Die Polen sind „leichtsinnig" und deshalb greifen sie unüberlegt an; sie sind auch undiszipliniert und machen schon Beute, wenn sich deutsche Soldaten noch zurückhaltend geben: „Marodierende Polen haben selbst ihren deutschen Kameraden bei späteren Truppenkonzentrationen Ungelegenheiten bereitet" (Lorenz, Türkenjahr 1683 [wie Anm. 130], 255); deutsche Soldaten müssen polnische Soldaten aus der Bre-douille retten; Sobieski ist zum Zeitpunkt der Schlacht am Kahlenberg bereits ein „alternder und umfänglich werdender Mann" (ebd. 160); polnische Erfolge über die Türken werden minimiert, weil sie „an die eigentümlichen Verhältnisse der Steppe und ihrer halborientalischen Völker gebunden" seien (ebd. 253); der polnische Anmarsch auf Wien verzögert sich unverhältnismäßig (ebd. 254); Herzog Karl von Lothringen h.-h. kortüm, otto brunner über otto den grossen 323 Downlodd D&16 I 5/26/15 10i46 PM Aus nachvollziehbaren Gründen war das Lorenz'sche „Türkenjahr"-Buch deshalb auch von der polnischen Regierung nach seinem Erscheinen verboten worden, nachdem der Wiener Historiker ihrem prominenten Nationalhelden Sobieski13 4 neben allen anderen unguten Eigenschaften bescheinigt hatte: „Fehlte ihm [Sobieski] doch nicht allein die Kenntnis der örtlichen Verhältnisse, sondern auch die ihm zweifellos innewohnenden kriegerischen Eigenschaften sind ganz die des Heerführers der östlichen Steppe, der mit List und selbst mit Bestechung das Glück für einige Zeit an sich zu fesseln vermag. Feldherr in geschichtlichem Sinne und daher auch für Sieg oder Niederlage verantwortlich blieb auch in der nahenden Entscheidung, unabhängig von der Rangfrage des Oberbefehls - und darüber bestand im ganzen Lager gar kein Zweifel -, der Herzog Carl von Lothringen".135 - Eine solche Bewertung angeblich schlechter polnischer militärischer Leistungsfähigkeit war zwar im Lichte nationalsozialistischer Gesinnung passgenau, entsprach aber andererseits wahrlich nicht der historischen Wirklichkeit: Der Warschauer Aufstand (1. August -18. Oktober 1944) konnte nur unter großen Mühen von deutschen Truppen niedergeschlagen werden. Mit Brunners Auftritt am 21. Januar 1945 ging die Vortragsreihe „Weltgeschichtliche Bewährungsstunden" höchstwahrscheinlich zu Ende.136 Der Wiener Historiker gehörte wie zwei seiner drei Vorgänger unter generationengeschichtlichem Aspekt der „jungen Frontgeneration", also der Generation der „zwischen 1890 und 1900 Geborenen", an.137 Diese hatte sich durch ihren Fronteinsatz „bewährt" und konnte deshalb auch mit besonderer Legitimation über das Thema „Krieg" sprechen. Im Unterschied zu den drei vorausgegangenen Vorträgen hat Brunners Rede hat besonders nachdrücklich „die Polen so rasch wie die deutschen Kontingente von Tulln nach Westen vorzuschieben" (ebd. 2 69) usw. 134 Rudolf Jaworski, Polnische Helden - europäische Taten: Sobieski - Kosciuszko - Pü'sudski, in: Jacques Le Rider u. a. (Hrsg.), Transnationale Gedächtnisorte in Zentraleuropa. (Gedächtnis - Erinnerung - Identität, Bd. 1.) Innsbruck/Wien/München 2002,13-30, hier 15-19. 135 Lorenz, Türkenjahr (wie Anm. 130), 270L -Zum Verbot seines Buches äußerte sich Lorenz in seinem „Nachwort" in der dritten Auflage (ebd.394). 13 6 Am 3.Februar fand der verheerendste Luftangriff der amerikanischen Luftwaffe auf Berlin statt, der das öffentliche Leben tagelang schwer beeinträchtigte und dem auch das Schinkel'sche Akademiegebäude zum Opfer fiel, das bis auf die äußeren Mauern ausbrannte. Vgl. oben Anm. 3 4 und 85. 137 Zum generationengeschichtlichen Aspekt: Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903-1989. 2.Aufl. Bonn 1996, 42-45. -Nur der schon 1882 geborene Wilhelm Weber gehört unter generationengeschichtlichem Aspekt nicht mehr unmittelbar zur „jungen" Frontgeneration. 324 Historische Zeitschrift // band 299 / 2014 Downlodd D&16 I 5/26/15 10i46 Pfl am 2i. Januar 1945 aber keinen Niederschlag mehr in der Deutschen Allgemeinen Zeitung oder im Völkischen Beobachter gefunden. Dennoch hat sie mit Sicherheit stattgefunden. Dafür spricht, neben der schon erwähnten Mitteilung Brunners an Theodor Mayer, er müsse „im Jänner" einen Vortrag in Berlin halten, ein von Brunner eigenhändig mit Bleistift geschriebener Zusatz zu seinem maschinenschriftlichen Redemanuskript: „Vortrag gehalten in der Reihe Weltgeschichtliche Bewährungsstunden'. Berlin 21.1.1945".138 Brunner sprach an jenem Januarsonntag über „Otto den Großen". Das Thema seines langen, mindestens einstündigen Vortrags139 war klug gewählt. So konnte er bei seinem Publikum wenigstens von rudimentären Kenntnissen über diesen Herrscher ausgehen. Denn mit Otto I. war im kollektiven Gedächtnis der Deutschen traditionell der Erinnerungsort „Lechfeld" oder genauer: die sogenannte Lechfeld-schlacht verbunden, wo es den „Deutschen" unter Ottos Führung im Jahr 955 gelungen sei, „die Ungarn" ein für allemal aufs Haupt zu schlagen. Auch die nationalsozialistische Zeit macht diesbezüglich keine Ausnahme: So hatte beispielsweise der Schulfunk die Erinnerung an dieses identitätsstiftende Ereignis deutscher Nationalgeschichte wachgehalten.140 Beim Reichspropagandaleiter war die Lechfeld-schlacht ebenfalls höchst lebendig geblieben. Voller Optimismus - „Ein neuer Winter wie der vergangene wird nicht mehr über uns kommen." - notierte er im März 1942 in sein Tagebuch: „Eventuell kann es im Osten zu einem hundertjährigen Krieg kommen, der uns dann aber keine besonderen Sorgen mehr zu bereiten braucht. Wir stehen dann dem übrig bleibenden Rußland gegenüber, wie England Indien gegenübersteht. Es ist dann nur unsere Aufgabe, eine neue Staatenbildung jenseits unserer Grenzen immer wieder zu verhindern. Die Kämpfe, die wir jetzt und in Zukunft hier auszufechten haben, sind nur noch mit den Kämpfen auf dem Lechfeld zu vergleichen. Es ist ganz große Geschichte, die heute gemacht wird".141 138 StA Hamburg, Nachlass Brunner, 8. Manuskript „Otto der Große", 1945.-Das Typoskript umfasst 28 paginierte DIN-A-4-Blätter und ist von Brunner handschriftlich durchkorrigiert worden. Die Korrekturen sind teils stilistischer, teils inhaltlicher Art.Auf der Verso-Seite vieler Blätter finden sich ausführlichere Textergänzungen bzw. Literaturangaben mit genauen Seitenverweisen, was vielleicht darauf hindeutet, dass Brunner mit einer Veröffentlichung seiner Rede rechnete. 139 Immerhin umfasste das Typoskript 28 Seiten; vgl. Anm. 138. 140 F. Meingast, Die Schlacht auf dem Lechfeld. Hörspiel in vier Szenen vom 26.3.1938 (= Deutsches Rundfunkarchiv, Archiv-Nr. 2955760). 141 Goebbels, Tagebücher (wie Anm. 2), T. 2, Bd. 3: Januar-März 1942, 511. h.-h. kortüm, otto brunner über otto den grossen Downlodd D&16 I 5/26/15 10i46 PM Die von Goebbels hergestellte Analogie zwischen den „Kämpfen auf dem Lech-feld" im i o.Jahrhundert und einem prognostizierten militärischen Sieg über die Sowjetunion im Jahr 1942 liegt auch Brunners Rede zugrunde. Ihr dezidiertes Ziel war es, das im Schinkelsaal versammelte Auditorium davon zu überzeugen, dass auch noch in der trostlosen Lage des Januars 1945 Aussicht auf einen Sieg des Deutschen Reiches bestand. Um die erwünschte Persuasio des Publikums zu erreichen, musste Brunner aber äußerst subtil vorgehen. Jedenfalls verboten sich angesichts der sich abzeichnenden militärischen Katastrophe platte Analogien von selbst. Deshalb vermied es Brunner auch sorgsam, näher auf die aktuelle Lage einzugehen. Lieber sprach er in einer Mischung aus zynischem Euphemismus und wissenschaftlicher Weltfremdheit ganz allgemein von „der unmittelbaren Aktualität" „uns naheliegende [r] Zeiten" ebenso wie von vergangenen, aber „uns heute noch beschäftigenden Problemen"142, wobei er gleichwohl offenließ, um welche Probleme es sich denn handeln könnte. Um dennoch sein Ziel erreichen zu können, eindeutige Parallelen zwischen der von den Deutschen gewonnenen Lechfeldschlacht des 10. Jahrhunderts und einem deutschen Sieg im Jahr 1945 herzustellen, galt es, die historischen Ubereinstimmungen zwischen dem vergangenen Ersten Reich und dem aktuell existierenden Dritten Reich der Deutschen genauer herauszuarbeiten. Brunner begann seine historische Analyse der Geschichte der Deutschen unter Otto dem Großen mit einer geschichtsphilosophischen Confessio. Zunächst einmal rechtfertigte er seinen Rekurs auf das Mittelalter, indem er auf den angeblich damit verbundenen geschichtlichen Mehrwert hinwies: „Die Beschäftigung mit den älteren Jahrhunderten" - und darunter verstand Brunner auch und gerade das Mittelalter - biete die Chance, „die Wurzeln unseres Seins" und „die dauernd wirksamen, die geschichtsmächtigen Kräfte aufzudecken".143 Dann aber legte Brunner recht unvermittelt sein geschichtsphilosophisches Glaubensbekenntnis im Zeitalter des „Einsatzes der Geisteswissenschaften im Kriege" ab: „Aber wenn, wie ich überzeugt bin, alle Geschichte gegenwartsgebunden ist, dann muss sie wirklich von der Gegenwart und nicht von einer Halbvergangenheit gesehen werden, die bloss aus dem Moment geistiger Trägheit, die es auch in der Wissenschaft und vor allem in der Schule gibt, vielen Zeitgenossen als Gegenwart erscheint".144 Diese Aussage ist unter zweierlei 142 Brunner, Otto der Große (wie Anm. 138), 1. 143 Ebd. 144 Ebd.4. Historische Zeitschrift // band 299 / 2014 Downlodd D&16 I 5/26/15 10i46 Pfl Aspekten bemerkenswert. Erstens schwingt in Brunners Attacke auf die angebliche geistige Trägheit der Wissenschaft noch immer etwas von der Angriffslustigkeit eines homo novus, der er ja im Übrigen längst nicht mehr war, mit. Der Wiener Historiker schmähte - wieder einmal - die etablierte, „liberalistisch" geprägte Vorgängergeneration als obsolet und methodisch längst überholt.145 Eine solche polemische Distanzierung von den Altvorderen verband ihn mit einem seiner Vorredner, dem schon erwähnten Berliner Althistoriker Wilhelm Weber, der ebenfalls seine althistorischen Kollegen frontal angegangen und ihnen bescheinigt hatte, „sich in stark ausgeleierten Geleisen [zu] bewegen".146 Zweitens überrascht das Brun-ner'sche Bekenntnis zur unbedingten Gegenwartsgebundenheit von Geschichte. Denn dieses von ihm selbst aufgestellte Postulat brachte ihn, wie er selbst einräumte, in größte Schwierigkeiten: Einerseits wollte und musste Brunner von der eigenen Gegenwart und damit von ,,unsere[m] Begriff des Volks, des politischen Volks" ausgehen, andererseits warnte er aber - im Übrigen völlig zu Recht - davor, „ins 10. Jahrhundert unseren Begriff des politischen Volks und des Neuen Europa hinein[zu]tra-gen."147 Aus diesem methodischen Dilemma, in das er sich selbst hineingeritten hatte, rettete sich Brunner mit einer nur als äußerst kühn zu bezeichnenden Volte: „Dieser Adel, grosse Grundherren, über abhängige Bauern herrschend, ist das Volk im Verfassungssinn, sein politischer Träger".148 Brunner hielt sich denn auch bei der Interpretation ottonischer Geschichte streng an seine Maxime, Vergangenheit im Lichte der eigenen, und das hieß in diesem Fall: der nationalsozialistischen Gegenwart, zu rekonstruieren und zu deuten. 145 Branners Triumphalismus beginnt mit seiner Attacke auf dem Erfurter Historikertag 1937, wo er als „junger Mann" der Neuen Bewegung gilt. Zur Charakterisierung des Historikertreffens: Helmut Heiher, Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands. (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 13.) Stuttgart 1966, 713: „Manch ein ernsthafter Gelehrter war nicht erschienen, meist allerdings solche, die sowieso geächtet waren oder abseits standen. Und zumeist ältere. Den jüngeren fiel es naturgemäß schwerer, sich diesem Sog zu entziehen. Nicht nur aus Deutschland, ebenso aus Österreich, dem Sudetenland und dem Baltikum waren sie erschienen, gewillt, auf jede nationale Phrase gierig hereinzufallen." - Der Leiter des Reichsinstituts für Geschichte des neuen Deutschlands, Walter Frank, erhoffte sich noch 1941, „daß es den Bemühungen von Gelehrten wie Brunner gelingen möge, ,auch innerhalb der mittelalterlichen Geschichtsforschung den Ideen einer schöpferischen Neuordnung zum Siege zu verhelfen.'"; ebd. 928. 146 Das Zitat nach Rebenich, Zwischen Anpassung und Widerstand (wie Anm. 124), 214. 147 Brunner, Otto der Große (wie Anm. 138), 4. 148 Ebd. 6. h.-h. kortüm, otto brunner über otto den grossen Downlodd D&16 I 5/26/15 10i46 PM Schon „das Frankenreich, so wie es seinen Höhepunkt unter Karl dem Grossen erreicht", schien dem Wiener Historiker „kein ,Universalreich' im Sinne irgendeiner älteren Weltmonarchie, sondern ein echtes germanisches ,riche' " zu sein, „getragen von seinem Reichsvolk den Franken und seinem König, dem eine Vielfalt anderer Völker und Stämme, germanische und romanische, dem auch ein zweites Reich das langobardische zu- und nachgeordnet sind, ohne dadurch in ihrer Sonderexistenz berührt zu sein".149 Mit einer solch dezidiert „germanischen" Interpretation des großen Karl entfernte sich Brunner weit von dem auch im Zeitalter des Nationalsozialismus bewahrten fach wissenschaftlichen Konsens, der jeder einseitigen nationalgeschichtlich-völkischen Interpretation dieses Imperator Romanorum schon 1935 eine eindeutige Absage erteilt hatte.150 Mit seiner Begrifflichkeit von der angeblichen ,Zu'- und ,Nachgeordnetheit' anderer germanischer wie romanischer Völker und Stämme zum germanischen Reich Karls des Großen griff Brunner, ebenso wie mit dem von ihm verwendeten Kampfbegriff „Neues Europa", ganz bewusst auf Vorstellungen zurück, wie sie sich auch in den einschlägigen nationalsozialistischen Kreisen nachweisen lassen151, die damals über ,Europa' nachdachten und die, je länger der Krieg dauerte, desto stärker ihr Herz für andere europäische Völker und Nationen entdecken sollten.152 Einer vertraulichen Information des Reichspropagandaministeriums zufolge war „die Geburtsstunde des Neuen Europa" mit dem Angriff auf die Sowjetunion am 21. Juni 1941 angebrochen, als „Europa [...] gegen den gemeinsamen Feind in einer einzigartigen Solidarität marschiert" sei.153 Einer besonderen Beliebtheit erfreute sich das „Neue Europa" auch und gerade beim Auslandswissenschaftlichen Institut: Es veranstaltete seit 1942 mehrere einschlägige Tagun- 149 Ebd. 4 f. 150 Karl Hampe (Hrsg.), Karl der Große oder Charlemagne? Acht Antworten deutscher Geschichtsforscher. (Probleme der Gegenwart.) Berlin 193 5. 151 Zur großen Bedeutung des Begriffes „Ordnung" und seiner Übernahme auch durch die Mediävisten, u. a. Theodor Mayer, vgl. Heiss, Die „Wiener Schule" (wie Anm. 47), 414-416. - Zu den ideologischen Ingredienzien des Begriffes ,Neues Europa' („1. der ,Westen'", „2. Der Zivilisation [auf römischen und christlichen Grundlagen] und dem 3. Imperium") zusammenfassend: MarkMazower, Hitlers Imperium. Europa unter der Herrschaft des Nationalsozialismus. München 2009,113 u. 509-516. 152 Dazu für das Auslandswissenschaftliche Institut bzw. die Auslandswissenschaftliche Fakultät sehr ausführlich: Botsch, „Politische Wissenschaft" (wie Anm.77); zu Rosenbergs Europavorstellungen: Piper, Rosenberg (wie Anm.91), 597-611. Allgemeiner: Mazower, Hitlers Imperium (wie Anm.151), 124-132 u. 509-516. 153 PaulKluke, „Nationalsozialistische Europaideologie", in: VfZ 3/3,1955, 240-275, hier 259. Historische Zeitschrift // band 299 / 2014 Downlodd D&16 I 5/26/15 10i46 Pfl gen in Weimar. Von diesem „Zentrum des neuen Europa" erhoffte man sich, „daß sämtliche Arbeiten des Instituts unter dem Zeichen der größten schöpferischen Geister der Welt stehen, und zwar unter dem Zeichen Goethes, Schillers, Herders usw."154 Brunners Begrifflichkeit fügte sich also passgenau in den ideologischen Duktus des Vortragsveranstalters ein. Mit Otto dem Großen hatte laut Brunner die hegemoniale Stellung Deutschlands schließlich im 10. Jahrhundert ihren ersten Höhepunkt erreicht, wie es sich bereits in der Zeit von Heinrich L, dem Vater Ottos des Großen, abgezeichnet habe. Denn schon jener habe sich konfrontiert gesehen mit dem „Hirtenkriegervolk der Magyaren, das einst in Westsibirien aus der Uberschichtung primitiver finnisch-ugrischer Wildbeuter durch türkische Nomaden entstanden war" und „sich unter dem Druck anderer Reitervölker aus dem Raum zwischen Kuban und Don nach Westen bis Bes-sarabien vorgeschoben hatte", um sich schließlich „in der ihm gemässen Steppenlandschaft Innerungarns, die durch Waldgebirge und versumpfte Stromlandschaften gesichert war", niederzulassen.155 Der unverkennbar pejorative Unterton, der bei der Schilderung der ethnischen Ursprünge der Ungarn mitschwingt, ist leicht zu erklären: Eine von der Sowjetunion eingesetzte provisorische Regierung Ungarns hatte die Seiten gewechselt und einen Waffenstillstand mit ihren ehemaligen Feinden abgeschlossen. Am 20. Januar 1945, also einen Tag vor Brunners Vortrag, notierte die Berliner Journalistin Ursula von Kardorff (1911-1988) in ihr Tagebuch: „Ungarn hat uns nun auch den Krieg erklärt. Aus dem großen Waffenbruder wurde der neue Feind. Nur Japan bleibt noch bei der Stange, vielleicht, weil es so weit von uns entfernt ist. Budapest eingeschlossen".156 Auf etwaige Befindlichkeiten des ehemaligen Verbündeten brauchte Brunner also wirklich keinerlei Rücksichten mehr zu nehmen, was sich nicht zuletzt auch in seiner Semantik niederschlägt: Die Ungarn bzw. „ungarische Raubscharen" „zerschlugen", „vernichteten", „besetzten", „stießen vor" usw. und bedrohten nicht nur das Ottonenreich, sondern vielmehr ganz West-und Südeuropa. Insofern kam Heinrich I. und seinem Sohn Otto eine weltgeschichtlich entscheidende Bedeutung zu. Mit ihren militärischen Siegen retteten sie nicht nur „Deutschland", sondern gleich auch noch das damalige „Europa" mit dazu. Mit 154 Vgl. den Jahresbericht des Deutschen Auslandwissenschaftlichen Instituts 1943/1944. Als Manuskript gedruckt. Dresden [o.J.], 89. 155 Brunner, Otto der Große (wie Anm. 138), 9. 156 Kardorff, Berliner Aufzeichnungen 1942-1945 (wie Anm.19), 282. h.-h. kortüm, otto brunner über otto den grossen Downlodd D&16 I 5/26/15 10i46 PM anderen Worten: Sie .bewährten' sich in einer weltgeschichtlichen Bewährungsstunde. Damit wurde die von Brunner beabsichtigte Analogie zwischen Erstem und „Drittem Reich" für seine Zuhörerschaft herstellbar und einsichtig: Auch dem derzeitigen Reich, dem auf Grund seiner unbestreitbar hegemonialen Stellung die anderen europäischen Staaten und Nationen „zu- und nachgeordnet" seien, fiele die Aufgabe zu, Europa, nunmehr in seiner Gestalt des „Neuen Europa", vor der tödlichen Gefahr aus dem Osten zu bewahren, so wie dies das ottonische Reich schon erfolgreich getan hatte. Die Lechfeldschlacht des io.August 955 musste in Brunners Charakterisierung denn auch konsequenterweise zu einer Präfiguration späterer deutscher Siege über den Feind aus dem Osten werden: „Es war eine wahre Vernichtungsschlacht gegen einen Gegner, der außerhalb der Rechtsgemeinschaft des Abendlandes stand, der erfahren sollte, dass, wenn er nicht Frieden gab, mit dem Untergang zu rechnen hatte".157 Dessen fehlende Teilhabe an der „abendländischen Rechtsgemeinschaft" rechtfertigte in den Augen Brunners auch seine totale Liquidierung: „Daher wurden keine Gefangenen gemacht, bis auf die Anführer, die man dann, darunter den gewaltigen Bulscu hängen liess. Das heisst man hat sie nach germanischer Rechtsauffassung als schmähliche ,Diebe' behandelt".158 Man wird davon ausgehen können, dass sich bei Brunners Zuhörerschaft die gewünschten Assoziationen wie von selbst einstellten. Auch die Wehrmacht sah sich bei ihrem Kampf im Osten nicht mehr länger an die Regeln der abendländischen Rechtsgemeinschaft, wie sie in Gestalt der Haager Landkriegsordnung und der Genfer Konvention bestanden, gebunden: „Das wesentlichste Ziel des Feldzuges gegen das jüdisch-bolschewistische System ist die völlige Zerschlagung der Machtmittel und die Ausrottung des asiatischen Einflusses im europäischen Kulturkreis. Hierdurch entstehen auch für die Truppe Aufgaben, die über das hergebrachte einseitige Soldatentum hinausgehen. Der Soldat ist im Ostraum nicht nur ein Kämpfer nach den Regeln der Kriegskunst, sondern auch Träger einer unerbittlichen völkischen Idee und der Rächer für alle Bestialitäten, die deutschem und artverwandtem Volkstum zugefügt wurden".159 157 Brunner, Otto der Große (wie Anm. 138), 19. 158 Ebd. 19 f. 159 Vgl. den „Reichenau-Befehl" vom 10. Oktober 1941 (Geheimer Befehl des AOK 6 über das „Verhalten der Truppen im Ostraum"), zitiert nach Wolfgang Michalka (Hrsg.), Deutsche Geschichte 1933-1945. Dokumente zur Innen-und Außenpolitik. Frankfurt am Main 1993, 250. Siehe dazu Omer Bartov, Hitlers Wehrmacht. Soldaten, Fanatismus und die Brutalisierung des Krieges. Reinbek bei Hamburg 1995, i96f. 330 Historische Zeitschrift // band 299 / 2014 Downlodd D&16 I 5/26/15 10i46 Pfl Seine allerletzte Trumpfkarte spielte Brunner rhetorisch klug erst am Ende seines Vortrags aus. Noch einmal verwahrte er sich zunächst gegen einen allzu plumpen, weil unhistorischen Analogieschluss: „Die ideellen Grundlagen, die damals Europa einten und Ottos Werk mit trugen, haben für uns heute keine Geltung mehr, die politischen Formen und Mittel des 10. Jahrhunderts sind von denen der Gegenwart völlig verschieden. Man kann aus ihrer Kenntnis im Einzelnen nicht lernen, was in der Gegenwart anwendbar wäre".100 Was einen hingegen die Geschichte lehre, „ist die Einsicht, die in den Anfängen des Reichs vor einem Jahrtausend wie in der Gegenwart gilt, dass es ohne die Macht des Reichs Frieden und Ordnung in Europa nicht gibt, dass ein machtloses Reich Europa und sich selbst in das Chaos stürzt, dass grosse Führergestalten, wie sie Otto und, von ihm kaum trennbar, sein Vater Heinrich I. waren, dieses Werk allein vollbringen können".101 Für Brunner und sein Auditorium bestand also auch in der schwierigen Lage des Januars 1945 die Hoffnung auf Rettung Deutschlands und Europas ungebrochen fort. Zumindest solange der „Führer" lebte. Und wie die ottonische Geschichte zeigte, konnte es nicht nur eine, sondern sogar gleich zwei auf einander folgende „Führergestalten" geben: Heinrich I. und Otto I. Auch dies ließ einen Hoffnung schöpfen, sollte denn in naher oder ferner Zukunft der derzeit amtierende, gleichwohl die Öffentlichkeit meidende und offensichtlich schon ein wenig kränkelnde „Heerführer Europas"162 nicht mehr sein...163 Laut Brunner könnte auch in Zukunft für Deutschland „die Führerstellung in Europa" bewahrt werden, denn „nicht Institutionen, Verträge, erklügelte Ordnungen von angeblich ewiger Dauer sichern sie, sondern die Grösse der herrscherlichen Person und ihrer Leistung".164 Mit der Erwähnung einer Deutschland angeblich zukommenden europäischen „Führerstellung" griff Brunner wieder einen Gedanken auf, den bereits drei Jahre zuvor der schon erwähnte Heinrich von Srbik formuliert hatte: „Deutschland hat die ihm seit tausend Jahren auferlegte Sendung und Führerstellung bis etwa zur alten Grenze des Abendlandes und Rußlands und bis zur west- 160 Brunner, Otto der Große (wie Anm. 138), 27. 161 Ebd. 162 Hitler als „Heerführer Europas": Marzower, Hitlers Imperium (wie Anm. 151), 513 f. 163 Zu den Sorgen Goebbels' über den Rückzug Hitlers aus der Öffentlichkeit, dessen sich zunehmend verschlechternden gesundheitlichen Zustand und den sich daraus ergebenden Problemen: Longerich, Goebbels (wie Anm. 1), 6o8f. 164 Brunner, Otto der Große (wie Anm. 138), 27. h.-h. kortüm, otto brunner über otto den grossen Downlodd D&16 I 5/26/15 10i46 PM 331 liehen alten Reichsgrenze wieder auf sich genommen". 5 - „Durch die Kraft ihrer Waffen eine Ordnung des Rechts und des Friedens zu schaffen", war nach Brunners Meinung Beruf und Berufung der Deutschen, was folgerichtig auch implizierte, dass diese auf keinen Fall „zu Hause bleiben können".166 Immerhin räumte der Wiener Historiker ein: „Gewiss, eine solche Politik ist gefährlich, sie fordert die äusserste Anspannung der Kräfte." Und er blieb auch skeptisch, ob eine solche Politik etwas sei, „was man ein für allemal erledigen und dauernd regeln kann." Deshalb bestimmte er sie folgerichtig als „eine ewige, an jede Generation, an jede führende Gestalt herantretende Aufgabe".107 Mit dieser auf uns Heutige eher verstörend, denn beruhigend wirkenden Skizzierung einer künftigen und zudem für alle Zeiten unverrückbaren Agenda deutscher „Europa"-Politik entließ Brunner sein Auditorium. Zusammenfassung Der Aufsatz behandelt die wissenschaftlichen Aktivitäten Otto Brunners (1898-1982) am Vorabend des endgültigen Zusammenbruchs des „Dritten Reiches". Als einer der führenden deutschen Historiker beeinflusste Brunner, der auf Antrag der „Dienststelle Rosenberg" von der unter der Leitung Martin Bormanns stehenden Partei-Kanzlei u.k („unabkömmlich") gestellt worden war, die folgenden Generationen von Historikern. Nachdem er noch vom 15. bis 17. Januar 1945 an einer Mittelaltertagung in Braunau teilgenommen hatte, die in Hitlers Geburtshaus stattfand, trat Brunner am 21. Januar 1945 als der vermutlich letzte Redner im Rahmen einer Vortragsreihe mit dem Titel „Weltgeschichtliche Bewährungsstunden" auf. Das Auslandswissenschaftliche Institut der Kaiser-Wilhelms-Universität hatte diese Vortragsreihe, die in Berlin Mitte, in der Schinkel'schen Bauakademie, stattfand, für das Wintersemester 1944/45 organisiert. Brunner, der direkt aus Wien anreiste, hielt dabei einen Vortrag über eine der berühmtesten Schlachten der deutschen Geschichte, die sogenannte „Lechfeldschlacht", in der Kaiser Otto der Große ein ungarisches Heer besiegte. In diesem Zusammenhang werden die Gründe für Brunners Berlinbesuch vor dem Hintergrund der „Schlacht um Berlin" untersucht, und es wird außer- 165 Hier zitiert nach Mazower, Hitlers Imperium (wie Anm. 151), sof. 166 Brunner, Otto der Große (wie Anm. 138), 27 f. 167 Ebd.28. 332 Historische Zeitschrift // band 299 / 2014 Downlodd D&16 I 5/26/15 10i46 Pfl dem auf einige Grundgedanken seiner Rede eingegangen. Brunners unveröffentlichter Vortragstext wird vor dem Hintergrund der drei anderen, im Dezember 1944 gehaltenen Vorträge kontextualisiert, für die das Auslandswissenschaftliche Institut andere prominente Redner gewonnen hatte, so z.B. den damaligen Münchner Althistoriker Helmut Berve, der über Sparta und die Schlacht bei den Thermopylen sprach. Prof. Dr. Hans-Henning Kortüm, Universität Regensburg, Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte, Universitätsstraße 31, 93053 Regensburg h.-h. kortüm, otto brunner über otto den grossen Downlodd D&16 I 5/26/15 10i46 PM 333