Reinhart Koselleck Vom Sinn und Unsinn der Geschichte Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten Herausgegeben und mit einem Nachwort von Carsten Dutt Berlin 2010 Suhrkamp Verlag Vom Sinn und Unsinn der Geschichte Dieter Groh zum 65. Geburtstag Wer der Geschichte einen Sinn zumutet, muß sich der Frage aussetzen, was eigentlich der Gegenbegriff sei: der Unsinn oder die Sinnlosigkeit? Mit dieser Alternative wird vorentschieden, was als »Sinn« begriffen werden soll. Denn »Sinnlosigkeit« ist ein neutraler Ausdruck, der die Sinnfrage umgeht, und ich neige dazu, diese Position für die Geschichte stark zu machen. »Unsinn« bleibt als Negation von »Sinn« auf Sinnhaftigkeit bezogen. »Sinnlosigkeit« öffnet dagegen eine andere Dimension, als sie eine Geschichtswissenschaft zu bewältigen hat, die sich herausgefordert sieht, Sinn und damit eo ipso auch Unsinn in der Geschichte zu suchen. Im folgenden wird nicht nach dem Sinn jener Wissenschaft gefragt, die sich mit der »Geschichte« beschäftigt. Also Sinn oder Unsinn der Historie als Wissenschaft steht hier nicht zur Debatte, obwohl sie sich gerne anmaßt, der sogenannten Geschichte Sinn abzuluchsen und ihn mit verschiedenen Zensuren zu dosieren. I Es gibt eine Briefsammlung von Soldaten aus Stalingrad, die nicht heimgekehrt sind, aber deren Nachrichten - gleichsam Nachrufe auf sich selbst - mit den letzten Postsäcken nach Deutschland verbracht worden sind.1 Goebbels hielt diese Post zurück, in der Hoffnung, eine Auswahl heroischer Briefe edieren zu können, die vom Heldentum derer zeugen sollten, die vermißt werden. Diese vier oder fünf Postsäcke, die ein paar tausend Briefe enthielten, ohne je ihre Adressaten zu erreichen, haben nun eine Fülle von Deutungen hinterlassen, die der Katastrophe vergeblich Sinn abzugewinnen suchten. Die Variantenskala reicht von der absoluten Verzweiflung über sarkastische Kommentare und ironische Bemerkungen hin zu zynischen Bonmots der dort demnächst Sterbenden und weiter über lethargische und zurückhaltende Nach- 1 [Letzte Briefe aus Stalingrad, Frankfurt am Main und Heidelberg 1950 (2.. Aufl. Gütersloh 1954).] IO Theorieskizzen Vom Sinn und Unsinn der Geschichte II richten bis zu Zeichen der Demut oder tiefer Frömmigkeit. Verlassenheit und Hilflosigkeit dominieren, und es finden sich nur wenige Bekenntnisse zum NS-System, dessen Durchhalteparolen die offizielle Öffentlichkeit beherrscht hatten. Wir stehen also vor einem breit gestreuten Wahrnehmungsspektrum jenes wendeträchtigen Ereignisses, über das wir inzwischen aus Tausenden von Büchern, Filmen oder Videostreifen belehrt werden. Was wir heute geneigt sind, als Sinnlosigkeit oder allenthalben als Unsinn zu deuten, das wurde schon damals, von den Zeitzeugen vor ihrem Tode vergeblich mit Sinnstiftungen versehen - die Wirklichkeit der Schlacht ließ dieses nicht zu. Das Ärgerliche an dieser aufregenden Quellensammlung ist nur, daß sie eine Fälschung ist. Es war ein Propagandamann im Dienst von Goebbels gewesen, der zwar Kenntnis von diesen letzten Briefen hatte - aber die, die er veröffentlicht hatte, sind offenbar aus seiner eigenen Feder geflossen. Seine Edition erreichte zwei Auflagen, seine Herausgeberschaft verblieb im Anonymen, und auch meine Versuche, dem Fälscher auf die Schliche zu kommen, blieben ergebnislos, weil der Herausgeber seit langem tot ist. Die Indizien, die die Fälschung als solche entlarven, brauchen hier nicht im einzelnen aufgeführt zu werden. Das Spannende ist nämlich, daß die Fälschung selber so großen Anklang fand. Die geschickte Fiktion der Briefe reichte hin, um bei den Lesern Zustimmung zu finden dafür, daß in Stalingrad »Sinnlosigkeit« obwaltete und von den Betroffenen auch so ■ erfahren wurde. Der Leserkreis teilte rückwirkend offenbar denselben Erfahrungshorizont, den der Fälscher, stilistisch versiert, ausgezogen hatte. Alle ideologischen Deutungen der seinerzeitigen Propagandasprache schmolzen dahin. Es gibt nur ein Motiv, das auch im Rückblick den »Sinn« von Stalingrad zweckrational einlösen könnte: dann handelt es sich um ein rein militärgeschichtliches Motiv. Denn durch den Untergang der 6. Armee war es möglich geworden, daß die Truppen, die sich im Kaukasus festgebissen hatten, noch rechtzeitig entkommen konnten, nämlich im Verlauf jener zwei Monate, in denen der Kessel von Stalingrad eingeschnürt und vernichtet wurde. Der Tod der Stalingrad-Soldaten sicherte in dieser Sichtweise das Überleben jener Truppen, die sich über den Don zurückretten konnten. Freilich wäre es anmaßend zu behaupten, in diesem sekundären Zweck des tödlichen Kampfes den primären Sinn der Stalingradschlacht zu erblicken. Eingerückt in den gesamten Kontext des Kriegsverlaufes, wird die Schlacht von Stalingrad heute gern als Peripetie dargestellt, als der Beginn vom Ende des deutschen Weltkrieges. Freilich streiten sich die politischen und die Militärhistoriker darüber, ob denn die Peripetie nicht schon vor Moskau 1941 gelegen habe oder ob sie nicht schon längst zuvor im Entschluß zum Rußlandfeldzug selber gelegen haben muß, ohne damals schon sichtbar geworden zu sein. Die spannende Frage (besonders von Ernst Topitsch2), ob der Rußlandfeldzug auch rational begründbar war: als Präventivschlag gegen Stalins expansionistische Absichten - und das noch im Erfahrungshorizont des deutschen Sieges über Rußland im Jahre 1917 -, braucht uns hier nicht zu beschäftigen. Denn langfristig gesehen kann die Peripetie des Kriegsverlaufs auch schon vor dem Kriegsausbruch 1939 angesiedelt werden, weil in Anbetracht der politischen Weltkonstellation der Untergang schon im Anfang enthalten gewesen sei. Dann wäre der gesamte Krieg nicht nur in sich selbst sinnlos, sondern auch im Hinblick auf rationale Kalkulationen und Zweckverschönungen von vornherein unsinnig gewesen. Dann wird Stalingrad zum Symptom jenes utopisch motivierten Aggressionskrieges, der in seinem Verlauf schließlich zum Zweiten Weltkrieg wurde und der, aus ideologischen Gründen entfesselt, sich einer politischen oder militärischen Rationalisierung überhaupt entziehe. Das Kriterium der Sinnlosigkeit liegt dann in der Ideologiekritik an den rassischen und raumausgreifenden Plänen Hitlers beschlossen, wie er sie schon in Mein Kampf offen ausgesprochen hatte. Daran gemessen lassen sich andere Deutungen als Sinnstiftung begreifen, wenn sie etwa theologisch begründet werden. Einmal auf den Boden theologischer Deutungen überführt, lassen sich alle Ereignisse mit Sinn befrachten, denn jedes Ereignis läßt sich dann mit Theodizee-Argumenten erklären. Wird ein Guter belohnt, ist es Gotteslohn; wird ein Guter bestraft, ist es eine Warnung. Wird der Böse belohnt, ist es ebenfalls eine Warnung, da in Gottes Ratschluß alles anders aufgehoben sein mag, als es zu sein scheint; 2 [Vgl. Ernst Topitsch, Stalins Krieg. Moskaus Griff nach der Weltherrschaft, Herford 1985.] 12. Theorieskizzen Vom Sinn und Unsinn der Geschichte 13 wird schließlich der Böse bestraft, handelt es sich um ausgleichende Gerechtigkeit. Also theologisch läßt sich immer alles sinnvoll deuten, und es gibt dementsprechend eine Fülle ähnlicher Argumente, die alle Kriege begleiten. So sparten zum Beispiel katholische Blätter im Ersten Weltkrieg nicht mit der traditionellen Deutung, daß er als Strafe Gottes für menschlichen Übermut zu erleiden sei. Die Stimmigkeit solcher Interpretamente für Gläubige läßt sich nicht leugnen, auch wenn sie keine rationalistischen Argumente im Sinne wissenschaftlich kontrollierbarer Aussagen liefern können. Für einen Gläubigen bleiben sie unwiderlegbar; also, mit Popper zu sprechen, außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses. Eine weitere Methode, rückwirkend an die Schlacht von Stalingrad die Sinnfrage zu stellen, wäre, wie bereits angedeutet, die Rekonstruktion der militärischen Gesamtplanung. Dann aber bleibt »Stalingrad« das Ergebnis einer grandiosen Fehlrechnung: nicht nur Ergebnis einer utopisch überzogenen Planung, sondern eines rationalen Irrtums, der die Schlacht von vornherein als unsinnig ausweist. Wer Friedrich den Großen und dessen Schriften kennt, der findet dort rund zwanzig Seiten über die Geschichte Karls XII. von Schweden, der in Poltawa bekanntlich sein Stalingrad gefunden hatte.3 Friedrich wies auf wenigen Seiten nach, daß ein Krieg gegen Rußland für eine europäische Macht nicht zu gewinnen sei. Und Napoleon wie Hitler hätten, wenn sie denn diesen Text von Friedrich aus dem Jahre 1759 gelesen hätten, ihre Kriege zumindest gegen Rußland niemals begonnen - trotz der gegenteiligen Erfahrung von 1917, auf die sich wenigstens Hitler und seine Generale berufen konnten. Aber Friedrich, der ja nicht ohne taktische und strategische Begabung war, hat sein Rationalisierungsargument den Nachfolgern leider nicht vermitteln können. Sonst wäre - vielleicht - Millionen von Soldaten der Tod, aber mehr noch Millionen von Zivilisten die Ermordung erspart geblieben. Ein weiterer Aspekt in der Rezeptionsgeschichte von Stalingrad läßt sich hinzufügen, der durch den Historikerstreit eine neue 3 [»Reflexions sur les talents militaires et sur le caractere de Charles XII, roi de Suede«, mit dt. Übers, in: Johannes Kunisch (Hg.), Aufklärung und Kriegserfahrung. Klassische Zeitzeugen zum Siebenjährigen Krieg, Frankfurt am Main 1996, s. 547-587-] Bedeutung gewonnen hat: Läßt sich Sinn oder Zweck der Stalingradschlacht durch die gleichzeitig laufende Judenvernichtung aufhellen? Da stellt sich die Frage: Hat Stalingrad die Judenmorde eher gesteigert oder gebremst? Offensichtlich handelt es sich um eine Steigerung der Vernichtungsexzesse, denn das Menetekel von Stalingrad hat die parallel laufenden Aktionen in Maidanek, Treblinka, Auschwitz und ihresgleichen nirgends gebremst. Geht man davon aus, daß die Peripetie des gesamten Krieges bereits in seinem Anfang enthalten war, so lassen sich die Schlacht von Stalingrad und die Judenvernichtung aufeinander beziehen. Wenn sich die Stalingradschlacht in der rein militärischen Sequenz des Krieges als Ergebnis rationaler Verblendung herausstellt und wenn sich die Judenvernichtung als das erweist, was sie jenseits der NS-Ideologeme immer schon war: als sinnlos, mehr noch: als absurd, dann haben beide Ereignissequenzen, sosehr sie sich unterscheiden, eine gemeinsame Wurzel. Sie liegt vor dem Kriege. Zeitgleich sind beide Ereignisketten nicht kausal aufeinander zu beziehen: Stalingrad ist nicht deshalb durchgefochten worden, weil die Vernichtungsaktionen im Hinterland vollstreckt wurden -und Stalingrad fand nicht statt, um Auschwitz zu ermöglichen. Aber beide Ereignisse haben ihren gemeinsamen Grund in der opfersüchtigen Erlösungs- und der rassischen Vertilgungsideologie, die sich in der NS-Weltanschauung wechselseitig bedingt und verstärkt haben. Wenn also die politische Zoologie als Fundamentalentscheidung Hitlers seinen Einzelentschlüssen vorauslag und wenn die Rassenlehre der deutschen NS-Ideologie ihre lange Vorgeschichte hatte, dann gerinnen in dieser Sicht die Orte beider Ereignisketten zu symbolträchtigen Namen, ohne daß deshalb das eine Ereignis aus dem anderen ableitbar wäre. Wie weit die rassistische Semantik selbst das Bürgertum geprägt hatte, bezeugt Thomas Mann in seinen Reden an das deutsche Volk im Herbst 1942, als er schon von den Vergasungen der Juden zu berichten wußte. Die Täter nannte er dabei »SS-Kaffern« und »SS-Hottentotten«,4 wobei die schwarze Uniform der SS- 4 [Vgl. Thomas Mann, »Deutsche Hörer! Fünfundfünfzig Radiosendungen nach Deutschland«, Sendung vom 27. September 1942, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 11: Reden und Aufsätze 3, Frankfurt am Main i960, S. 1053: »Ein genauer und authentischer Bericht liegt vor über die Tötung von nicht weniger als elftau- 14 Theorieskizzen Vom Sinn und Unsinn der Geschichte 15 Truppen sicher nicht hinreicht, um die ethnologisch verächtliche Metaphorik zu rechtfertigen. Die rassischen Versatzstücke reichen eben tief in den bildungsbürgerlichen Sprachhaushalt hinein. Sie gehörten zum Bedingungsnetz, das die Katastrophe ermöglicht hatte. Blickt man nun auf die andere Seite, nach der Sowjetunion, so läßt sich zunächst einmal feststellen, daß die Soldaten dort den gleichen Frost, den gleichen Hunger, die gleiche Angst durchzustehen hatten, bevor sie der Schlacht vielleicht einen Sinn abzugewinnen suchten. Tausende von Deserteuren sind auf russischer Seite füsiliert worden. Offenbar reichte die propagandistische Sinnvorgabe der Befreiung von den deutschen »Schweinen« und »Barbaren« nicht hin, um den Todeseinsatz dieser Soldaten so weit zu motivieren, daß sie nicht auch zu desertieren versuchten. Aber die Habenseite der Befreier ist ex post so angelegt, daß die dortigen Deserteure nicht mehr denkmalsfähig geworden sind - im Unterschied zu den unsrigen. De facto, im subjektiven Wahrnehmungshorizont der ehedem Beteiligten, waren sie natürlich dieselben »Frontschweine«, wie man sich damals auf deutscher Seite titulierte. Die Rezeption der Stalingradschlacht verläuft nun in Rußland keineswegs unilinear entlang der spontan einsichtigen Befreiungsideologie. Zu Lebzeiten Stalins hat es in Stalingrad kaum einen solchen Befreiungskult gegeben, wie er in den von der Sowjetunion eroberten Gebieten Europas gepflegt wurde. Die riesige Denkmalsanlage ist erst nach Stalins Tod in Wolgograd eingeleitet worden, das heißt, der Kult, der dort heute noch mit dem Schlachtensieg gepflegt wird, ist ein spezifisch nachstalinistischer Kult. Die Botschaft, die bis zur Wende kontinuierlich vermittelt wurde, stufte eine Hierarchie der toten Helden auf, deren Namen nur selektiv in Erinnerung gehalten wurden. Nicht die Zahl aller Tosend polnischen Juden mit Giftgas. Sie wurden auf ein besonderes Exekutionsfeld bei Konin im Distrikt Warschau gebracht, in luftdicht verschlossene Wagen gesteckt und binnen einer Viertelstunde in Leichen verwandelt. Man hat die eingehende Beschreibung des ganzen Vorganges, der Schreie und Gebete der Opfer und des gutmütigen Gelächters der SS-Hottentotten, die den Spaß zur Ausführung brachten.« Der Ausdruck »SS-Kaffern« ist in diesem Zusammenhang nicht nachweisbar. Von »blutige[n] Kaffern« spricht Thomas Mann allerdings einige Wochen später, in seiner Radio-Ansprache vom 24. Oktober 1941, mit Bezug auf Baidur von Schirach und dessen Rede auf dem nationalsozialistischen »Europäischen Jugend-Kongreß« in Wien (ebd., S. ro57).] ten einzeln wird bedacht, sondern jene Auswahl, die die toten Helden zum Vorbild für die Helden der Arbeit umstilisieren sollte. Wie Sabine Arnold nachgewiesen hat, wurde der Sieg von Stalingrad umfunktionalisiert in ein Fanal für den Produktionskampf, für jenen Kampf, der den friedlichen Prozeß des Kommunismus bis zum schließlichen Endsieg auszeichnen sollte.5 Der militärische Jargon wird übernommen, um aus dem heroischen Kampf der Soldaten einen heroischen Kampf der Arbeiter zur Steigerung ihrer Leistung zu machen, das heißt zur Übererfüllung der Normen. Das wird zur primären Botschaft, die in Stalingrad den Beteiligten und Nachlebenden angesonnen wurde - bis seit der Wende Zweifel laut werden durften, ob denn diese Botschaft eine sinnvolle sei, um sich der unzählbaren Toten der Schlacht zu erinnern (die natürlich immer auch betrauert wurden). Bisher wurden einige Bedeutungsstreifen aus dem komplexen Ereignis herausgeschnitten, das mit Stalingrad bezeichnet wird. In unserem Zusammenhang geht es nur darum, einige Folgerungen daraus abzuleiten, die mutatis mutandis auch anderen Ereigniszusammenhängen innewohnen mögen. »Sinn« in der Bedeutung einer erreichten Zweckerfüllung hatte diese Schlacht nur für die Russen: Sie war der erste große Schlag, um ihr Land von den deutschen Invasoren zu befreien. Das aber kann nicht der Sinn oder der Zweck der Schlacht für die Deutschen gewesen sein, der allenthalben der sekundäre Zweck einer militärischen Entlastungsoperation zugemutet werden darf. Sobald beide Kontrahenten zugleich befragt werden, entzieht sich die Schlacht einer gemeinsamen Antwort - es sei denn die eines makabren Massakers. Jede weitere Sinnstiftung, wie sie von jenen politischen Instanzen geliefert wurde, die ein Deutungsmonopol beanspruchten, verliert in Anbetracht der vielen Hunderttausende von Toten an Evidenz. Also Sinn in der Bedeutung einer Entelechie oder einer Teleologie ex post oder einer simplen erfüllten causa finalis - all diese Sinnstiftungen lassen sich für alle Beteiligten zusammen niemals aus dem Ereignis selbst ableiten. Und die Glaubwürdigkeit solcher Sinnstiftungen steht in einem umgekehrten Verhältnis zu der Absurdität, die dort, an der Wolga, zum Ereignis wurde. Die fünf 5 Sabine R. Arnold, Stalingrad im sowjetischen Gedächtnis, Wien 1997. l6 Theorieskizzen Jahrzehnte, die seit dem Ereignis ins Land gegangen sind, haben also nicht gereicht, um den fehlenden Sinn oder die Absurdität einzuholen, sei es, indem die Russen ihren Sieg umstilisiert und als erreichten Programmpunkt auf dem Weg zur Weltrevolution festgeschrieben haben, oder sei es, daß bei uns die Schlacht eine moralische Selbstkritik ausgelöst hat, die allemal zu spät kommt, um der vergangenen Sinnlosigkeit ex post einen Sinn abzugewinnen. Das ist die absurde Lage, in die wir durch die Rezeptionsgeschichte von Stalingrad geraten sind. Man kann also eine erste These aufstellen, daß die Geschichte, von der hier berichtet worden ist, in sich selber unvernünftig war, von taktischen und militärischen Rationalitätskriterien abgesehen, die ihre immer situative Evidenz behalten. Die Gesamtgeschichte bleibt unvernünftig. Vernünftig ist höchstens ihre Analyse. Das Absurde, das Aporetische, das Unlösbare, die Unsinnigkeiten und Widersinnigkeiten, die wir hier dem Schlachtkomplex ablesen, lassen sich zwar analytisch auf einen Begriff bringen, und sie lassen sich auch durch Erzählung in Anschauung überführen. Wir bedürfen sogar der Erzählung, um das Aporetische zu veranschaulichen, um es überhaupt einsichtig machen zu können, auch wenn es nicht rational verständlich oder begreiflich gemacht werden kann. Was begriffen wird, beruht nur auf der Analyse ex post. Insofern ergänzen Analyse und Erzählung einander, um unsere Urteilskraft zu schärfen, um überhaupt, in anderen Worten, mit der Sinnlosigkeit umgehen zu lernen. Welche allgemeineren Folgerungen lassen sich aus dieser vielschichtigen Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte der ehedem als einmalig erfahrenen Schlacht ableiten ? II Die Geschichten selber vollziehen sich immer nur im Medium der Wahrnehmung der Beteiligten. Die Vorstellungen der Handelnden von dem, was sie zu tun, und von dem, was sie zu lassen haben, sind die Elemente, aus denen sich, perspektivisch gebrochen, die Geschichten zusammenfügen. Vorstellungen, Willensbildungen, Wünsche, sprachlich und vorsprachlich generiert, das Fürwahrnehmen und das Fürwahrhalten gehen allesamt in die Situation Vom Sinn und Unsinn der Geschichte 17 ein, aus der sich Ereignisse herauskristallisieren. Was von den verschiedenen Agenten an einer Geschichte, so wie sie entsteht, für wirklich gehalten und so in actu vollzogen wird, konstituiert pluralistisch die kommende Geschichte. Es handelt sich also um eine gegenseitige Perspektivierung aller Beteiligten, der immer eine Selektion im Bewußtsein vorausging, um überhaupt wahrnehmen und handeln zu können. Während sich Ereignisse zusammenbrauen oder Geschehnisse sich schürzen, Konflikte sich aufstauen, die dann durchbrechen, gibt es keine gemeinsame Wirklichkeit, die von den verschiedenen Beteiligten auf dieselbe Art wahrgenommen werden könnte. Die Wahrnehmungsgeschichte ist immer pluralistisch gebrochen. So vollzieht sich >Geschichte<, indem Geschehnisse sich aufstufen zu dem, was später eine Geschichte genannt werden mag. Man kann sogar so weit gehen zu sagen, daß die Wirklichkeiten, wie sie wahrgenommen werden, im Hinblick auf das, was tatsächlich der Fall sein wird, immer schon verfehlte oder gar falsche Wirklichkeiten sind. Jene Wirklichkeiten, die man wahrnimmt, sind wegen ihrer perspektivischen Verkürzung nie so einlösbar, wie sie wahrgenommen wurden. Es handelt sich also, indem es zweitens anders kommt, als man erstens denkt (um Wilhelm Busch zu vereinfachen), immer schon um verfehlte Wirklichkeiten. Die Realität der Geschehnisse besteht in actu aus verfehlten Wirklichkeiten. Eine subjektivistische Extremthese, die aus diesem Befund abgeleitet werden könnte, läge darin, jede Geschichte in der Vielfalt ihrer Wahrnehmungen aufgehen zu lassen (ähnlich den Romanen von Faulkner). Die tatsächliche Geschichte wäre dann nur soweit tatsächlich, als sie jeweils für wahr genommen, für wahr gehalten und nur insoweit wahr gemacht worden ist. Eine weitere Konsequenz dieser subjektiven Wahrnehmungshypothese läge in Hayden Whites Theorie, daß sich die Realität in ihrer sprachlichen und kulturellen Aufbereitung erschöpft, so daß sie sich nur im Medium des sogenannten Diskurses literarisch fixieren und damit auch rhetorisch aufschlüsseln ließe. Dann erschöpfte sich die Wirklichkeit der Geschichte in der jeweils sprachlich vermittelten Sinnstiftung. Damit freilich würde verfehlt, was ehedem in der Pluralität der Ausgangslage enthalten war. Welche einst wahrgenommenen Wirklichkeiten, die eine spätere Realität l8 Theorieskizzen zu schaffen geholfen hatten, wurden verdrängt, vergessen oder verschwiegen? Welche Quellen gibt es noch, die jenseits der fortgeschrittenen Wahrnehmung immer noch greifbar sind und die vielleicht eine Kontrollinstanz dafür bieten, was eigentlich außerdem oder sonst noch der Fall gewesen sein mag? Der Rekurs auf die Vielfalt der Wahrnehmungsgeschichten, die eine Geschichte konstituieren, läßt füglich daran zweifeln, ob die Fortschreibung nur einer Variante den »Sinn« einer jeweiligen Geschichte einholen kann. Ihre Sinnlosigkeit vorauszusetzen ist deshalb bereits erkenntnistheoretisch eine bessere Basis, um mit dem umzugehen, was man gemeinhin Geschichte nennt. Aber was ist dann, um Ranke zu variieren, »eigentlich« der Fall gewesen? Offenbar nicht das, was die Summe der einzelnen Wahrnehmungsteilnehmer jeweils erfahren hat. Was in situ eigentlich der Fall war, entzieht sich demnach jeder Sinnfrage. Es handelt sich offenbar bei der sich ereignenden Geschichte um eine Wirklichkeit, die Kant als das Ding an sich umschrieben hätte und die mit Schopenhauer als Differenz von Wille und Vorstellung definiert werden könnte. Hinter oder vor oder zwischen den Wahrnehmungsebenen der Teilnehmer konstituiert sich das, was erst später, also ex post, als die eigentliche oder die wahre oder die wirkliche Geschichte definiert wird. Was tatsächlich der Fall war oder die sogenannte eigentliche Geschichte, über die man später spricht, ist also immer etwas anderes als die Summe der Aktionsmodalitäten im jeweiligen Erfahrungshaushalt der ehedem Beteiligten. Ferner muß bei der Rekonstruktion der sogenannten eigentlichen Geschichte berücksichtigt werden, was für die Agenten vorbewußt, unbewußt, unterbewußt war oder von ihnen gar nicht gewußt wurde - also all jene Faktoren sind zu eruieren, die einen Handlungsspielraum im vorhinein begrenzen oder bestimmen. Es handelt sich dabei um Bedingungen möglicher Handlungen, die wirksam werden, indem sie den Handelnden gerade nicht präsent sind. In actu können sie nie eingeholt oder eingelöst werden. Hinterher ist man freilich klüger als zuvor. Dieser Satz ist nur scheinbar banal, denn er stellt unser Sinndeutungspotential von vornherein in Frage. Hinterher weiß man mehr, als man vorher wissen konnte, und in diesem lebensweltlichen Befund liegt die naive Hypothese enthalten, die als knappste Form einer Erklärung allzugern bemüht Vom Sinn und Unsinn der Geschichte 19 wird: post hoc ergo propter hoc. Eine solche, dem Zeitablauf zugemutete kausale Erklärung bedient nur das Besserwissen, beantwortet aber nicht die Frage, was denn inmitten der Wahrnehmungsplu-ralitäten die eigentliche Geschichte gewesen sei. Was sich in Wahrheit abgespielt hat, kann erst gesagt werden, wenn alle Parteien, einschließlich der Toten, die zum Schweigen verurteilt sind, in ihrer Wechselseitigkeit zur Sprache kommen. Die juristische Regel audiatur et altera pars bleibt für jeden Historiker bis heute in Kraft. Die Wechselseitigkeit der einander verfehlenden Wahrnehmungen muß analysierbar sein, bevor ich überhaupt auf die sogenannte wirkliche oder eigentliche Geschichte eingehen kann. Die wirkliche Geschichte ist also immer zugleich mehr und weniger, als in der Summe der in sie eingegangenen Irrtümer, Wahrnehmungen oder Bewußtseinseinstellungen enthalten ist. Deshalb sei Theodor Lessing zitiert, jener von den Nazis verfolgte jüdische Philosoph, der, aus Hannover geflohen, 1933 in Marienbad ermordet worden ist. Jede Geschichte, die wir als eine tatsächlich abgelaufene analysieren, ist eine logificatio post festum.6 Das aber setzt denknotwendig voraus, daß jede Geschichte in ihrem Vollzug selbst sinnlos ist. Also die wirkliche Geschichte, so lautet die Ironie oder das Paradox dieser Überlegung, zeigt sich in ihrer Wahrheit erst, wenn sie vorbei ist. Anders formuliert, die Wahrheit einer Geschichte ist immer eine Wahrheit ex post. Sie wird überhaupt erst gegenwärtig, wenn sie nicht mehr existent ist. Die Vergangenheit muß also für uns erst vergangen sein, bevor sie ihre » historische Wahrheit zu erkennen geben kann. Anthropologisch gesehen handelt es sich um eine Transposition ehedem primärer Erfahrungen aller Beteiligten in eine sekundäre Wissenschaft, die die zunächst primären Erfahrungen und deren Quellen analysieren muß, um daraus ein Drittes abzuleiten: nämlich Erklärungsmodelle, die die komplexen Strukturen einer vergangenen Geschichte überhaupt erkennbar machen sollen. Auch ein solcher Forschungsakt liegt noch allen Sinnstiftungen voraus, die etwa -vergeblich - in Kausalitäten gesucht werden, welche erklären sollen, warum etwas so und nicht anders gelaufen ist. Wir müssen also mit dem Paradox umzugehen lernen, daß eine 6 [Vgl. Theodor Lessing, Geschiebte als Sinngebung des Sinnlosen (1919), München 1983, S. 56-63 (»Über logificatio post festum«).] 20 Theorieskizzen Vom Sinn und Unsinn der Geschichte 21 Geschichte, die sich im Verlauf der Zeit erst generiert, immer noch eine andere ist als jene, die rückwirkend zu einer »Geschichte« erklärt wird. Hinzu kommt, daß diese Differenz immer wieder aufbricht. Denn jede einmal wissenschaftlich rekonstruierte Geschichte bleibt ein Vorgriff auf Unvollkommenheit, weil die wirkliche Geschichte weitergeht. Die Differenz zwischen jener Geschichte, die sich in Wirklichkeit von Situation zu Situation ständig ändert, und jener Geschichte, die wissenschaftlich vorübergehend fest- oder stillgelegt wird, enthält also eine unlösbare Paradoxie. Denn die Differenz zwischen der wirklichen und der gedeuteten Geschichte reproduziert sich ständig aufs neue. Unser Paradox enthält noch eine weitere Frage, der wir uns zuwenden müssen. Denn die Selektionskriterien, kraft deren ein sich vollziehendes Geschehen wahrgenommen wird, entstammen - gegenwartsgeschichtlich - demselben Erfahrungshaushalt, der auch in den wissenschaftlichen Argumentationszusammenhang eingeht. Also jene Vorurteile, die das Geschehen mitkonstituieren halfen, kommen nicht umhin, auch für die Analyse relevant zu werden. Es sind die erkenntnisleitenden Interessen, die ihre eigenen erkenntnisverhindernden Interessen mitproduzieren. Einwände werden ins Unbewußte abgedrängt, um nicht als Argument oder als Fragestellung auftauchen zu dürfen. In anderen Worten, die alltäglichen, lebensweltlichen Wahrnehmungsweisen, die ständig in die Konstitution der wirklichen Geschichten eingehen, ermöglichen und begrenzen zugleich die Genese der rückwirkend entworfenen wissenschaftlichen Geschichte. Die Differenz zwischen den Wahrnehmungsmustern im Vollzug des Handelns und den Erklärungskategorien, die das Handeln ex post analysieren, erzwingt also schleichende und gleitende Verschiebungen, die methodisch nur schwer zu beherrschen sind. Freilich sind derlei methodische Schwierigkeiten erst neueren Datums. Seit wann ist das Paradox aufgebrochen, daß eine wissenschaftliche Geschichte theoretisch anders strukturiert sein müßte als die der unmittelbaren Erfahrungen, obwohl sie doch lebensweltlich immer zusammenhängen? Wenn ich recht sehe, brach diese Spannung wissenschaftsgeschichtlich erst seit der transzen-• dentalen Wende auf, die die Geschichte auf ihren neuzeitlichen Begriff gebracht hat. Die »Geschichte selbst« ist ein moderner Ausdruck, den es vor etwa 1780 noch nicht gab. Früher gab es die Historie, es gab das historein auf der einen Seite, und es gab auf der anderen Seite die res gestae, die pragmata, die Geschehnisse, die Taten und die Leiden der Beteiligten und Betroffenen. Diese Opposition hielt sich terminologisch durch von der vorchristlichen in die christliche Welt, bis sie seit der Aufklärung, vorzüglich im deutschen Sprachbereich, unterlaufen wurde. Die Transformation dieser Opposition sei kurz erläutert. Seit Herodot meint historein Erkunden, Erfragen, Erforschen und Erzählen, also das, was im Deutschen mit »erfahren«, »Erfahrung« und »Erfahrung mitteilen« gemeint wurde. Jemand sammelt Erfahrung, indem er Schritt für Schritt, gleichsam methodisch, vorgeht, erkundet und erforscht und dann das Erfahrene mitteilt oder erzählt. So war der deutsche Erfahrungsbegriff, wie der analoge griechische Begriff ebenfalls, primär ein aktiver Handlungsbegriff, wie er noch von Kant bedacht worden war. Erst seit rund 1800 drängt sich der mehr rezeptive, ein passiver Erfahrungsbegriff hoch, der darauf verweist, was als Erfahrung hinzunehmen sei, weil es über mich gekommen ist. Seitdem gewinnen die res gestae, die pragmata, also der Bereich der Taten und des Handelns, die Macht einer größeren Eigenständigkeit, auf die die Erfahrung nur noch reagiert. Die »Geschichte, an und für sich« oder die »Geschichte selbst« wird denkbar: Sie liegt dann, als übermächtig erfahren, aller Erfahrung voraus. Sie wird zum »Schicksal«. Geschichte, ehedem der Bereich menschlichen Handelns, Tuns und Leidens, wird überhöht zu einer Macht, die sich gleich Gott notwendig und gerecht vollzieht. Die Geschichte gerinnt damit zu einem Kollektivsingular, der alle Einzelgeschichten in sich verschluckt. Vor 1780 gab es nur Geschichten von etwas, also eine Geschichte Frankreichs oder des Papsttums oder sonstiger Handlungseinheiten. Jede Geschichte hatte ihre Subjekte, die deshalb zu den Objekten erzählender Historiker werden konnten. Diese Geschichten, die immer noch den Unterschied zwischen Tun und Handeln und den Erzählungen darüber voraussetzten, verschwinden in dem Augenblick, wo jene übermächtige »Geschichte an und für sich« gedacht wird. Daß Geschichte zugleich ihr eigenes Subjekt und ihr eigenes Objekt sei, ist eine theoretische Zumutung, die erst in der deutschen Sprache auf ihren Begriff 22 Theorieskizzen Vom Sinn und Unsinn der Geschichte gebracht worden ist. Semantisch ist damit der Quellgrund jenes transzendentalen Idealismus umrissen, der die Realität zugleich als das Bewußtsein ihrer selbst setzte. Und hierin liegt exakt die zweite Bedeutung des neuen Kollektivsingulars »Geschichte«: Der neuzeitliche Geschichtsbegriff saugt nämlich die Historie in sich auf. Was bisher als Erfahrung, als Erkundung, Erforschung und Erzählung der Wirklichkeit gesondert gedacht werden konnte, verschwindet jetzt im Begriff der Geschichte, die ehedem nur den Ereigniszusammenhang, aber nicht seine Deutung meinte. Die erzählte Historie geht in der sogenannten wirklichen Geschichte auf - und umgekehrt. Erzählung und Wissenschaft von der Geschichte lassen sich seitdem von der tatsächlichen Geschichte begrifflich nicht mehr trennen. Reflexion und Wirklichkeit werden im Ausdruck »Geschichte« auf einen gemeinsamen Nenner gebracht. Geschichte wird seitdem, anders formuliert, geschichtsphilosophisch verfremdet. Daraus ergeben sich wissenschaftstheoretisch Zweideutigkeiten und Unbestimmtheiten, die politisch zahlreichen Ideologien zum Durchbruch verholfen haben. Die westlichen Sprachen sind hier weniger anfällig geblieben, weil »histoire« oder »history« im-i mer noch primär aus der rhetorischen Tradition der erzählten Geschichten heraus bedacht wurden. Freilich gewinnt auch in den westlichen Nachbarsprachen die Historie jenen übermächtigen Zwang zum »Sinn«, den die deutsche »Geschichte an und für sich« ausübt. Wenn Napoleon glaubte, er sei vor der »histoire« verantwortlich, dann meinte er nicht nur das übliche Urteil einer künftig zu schreibenden Historie, die von seinen Taten berichten wird, sondern auch jene Macht, die an die Stelle Gottes getreten ist, also jene »histoire« (= Geschichte), die als allmächtig, allgerecht und allweise begriffen wurde und vor der man sich als Mensch, speziell als Fürst, zu verantworten habe. Es sind diese geschichts-. philosophischen Konnotationen, die im vormodernen Begriff der Historia noch nicht enthalten waren und die erst durch den neuzeitlichen Geschichtsbegriff in unser Begriffsvermögen eingeflutet sind, ohne theoretisch durchdacht oder wissenschaftlich kanalisiert zu werden. »Die Weltgeschichte ist das Weltgericht.«7 7 [Friedrich Schiller, »Resignation« (1786), in: ders., Werke (Nationalausgabe), Bd. 1: Gedichte iyj6-ij<)0, Weimar 1943, S. 168. Zur Interpretation des Verses III Wilhelm von Humboldt hat die transzendentale Wende, die der Kollektivsingular des Geschichtsbegriffs signalisiert, scharfsinnig analysiert.8 Er zeigt auf, daß mit der Verabschiedung der alten Historie ein moderner Reflexionsbegriff entwickelt worden ist. Die zeitgleiche Reflexion auf die entstehende Geschichte fordert mit zunehmendem Abstand heraus, die alten Historien immer mitzu-bedenken. Für ihn sind die Bedingungen der wirklichen Geschichte dieselben wie die ihrer Erkenntnis. Die eingangs entwickelte Differenzbestimmung zwischen der sich generierenden Geschichte in actu und der Reflexion ex post ist also von Humboldt auf gemeinsame Erfahrungssätze zurückgeführt worden, die sowohl die Ereignisse wie auch die Erzählung und die Wissenschaft von diesen Ereignissen begründen. Ihre Vermittlung ist eine sprachliche Leistung. Daß also Geschichte als Subjekt ihrer selbst gedacht werden muß wie auch als Objekt der Erzählung und der Wissenschaft, diese theoretisch beibehaltene Differenz wird von Humboldt auf den gemeinsamen Grund einer nur sprachlich zu artikulierenden Erfahrung zurückgeführt. Damit kann dieselbe Geschichte sowohl als Subjekt wie als Objekt gedacht werden, sie kann sowohl handelnd und tätig entfaltet werden, wie sie auch erfahren und erlitten werden muß. Der Mensch kann sie sowohl als übermächtiges Subjekt begreifen, dem er sich ausgeliefert sieht, wie auch als Objekt seiner eigenen Tätigkeit - im Tun und im Durchdenken. Erst in der sprachlichen Reflexion, also auch ästhetisch bedingt und begründet, lassen sich die verschiedenen Erfahrungsschichten zusammenführen. Freilich erweist sich das folgende Zeitalter, das den sogenannten Historismus hervorgebracht hat, als äußerst anfällig gegen geschichtsphilosophische und metaphysische Einbrüche, die alle geschichtlichen Erfahrungen im voraus sortiert und hinterher im- und seiner Rezeptionsgeschichte vgl. Reinhart Koselleck, »Geschichte, Recht und Gerechtigkeit«, in: ders., Zeitschiebten, Frankfurt am Main 2000, S. 345 f.] 8 [Vgl. Wilhelm von Humboldt, »Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers« (1821), in: ders., Werke in fünf Bänden, hg. v. Andreas Flitner und Klaus Giel, Bd. I: Schriften zur Anthropologie und Geschichte, Darmstadt i960, S. 5 8 5 - 606.] 24 Theorieskizzen prägniert haben. Unter der Vorgabe teleologischer Sinnstiftungen und im Glauben an geschichtliche Notwendigkeiten verschafften sich zahlreiche Parteien, Klassen oder Staaten ein gutes Gewissen, das zugleich, je nach erkenntnisleitendem Interesse, historiogra-phisch abgesegnet wurde. Die Differenzen zwischen subjektiven Wahrnehmungen, objektivem Fürwahrhalten und dem, was jeweils tatsächlich der Fall sein würde, wurden voluntaristisch unterlaufen. Die Vielfalt der konkurrierenden Sinnvorgaben, die sich gegenseitig ausschließen (und die auf eine gemeinsame Sinnlosigkeit zurückverweisen), wurde selektiv zugunsten der je eigenen Interessen vereinnahmt, vereindeutigt und damit absolut gesetzt. Klassen, Staaten und Nationen wurden, wie ehedem Fürsten oder Heilige, gern als vorgegebene Letztinstanzen eingesetzt und hingenommen. Und alle diese Handlungseinheiten - die unter anderen theoretischen Prämissen als Kulissen oder Epiphä-nomene gedeutet werden mochten - zehrten davon, daß der jeweils eingespeiste Sinn der Geschichte nur zu ihren Gunsten spräche. Es war der junge Nietzsche, der als erster eine argumentative Front aufbaute, die sich gegen alle Sinnstiftungen richtete, die der Geschichte als solcher zugemutet wurden. Freilich ist auch Nietzsche nicht den Fallstricken entgangen, die sich aus der Mehrdeutig- 1 keit unseres Geschichtsbegriffes ergeben harten. Aber als er 1873 seine Schrift Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben formulierte, war es schon fast eine Provokation, daß er den Begriff der Historie, wie er sich aus der klassischen rhetorisch-philologischen Traditionslinie ergeben hatte, wieder aufwertete. Er sprach ■> nämlich primär von der Historie und fast nur beiläufig von der Geschichte. Die Historie freilich entkleidete er ihres alten Anspruches, Lehrmeisterin des Lebens zu sein. Vielmehr kehrte er den Topos »Historia magistra vitae« um und erklärte die Historie kurzerhand zur ancilla vitae. Damit wurde die Historie zu einem fachimmanenten Vehikel ihrer eigenen Ideologiekritik - ein non plus ultra der Moderne, das selbst postmodernistisch nicht überboten werden kann. Im Hinblick auf den Begriff des Lebens, in dessen Dienst er die Historie stellte, zeigte sich freilich, daß das spontan Vitale, das Unhistorische und das Überhistorische von gleicher, wenn nicht gar von größerer Lebenskraft seien als die übliche Historie. Implizit Vom Sinn und Unsinn der Geschichte 25 verabschiedete Nietzsche mit seiner Ideologiekritik am Begriff der Historie vier geschichtsphilosophische Axiome, die den bisher neuzeitlichen Geschichtsbegriff begründet zu haben schienen. Zunächst wird j ede Teleologie der Gesamtgeschichte geleugnet. ' Es gibt keine causa finalis, kein telos, das aus der sogenannten Geschichte schlechthin ableitbar wäre. Und Nietzsche entlarvte den Kurzschluß, wenn mit der Verabschiedung Gottes als des Herren der Geschichte seine, die göttlichen Epitheta auf die damit freigesetzte »Geschichte selber« übertragen worden sind, nämlich allmächtig, allgerecht, allweise, also zweck- und sinnvoll zu sein. Das Leben kennt dagegen viele Ziele, denen zu dienen dazu auffordert, sich direkt und unmittelbar, das heißt unhistorisch oder überhistorisch zu verhalten - während die normale Historie nur als Verstärker verschieden vorgelagerter Bedürfnisse auftreten könne. Damit fällt auch ein zweites Axiom, gegen das Nietzsche in seiner Kampfschrift aufbegehrt: die These von der sogenannten Not- " wendigkeit. Sowenig die Teleologie als projektive Zwecksetzung der gesamten Geschichte einen Sinn zu verleihen vermag, den einzulösen die Menschen beauftragt seien, sowenig läßt Nietzsche rückwirkend eine causa efficiens zu. Denn wenn ich rückblickend der Geschichte eine kausal bedingte Zwangsläufigkeit unterstelle, dann sage ich nicht mehr über die Vergangenheit aus, als daß sie sich nun einmal so eingestellt hat, wie sie sich eingestellt hat. Das Zusatzkriterium des notwendigen Müssens verdoppelt nur die Feststellung desselben Sachverhalts. Der Geschichte eine Zwangsläufigkeit zu unterstellen bedeutet nichts anderes, als sich ihr zu unterwerfen, sich ihr zu fügen, um eine vermeintliche Notwendigkeit zu befördern. Die unterstellte Notwendigkeit injiziert der Geschichte einen Sinn, der die Menschen entmündigt. Nietzsche dagegen fordert eine Freiheit, die aus jeder Situation, möglichst aus einem kairos heraus, einen Neubeginn evoziert. Dann verwandeln sich die Notwendigkeiten oder die sogenannten Sach-zwänge in Grenzbestimmungen, die das Handeln sowohl einschränken wie freigeben. Hier rückt Nietzsche in eine gewisse Nähe zu Marx. Denn die Handlungsbedingungen, die wir vorfinden, sind immer noch solche, die wir als Menschen selbst produziert haben. So verabschiedete Nietzsche neben der Teleologie auch die kau- 26 Theorieskizzen Vom Sinn und Unsinn der Geschichte sale Notwendigkeit - hier freilich implizit gegen Marx - als eine geschichtsphilosophische Überdetermination dessen, was sowieso geschehen ist. Denn ein Ereignis, das einmal eingetreten ist, ist nicht deshalb mehr eingetreten, weil es eintreten mußte. Nietzsche kritisiert noch ein weiteres Sinnstiftungsargument, nämlich die sogenannte Gerechtigkeit, mit der die Geschichte ' überfrachtet wird. Er spart nicht mit Spott über jene Historiker, die den Ereignissequenzen ex post eine Gerechtigkeit aufbürden und uns damit zumuten, ihren eigenen Interessen eine sieghafte Unterstützung zu liefern. - Nicht, daß Nietzsche das Kriterium der Gerechtigkeit, oder anders gewendet, eine moralische oder rechtliche Urteilsbildung zu verhindern suchte. Aber wenn schon das Kriterium einer zu vollstreckenden Gerechtigkeit auf die einmal abrollende Geschichte angewendet werde, dann stelle sich heraus, daß diese die Vermutung ihrer prinzipiellen Ungerechtigkeit für sich habe. Jede Erfahrung spricht dafür, daß die Geschichte Ungerechtigkeiten eher perpetuiert, woraus Nietzsche folgert, daß im Namen der Gerechtigkeit dem entgegenzusteuern Aufgabe nur besonders engagierter Menschen sein könne: Aufgabe der überhistorisch denkenden Menschen, gleichsam Vorläufer jenes Übermenschen, den er später konzipiert hat. So wie der unhistorische, dem Tier nahe Mensch eine Variante des Unmenschen wird, so soll der überhistorisch wirkende Mensch versuchen, jene Gerechtigkeit in der Geschichte zu vollstrecken, die dem historischen, sozusagen dem normalen Menschen einzulösen verwehrt bleibt. Dann freilich stellt sich heraus, daß dieser starke Mensch oder große Politiker Milde walten, Großherzigkeit ausüben und Liebe wirken lassen müsse, wenn er denn gerecht sein wolle. So taucht plötzlich der traditionelle Tugendkatalog der Fürsten auf, wenn schon unter den üblichen geschichtlichen Bedingungen versuchsweise Gerechtigkeit vollstreckt werden soll. Aber für Nietzsche öffnet sich hier ein Abgrund, der erste Schritt in eine Tragik hinein, die es in der Neuzeit verbietet, daß sich die Erinnyen in Eumeniden verwandeln. Eine so verschlüsselte Gnadenbotschaft kann Nietzsche nicht mehr aufspüren: Wer heute Liebe, Großzügigkeit und Milde zu verwirklichen suche, der werde in die Sinnlosigkeit des Scheiterns verstrickt. Selbst moralisch geforderte Sinnvorgaben gerechten Handelns haben also die Vermutung für sich, in der Absurdität zu enden. Nietzsche entlastet so den Geschichtsbegriff von allen modernen Sinnzumutungen, um ihn durch einen sinnfreien Lebensbegriff zu ersetzen, in dessen Dienst er die Historie stellte. Aber Nietzsche wird darüber nicht zum Biologisten. Sein vierter Kritikpunkt an geschichtlichen Sinnstiftungen richtet sich nämlich gegen die Altersmetaphorik. Nietzsche vermeidet jede Alters- * metaphorik für Völker oder Epochen, um den darin enthaltenen Ablaufzwängen zu entgehen. Es gehörte zur Topologie der auf die Geschichte angewandten Lebensalter, daß die Definierenden sich gerne die Jugend zueignen, um den anderen oder dem Feind die Zwangsläufigkeit des früheren Alterns und damit die vorzeitige Gewißheit des Todes zuzuschieben. So sind alle Altersbestimmungen ideologisch besetzbar und je nach Perspektive austauschbar. Fontenelle hatte als erster versucht, die Geschichte der Menschheit aus der Altersmetaphorik auszuklinken.9 Sei erst einmal ein gewisser Grad der Reife und der Vernunft erreicht, vollzöge sich die Geschichte gleichsam unabhängig von den bisherigen Altersstufen. Er optierte damit für eine sich selbst bestimmende und fortzeugende Vernunft, die alle früheren Entwicklungsstufen hinter sich lasse - rein semantisch ein Vorläufer von Hegel. Daran gemessen war selbst Nietzsche inkonsequent, denn er nutzte gleichwohl die Altersmetaphorik: zugunsten jener Jugend, die er mit Hilfe der Kritik an der Historie zum Aufbruch in die überhistorische Selbständigkeit und Unabhängigkeit ermuntern wollte. Freilich tat dies Nietzsche, indem er auf jede biologistische Umdeutung der Universalgeschichte in Richtung einer Dekadenz oder Reifung verzichtete. Überhaupt trachtete er den Lebensbegriff, der den Begriff der Geschichte überwölbte, eher repetitiv als linear und diachron zu verwenden. Jederzeit kann neu begonnen werden. Aber auch Nietzsche entläßt uns nicht aus der Paradoxie, in die auch er durch den doppeldeutigen Geschichtsbegriff verstrickt wurde. Indem er die Historie in den Dienst des Lebens stellte -historia ancilla vitae statt historia magistra vitae -, entlastete er zwar den Superbegriff der Geschichte von seinen Sinnzumutun- 9 [Vgl. Bernard de Fontenelle, Digression sur les anciens et les modernes (1688), in: (Euvres de Fontenelle, hg. v. Georg-Bernhard Depping, Bd. 2 (Paris 1818), Nachdruck Genf 1968,5.362. ff.] 2,8 Theorieskizzen gen, und er sparte nicht mir sarkastischer Kritik an jenen Sinn-stiftungsideologemen, die er als Selbstbetrug und Vorbote kommender Katastrophen zu lesen wußte. Aber nachdem einmal die Historie zur Magd des Lebens degradiert worden ist, tauchen alle Probleme, von denen Nietzsche die Geschichte entlastet hatte, durch die Hintertür wieder auf. Denn auch der Lebensbegriff evoziert Zweckfragen und damit Sinnfragen, sobald er auf die Tätigkeitsfelder menschlicher Handlungen angewendet wird. Mag dem außermenschlichen Leben, dem tierischen voran, eine Unschuldsgarantie für Sinnfreiheit ausgestellt werden, so reproduzieren sich doch unsere Paradoxien, sobald der Lebensbegriff den der menschlichen Geschichten in sich aufnimmt. Die Ambiguität der transzendentalen Doppelung von Geschichte als Tun und Handeln und von derselben Geschichte als Wahrnehmung und Erkenntnis hat auch Nietzsches Lebensbegriff nicht auflösen können. Was Nietzsche wirklich geleistet hat, liegt in der erkenntnistheoretisch begründbaren Freilegung jenes pluralistischen Handlungsfeldes, das nur frei von Sinnvorgaben und Sinnstiftungen analysierbar ist. Das Bedürfnis nach Sinn ist keine Garantie dafür, daß das, was mit uns und durch uns geschieht, in sich selber sinnvoll sei. Jede historische Aussage bleibt geschichtsphilosophisch verformt, solange ihre Begründung unbemerkt aus der Metaphysik, Religion oder Theologie entnommen wird. Im Bereich dessen, was die empirische Wissenschaft innerhalb ihrer eigenen Theorien aufweisen kann, bleibt jede Sinnstiftung parteiisch und immer eine Zuweisung ex post. Daraus folgt, daß Sinn für den einen nicht derselbe Sinn sein kann wie für den anderen, solange die Menschen noch handeln - unbeschadet konvergierender oder gemeinsamer Interessen oder Absichten. Geschichte setzt sich aus Vielsinnigkeit zusammen. Es gibt keine »Geschichte an und für sich«, und es gibt keine »Geschichte schlechthin«. Diese Konstruktion selber ist eine Leimrute, der wir sprachlich aufsitzen und auf der wir klebenbleiben, solange wir unseren selbstevozierten Sinn auch allen anderen unterstellen müssen. Dies freilich heißt nicht, um Nietzsche noch einmal aufzunehmen, daß moralische Kategorien nicht genutzt werden dürften, die die Sinnfrage beschwören. Aber zu behaupten, daß die Geschichte von sich aus ein Exekutor der Moral sei, bleibt die große Illusion, die - wie Karl Vom Sinn und Unsinn der Geschichte 2,9 Löwith gezeigt hat - vom christlichen Heilsgeschehen in die moderne Geschichtsphilosophie eingespeist wurde.10 Es sei zum Schluß an das Beispiel erinnert, das Paul Ricoeur beschworen hat: die deutsch-französische Verständigung.11 Wenn Mitterrand und Kohl in Verdun einander die Hände hielten, so kann dies unmöglich der Zweck oder Sinn des Massenschlachtens von 1916 gewesen sein. Daß Hunderttausende von Menschen sich haben gegenseitig umbringen sollen, um eine Verständigung auf dem blutdurchtränkten Boden des Massenmordes zu ermöglichen, heißt nichts anderes, als Ereigniszusammenhänge, die schon für alle Beteiligten zunehmend sinnlos wurden, hinterher mit teleologischen Sinnzumutungen zu überformen. Die in sich selbst sinnvolle deutsch-französische Verständigung ist aus dem damaligen Schlachten weder als geschichtlich notwendige Folge noch als dessen moralischer Sinn abzuleiten. Die Geschichte leistet keine Beihilfe zu psychologischen Plausibilitäten, es sei denn, sie wird - und das ist Nietzsches unauflösbarer Widerspruch - instrumentalisiert. Die Historie, erst einmal im Dienst des sogenannten Lebens funk-tionalisiert oder gar versklavt, verliert jede Eigenständigkeit und wissenschaftliche Beweiskraft. Dann kann sie auch als Sinnverstärker bezahlt und politisiert werden. Mit Kant ließ sich eine Teleologie ex post noch hypothetisch begründen. Die Geschichte verhielte sich dann so, als ob sie geheime Absichten der Natur erfülle,12 so daß der blutige Streit der Deutschen und Franzosen dazu diente, um später auf Dauer Frieden - den »ewigen Frieden« - schließen zu können. Was bei Kant noch hypothetisch und argumentativ durchgespielt wurde, gerann für Hegels »List der Vernunft« zu einer Sachaussage: Es ist die Vernunft der Geschichte, die alle einzelmenschlichen Fähigkeiten und Taten steuert und übertrifft.13 Danach ließe sich schlicht- 10 [Vgl. Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart 19 5 3.] 11 [Vgl. Paul Ricoeur, Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern - Vergessen - Verzeihen, Göttingen 1998.] 12 [Vgl. Immanuel Kant, »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht« (1784), in: ders., Werkausgabe, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 11: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, Frankfurt am Main 1968, S. 33-50.] 13 [Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschickte,in: dets., 3° Theorieskizzen Vom Sinn und Unsinn der Geschichte 31 weg behaupten, Sinn und Zweck von Verdun sei gewesen, die Deutschen und Franzosen zur Verständigung zu nötigen. Das absurde Massenschlachten von Hunderttausenden auf wenigen Quadratkilometern und in wenigen Wochen auf diese Weise in Sinnhaftig-keit zu überführen hieße wahrlich, das Absurde selbst als sinnvoll zu deklarieren. Das freilich übersteigt die Erfahrungsfähigkeit unserer Generation. Nachdem die Absurdität zum Ereignis geworden war, sollte sie nicht auch noch mit Sinnzumutungen Absolution erhalten. Die Beschwörung, die sich auf Kriegerdenkmälern wiederholt, daß die Gefallenen nicht umsonst gefallen sein mögen, meinte noch einen anderen Tod als den, den wir heute betrauern müssen. Dazu eine letzte Anmerkung. Die Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich war leichter zu erreichen, weil beide Länder mit gleichen Waffen gekämpft hatten. Die gegenseitigen Massenmorde wurden nach dem Prinzip des do ut des vollstreckt. Das Geben und Nehmen beruhte auf Gegenseitigkeit, auch wenn kein Todesfall eine ausgleichende Gerechtigkeit erkennen ließ. Ein solches Verhältnis gilt nun grundsätzlich nicht mehr für die Deutschen und die Juden. Denn wo die Massenexekutionen und Massenvernichtungen unschuldiger Zivilisten ganze Völker oder Völkerteile eliminiert haben, zeigt sich keine Gleichheit jener Gegenseitigkeit, wie sie allem Massenschlachten zum Trotz im Ersten Weltkrieg zwischen Deutschland und Frankreich (beziehungsweise dem britischen Empire, Rußland, den USA) noch bestanden hatte. Vollends absurd wäre es, Auschwitz als sinnvoll zu deuten, weil es die Gründung von Israel vorangetrieben habe, was der Ankläger von Eichmann zu unterstellen geneigt war.14 Die Beschleunigung der Gründung Israels als ein Sinnargument für Auschwitz zu verwenden wäre die verbriefte Absurdität schlechthin, hieße, die Absurdität selber wirksam festzuschreiben. Die Unkosten, die uns die »Geschichte schlechthin« mit ihren Sinnzumutungen auferlegt, sind zu hoch, als daß wir sie uns heu- Werke in zwanzig Bänden, hg. v. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. iz, Frankfurt am Main 1970, S. 49.] 14 [Vgl. hierzu Shabtai Rosenne (Hg.), 6,000,000 Accusers. Israel's Case Against Eichmann. The Opening Speech and Legal Argument ofMr. Gideon Hausner, Attorney-General, Jerusalem 1961, S. 27-175.] te, wenn wir handeln, noch zumuten dürften. Verweisen wir ihre Sinnzumutungen dorthin, wo sie herkommen: in den Bannkreis der - schwer zu ertragenden - Sinnlosigkeit. Statt dessen sollten wir zurückstecken und versuchen, das zu tun, was wir selbst sinnvoll ermöglichen können. Und wenn die Ergebnisse, aus dem Widerstreit der Handelnden und Parteien heraus, nicht dem entsprechen, was der eine oder der andere gewollt und erwartet hat, so sollten diese Ergebnisse nicht mit dem Sinn einer sich selbst vollziehenden Geschichte belastet werden. Das hieße, die Menschen um die Verantwortung gegenüber sich selbst und ihresgleichen zu betrügen, eine Verantwortung, der sie sowieso nicht entrinnen können. Die Geschichte ist weder ein Gericht noch ein Alibi. Wozu noch Historie ? 33 Wozu noch Historie ? Werner Conze zum 31. Dezember 1970 Die Frage wird gestellt, wozu wir überhaupt noch Historie treiben. Das Mißbehagen über die Langeweile des Geschichtsunterrichts an den Schulen, über den Lehrbetrieb an den Universitäten, über die mangelhafte Rückbindung der Forschung in die gesellschaftliche Öffentlichkeit - dies Mißbehagen ist unverkennbar und veranlaßt unsere Frage: Wozu noch Historie? Mit dieser Frage hat sich offenbar die Krise des Historismus, die Heussi nach dem Ersten Weltkrieg registriert hat,1 verschärft. Es scheint sich nunmehr, nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht nur um eine Krise der historischen Weltanschauung, eines sich ins Unendliche reproduzierenden Relativismus, zu handeln: Offenbar handelt es sich um eine Krise der Historie als eines strengen Forschungszweiges. Unsere Wissenschaft als solche wird in Frage gestellt. Offensichtlich hängt die Krise der Historie von der Krise des Historismus so sehr ab, wie die Geschichtswissenschaft im Historismus gründet. Vielleicht ist diese Frage auch hervorgerufen worden von jener uneinlösbaren Forderung, daß die >Geschichte< die Vergangenheit, unsere Vergangenheit, zu bewältigen habe. Denn damit sind wir überfordert: Die Vergangenheit ist vergangen und als Vergangenheit nicht mehr zu bewältigen - höchstens in unkritischer Weise zu vergewaltigen. Die Doppeldeutigkeit von >Vergangen-heit<, auch Gegenwart zu sein, wird verkannt, wenn man glaubt, die Vergangenheit aufarbeiten zu können. Anscheinend wird uns Historikern immer noch die Geschichte als Weltgericht zugemutet. Gleichwohl enthält jenes Postulat eine berechtigte Herausforderung, daß nämlich die Historie als Wissenschaft die Vergangenheit kritisch so zu sichten habe, daß wir für die Praxis heute und morgen eine schärfere Erkenntnis der Handlungsbedingungen gewinnen mögen. Mit anderen Worten, die Frage Nietzsches nach Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben wird aufs neue aufgerollt. Das jedenfalls scheint mir der Sinn jener emphatisch i [Karl Heussi, Die Krisis des Historismus, Tübingen 1932.] formulierten Frage - wozu noch Historie - auch heute noch zu sein. Bevor wir uns auf eine Antwort einlassen, möchte ich auf die wissenschaftsgeschichtliche Lage der Historie im Zusammenhang der Geistes- und Sozialwissenschaften verweisen. Der Befund ist allgemein bekannt. Seit dem Ersten Weltkrieg sind die Geistesund Sozialwissenschaften dem Prozeß einer rapide um sich greifenden Enthistorisierung erlegen. Das einigende Band um die alte, bald ehemalige philosophische Fakultät war das historische Selbst-und Weltverständnis gewesen. Alle Fächer wurden im Medium des historischen Bewußtseins behandelt. Der alte Topos vom ewigen Wandel wurde seit rund 1800 auf die Einmaligkeit des jeweiligen Wandels eingeengt; die anhaltende Veränderlichkeit wurde -oft stillschweigend - unter regulative Prinzipien wie die des Werdens, der Entwicklung oder des Fortschritts gestellt; Kausalerklärungen innerhalb der Zeitabfolge wurden genetisch kondensiert; schließlich wucherten biologische Naturalismen, ohne daß ihre metaphorische Bedeutung für den Bereich speziell historischer Fragestellungen hinreichend aufgeschlüsselt worden wäre. Allen Bewegungen wurden Substanzen oder Werte zugeordnet, die selber relativiert, aber nicht hinterfragbar schienen. Die Frage nach der Wahrheit wurde allenthalben historisch vermittelt. Inzwischen sind die Einzelfächer aus diesem Historismus der philosophischen Fakultät sukzessive ausgeschert. Die Nationalökonomie hat ihre historische Schule fast vergessen und entdeckt sie nur unter neuen theoretischen Prämissen im Bereich der Ökonometrie wieder. Die Philologien entfernen sich zunehmend von genetischen Fragestellungen, und ebenso versteht sich die Literaturgeschichte immer weniger als Geistesgeschichte; über die Formengeschichte und über strukturwissenschaftliche Fragen stößt man vor zu einer allgemeinen Sprachwissenschaft, hinter deren Algebra die Historie verblaßt. Ebenso ist die Kunstgeschichte in Anbetracht der modernen Kunst genötigt, eine Theorie der Kunst zu entwickeln, um sich überhaupt noch als Wissenschaft ausweisen zu können. Auch der Methodenstreit unter den Soziologen lebt auf einer Seite von einem antihistorischen Vorbehalt, der eine entsprechende purifizierte Wissenschaftlichkeit abstützen soll. Schließlich hat die Philosophie selber das seit Hegel aufge- 34 Theorieskizzen Wozu noch Historie ? 35 richtete ehrwürdige Gebäude der Philosophiegeschichte weitgehend verlassen. Als Hermeneutik entfaltet sie ein metahistorisches Selbstverständnis; viele Fragen wenden sich sprachanalytischen Aufgaben zu, die ahistorisch behandelt werden und die manche Berührungspunkte zur Hermeneutik aufweisen. Wir registrieren also einen Vorgang, der unsere Zunft isoliert hat. Die Historie ist auf sich selbst zurückgeworfen. Sie scheint von der Vergangenheit zu leben und weiß nicht genau, wo ihr Ort in dieser enthistorisierten Fakultät sei. Einige Bereiche, etwa die Parteien- oder die Sozialgeschichte, die Geschichte des Nationalsozialismus oder der Kriegsursachen, scheinen dank ihrer Aktualität noch einen gewissen allgemeinen Fragebedarf zu stillen. Aber die unendliche Fülle historischer Erkenntnisobjekte aller Räume und Zeiten hat ihre Bildungsfunktionen - die sie früher für das historische Weltverständnis gehabt hatte - eingebüßt. Dazu kommt, daß die historische Wissenschaft auch ihre ehedem naiv hingenommene politische Funktion soweit verloren hat, als die Pflichten eines historischen Professors, bei Gedenk- und Feiertagen inflammierende Reden zu halten, heute als deplaziert empfunden werden. Die Soziologen sind - nicht beneidenswert -in die Rolle eines Deuters eingerückt. Wir Historiker sind also auf uns zurückgeworfen und in vieler Hinsicht echolos zu einer Wissenschaft für die eigenen Spezialisten geworden. Diese Reduktion wirft also auch aus der Immanenz der Wissenschaftsgeschichte die Frage auf: wozu noch Historie ? - es sei denn, sie ist sich selbst Zweck genug. Betrachten wir noch einmal den Vorgang der Enthistorisierung unserer Sozial- und Geisteswissenschaften, so wird eine Eigentümlichkeit deutlich, die speziell die Historie auszeichnet oder benachteiligt, wie man es nimmt. Alle einzelnen Forschungsbereiche haben ihre je eigene Systematik, ihre je eigenen Theorien entwik-kelt, die den gemeinsamen Erfahrungsraum der Sozial- und Geisteswissenschaften aufgliedern. Die Soziologie hat es in ausgezeichneter Weise mit der Gesellschaft, die politische Wissenschaft mit dem Staat, der Verfassung und der Politik allgemein zu tun; die Sprachwissenschaften mit der Sprache und den Sprachen; die Ethnologie und Anthropologie mit dem Menschen und den Kulturen; die Ökonomie mit der Wirtschaft und so fort. Die methodische Ver- wandlung der Erfahrungsbestände in Erkenntnisobjekte scheint im Zuge der Enthistorisierung derartig komplett, daß für die Historie als solche kein genuines Erkenntnisobjekt übrigbleibt. Die erste Folgerung, die wir aus diesem Befund ziehen können, wäre demnach so zu formulieren: Die Geschichtswissenschaft als solche hat sich soweit aufgelöst, als sie von den verschiedenen Einzelwissenschaften unter ihre jeweiligen systematischen Aspekte subsumiert wird. Für sich genommen ist dieser Sachverhalt unbestreitbar. Die Historie dient in der Tat allen anderen Einzelwissenschaften als eine Art Hilfs- und Ergänzungswissenschaft. Keine Systematik kommt ohne historische Daten aus, die in sie eingehen, wie auch immer sie hypothetisch sortiert und genutzt werden. Im Maß also, wie die Historie um ein ihr spezifisch zugeordnetes Objekt gebracht ist, bleibt nur noch die historische Methode übrig, deren sich die anderen Wissenschaften subsidiär bedienen. Wie Levi-Strauss sagt: »In Wahrheit ist die Geschichtswissenschaft nicht an den Menschen oder an irgendein besonderes Objekt gebunden. Sie besteht ganz und gar in ihrer Methode«.2 Dieses erste Ergebnis sei hingenommen und ist nicht zu unterschätzen. Keine Wissenschaft, so a- oder antihistorisch sie sich geriert, kann ihren historischen Implikationen entrinnen. Soweit sich die zeitlichen Dimensionen des menschlichen Daseins verschränken, die Zukunft, die Vergangenheit und die Gegenwart -so daß jede Zukunft Vergangenes und alles Vergangene Zukünftiges in sich enthält -, soweit läßt sich die Historie als Medium des Selbstbewußtseins, als eine Grenz- oder gar Inhaltsbestimmung der Forschungspraxis nicht ausräumen. Die Endlichkeit des Daseins verweist mit Heidegger auf dessen Zeitlichkeit, diese auf die geschichtlichen Valenzen jeder Situation. So allgemein gesprochen bleibt also jede Wissenschaft historisch imprägniert. Wo etwa komparative Methoden verwendet werden, entgehen sie kaum dem Zwang, diachronische Tiefenbestimmungen zu treffen. Generalisierungen leben von Einzelfällen, die immer auch ihren historischen Stellenwert behalten. Die jüngst so oft diskutierte Verschränkung von Subjekt und Objekt verweist in allen Wissenschaften auf deren Geschichtlich- 2 Claude Levi-Strauss, Das wilde Denken. Aus dem Französischen von Hans Naumann, Frankfurt am Main 1968, S. 30z. 36 Theorieskizzen Wozu noch Historie? 37 keit. Demzufolge zeigt sich in allen Wissenschaften die historische Dimension: Welche Gesetzesauslegung kann von den Entstehungsbedingungen eines Gesetzes absehen ? Welche Analyse eines Kunstwerkes kann - mit Kubler zu reden - davon abstrahieren, daß auch die vollkommenen Kunstwerke Probleme aufgeben, die erst durch die nachfolgenden Kunstwerke gelöst werden?3 Welche noch so abstrakte und modellhafte Zeitreihe einer ökonomischen Theorie kann der Daten entraten, die historisch einmalig waren? Welches sprachanalytische Raster, welche.Metasprache kann vom dauernden Wandel der gesprochenen Primärsprache absehen ? Ersparen Sie mir weitere Beispiele. Die Enthistorisierung der Einzelwissenschaften hat zwar das einigende Band einer historischen Weltsicht zerschnitten, sie hat aber nirgends die historischen Implikationen einer jeden Wissenschaft ausräumen können. Insofern bleibt die Historie als Forschungsmethode - dort mehr, da weniger - ein unentbehrliches Hilfsmittel im Kosmos unserer Wissenschaften. Alle Wissenschaften leben aus der Geschichte ihrer selbst heraus. Die Sozial- und Geisteswissenschaften können speziell von ihrem Forschungsbereich her auf die Subsidiarität der historischen Methode nicht verzichten. Mit dieser Feststellung bleibt freilich unsere eigentliche Frage unbeantwortet: Wozu noch Historie - an und für sich genommen? Hat sie überhaupt einen ihr eigentümlichen Forschungsbereich? Das offenbar nicht, denn den teilt sie unter jeweils verschiedenen Fragestellungen mit den übrigen Sozial- und Geisteswissenschaften. Die übliche Definition des historischen Forschungsobjektes: der Mensch und sein Wandel, seine Tätigkeiten und sein Leiden -diese Definition schließt die Gegenstandsbereiche der Philologie, der Soziologie, der politischen Wissenschaft - oder was Sie wollen - nicht eindeutig aus. So drängt sich schnell eine Antwort auf, die einleuchtend scheint; die Geschichte selber ist ihr Forschungsbereich. Solange es Geschichte gibt, wird es Historie geben. Die Verantwortung für die heikle Frage, wozu noch Historie, scheint damit von den Schultern der Historiker genommen, denn daß es Geschichte gebe, daß wir in ihrem »Bann« leben, wird wohl niemand bestreiten wollen. 3 [Vgl. George Kubler, The Shape ofTime: Remarks on the History of Things, New Häven und London 1962, S. 54 f.] Damit kommen wir zum zweiten Teil unserer Ausführungen. Genaugenommen wird uns die Antwort nicht erleichtert, wenn wir die Historie als Wissenschaft an eine Geschichte binden, deren »Existenz« oder deren »Walten« unbestreitbar scheint. Wir alle kennen das Schlagwort vom Ende der Neuzeit oder gar vom Ende der Geschichte; oder umgekehrt von der Revolution, die alle bisherige Geschichte in Vorgeschichte verwandeln werde; oder jene Wendung, die die Geschichte aus dem Feld der Notwendigkeit in ein Reich der Freiheit überführe - alle bisherige Geschichte solle aus den Bahnen übermenschlicher Zwänge in den glücklichen Raum souveräner Planung umgeleitet werden. Dem gegenüber steht die Resignation, die Flucht aus der Geschichte oder die Feststellung, daß der Sinn aller Geschichte die Rettung aus ihr sei. Alle diese Wendungen zusammengenommen setzen die Fragwürdigkeit der Geschichte selber voraus. Wozu noch Geschichte ? scheint die provokative oder verzweifelte, die eigentliche Frage zu sein, die hinter der Kritik an unserer Wissenschaft lauert. Diese umformulierte Frage ist nun keineswegs so unsinnig, wie sie sich ausnimmt. Denn die Geschichte, von der wir hier so selbstverständlich sprechen, ist ein ganz spezifisches Produkt der Neuzeit. Ja, man kann sagen, die Neuzeit beginnt erst, seitdem die Geschichte als solche entdeckt wurde. Lassen Sie mich das kurz erläutern.4 Geschichte meinte früher vorwiegend Begebenheit, Schicksal, Zufall, besonders eine Folge getätigter oder erlittener Handlungen. Historie meinte vorzüglich die Kunde davon, ihre Erforschung, den Bericht und die Erzählung darüber. Im Laufe des 17., besonders des 18. Jahrhunderts überlappten sich zunehmend die beiden deutlich trennbaren Bedeutungsfelder. Ereignis und Erzählung wuchsen in beiden Wortbedeutungen zusammen, Historie und Geschichte färbten sich gegenseitig ein, aber doch mit einer unüberhörbaren Dominanz der >Geschichte< für den Doppelsinn von Wissenschaft und Erzählung einerseits und Ereignis- und Wirkungszusammenhang anderer- 4 [Vgl. zum Folgenden Reinhart Koselleck, Art. »Geschichte, Historie. V. Die Herausbildung des modernen Geschichtsbegriffs«, in: Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd.2., Stuttgart 1975, S. 647-691.] 3« Theorieskizzen Wozu noch Historie ? 39 seits. Diese sprachliche Kontamination bezeugt einen wichtigen Vorgang. Seit 1770 bereitete sich sprachlich die transzendentale Wende vor, die zur Geschichtsphilosophie des Idealismus führte. Die Droysensche Formel, daß Geschichte nur das Wissen ihrer selbst sei, ist das Ergebnis dieser Entwicklung. Mit anderen Worten, Geschichte wurde zu einer subjektiven Bewußtseinskategorie - wie übrigens ähnlich auch die Begriffe >Revolution< und >Fortschritt<. Die >Geschichte an sich<, >als solches >schlechthin< - all diese Ausdrücke tauchen damals auf, und alle bezeugen einen tiefgreifenden Erfahrungswandel. Die Geschichte wird zu einem Regulativ des Bewußtseins für alle zu machende Erfahrung: Handeln und Leiden der Menschen, die Praxis der Politik, die Gewißheit der Offenbarung, die Roman- und Trivialliteratur, die Dramen, die bildenden Künste, die progressiven Entdeckungen der Forschung - alles wird seitdem durch das historische Bewußtsein vermittelt. Die »Geschichte selbst« hat den Historismus freigesetzt. Dazu kommt ein weiteres, nicht minder wichtiges Merkmal, das uns die Begriffsgeschichte der Geschichte für die Wende um 1770 herum aufzeigt. Die Geschichte war früher eine Pluralform von den Singularformen >das Geschichte< und >die Geschichte »Die Geschichte sind«, heißt es etwa in einem Lexikon von 1748, »die Geschichte sind ein Spiegel der Tugend und Laster, darinnen man durch fremde Erfahrung lernen kann, was zu tun oder zu lassen sei, sie sind ein Denkmal der bösen sowohl als der löblichen Taten«.5 Die Geschichte bestand also früher aus einer Summe von Einzelgeschichten, jede Einzelgeschichte hatte ihren begrenzten Zusammenhang, der exemplarisch auf ähnliche Geschichten verweisen mochte. Die Geschichten konnten sich wiederholen, und deshalb konnte man aus ihnen lernen - so wie auch Bodin seinen methodus zur besseren Erkenntnis der historiarum, der Geschichten im Plural, geschrieben hatte.6 Bis kurz vor der Französischen Revolution kannte man nur bestimmte Geschichten, jede hatte ein ihr innewohnendes Subjekt, bzw. jede Darstellung hatte ihr konkretes Objekt. Es gab eben nur 5 Johann Theodor Jablonski, Allgemeines Lexikon der Künste und "Wissenschaften, 2. Aufl. Königsberg und Leipzig 1748, Sp. 386. 6 [Vgl. Jean Bodin, Methodus ac facilem historiarum cognitionem, Paris 1566.] Geschichten von etwas: die Geschichte Karls des Großen, Frankreichs, der Kirche, der Dogmen und selbst die historia universalis bezog sich auf die empirische Quersumme einzelner Geschichten zur gleichen Zeit. All das kennen und schreiben wir natürlich auch heute noch. Aber der Begriff von Geschichte hatte einen neuen Aggregatzustand gewonnen. Die Geschichte als Pluralform von Einzelgeschichten verdichtete sich zu einem Kollektivsingular. Erst seit 1770 kann man den früher unaussprechbaren Gedanken formulieren: die Geschichte an sich. Mit anderen Worten, die Geschichte wird zum Subjekt und zum Objekt ihrer selbst. Hinter diesem sprachgeschichtlichen Befund meldet sich unsere spezifisch neuzeitliche Erfahrung: die Bewegung, die Veränderbarkeit, die Beschleunigung, die offene Zukunft, die revolutionären Trends und ihre überraschende Einmaligkeit, die stets sich überholende Modernität - die Summe dieser temporalen Erfahrungen unserer Neuzeit sind in dem Kollektivsingular von Geschichte auf ihren Begriff gebracht worden. Erst seitdem kann man - mit Hegel - von der Arbeit der Geschichte sprechen, erst seitdem kann man Natur und Geschichte einander konfrontieren, erst seitdem kann man Geschichte machen, planen, erst seitdem kann man sich dem vermeintlichen Willen der Geschichte unterwerfen. Fassen wir das Ergebnis unseres wortgeschichtlichen Exkurses zusammen: Die Geschichte ist sowohl eine subjektive Bewußtseinskategorie geworden, wie sie zugleich als Kollektivsingular die Bedingung der Möglichkeit aller Einzelgeschichten in sich enthält. Das eine verweist auf das andere und umgekehrt. Das Organon der historischen Wissenschaften, die geschichtliche Reflexion auf das politische Handeln, das Vorgebot der Sinnfindung oder Sinnstiftung allen Zeitläufen zum Trotz - die Quersumme dieser Bedeutungen macht die >Geschichte schlechthin zu einem Begriff mit Totalitätsanspruch. Anders gewendet, die Geschichte wird seit der Französischen Revolution zu einem metahistorischen Begriff. Fragen wir nach den Folgen dieses Vorgangs von epochaler Bedeutung. Im Bereich der historischen Wissenschaften bleibt die metahistorische Kategorie der Geschichte zumeist unreflektiert. Sie wird naiv hingenommen und angewendet, weil man sich ohnehin 40 Theorieskizzen Wozu noch Historie ? 41 nur historisch zu verstehen meint. Es geht mit der Geschichte wie mit vielen Metabegriffen: Im Zuge der Forschungspraxis werden die kritisch zu reflektierenden Voraussetzungen abgeschliffen, weil sie im zweiten Durchgang unvermittelt gehandhabt werden. Innerhalb und außerhalb der historischen Wissenschaften wuchert nun der Begriff der Geschichte proportional zu seiner unkritischen Verwendung. Säkularisate gehen in ihn ein: die Weltgeschichte ist das Weltgericht, die Geschichte wird allmächtig, allweise, allgerecht, deshalb ist man auch vor ihr verantwortlich. Ernst Moritz Arndt verteidigte die Ehre der deutschen Geschichte.7 Die Geschichte wird emphatisch überhöht, sie wird heilig. Treitschke verkündete, daß man sich an der Herrlichkeit der deutschen Geschichte versündigt habe.8 »Geschichte müssen wir malen, Geschichte ist die Religion unserer Zeit, Geschichte allein ist zeitgemäß«, schreibt die Zeitschrift für bildende Kunst 1876.9 Droysen konstatierte, daß die Adelsopposition des 17. Jahrhunderts die preußische Geschichte für zwei Jahrhunderte aus ihrer Bahn geworfen und ruiniert habe: womit die wirkliche an einer wünschbaren gleich wahren Geschichte gemessen wurde - ein auch heute nicht unbekanntes Verfahren. »Wir«, rief Hitler, »sind vom Schicksal ausersehen worden, im höchsten Sinne des Wortes Geschichte zu machen. Was Millionen Menschen verwehrt wird, hat uns die Vorsehung gegeben. An unserem Werk wird sich die späteste Nachwelt noch unser erinnern«.10 Mit dem Nachsatz hat Hitler ohne Zweifel recht behalten, aber es drängt sich die Vermutung auf, daß die tatsächliche Wirkung, die Hitler gezeitigt hat, aus der von keiner Empirie widerlegbaren Überzeugung abzuleiten ist, mit der er Geschichte machen zu können glaubte. Schließlich ein letzter Beleg für den außerwissenschaftlichen Sprachgebrauch, der zur Historie zurückführt: Bei der Vorberatung über 7 [Vgl. Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constitu-ierenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, 9 Bde., hg. v. Fritz Wiegard, Frankfurt am Main 1848/1949, Bd. z, S. 129z.] 8 [Vgl. Heinrich von Treitschke, »Noch einige Bemerkungen zur Judenfrage«, in: Der Berliner Antisemitismusstreit, hg. v. Walter Boehlich, Frankfurt am Main 1965, S.86.] 9 Zit. nach Klaus Lankheit, Art. »Malerei und Plastik«, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd.4, 3. Aufl. Tübingen i960, Sp. 687. 10 Max Domarus, Hitler. Reden und Proklamationen, Bd.I/z, München 1965, S.541. die zu erstellende Parteigeschichte in der DDR hat »Genosse Ulbricht [...] heute morgen in einem Zwischenruf gesagt, die Arbeit mit den Historikern hat ihn mehr Mühe gekostet als die Arbeit mit der Geschichte [...]«" Was bezeugt nun die Reihe der vorgetragenen Belege ? Die Geschichte als Kollektivsingular und als Bewußtseinskategorie erweist sich als äußerst geschmeidig und anpassungsfähig. Sie wird zu einem Sammelbecken aller nur denkbaren Ideologien, die sich auf die Geschichte berufen können, weil die Geschichte selber nicht kritisch in Frage gestellt wird. Geschichte wurde zu einer Leerformel, zu einem Blindbegriff. Damit wird das Wort, bewußt oder nicht, manipulierbar. Die Geschichte erhält die göttlichen Epitheta, deren sich die Menschen bedienen - insofern wird sie säkularisiert. Die Geschichte wird - obwohl ursprünglich auf zeitliche Bewegung hin konzipiert - handfest substantialisiert und personifiziert. Schließlich wird sie voluntarisiert, wodurch sie sich scheinbar dem Willen derer fügt, die sie zu machen glauben. Auch der Rückgriff auf vermeintliche Gesetzmäßigkeiten kann die Differenzen zwischen Planung und Effekt nicht aus der Welt schaffen, im Gegenteil oft nur vergrößern. Diese Überlegungen führen uns zu einer neuen Schlußfolgerung. Indem wir schlicht Wortgeschichte getrieben haben, indem wir den historischen Gebrauch der Vokabel >Geschichte selbst< hinterfragt haben, haben wir etwas getan, das uns zu unserer Ausgangsfrage zurückführt. Es könnte sein, daß wir die Historie als Wissenschaft unversehens in ihr Recht gesetzt haben, indem wir die Geschichte als Begriff und dessen Verwendung unserem kritischen Urteil unterworfen haben. Anders gewendet: Je fragwürdiger die >Geschichte schlechthin geworden ist, desto mehr wird die Historie als kritische Wissenschaft legitimiert. Damit haben wir eine zweite Antwort auf unsere Frage, wozu noch Historie, gefunden. Fragen wir nunmehr, was uns eine solche historische Wissenschaft im einzelnen zu bieten vermag. Hier freilich müssen wir uns auf Hinweise und Anregungen beschränken. Jedenfalls ist mit dem bisherigen Nachweis seiner Berechtigung unser Forschungsund Lehrbetrieb nicht hinreichend bestimmt. ii Ernst Engelberg, »Die Historiker müssen helfen, die Welt zu verändern«, in: Einheit, Sonderheft (9/1962), S. zz. 42- Theorieskizzen Wozu noch Historie ? 43 Reflektieren wir darauf, was wir soeben getan haben, so gewinnen wir bereits einige formale Kriterien, die eine historische Tätigkeit kennzeichnen, Kriterien, kraft deren sie sich auch gegenüber den andern Wissenschaften und gegenüber der Öffentlichkeit ausweist. Die begriffsgeschichtliche Detailanalyse, die ich skizziert habe, dient uns freilich nur als Beispiel, als Einstieg, solche Kriterien zu entwickeln, die sich ebensogut aus allen andern Bereichen der Geschichtswissenschaft ableiten lassen. Wenn ich dabei auch Trivialitäten formuliere, so fürchte ich nicht um deren Gewicht, denn gerade die stummen Voraussetzungen unserer Arbeit in Erinnerung zu rufen ist in Anbetracht der Herausforderung an die Historie dringend nötig. Erstens haben wir uns auf das konkrete Detail eingelassen. Die Bedeutungsverschiebung von den Historien im Plural zur beschichte an sich< im Kollektivsingular ist ein Vorgang, der sich in den Jahrzehnten von 1760 bis 1780 mit statistischer Exaktheit messen läßt. Ob Sie sozialökonomische oder sprachgeschichtliche oder sonstige Fragen zu beantworten suchen, die historische Methode, die sich durch die Einzelfälle hindurcharbeiten muß, kann von keiner anderen Methode überholt werden. Das gilt ebenso und vor allem für die historische Urteilsbildung. Keine Historik verzichtet auf die Erkenntnis, daß die subjektiven Fragestellungen und deren gesellschaftliche Bedingungen eine inhärente Voraussetzung historischer Urteile sind. Diese selbstkritische Reflexion erübrigt aber in keiner Weise den methodischen Kanon historischer Forschung, um die Ergebnisse kommunikabel und damit kontrollierbar zu machen. Nur die Einzelforschung entzieht die historischen Aussagen der Beliebigkeit, sie liefert den Testfall, ob sich eine allgemeine Feststellung halten kann oder nicht. Zweitens haben wir in unserem Beispiel eine Anleihe bei den Sprachwissenschaften aufgenommen, sofern nämlich die Seman-tologie ein Teil derselben ist. Die semasiologischen und onoma-siologischen Zugriffe sind von ihrer theoretischen Prämisse her nicht notwendigerweise historisch - um so fruchtbarer ihre Anwendung auf soziale und politische Phänomene. Der Zwang zur interdisziplinären Arbeit, in der sich verschiedene theoretische Prämissen brechen, ist nur die Kehrseite der oben geschilderten Sachlage, daß keine Wissenschaft auf ihre historische Komponen- te verzichten kann. Anders gewendet: Die Geschichtswissenschaft bleibt ihrerseits auf die Systembildung der Sozialwissenschaften insgesamt angewiesen. Drittens haben wir einen gewissen Verfremdungseffekt erzielt, indem wir uns klarmachten, wie wenig die alte >Historia< geeignet war, den neuzeitlichen Erfahrungshorizont einer sich als fortschrittlich begreifenden Geschichte zu umreißen. Daß es Geschichte im Popperschen Sinne des Historizismus12 nicht immer gegeben hat, zeigen uns jene relativen Konstanten aus der Zeit vor 1789, die uns den Wandel seit der Revolution erst zu diagnostizieren erlauben. Das heutige Postulat etwa nach einer Emanzipation, wenn sie sich nicht als naturale Kategorie perpetuieren soll, wird meist im Rückgriff auf andere Sozialformationen als die unseren formuliert. Die zeitliche Tiefe, die über unsere unmittelbare Erfahrung hinausführt, kann aber nur mit dem Rüstzeug historischer Wissenschaft erschlossen werden. Vielleicht stellt sich dann aber heraus, daß der Generationenkonflikt eine größere Konstante darstellt, als eine geschichtsphilosophische Perspektive über die Jahrhunderte hinweg wahrhaben will. Viertens haben wir, indem wir die Verwendung des Wortes »Geschichte« analysierten, Ideologiekritik geliefert. Freilich kennt die reine Wortgeschichte keine Kriterien, um den jeweiligen Aussagegehalt ideologisch zuordnen zu können. Gleichwohl ist die Ideologiekritik Ergebnis einer konsequent durchgehaltenen historisch-philologischen Methodik, die ihre Texte bekanntlich nicht nur nach äußeren, sondern ebenso nach inneren Kriterien beurteilt. Jede Zweideutigkeit oder Inkonsistenz von Texten verweist auf Sachverhalte oder Bedingungen außerhalb der Texte, an denen die Texte gemessen werden müssen. So besteht das Geschäft unserer Forschung darin, mit Hilfe von Texten zu Aussagen zu gelangen, die über die Texte hinausführen, indem sie diese in einen geschichtlichen Bedeutungszusammenhang stellt. Darin unterscheiden wir uns von den Geisteswissenschaften, die die Texte selber oder um ihrer selbst willen thematisieren, darin liegt die ideologiekritische Komponente unserer Methode enthalten. Wir kommen gar nicht umhin, Ideologiekritik zu liefern, auch wenn iz [Vgl. Karl Popper, Das Elend des Historizismus, Tübingen 1965.] 44 Theorieskizzen Wozu noch Historie? 45 die Maßstäbe je nach den eingebrachten Prämissen wechseln. Vielleicht stellt sich, wenn wir diese Überlegung zu Ende denken, heraus, daß selbst die Ideologiekritik nur eine Variante des Historismus ist, der von der >Geschichte an sich< lebt, die es >an sich< gar nicht gibt. Lucien Sebag hat gezeigt, wie heterogen sprachliche Strukturen und geschichtliche Realitäten sind, ohne daß man zur Gänze das eine auf das andere zurückführen kann.13 Es bleibt ein Problem des historischen Bewußtseins, daß sich seine Strukturen mit der geschichtlichen Wirklichkeit nicht decken. Diesem Dilemma entrinnen auch jene nicht, die sich auf utopische Weise in die Zukunft entwerfen, die scheinbar bewußtseinskonform ist, weil ihr geschichtliches Substrat nicht erfahrbar ist. Fünftens haben wir etwas nicht getan, was die Historie als Wissenschaft auch nicht tun kann: Wir haben keine unmittelbaren Handlungsanweisungen für morgen geliefert. Gleichwohl müssen wir unsere eingangs aufgestellte Behauptung begründen, daß die Lehre der Geschichte, und um die geht es uns ja allen, nicht Selbstzweck sein oder bleiben könne. História magistra vitae - nicht história magistra historiae. Die alten Historien, wie sie bis in das 18., ja 19. Jahrhundert hinein gelehrt wurden, enthielten immer ein Moment unmittelbarer Applikation: für die Politik, für das Recht, für die Moral, selbst im theologischen Bereich. Die theoretische und aufgrund der vergleichsweise langfristigen Stabilität im sozialen Leben auch empirisch einlösbare Voraussetzung war der natürliche Kreislauf aller Dinge. Aus ihm folgte die Wiederholbarkeit der Geschichten, also auch die praktische Anwendbarkeit ihrer Lehren. Seitdem die >Geschichte schlechthin entdeckt wurde, ihre Einmaligkeit, seitdem lehrt sie nur mehr dies, daß aus ihr keine Lehren abzuleiten seien. Die »angewandten Geschichten«, die wir in unserem deutschen Sprachbereich aufzuweisen haben,14 sind nicht geeignet, dies Hegeische Diktum zu widerlegen. Jede eigene Erfahrung verändert die Ausgangslage und damit die Erfahrung 13 [Vgl. Lucien Sebag, Marxismus und Strukturalismus. Aus dem Französischen von Hans Naumann, Frankfurt am Main 1967. S. 227 ff.] 14 Vgl. beispielsweise Heinrich Wolf, Angewandte Geschichte. Eine Erziehung zum politischen Denken und Wollen, 7. Aufl. Leipzig 1913 (10. Aufl. 1920), und die darauf aufbauende Angewandte Rassenkunde. Weltgeschichte auf biologischer Grundlage, Leipzig ^27. selber. Vergangene Erfahrung, die andere gemacht haben, läßt sich nicht unmittelbar übertragen. Wir müssen uns also bescheiden, aber darin liegt der Gewinn. Der Verzicht auf Aktualität ist die Bedingung einer vermittelten Applikation, die nun allerdings die Historie als Wissenschaft freisetzen kann. Die Historie zeigt Perspektiven, Bedingungsnetze möglichen Handelns; empirisch liefert sie Daten, um Trends zu extrapolieren - insofern hat sie Teil an der Prognostik. Daß die Perspektiven standortgebunden sind, gehört mit der Geschichtlichkeit des Daseins zu den Voraussetzungen unserer Wissenschaft, sie zu reflektieren ist daher ein methodisches Gebot. Daraus folgt aber nicht, daß die bewußte Einnahme eines Standpunktes einen Garantieschein für die Wahrheit der gewonnenen Aussagen liefert. Auch die heute so gern formulierte Berufung auf Werte ist kein Blankoscheck für wertvolle Erkenntnisse, sowenig wie sich eine Handlungsanweisung aus ihnen ableiten läßt. Wir mögen uns daran erinnern, wie häufig Hitler die Kategorien der Werte beschworen hat, besonders den >Höchstwert< (des deutschen Volkes), und welche Folgen das für jene hatte, die auf der Seite des Unwerts situiert wurden - um uns darüber klar zu sein, daß die Wertvokabel als solche bedeutungsblind ist und jeder Willkür ausgesetzt bleiben kann. Damit habe ich aus dem vorgetragenen begriffsgeschichtlichen Beispiel fünf formale Kriterien abgeleitet, die unsere wissenschaftliche Tätigkeit kennzeichnen: die Hinwendung zum konkreten Detail; der Zwang, sich der theoretischen Prämissen auch der Nachbarwissenschaften zu bedienen; der Verfremdungseffekt historischer Aussagen; die ideologiekritische Implikation der historisch-philologischen Methode und die Unmöglichkeit, unmittelbarer, aber die Aufgabe vermittelter Nutzanweisungen historischer Erkenntnis. Der Katalog ließe sich verlängern, aber er scheint mir hinzureichen, um der Frage, warum noch Historie als Lehr-und Forschungsbetrieb, einen positiven Aspekt abzugewinnen. Freilich muß ich hier einen Vorbehalt anmelden. Die genannten Formalkriterien folgen zwar aus unserer Methodik, aber damit ist nicht ausgeschlossen, daß sich auch die uns benachbarten Sozial-und Geisteswissenschaften dieser Kriterien bedienen, um sich auszuweisen. Wir müssen also unsere Fragen enger fassen, um die Historie in ihrer Eigentümlichkeit zu legitimieren. 46 Theorieskizzen Wozu noch Historie? 47 Ich habe Vorzüge und Grenzen unserer Methode umrissen, aber von der »Sache«, von der Geschichte, speziell von der Vergangenheit, war wenig die Rede. Das führt mich zum Schluß meiner Ausführungen. Wir haben anfangs die Entstehung der >Geschichte< als einer metahistorischen Kategorie geschildert; wir haben den ideologischen Spielraum umrissen, der seitdem freigesetzt wurde und den einzugrenzen unsere Aufgabe ist. Nun läßt sich freilich >Geschich-te< durch keine sprachkritische oder methodische Reflexion überholen. Auch die Entdeckung der Geschichtlichkeit als einer exi-stentialen Kategorie für die Endlichkeit des Menschen und für die Dauerhaftigkeit des Wandels verschiebt nur das Problem: Geschichtlichkeit ist ebenfalls ein Symptom für die Unaufholbarkeit dessen, was mit Geschichte gemeint ist. Wir stehen vor einer Antinomie der Geschichte. Die Vergangenheit ist absolut vergangen, unwiderruflich - und zugleich wieder nicht: Die Vergangenheit ist gegenwärtig und enthält Zukunft. Sie beschränkt kommende Möglichkeiten und gibt andere frei, sie ist in unserer Sprache vorgegeben, sie prägt unser Bewußtsein wie das Unbewußte, unsere Verhaltensweisen, unsere Institutionen und deren Kritik. Wer sich mit der Vergangenheit beschäftigt, wird mit sich selbst konfrontiert; oder, um mit Hegel zu reden, was wir als Historiker treiben, »ist also keine eigentliche Geschichte, oder es ist eine Geschichte, die zugleich keine ist«.15 Wir werden hier diese Antinomie nicht lösen, und ob sie lösbar ist, bleibe unentschieden. Aber eines scheint mir sicher: Wir müssen uns dieser Antinomie stellen. Das aber setzt voraus, daß wir die Fragwürdigkeit unserer Wissenschaft theoretisch klären. Darum sei noch ein Hinweis auf die Theoriebedürftigkeit unserer Wissenschaft erlaubt. Geschichte, seitdem sie einmal unsere Erfahrung eröffnet hat, läßt sich nicht durch Kritik destruieren. Vielmehr kommt es darauf an, daß wir uns wieder der transzendentalen Bedeutung verge- 15 G.W.F. Hegel, Einleitung in die Geschichte der Philosophie, Hamburg 1959, S. 133. Hegel, der hier die Ambivalenz des damals modernen Begriffs von Geschichte reflektiert, hat im gleichen Zusammenhang (S. 134) auch schon die Kritik am Historismus vorweggenommen: »Wenn die historische Tendenz in einem Zeitalter überwiegend ist, dann kann man annehmen, daß der Geist in Verzweiflung geraten, gestorben ist...« wissern, die dem Begriff ursprünglich innewohnte. Als sie sprachlich artikuliert wurde, war die >Geschichte selben identisch mit >Geschichtsphilosophie<. Und bevor sich die historische Wissenschaft von den inhaltlich durchgeführten teleologischen Systemen der idealistischen Geschichtsphilosophien zu trennen suchte, bemühten sich die Historiker um eine hypothetische Geschichtsschreibung. Die aufgeklärte Historie trachtete nach einer Systembildung und einer Theorie der >Geschichte selben. Anders gewendet, es war ihre Theoriebedürftigkeit, die mit dem Begriff der >Geschichte selben gesetzt wurde. Dieses Postulat gilt es, nachdem sich die Geschichtsphilosophien des vergangenen Jahrhunderts überholt haben, neu zu erfüllen. Dabei hätten wir uns - zunächst - der Hilfen unserer Nachbarwissenschaften zu versichern, die ihrerseits von unseren Methoden leben. Es gibt eine Unmenge von ungenannten Hypothesen, die stillschweigend in unsere Forschungspraxis eingehen, ohne daß wir uns darüber Rechenschaft ablegen. Popper hat einmal eine Reihe von Regelhaftigkeiten aufgezählt, deren formale Anwendbarkeit für uns ihren Ort in einer zu entwickelnden Historik hätte. Sowie wir uns über unsere theoretischen Prämissen klar sind, wird sich zeigen, wie eng wir den Sozialwissenschaften verhaftet sind. Und das kann dann nicht ohne Rückwirkungen auf unsere Forschungspraxis bleiben. So ist es beispielsweise erforderlich, eine historische Anthropologie zu entwickeln, wie sie etwa Fou-cault oder van den Berg entworfen haben. Wie anders kann man solche Erscheinungen wie die Konzentrationslager untersuchen -es sei denn, man bleibt vor einer Registratur der Grausamkeiten stehen. Um überhaupt nur andeutungsweise begreifen zu können, was sich in den Konzentrationslagern abgespielt hat, bedarf es der Hilfen einer Sozialpathologie. Wir müssen freilich die scheinbar fremden Kategorien in unsere Wissenschaft einholen, sie gleichsam mit einem geschichtlichen Bewegungskoeffizienten versehen -aber wir kommen nicht umhin, uns solchen anthropologischen Fragen zuzuwenden, wenn wir eine den genannten Phänomenen adäquate Erkenntnis gewinnen wollen, die dann unser Verhalten beeinflussen mag. Um ein anderes Beispiel zu nennen: Es ist ein dringendes Deside- 48 Theorieskizzen Wozu noch Historie? 49 rat, die Wirtschaftswissenschaften in die Sozialgeschichte zu reintegrieren (was eine Trennung voraussetzt, die in der Mittelalterforschung nie so weit stattgefunden hat wie in der Neueren Geschichte). Eine solche Reintegration setzt aber die Kenntnis ökonomischer Theorien voraus, die - wie in der New Economic History - für die Geschichtswissenschaft zu überraschenden Ergebnissen führen kann, gerade weil der theoretische Vorgriff nicht historisch ist. Eine weitere Forderung wäre, die Ergebnisse der modernen Linguistik für die Historie nutzbar zu machen. Die semantologische Zerlegung des Geschichtsbegriffs, wie ich sie versucht habe, ist -von seinen theoretischen Prämissen her gedacht - auf alle substantiellen Aussagen auszudehnen, deren wir uns naiverweise bedienen. Staat, Volk, Klasse, Jahrhundert, Rasse, Persönlichkeit sind Größen, die als substantielle Handlungseinheiten nur hypothetisch gebraucht werden sollten. Die gebotene Entsubstantialisie-rung solcher Begriffe führt aber zwangsläufig zu einer Verzeitli-chung ihrer kategorialen Bedeutungen. Damit stoßen wir auf eine spezifisch historische Aufgabe, nämlich statt fixierter Größen die intersubjektiven Zusammenhänge als solche zu thematisieren, und zwar in ihrer zeitlichen Erstreckung. Korrelationen, die in sich beweglich sind, lassen sich aber nur funktional beschreiben, mit hypothetisch einzubringenden Konstanten, die ihrerseits wieder in anderen funktionalen Zuordnungen als Variable zu interpretieren sind. Die sogenannte Strukturgeschichte, die Dauer und Wandel aneinander mißt, kann gar nicht anders vorgehen als eben mit temporalen Hypothesen. Damit kommen wir zu unserem letzten Postulat. Es fehlt völlig eine Theorie, die, wenn überhaupt, unsere Wissenschaft von den Theorien der übrigen Sozialwissenschaften unterscheidet: eine Theorie der historischen Zeiten. Kants Forderung, daß sich die Geschichte nicht nach der Chronologie, sondern umgekehrt die Chronologie nach der Geschichte zu richten habe,16 ist bis heute noch nicht erfüllt. Es gibt mehrschichtige Zeitabfolgen, die alle 16 [Vgl. Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), in: ders., Werkausgabe, hg. v. Wilhelm Weischedel, Bd. 12: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 2, Frankfurt am Main 1968, S. 503.] für sich ein Vorher und Nachher kennen, die aber auf dem Raster der naturalen Chronologie in ihrer linearen Sequenz nicht zur Deckung zu bringen sind.17 Daher kommt es darauf an, Temporalstrukturen freizulegen, die den mannigfachen geschichtlichen Bewegungsweisen angemessen sind. Die Temporalität geschichtlicher Ereignisse und die Ablaufstrukturen geschichtlicher Prozesse können dann - gleichsam von sich selbst aus - die Geschichte gliedern. Welcher grundsätzlichen Schwierigkeit die Historie dabei gegenübersteht, erhellt schon daraus, daß sie alle ihre Kategorien dem natürlichen und räumlichen Bereich entlehnen muß. Wir leben von einer naturalen Metaphorik und können dieser Meta-phorik gar nicht entraten, weil die Zeit nicht anschaulich ist. Um so mehr sind wir bei unseren Übersetzungsversuchen, die geschichtlichen Zeiten sprachlich zu fassen, auf genuine Hypothesen angewiesen, die uns vor den übrigen Wissenschaften ausweisen. In jedem Fall bedürfen wir einer Theorie historischer Zeiten, wenn wir das Verhältnis der >Geschichte an sich< zu den unendlich vielen Geschichten im Plural klären wollen. Ideologisierbar, wie >Geschichte< ist, bleibt sie gleichwohl als transzendentale Kategorie Bedingung unserer neuzeitlichen Erfahrung. Als solche geht sie nie unmittelbar auf in den jeweiligen Geschichten, die erfahren oder erkundet werden, auch wenn sie diese erst erkennbar macht. Freilich wäre es anmaßend zu behaupten, daß durch die Begriffsbildung der >Geschichte schlechthin<, die obendrein eine spezifisch deutsche Sprachschöpfung darstellt, alle Ereignisse vor der Französischen Revolution zur Vorgeschichte verblassen müßten. Es sei nur an Augustin erinnert, der einmal feststellte,18 daß sich die Historie zwar mit den menschlichen Institutionen beschäftige, daß aber ipsa história keine menschliche Einrichtung sei. Die Historie selber sei nichts anderes als der von Gott vorgeplante ordo temporum. Die metahistorische - und auch temporale - Bedeutung der História ipsa ist insofern nicht nur ein neuzeitlicher Befund, sondern bereits theologisch vorgedacht worden. Gleichwohl fehlt nicht zufällig bis in das 18. Jahrhundert hinein ein ge- 17 Vgl. dazu Lévi-Strauss, Das wilde Denken, S.Z96Í. 18 De doctr. christ. II, XXVIII, S. 44. jo Theorieskizzen meinsamer Oberbegriff für all die Geschichten, res gestae, die pragmata und vitae, die seitdem unter dem Begriff der >Geschich-te< im Kollektivsingular gebündelt werden. Die epochale Differenz zwischen der >Geschichte an sich< - dem Erfahrungsraum des Historismus - und den Historien alten Stils, die unter mythischen, theologischen oder anderen Voraussetzungen erfahren wurden, kann nur überbrückt werden, wenn wir nach den temporalen Strukturen fragen, die der Geschichte im Singular und den Geschichten im Plural zugleich eigentümlich sein mögen. Deshalb dient die Frage nach den Zeitstrukturen der theoretischen Erschließung unseres genuinen Forschungsbereiches. Sie eröffnet einen Zugang, das ganze Gebiet historischer Forschung sachimmanent zu gliedern, ohne daß man sich an chronologische Triaden halten und ohne daß man an der semantischen Erfahrungsschwelle einer Geschichte schlechthin seit rund 1780 stehenbleiben müßte.19 Nur die temporalen, d. h. die den Ereigniszusammenhängen innewohnenden, jedenfalls an ihnen aufzeigbaren Strukturen können den historischen Erfahrungsraum adäquat als eigenen Forschungsbereich gliedern. Dieser Vorgriff ermöglicht die präzisierende Frage, inwiefern sich eigentlich die Geschichte schlechthin von den mannigfachen Geschichten früherer 19 Sind die geschilderten Gesichtspunkte, die die Theoriebedürftigkeit unserer Wissenschaft beleuchten, einmal als Postulate zugegeben, so ergeben sich daraus praktische Konsequenzen, von denen zwei genannt seien: Erstens ist die bestehende Lehrstuhlgliederung und sind die daraus resultierenden Lehrpläne an Universität und Schule veraltet. Es ist nicht einzusehen, wieso der chronologische Bandwurm, der seit Cellarius nach der mythologischen Triade Altertum, Mittelalter und Neuzeit zergliedert wird, ein sinnvolles Regulativ für Forschung und Lehre sein soll. Es gibt nur eine allgemeine Geschichtswissenschaft, die sich nur nach Fragestellungen gliedern lässt. Daß sich dabei die Fragen nicht bloß auf Zeitabschnitte, sondern ebenso auf Zeitschichten ausrichten sollten, ist ein Postulat, das unmittelbare Folgen für die so viel bemühte Didaktik haben wird. Zweitens folgt aus den zu erarbeitenden theoretischen Prämissen eine klare Zuordnung zwischen den vielerlei Sozialwissenschaften und den Geisteswissenschaften. Für die Praxis heißt das, daß wir in Anbetracht der vor uns stehenden Schwierigkeiten Historie nur als Ein Fach studieren können, daß die Nebenfächer umzuwandeln sind in Supplementär- und Komplementärfächer für unsere geschichtlichen Fragestellungen. Solche die Historie ergänzenden Fächer könnten gleichwohl in der Schule gelehrt werden. Der Gewinner einer solchen Organisation wären wir alle, an der Universität, in der Schule - und damit die Historie als Wissenschaft. Wozu noch Historie ? 51 Zeiten unterscheidet. Dieser Vorgriff soll uns den Zugang schaffen zur Andersartigkeit der Geschichten vor unserer Neuzeit, ohne dabei deren Ähnlichkeit unter sich und mit unserer Geschichte aufgeben zu müssen. Erst unter derartigen theoretischen Prämissen können wir über die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen Aussagen machen, erst dann können wir so fragliche Begriffe wie Beschleunigung, Fortschritt oder eben Geschichte selber in die Wissenschaft einbringen. Schließlich ist die Frage nach den Zeitstrukturen formal genug, um mögliche geschichtliche Ablaufformen und Ablaufbeschreibungen unbeschadet ihrer ehedem mythischen oder theologischen Deutung herausschälen zu können. Dabei wird sich zeigen, daß viele Bereiche, die wir heute als eine genuin geschichtliche Thematik definieren, früher unter anderen Voraussetzungen gesehen worden sind, ohne daß dabei das Erkenntnisobjekt einer >Geschichte< freigelegt worden wäre. Im Durchgang durch >die Geschichte< werden die Geschichten neu entdeckt - die früheren und die von heute. Wie Humboldt sagte: »Der Geschichtschreiber, der dieses Namens würdig ist, muß jede Begebenheit als Theil eines Ganzen, oder, was dasselbe ist, an jeder die Form der Geschichte überhaupt darstellen.«20 Die Form der Geschichte überhaupt, und damit der durch sie sichtbar zu machenden Geschichten, ist deren spezifische Zeitlichkeit. j i 1 i i i I 1 ! I io Wilhelm von Humboldt, »Über die Aufgabe des Geschichtschreibers« (182.1), j in: ders., Werke in fünf Bänden, hg. v. Andreas Flitner und Klaus Giel, Bd.I: ] Schriften zur Anthropologie und Geschichte, Darmstadt i960, S. 590. Interdisziplinäre Forschung und Geschichtswissenschaft 53 Interdisziplinäre Forschung und Geschichtswissenschaft i. Über einige Voraussetzungen interdisziplinärer Forschung Interdisziplinarität, interdisziplinäre Forschung - die Berufung auf dieses Verfahren scheint Tore in die wissenschaftliche Zukunft aufzustoßen. Aber genau besehen handelt es sich mehr um ein Schlagwort als um ein wissenschaftliches Programm. Denn die Beschwörung der Interdisziplinarität sagt nicht, welche Wissenschaften, welche Disziplinen zusammengespannt werden sollen. Es handelt sich insofern um ein leeres Schlagwort, oder anders gewendet, um ein Programm von hoher Formalität. Es fordert inhaltliche Bestimmungen, ohne selbst eine Anweisung dazu zu liefern. Ein sicherer Indikator für neue Wege, die eingeschlagen werden, ist natürlich die Gründung von Zeitschriften, die neue Programme oder Zielsetzungen verkünden. So gibt es, um von der Geschichtswissenschaft zu sprechen, inzwischen ein eigenes Journal of Interdisciplinary History oder die Zeitschrift History and Theory oder neuerdings, in Bielefeld herausgegeben, die Zeitschrift mit dem Doppeltitel Geschichte und Gesellschaft. Immer werden mehrere Aspekte betont, die die Geschichtswissenschaft einerseits einengen, aber zugleich unter einen interdisziplinären Anspruch stellen, um sie antreiben zu können. Bevor ich auf Fragen der Historie und ihrer interdisziplinären Herausforderungen eingehe, will ich kurz über das Zentrum für interdisziplinäre Forschung berichten, das in Bielefeld 1968 seine Tätigkeit aufnahm - ein Jahr bevor die Universität selbst gegründet wurde. Dieser zeitliche Vorsprung hatte damals eine programmatische Bedeutung für die Neugründung und die Zielsetzung der Bielefelder Universität. In der Begründung des Zentrums für interdisziplinäre Forschung sind nun zwei unterscheidbare Komponenten enthalten: eine wissenschaftstheoretische und eine institutionelle Komponente. a) Wissenschaftstheoretisch gingen die Gründer der Universität Bielefeld davon aus, daß die einzelnen Wissenschaften sich - vor aller Lehr- und Ausbildungsaufgabe - zunächst und immer wieder auf die Grundlagenforschung der jeweiligen Fächer konzentrieren sollten. Dazu gehörte also eo ipso die Untersuchung der jeweiligen theoretischen Prämissen einer Disziplin. Dazu gehörte ferner und ebenso selbstverständlich die Reflexion auf die sozialen und politischen Bedingungen, unter denen die jeweilige Wissenschaft betrieben wird. Und dazu gehörte schließlich und konsequenterweise auch die Untersuchung der Geschichte einer jeweiligen Disziplin. Ohne Aufklärung der Herkunft und des Wandels der theoretischen und der sozialen Bedingungen einer Wissenschaft kann man über diese keine Rechenschaft ablegen. Theorie, Soziologie und Geschichte der einzelnen Wissenschaften zu erhellen und zu pflegen gehörte also zu den Absichten der Gründer der neuen Universität. Es ist nun klar, daß kein Programm sich auf allzu lange Zeit festschreiben läßt, ohne steril zu werden. Deshalb folgte wissenschaftstheoretisch und wissenschaftspolitisch aus diesem Gründungskonzept zugleich die Gründung eines interdisziplinären Forschungszentrums. Es sollte zwar auch auf jene Faktoren des Gründungskonzeptes Rücksicht nehmen, aber von vornherein wurde großer Wert darauf gelegt, in keinem Fall den Inhalt der zu planenden Forschungen vorweg zu programmieren oder festzuschreiben. Jedenfalls boten Theorie, Soziologie und Geschichte aller Wissenschaften schon einen hinlänglichen Einstieg, um interdisziplinäre Fragen aufzuwerfen. Denn die theoretischen Prämissen einer jeweiligen Wissenschaft lassen sich nie auf die einzelne Disziplin reduzieren: Immer enthalten sie übergreifende Elemente, die auch für andere Wissenschaften gelten oder zumindest, was oft interessanter ist, Geltung beanspruchen können. Dieser übergreifende Aspekt gilt in gleicher Weise für die Soziologie und die Geschichte einer Wissenschaft. Es bedarf z. B. keiner Erläuterung, um zu sagen, wie eng die Geschichte der Medizin an die Geschichte der Anthropogeographie, der Physik, der Chemie, der Biologie und ihrer Zwischenzonen gekoppelt bleibt bis hin zur modernen Medizinsoziologie oder rückblickend zur Gesundheitspolizei des absolutistischen Staates. Es sei hier gar nicht der von Kuhn entfachte Streit aufgegriffen, ob mehr endogene oder 54 Theorieskizzen Interdisziplinäre Forschung und Geschichtswissenschaft 55 mehr exogene Faktoren die Geschichte einer Wissenschaft beeinflussen. Für die Historiker ist diese Alternative ohnehin nur eine Scheinalternative. In jedem Fall steht fest, daß Theorie, soziale Bedingung und Geschichte einer Wissenschaft notwendigerweise auf die analogen Prämissen der andern Wissenschaften verweisen, wobei natürlich die Entfernung der jeweiligen Nachbardisziplinen zu berücksichtigen ist. Immer handelt es sich dabei um Fragestellungen bzw. um Faktoren, die durch die einzelne Disziplin hindurchgreifen: Die genannten Faktoren sind transdisziplinär, deshalb auch interdisziplinär zu bearbeiten. Um diese Zusammenhänge auch planerisch oder provozierend oder auch nur fragend zu erfassen, wurde also das Zentrum für interdisziplinäre Forschung gegründet. Gerade indem inhaltlich nichts festgelegt wurde, sollte es für die jeweils anfallenden Grenzfragen oder für gemeinsame und übergreifende Fragestellungen offen sein. b) Neben das aufgeführte wissenschaftstheoretische Postulat trat nun ein institutionelles Postulat, das vom ZiF (= Zentrum für interdisziplinäre Forschung) eingelöst werden sollte. Die Fakultätsstruktur der Universitäten hat sich in den letzten drei Jahrzehnten grundlegend geändert, gleich ob die alten klassischen Fakultäten beibehalten wurden oder ob sie, was zumeist geschah, zerschlagen, zerteilt und neu gegliedert wurden. Die Vervierfachung der Studentenzahlen, das Anschwellen zur Massenuniversität im Zeichen der gleichen Bildungschancen für alle (die nie ganz eingelöst werden können, weil sich immer neue Auswahlkriterien aufdrängen) - dieser Trend sprengte notwendigerweise die überkommenen Fakultäten. Denn mit der Zahl der Studenten schnellte auch die Zahl der Professoren, der Assistenten und des neuen sogenannten Mittelbaus empor. Partizipationsrechte wurden für alle Statusgruppen institutionalisiert, neben die Ordinarien rückten auch die Räte und Assistenten sowie die Studenten in die Selbstverwaltungsgremien ein. Die klassischen Fakultäten wurden allein durch die wachsende Studentenzahl und die neuen Statusgruppen unter Druck gesetzt, sich neu zu organisieren. Der Ausweg aus diesem Organisationsdruck schien nun zunächst die Aufspaltung der Fakultäten zu sein, ihre Vermehrung und Verkleinerung zugleich, um auf diese Weise die Mitspracherechte der Stände zu kanalisieren und zu organisieren. Damit aber wurden grundsätzlich neue Forschungseinheiten gegründet, die vor allem nicht mehr jenes Minimum an Interdisziplinarität kannten, wie es den alten Fakultäten von selbst eigentümlich war. Am wenigsten waren noch die Fakultäten der Theologen und Juristen betroffen, weil deren Zahlen vergleichsweise konstant blieben. Aber die philosophischen und die naturwissenschaftlichen Fakultäten wurden in Forschungseinheiten zerlegt, die sich fast nur noch an disziplinaren Gesichtspunkten orientierten. Jedenfalls war das Leitziel der Neugründung, möglichst fachnahe Disziplinen zusammenzuspannen. So wurden von den Medizinern die klinischen Fächer zu eigenen Fakultäten zusammengefaßt wie andererseits die theoretischen Fächer. So bilden seitdem alle Sprachwissenschaften eine eigene Fakultät, alle Altertumswissenschaften, wobei häufig die Alte Geschichte mit Griechisch und Latein zusammengefaßt wurde, was noch sinnvoll war, aber ebensooft auch mit den orientalischen Sprachen, was in Anbetracht der großen Bedeutung der orientalischen Sprachen heute natürlich anfechtbar ist. Die historischen Wissenschaften rückten oft zusammen mit den Politologen und Soziologen, falls diese nicht zur Nationalökonomie hinübergezogen wurden. Insgesamt hatte diese Neuorganisation zur Folge, daß der Gruppenegoismus der Disziplinen, in eigenen Fakultäten institutionalisiert, einen besonderen Rückhalt finden konnte. In Bielefeld z. B. bilden die Historiker allein eine eigene Fakultät. Damit werden einerseits viele organisatorische Fragen erleichtert. Andererseits steht außer Zweifel, daß der zwischenfachliche Diskurs, dessen Zufälligkeit nicht zu unterschätzen ist und der in den alten Fakultäten am Rande und informell gepflegt wurde, jetzt abgebrochen ist. Vor allem die alten Habilitationsverfahren, die immer noch interdisziplinär konzipiert waren, nähern sich zunehmend reinen Fachprüfungen. In dieser Situation, die bei der Gründung der Universität Bielefeld vorausgesehen wurde, sollte nun das Zentrum für interdisziplinäre Forschung von vornherein sinnvolle Kompensationsleistungen erbringen und verbürgen. Hier war und ist der Ort, an dem der Fachegoismus grundsätzlich in Frage gestellt wird, wo 56 Theorieskizzen Interdisziplinäre Forschung und Geschichtswissenschaft 57 nur neue Fragestellungen zugelassen werden, die von vornherein zwischen den Fächern oder wenigstens von mehreren Fächern zugleich behandelt werden können. Diese Auflagen einzuhalten oder einzulösen ist nun, wie die bisherige Tätigkeit des ZiF zeigt, gar nicht so leicht. Damit komme ich zum zweiten Gesichtspunkt, nämlich zu den interdisziplinären Verfahren. 2. Interdisziplinäre Verfahren Es ist nicht möglich, eine endlich begrenzte Liste möglicher interdisziplinärer Verfahren aufzustellen. Von Fall zu Fall gibt es völlig verschiedene Kombinationsmöglichkeiten, die sich von Problemstellungen oder Konzepten her oder von Methoden und von Fachinteressen her definieren lassen. Ferner gehört zu allen interdisziplinären Verfahren die delikate Herausforderung, daß sich die Mitarbeiter untereinander persönlich abstimmen müssen. Gruppendynamische Spannungen werden entfacht, und so hängt es mehr von der Psychologie der Mitarbeiter ab als von Sachfragen, in welchen Größeneinheiten, etwa zu zweit oder zu zehnt, eine optimale Zusammenarbeit zustande kommt. Schließlich kommen dauerhafte Schwierigkeiten hinzu, die in den verschiedenen Fachsprachen enthalten sind, deren sich die Mitarbeiter bedienen. Die rein wissenschaftlichen Verständigungsschwierigkeiten wachsen somit an durch sozialpsychologische und sprachliche Barrieren. Konzessionsbereitschaft und wissenschaftliche Ehrlichkeit, methodische Strenge oder Borniertheit mögen nicht immer vereinbar sein - die Grenzen sind hier fließend. Und ebenso kann der Ehrgeiz eines einzelnen jeden Kompromiß vereiteln, der zumindest insoweit erforderlich ist, als interdisziplinäre Fragen, wenigstens forschungsethisch gesprochen, Konzessionen fordern. Sachfragen sind damit noch keineswegs vorentschieden. Es ist also nicht leicht, interdisziplinäre Forschung im Vollzug nach bloß wissenschaftlichen Kriterien zu organisieren, aber gerade das soll vom ZiF geleistet werden. Bevor ich einige Verfahren an den Ergebnissen zu messen suche, will ich kurz die Organisationsweisen nennen, in denen sich die interdisziplinäre Forschung am ZiF vollzieht: i. kennen wir einmalige Tagungen, die bis zu einer Woche dauern können. Solche Tagungen können sehr informell organisiert werden, aber im allgemeinen werden sie gründlich vorbereitet. Die Vorlagen müssen vorher eingereicht werden, damit sie vor der Tagung gelesen werden können, um Zeit für die redelustigen Professoren zu gewinnen. z. kennen wir Wiederholungstagungen: Dann werden in gewissen Abständen, etwa von einem halben Jahr oder einem ganzen Jahr, die Forschungsgruppen neu zusammengebeten, nicht selten in leicht veränderter Besetzung, um neu aufgetauchte Aspekte durch andere Fächer vertreten zu sehen. 3. kennen wir Dauergruppen, die bis zur Länge von einem Jahr zusammenarbeiten. Hier wohnen die Mitarbeiter an Ort und Stelle im ZiF, sie forschen an vorher bereits abgesprochenen gemeinsamen Projekten und ziehen von Fall zu Fall Gäste hinzu. Solche größeren Projekte haben sich bisher mit verschiedenen Themen beschäftigt: Sehr oft waren es Grenzfragen zwischen einzelnen Disziplinen, die behandelt wurden, etwa zwischen Logik und Linguistik, zwischen den Rechtswissenschaften und Sozialwissenschaften, zwischen der Historie und den Sprachwissenschaften, oder die Untersuchung moderner Großunternehmen in juristischer und in historischer Perspektive zugleich. Eine andere Gruppe von solchen größeren Projekten diente dazu, Brücken zwischen Wissenschaft und Praxis zu schlagen: etwa zwischen den Wissenschaften und dem Journalismus, oder es wurden die Voraussetzungen und Folgen des Städtebauförderungsgesetzes untersucht, das vom Bundestag in Bonn erlassen worden ist. Hier arbeiteten Architekten, Kommunalpolitiker, Soziologen, Juristen und Verbandsvertreter gleicherweise zusammen. Strenger definiert waren im vorhinein gemeinsame Probleme, die einzelne Fächer der Naturwissenschaftler betreffen. So trafen sich Psychologen und Biologen, um gemeinsame Fragen der Verhaltensforschung der frühen Entwicklungsphasen von Mensch und Tier zu untersuchen. Oder es haben sich Physiker und Mathematiker zusammengefunden, um die Forschungsfront der Quantendynamik vorzuverlegen. 58 Theorieskizzen Interdisziplinäre Forschung und Geschichtswissenschaft 59 Grundsätzlich darf für alle diese Verfahrensformen hinzugefügt werden, daß die Beteiligung der Ausländer nicht nur gewünscht, sondern fast immer gefordert wird. Oft befinden sich mehr Ausländer an unserem Institut als einheimische Wissenschaftler. Es kommt mir hier nicht darauf an, einen Erfolgsbericht der verschiedenen Arbeitsweisen und Arbeitsgruppen von verschiedener Dauer zu bieten. Aber es lassen sich einige Schwierigkeitsgrade charakterisieren, die jetzt nicht auf die gruppendynamischen und sozialpsychologischen Faktoren abheben, sondern offenbar in den Wissenschaften selbst enthalten sind. Generell darf dabei bemerkt werden, daß auch das Scheitern gemeinsamer Forschungsgruppen oft von großem Nutzen ist, weil dabei die Grenzen und Möglichkeiten einer einzelnen Disziplin besonders scharf markiert werden. Im folgenden möchte ich drei Schwierigkeitsgrade skizzieren, die in verschiedenen Varianten immer wieder auftauchen. a) Höchst einfach und ergebnisreich kann jene Interdisziplina-rität sein, bei der eine Wissenschaft der anderen nur Hilfsdienste leistet. Es handelt sich sozusagen um eine subsidiäre Interdiszipli-narität. So haben die Historiker am ZiF viel gelernt, als sie mit Vertretern der elektronischen Datenverarbeitung zusammenkamen. Statistische Methoden sind ja in der historischen Zunft seit langem zu Hause, jedenfalls seit dem 18. Jahrhundert, aber die Ergiebigkeit, mit der elektronisch gespeicherte Daten korreliert werden können, steigert inzwischen enorm die Kombinationsfähigkeit und damit die Aussagekraft statistischer Daten. Die Da-tenverarbeiter selbst haben in solchen Kolloquien höchstens neue Fragestellungen kennengelernt, die Art der Programmierung dagegen hat sich bei ihnen kaum verändert. b) Man mag bezweifeln, ob solche Hilfsdienste überhaupt interdisziplinär im strengen Sinne genannt werden dürfen. Aber das sind Definitionsfragen, die uns nicht beunruhigen sollten. Schwieriger ist jedenfalls schon die Zusammenarbeit, wenn zwei gleichberechtigte Fächer mit ihren eigenen Normen und Axiomen aufeinandertreffen. So hat sich z. B. seit der Entfaltung der struk-turalen Linguistik die Distanz zur historischen Methode zunehmend vergrößert. Einen Disput über gemeinsame Grenzfragen zwischen Linguisten und Historikern zu entfesseln fällt, von eini- gen Ausnahmen abgesehen, immer schwerer. Das hat sich in einer der Forschungsgruppen des ZiF niedergeschlagen. Die historisch-genetische Sprachwissenschaft, die sich im 19. Jahrhundert entlang den nationalen Philologien entwickelt hatte, hat zunehmend an Forschungsinteressen verloren. Vielmehr lassen sich zwei spezifisch ahistorische oder gar antihistorische Flügel beobachten: Auf dem einen Flügel wird versucht, ästhetische Normen und Typen oder Gattungen jenseits ihrer historischen Bedingtheit zu retten. Und der andere Flügel, der mit linguistischen Methoden die Sprache analysiert und eine Metasprache intendiert, tut all dies, ohne auf den geschichtlichen und sozialen Gehalt oder auf den historischen Wandel der Sprachen sonderlich Rücksicht zu nehmen. Es scheint offenbar schwierig, Baugesetze der Sprache und Regeln des Sprechens als solche zu untersuchen, wenn man zugleich den diachronen Wandel in den Blick rücken will, den alle Aussagen und Sprechweisen durchmachen. So ist inzwischen die Sprachsoziologie sehr viel näher an den historischen Fragestellungen interessiert als an den rein linguistischen Problemen. Sie muß nämlich darauf achten, wie sich Sprache zwischen Sprechern und Hörern ereignet, ferner welche Sprecher was unter welchen sozialen und politischen Bedingungen zu wem sagen. Und was sie sagen und zu wem sie es sagen, hängt offensichtlich von Faktoren ab, die sich der Sprache selbst entziehen. Kurzum, es gibt außersprachliche Faktoren, die professionell eher von den Historikern thematisiert werden: Es seien genannt die technischen Vorgegebenheiten, Prestige und Klassenzugehörigkeit, der soziale Ort und die verschiedenartigen Abhängigkeiten, die alle auf die Sprechweisen einwirken und damit langfristig auch auf die Sprache zurückwirken. Hier sind Bedingungen der Veränderung der Sprache aufzuzeigen, die sich einer synchronen linguistischen Analyse entziehen. Wie sich der synchrone Aufbau einer sprachlichen Struktur zum diachronen Wandel ebendieser Sprache verhält, das bleibt eine Forschungsaufgabe, an der gegenwärtig gearbeitet wird. Und es scheint streckenweise, als sei es nicht möglich, einen synchronen Schnitt und einen diachronen Durchgang bruchlos miteinander zu verbinden. Ich habe dieses Beispiel deshalb länger ausgeführt, um zu zeigen, wie zwei Fächer nah verbunden, gleichwohl sehr getrennt neben- 6o Theorieskizzen einanderher betrieben werden können. Hier steigen die Schwierigkeitsgrade der Interdisziplinarität enorm, und es bedarf großer Geduld, um neue Fragen wirklich beantworten zu können. c) Schwierigkeiten der genannten Art können, wenn sie überwunden werden, zur Etablierung einer neuen Disziplin führen. Oft sind sie das Ergebnis von zusammengelegten Fächern, die damit einen neuen Problemkreis erschlossen haben. Ich erinnere nur an die vielen Spezialsoziologien, die inzwischen eigene Lehrstuhlbereiche errungen haben: an die Rechtssoziologie, Sprachsoziologie, Medizinsoziologie usw. Auf die Länge wird man bei entwik-kelten und verfeinerten Methoden kaum mehr davon sprechen können, daß es sich hier um interdisziplinäre Forschungsvorhaben handelt. Man kann solche Bindestrichwissenschaften zwar weiterhin interdisziplinär nennen, aber im Wissenschaftskosmos haben sie sich etabliert. Gleichwohl kann man gerade an solchen Bindestrichwissenschaften zeigen, daß es einen dritten Grad von Schwierigkeit gibt, der vielleicht gar nicht übersteigbar ist. So ist es z. B. möglich, daß die Jurisprudenz, die ein Normensystem zu untersuchen und zu stabilisieren hat, in gewisser Weise gegen die Soziologisierung ihres Faches immun bleiben muß. Es gibt dann Fragestellungen, die andere Fragestellungen zwar zulassen, aber für bestimmte Strek-ken der Wissenschaft auch für irrelevant erklären können. Ich will daraus abgeleitete Immunisierungsstrategien keineswegs grundsätzlich verteidigen. Aber man sollte sich darüber im klaren sein, daß bestimmte Wissenschaftsentwürfe mit anderen inkommensurabel bleiben und daß auf dieser Inkommensurabilität gerade ihr jeweiliger Erfolg beruht. So kann ich alles soziologisieren oder auf ökonomische Bedingungen zurückführen, ohne damit sagen zu müssen, daß die gleichen Phänomene nicht auch anders betrachtet werden können. So läßt sich z. B. jede theologische Aussage auch geistesgeschichtlich relativieren oder religionssoziologisch in Abhängigkeit von anderen Faktoren bringen. Gleichwohl wird ein Theologe darauf bestehen, daß er Aussagen macht, deren Sinn gerade darin besteht, daß sie nicht auf ökonomische Faktoren zu reduzieren sind. Wir haben es also im dritten Fall mit Schwierigkeiten zu tun, die die Unterschiede bestimmter Fächer eher festzuschreiben als zu überbrücken geeignet sind. Hier sollte sich ein Interdisziplinäre Forschung und Geschichtswissenschaft 61 interdisziplinäres Programm bescheiden, denn aus der Erkenntnis auch unübersteigbarer Schwierigkeiten folgt zumindest, daß es keine Universalwissenschaft gibt, die alle Rätsel der Welt zu lösen imstande wäre. Damit komme ich zu meinem dritten Teil, zur Rolle, die die Geschichtswissenschaft innerhalb der interdisziplinären Herausforderungen spielt oder spielen kann. 3. Die Geschichtswissenschaft - interdisziplinär ? Um die Stellung der Geschichtswissenschaft zwischen den Disziplinen und ihre Verbindungsbrücken zu anderen Wissenschaften zu charakterisieren, will ich, wie es einem Historiker gebührt, mit einem Rückblick beginnen. a) Die historia als Wissenschaftsbegriff der frühen Neuzeit deckte weit mehr ab als den Bereich, den wir seit dem 18. Jahrhundert im Deutschen als >Geschichte< bezeichnen. Historia war, sehr allgemein gesprochen, ein durchgängiger Begriff für alle Erfahrungen, die von anderen oder von einem selbst gesammelt, berichtet, geordnet und tradiert wurden. Die Historie lieferte somit zahlreiche Daten und Fakten, Singularitäten und Besonderheiten, die von den andern Fakultäten verwendet wurden und nicht selten verallgemeinert werden konnten. So deckte die Historie ab: die Kenntnis der Natur, die Naturkunde (historia naturalis), die Geschichte der Menschen (historia humana), aber oft auch die Geographie und die Staatenkunde (als Teil der historia civilis) und schließlich, wenn auch abnehmend, die heilige Geschichte (historia sacra). Insofern stand diese Historie immer im Dienst anderer Fakultäten: Für die Jurisprudenz lieferte sie die Rechtstitel aus der Vergangenheit, die auf die Politik einwirkten; für die Politik lieferte sie die Geschichte der Verfassungen und zunehmend die statistischen Daten; für die Theologie die einmaligen Taten der Christen und ihres Gottes; für den Philosophen lieferte sie die Berichte früherer Denker, aber ebenso für die Ethik die Beispiele für eine Kasuistik der Fälle. Schließlich lieferte sie den entstehenden Naturwissenschaften alle in der Natur vorfind-lichen Befunde und Gegebenheiten, die dann zunehmend rationalen und mathematisierten Gesetzen unterworfen wurden. Die- 62 Theorieskizzen Interdisziplinäre Forschung und Geschichtswissenschaft 63 se Historie war also die vielgestaltige Magd zahlreicher Wissenschaften, ohne selber eine unabhängige Disziplin zu bilden. Sie besaß sozusagen eine subsidiäre, dienstleistende Interdisziplinari-tät. Diese empirisch grundlegende Rolle für andere Wissenschaften wurde nun langsam aufgewertet, wobei sich die Historie im Laufe des 18. Jahrhunderts als eigenständige Wissenschaft verselbständigt hat. Daß sie sich nur mit den Menschen, ihren Institutionen, ihrem Tun und Leiden in der Gesellschaft und in den Staaten, in der Wirtschaft und Kultur beschäftigt - dies ist zugleich eine Einengung und Präzisierung, die uns in das Zeitalter der Aufklärung führt. b) Der Begriff der >Historie< und im Deutschen der neue Begriff der >Geschichte< konzentrierten sich zunehmend auf die Menschengeschichte, die Geschichte des Menschengeschlechtes als Einheit auf diesem Globus - unter Absehung von theologischen Prämissen und unter Ausblendung der Naturgeschichte, die sich verselbständigte. Die Aufklärung führte zur Entdeckung der sogenannten geschichtlichen Welt. Lassen Sie mich einige Kriterien nennen, die seitdem die neuentstehende Geschichtswissenschaft auszeichnen, die nunmehr auch ihre eigenen Lehrstühle erhielt. Es wurde vom Historiker verlangt, daß er für die Erscheinungen der Gesellschaft Erklärungen fand. Feststellungen von Tatsachen als solchen reichten nicht mehr aus: Sie wurden begründungspflichtig. Damit wurden die Einzelheiten, für die die Historie immer zuständig blieb, zugleich eingeordnet in langfristige Abläufe, die zunehmend in den Blick genommen wurden. Das Prinzip des Fortschritts und der Entwicklung leitete seitdem die Fragen, die sich auf alles ausdehnen konnten, was bisher in den Mythen oder theologischen Berichten oder im Grau des Unbekannten aufgehoben war. So packte die Historie sowohl die Ursprungsfragen menschlicher Geschichte an wie die Erkundung aller Völker und Kulturen auf diesem Globus. Damit wurden immer mehr Vergleiche freigegeben, um auch Unterschiede in den Entwicklungen auszumachen oder um Zielpunkte kommender Fortschritte zu setzen. Die bislang statisch begriffene Welt, in der sich grundsätzlich alles gleiche, wurde dynamisiert. Damit wurde ein neuer, ein weiterer Gesichtspunkt für die Arbeit der Historiker leitend: Alles wurde seitdem als einmalig und unwiederholbar erachtet. Der zeitliche Verlauf war nicht mehr nur an der natürlichen Zeit zu messen, die in der Natur aufgehobene Wiederkehr schien der Geschichte nicht mehr angemessen, und das um so weniger, als im Horizont der technisch-industriellen Revolution sich tatsächlich ungeahnte Veränderungen anzeigten. Das Fortschrittsprinzip wurde deshalb zum plausiblen Leitprinzip, dem die ganze geschichtliche Welt zu folgen schien. Die genannten theoretischen Kriterien der neuen Geschichtswissenschaft imprägnierten nun zahlreiche Nachbarwissenschaften. Der historische Weltentwurf wurde so etwas wie ein Leitsektor für die anderen Wissenschaften. Die Nationalökonomie wurde seit den schottischen Nationalökonomen mit ihrer Entdek-kung zugleich als historische Wissenschaft entworfen. Etappen ihrer Entwicklung erhielten ein jeweils unverwechselbares Profil: Das merkantile System, die physiokratische Auflockerung zum Liberalismus, schließlich der Kapitalismus sind Wirtschaftsstrukturen, die als historisch einmalige Systeme begründet wurden - bis hin zu Marx. - Die Sprachwissenschaften organisierten sich als historische Philologien z. B. für die neu entdeckten Gesetze phonetischen Wandels. - Selbst die Naturwissenschaft wurde streckenweise historisiert. Darwins Entwicklungslehre basiert auf dem Prinzip geschichtlich bedingter Selektion, wobei die Erfahrungen der neuen kapitalistischen Konkurrenzwelt nicht ohne Einfluß auf die Entstehung dieses Systems waren. Auch die Astrophysik seit Kant und Laplace darf mit ihren naturwissenschaftlichen Ursprungsfragen als historische Wissenschaft angesehen werden. Immer und überall war der zeitliche Verlauf nicht nur ein chronologisch meßbarer Verlauf, sondern barg in sich eine verändernde Kraft, die sich über kürzere oder längere Zeitspannen hinweg entfaltet, und sei es über Millionen Jahre hinweg. - Selbstverständlich wurden die Sozial- und Kulturwissenschaften historisch entworfen, vor allem soweit sie die Unverwechselbarkeit und Einmaligkeit der Völker und Kulturen hypostasierten, auch wenn sie auf der Skala fortschreitender Entwicklung eingetragen wurden. So also führte die Historisierung zahlreicher Wissenschaften zu einem theoretisch allgemein verbindlichen Kanon. Sieht man von den experimentellen Naturwissenschaften ab, so war es der historische Weltentwurf, der die interdisziplinären Brücken leicht 64 Theorieskizzen Interdisziplinäre Forschung und Geschichtswissenschaft 65 begehen ließ. Ohne Zweifel hat das 19. Jahrhundert als Jahrhundert des Historismus zu enormen Entdeckungen und zu einer entschiedenen Ausweitung der Erkenntnisse über den Menschen geführt. Wir wissen heute oft mehr über vergangene Zeiten, als diese ehedem über sich selbst gewußt hatten. So darf man sagen, die Zusammenhänge zwischen den Human- und Sozialwissenschaften wurden durch die geschichtliche Weltsicht gestiftet. Interdisziplinärer Verkehr vollzog sich unter dem Vorgebot analoger oder gemeinsamer entwicklungshistorischer Perspektiven. c) All dies hat sich seit der Krise des Historismus, spätestens seit dem Ersten Weltkrieg, gründlich geändert. Zunächst hatte sich herausgestellt, daß zahlreiche der aufgeworfenen Fragen nach Ursprüngen und Zielsetzungen, nach Herkunft und Sinnfindung nicht zu beantworten sind, wenn man erst einmal mit den historischen Bedingtheiten Ernst macht. Die Relativität aller geschichtlichen Daten bietet keinen Halt, um Welterklärungen verbindlich abzusichern. Gewiß bleiben historisch-genetische Erklärungen für sich genommen sinnvoll und unerläßlich. Aber wir sind heute bescheidener geworden, ihr hypothetischer Grundzug tritt mehr und mehr in das Bewußtsein der Wissenschaftler. Die Wissenschaften sind insofern genügsamer, aber auch strenger geworden. Eine geschichtliche Totalsicht ist nicht mehr verbindlich, es sei denn, sie wird politisch-ideologisch gefordert oder oktroyiert. Die heilsame Skepsis gegen die Geschichte als Grundwissenschaft hat nun neue interdisziplinäre Herausforderungen zur Folge. Sie lassen sich nach zwei Seiten hin beschreiben: Einerseits bleibt die historische Methodik eine unerläßliche Hilfe für die anderen Wissenschaften. Andererseits ist die historische Wissenschaft selber stärker unter Systemzwänge und Theoriegebote geraten, die sie auf neuartige Weise mit den anderen Wissenschaften verbindet, die sich aus dem Kosmos der historischen Wissenschaften entfernt haben. Das sei zum Schluß skizziert. 1. Keine Wissenschaft kommt ohne historische Reflexion aus. Vor allem genetische Fragen erweisen immer wieder ihre Fruchtbarkeit für systematisch als eigenständig konzipierte Wissenschaften. Die allgemeine Linguistik kann der historischen Philologien der Primärsprachen nicht entraten. Die politische Wissenschaft, mag sie noch so sehr auf institutionelle Systeme oder auf natio- nalpsychologisch scheinbar feste Daten rekurrieren, wird immer ihr Material aus der historisch aufbereiteten Vergangenheit nehmen müssen. Keine Ökonomie oder Soziologie kann allgemeine Aussagen riskieren, ohne individuelle Befunde zu erheben, die sie dann zu erklären sucht. Statistische Datenreihen und Trendberechnungen, Planungen und handlungsrelevante Sozialwissenschaften können nicht anders als mit historischer Vorbereitung arbeiten. So sind denn zahlreiche Minimalbedingungen der genannten Wissenschaften auf interdisziplinäre Zusammenarbeit zu gründen. Die historische Wissenschaft kann hier durch Detailkenntnis, durch Verfremdungseffekte und Ideologiekritik systemverunsichernd wirken, damit Erkenntnisse stimulieren und Wirklichkeitsnähe stiften. Voraussetzung bleibt, daß die historischen Methoden der Quellenexegese und ihre Befragungstechniken, um stumme Daten zum Sprechen zu bringen, auf die anderen Disziplinen einwirken. Es gibt so etwas wie eine Widerständigkeit der Quellen, die bestimmte Aussagen verhindert, die man aus Gründen der Wünschbarkeit gerne hören möchte. Die Quellen haben ein Vetorecht, dessen sich zu bedienen die Historiker eine große Erfahrung haben. Sie sind gleichsam methodisch trainiert, unverwechselbare Konstellationen und Überraschungen in die Waagschale der Urteilsbildung zu werfen, Vorteile, deren sich auch die anderen Wissenschaften immer wieder bedienen müssen, wenn sie der Kritik standhalten wollen. z. Aber auch ihre Gegenrechnung darf aufgestellt werden. Die bisherige Historie hat sich oft allzusehr als Geschichte der politischen Ereignisse begriffen und auch ideologisch sich in das Schlepptau jeweiliger politischer Mächte nehmen lassen. Letzteres wird sich nie ganz vermeiden lassen, und ersteres bleibt in sich völlig legitim. Gleichwohl scheint heute eine Situation entstanden zu sein, in der die Wissenschaften, die sich der historisch-genetischen Perspektive zu entziehen trachten, ihrerseits systematische und theoretische Angebote machen, die auf die Geschichtswissenschaft befruchtend zurückwirken, zumindest zurückwirken können. Lassen Sie mich einige Beispiele und Angebote aufführen. Wer heute Verfassungsgeschichte als Sozialgeschichte schreiben will, wird gut daran tun, Fragen zu verfolgen, die von der Organisa- 66 Theorieskizzen Interdisziplinäre Forschung und Geschichtswissenschaft tionssoziologie oder, allgemeiner gesprochen, von der Systemtheorie gestellt werden. Dabei schärft sich der Blick für funktionale Abhängigkeiten, für institutionelle oder rechtliche Vermittlungs-zwänge, die ihrerseits auf die sozialen Gruppen und Kräfte zurückwirken. Wer heute wirtschaftliche Antriebskräfte für jede Veränderung fundamental einsetzt, wird nicht umhinkönnen, ökonomische Theorien zu berücksichtigen, selbst wenn deren Mathematisie-rung den fächerübergreifenden Zugang erschwert, wenn nicht versperrt für den normal ausgebildeten Historiker. Aber gerade hochstilisierte Fallstudien, etwa der New Economic History, können Entdeckungen machen, wie etwa zur Geschichte der amerikanischen Sklavenbefreiung, die mit herkömmlichen Methoden der Geschichtsschreibung nicht zu finden sind. Wer heute die Geschichte der Unterschichten schreibt, für die die Quellenlage bekanntlich sehr schwierig ist, wird gut daran tun, auch die biologischen Voraussetzungen der Krankheiten und Seuchen mit zu thematisieren. Denn viele der sozialen Daten, konkret gesprochen das massenhafte Elend, waren noch so tief in naturhafte Bedingungen eingelassen, daß eine rein soziale Erfassung der Phänomene, etwa der hohen Sterbequoten, zu kurz greift. Wer heute politische Verhaltensweisen und Mentalitäten von Parteien, Organisationen, Gruppen, Schichten oder Klassen thematisiert, wird sich notwendigerweise mit den Ergebnissen der Freudschen Schule auseinanderzusetzen haben. Auch wenn die Übertragbarkeit individualpsychologischer Kategorien auf gesellschaftliche Gruppen methodisch unerlaubt ist - die Ausweitung der Erkenntnisziele in den Bereich der vorsprachlichen, der unbewußten Steuerungsimpulse hat jedenfalls wissenschaftstheoretisch Postulate gesetzt, die auch für die Mentalitätsforschung maßgebend sein sollten. Wer heute Kulturgeschichte neu aufgreift oder anthropologischen Fragestellungen huldigt, der wird sich z.B. mit den sinnlichen Erfahrungen der optischen Welt abgeben müssen: mit Steindrucken und Flugblättern, mit Foto, Film und Fernsehen bis hin zu den Spruchbändern und Denkmälern, die das jeweilige Verhalten beeinflussen oder steuern sollten. Das aber läßt sich nicht realisieren, ohne daß man die Ästhetik und Kunstgeschichte be- müht, deren eigene Kriterien gerade nicht sozialhistorisch sein müssen. Gerade in der Durchkreuzung verschiedener theoretischer Prämissen ist der Impuls enthalten, neue Einsichten zu gewinnen. Die Beispiele ließen sich beliebig erweitern. Jede Geschichtsschreibung, die über die chronologische Verknüpfung von Ereignissen und ihre Wirkungszusammenhänge hinausgreift, gerät also in interdisziplinäre Herausforderungen. Denn die ihr ursprünglich zugeordnete Ereignisgeschichte, die ihren unaufhebbaren Platz behält, wird zunehmend in mittel-oder längerfristige, systematisch zu entwickelnde Zusammenhänge gestellt. Solche übergreifenden Zusammenhänge, etwa der wirtschaftlichen Systeme, der Organisationen, der politischen Verfassungen, der Schichtungen oder der Verhaltensweisen und Sprechweisen der Gruppen usw., können nur thematisiert werden, wenn die Voraussetzungen und Grenzen solcher Themenkreise theoretisch vorgeklärt sind. Das aber setzt voraus, daß sich die Historiker auch auf die Wissenschaften einlassen, die sich professionell mit derartigen Zusammenhängen beschäftigen. Warum sollten bloß die Philologien, die die schriftlichen Quellen zu lesen und zu interpretieren helfen, unsere Partner sein ? Es sind alle Wissenschaften, denn keine der Wissenschaften kann ihrerseits bestehen ohne ihre geschichtliche Dimension. i i i f Archivalien - Quellen - Geschichten 69 Archivalien - Quellen - Geschichten Seitdem Traditionen brüchig geworden sind, ist es zunehmend üblich geworden, daß Staaten, Länder, Städte und Institutionen ihre Geburtstage feiern. Sie wollen sich ihrer Dauer vergewissern. Wenn wir heute das 150. Geburtsjahr einer Institution feiern, die den würdigen Namen eines »Haupt-Staats-Archivs« trägt, so hat es damit freilich seine besondere Bewandtnis. Denn wir vergewissern uns nicht nur der Dauer und der Lebenskraft irgendeiner Institution, sondern einer Institution, deren Haupt- und Staatsaufgabe es selber ist, Dauer zu verbürgen, Tradition zu pflegen und, was vielleicht das schwerste und wichtigste ist, immer offen zu sein für alles, was aus der täglichen Geschichte auf uns zukommt. Ein Archiv ist also nicht bloß ein Institut zur Aufbewahrung verstaubter und vergilbter Papiere, obwohl das dazugehört, sondern eine unentbehrliche Einrichtung, deren Zweck es ist, unsere Vergangenheit mit unserer Zukunft zu vermitteln. Es hat die Funktion eines Scharnieres, mit dessen Hilfe täglich die Tür zur Vergangenheit geöffnet wird, um aus dieser für heute und morgen etwas abrufen zu können. Alle Behörden, die meisten Organisationen und Vereinigungen, zahlreiche Personen haben ihre eigenen Archive oder Ablagen, und unser Hauptstaatsarchiv ist ein Sammelbecken, das sich aus dem Zustrom all dieser Einzelarchive speist. Es gehört zu seiner vornehmsten Aufgabe, das Archivgut zu erhalten und allen entsendenden Einrichtungen und Personen, aber darüber hinaus der ganzen Gesellschaft, unserer Öffentlichkeit, zugänglich zu machen. Fürwahr ein doppelter Grund für uns Gäste, das 150. Geburtsjahr mitzufeiern. Wenn im folgenden einige Bemerkungen über Archivalien, Quellen und Geschichten gemacht werden, so sei gleich ein Vorbehalt angemeldet. Es war keineswegs die ursprüngliche und ist auch heute keineswegs die einzige Aufgabe eines Archivs, den Historikern zu Diensten zu stehen und ihre Neugierde zu befriedigen. Seit den Archivgründungen der altorientalischen Großreiche war es ihre erste Aufgabe, politische, rechtliche, religiöse und administrative Handlungen schriftlich festzuhalten und aufzubewahren, um deren Geltung und Wirksamkeit auf Dauer zu stellen. So gibt es noch heute in unserer schnellebigen Zeit Urkunden aus der Säkularisationswelle um 1800, die rechtswirksam sind - auch wenn sie im Archiv abgelegt sind. Man denke an die staatliche Beteiligungspflicht zum Kirchenbau, die aus damaligen Verträgen herrührt, die also älter sind als unser Archiv. Die professionelle Neugierde der Historiker hat sich der archivierten Materialien erst sukzessive bemächtigt, in dem Maße nämlich, wie deren rechtliche, politische oder religiöse Stabilisierungsaufgaben schneller und schneller verblaßten. Das wird deutlich an den Sperrfristen, nach deren Ablauf die Archivalien ohne besondere staatliche Genehmigung erst eingesehen werden durften. Zur Gründungszeit unseres Archivs konnten ohne Genehmigung des preußischen Staatskanzlers nur Schriftstücke vor 1500, also vor Luthers Zeit, eingesehen werden. Gegen Ende des Jahrhunderts war die Sperrklausel auf das Jahr 1700 zurückgenommen worden. Immerhin galt die Vergangenheit von rund zwei- bis dreihundert Jahren noch als aktuell und politisch brisant und deshalb grundsätzlich als geheimhaltungswürdig. Heute haben wir die Chance, vom Persönlichkeitsschutz abgesehen, Akten schon 3 o Jahre nach ihrer Entstehung ungehindert einsehen zu können. In dieser Verkürzung der Sperrfristen, nach deren Ablauf das Archivgut dem Historiker zugänglich geworden ist, spiegelt sich der Funktionswandel des Archivs. In dem Maße wie seine immer aktuellen Daueraufgaben politischer, rechtlicher oder administrativer Art überholt werden, wächst der Anteil spezifisch historischer Aufarbeitung. Man kann den Satz auch umdrehen: Das Gewicht der historischen - oder auch soziologischen - Verarbeitung des Archivgutes wächst an, in dem Maße wie die aktuellen Zwecke der archivierten Güter schneller - und zwar weit schneller als in früheren Zeiten - dahinschwinden. Man darf also folgern: Die geschichtliche Forschung wird immer aktueller, je schneller sich die Zeiten wandeln. Das jedenfalls zeigt uns der grob skizzierte Wandel in der Aufgabenstellung der Archive. Sorgten sie früher eher für die Konstanz rechtlich-politischer Ansprüche, administrativer Regeln oder kirchlich-religiöser Zustände, so dienen sie heute dazu, über allen Wandel hinweg die Einsicht in diesen Wandel und die Erkenntnis der Bedingungen dieses Wandels wahren zu helfen. 7o Theorieskizzen Archivalien - Quellen - Geschichten 71 So sei mir erlaubt, auch wenn die Historiker nicht die alleinigen Nutznießer der Archive sind, speziell von dem engen Verhältnis zwischen archivarischer und historischer Arbeit zu sprechen. Bei aller Gemeinsamkeit, die wir in der Grundausbildung und den Interessen der Archivare und der Historiker voraussetzen dürfen, gibt es Unterschiede in ihren Funktionen. Dabei handelt es sich zunächst um eine pragmatische Arbeitsteilung, die ein Vorurteil schürt. Denn sicher ist es ein massives Vorurteil, zu glauben, daß die einen sammeln und bewahren und die anderen schreiben oder reden. Und selbst wenn ihre Arbeitsbelastung die Archivare mehr am Schreiben oder Edieren hindert, als ihnen lieb ist, so laufen die wissenschaftlichen Funktionsgrenzen jedenfalls anders, gleichsam durch die Personen hindurch. Alle Archivare sind Historiker, aber keineswegs sind alle Historiker Archivare. Die Arbeitsteilung, die die Berufsgruppen trennt, ist nicht identisch mit der Funktionsbestimmung, die sich aus der Beschäftigung mit Archivmaterial einerseits und der Geschichtsschreibung andererseits ergibt. Wer als Laie vor den Toren eines Archivs steht, mag die irrige Vermutung hegen, daß in den vielen Kilometern von Archivalien, die dort in den Regalen lagern, auch die Geschichten zu lesen stehen, die in den Büchern erscheinen. Diese Vermutung ist nicht ganz falsch, aber was daran falsch ist, möchte ich erläutern. Archivalien sind gegenwärtig und präsentierbar. Man kann sie anfassen, sie sind insofern keineswegs vergangen. Es sind gestapelte, gepflegte, mehr oder minder geordnete Papiere, Pappen, Karten, Bilder, Siegel, Fotos, Filme, oder anders gruppiert: Urkunden, Akten, Briefe, Tagebücher - schriftliche oder bildliche Dokumente. Immer handelt es sich um gegenwärtige Überreste aus der Vergangenheit, wenn man so will, um gehortete Vergangenheit. Dieser von den Archivaren gehütete Hort ist stumm, aber abrufbar, er läßt sich zum Sprechen bringen. Genau hier setzt die Arbeit des Historikers ein, gleich ob er auch Archivar oder nur Historiker ist. Um aus dem archivierten Material eine Geschichte erstehen oder wiedererstehen zu lassen, bedarf es der Methode, die erlernbar und trainierbar ist. Können gehört dazu und gewiß auch etwas Kunst. Jedenfalls ist es ein weiter Weg von dem Archivale zur Geschichte. Archivalien sind nie identisch mit den Geschichten, von denen sie zeugen. Das wird schnell klar, wenn wir zunächst einen Blick auf das Archivgut werfen, das in den Archiven gehortet wird. Trotz aller Verwaltungsregeln, nach denen es heute wie auch schon früher gesammelt wird - immer ist eine gehörige Portion Zufall im Spiel, wenn die schriftlichen Überreste vergangener Handlungen und Geschäfte unter das schützende Dach des Archivs geraten. Unendlich viel geht verloren, bevor es überhaupt in den Gesichtskreis, geschweige denn in das Zugriffsrecht eines Archivars gelangen konnte. Und einmal archiviert, ist das Material den üblichen Widrigkeiten natürlicher oder politischer Zeitläufe ausgesetzt. Der natürliche Verfallsprozeß des materiellen Substrats unserer Archivalien wird zwar heute durch naturwissenschaftlich raffinierte - und teure - Verfahren aufgehalten, aber ein Krieg, eine Bombe, eine Auslagerung kann - und hat es oft genug getan - alles Gesammelte im Nu vernichten, unschließbare Lücken reißen. Hinzu kommt eine zweite Mißlichkeit. Neben den Verlusten waltet der Zwang zur Vernichtung. Immer wieder steht der Archivar vor der nie eindeutig zu beantwortenden Frage, was im Reißwolf landen soll und was nicht. Schier prophetische Künste werden ihm hier abgefordert. Wie soll er heute wissen, was für die Geschichte von morgen wichtig sein wird. Ganze Forschungszweige sind entstanden, weil sie von gesellschaftlichem Interesse sind - oder sein könnten -, für die uns heute zahlreiche Archivgüter fehlen, weil sie früher einmal als uninteressant oder unwichtig im Papierkorb, im Ofen oder auf dem Müllplatz gelandet sind. Ich denke an die Familien- und Bevölkerungswissenschaft, an die Mentalitätsgeschichte, die Alltagsge-,schichte der sozialen Klassen oder an spezielle Fragen der Wirtschaftsstatistik, die oft genug kein Archivmaterial finden, das sie dringend brauchten. Wie viele Erhebungsbögen zu hoch aggregierten Statistiken sind schon vernichtet worden, die heute wichtige Rückschlüsse zuließen, hätten wir noch das Urmaterial. Die Reihe der Fehlbestände läßt sich verlängern, und sie wird sich verlängern. So kann der Archivar seine Entscheidung von heute morgen bald bereuen. Er mag für seine Enkel die falschen Akten gesammelt haben, aber er darf getrost sein, die Urenkel werden vielleicht den von ihm überlieferten Schriftgütern neues Interesse abgewinnen. Einem Historiker kann man einen Irrtum nach- 72 Theorieskizzen Archivalien - Quellen - Geschichten 73 weisen, indem man ihn mit ausgelassenen oder übersehenen Akten konfrontiert. Aber einem Archivar kann man keinen Irrtum vorhalten, wenn er für übermorgen die falschen Akten ausgewählt hat. Denn die Selektionskriterien ändern sich erst mit der Geschichte selber. Die Geschichte ist gleichsam unbegrenzt, das Archivgut bleibt begrenzt. Ungewollter Verlust und willentliche Vernichtung begrenzen es zusätzlich, so daß wir hier ein erstes, gewichtiges Kriterium hätten, um den großen Abstand zwischen Archivalien und den daraus ableitbaren Geschichten ausmessen zu können. Hinzu kommt ein zweites Kriterium, das die Differenz zwischen Archivalien und Geschichten ausmessen läßt. Nicht nur Verlust und Vernichtung, auch das tatsächlich Aufbewahrte hat seine inhärenten Grenzen - Grenzen, die keineswegs die Grenzen unserer Forschungsinteressen sind. Bis in das hohe Mittelalter sind unverhältnismäßig viele Urkunden aufbewahrt worden, was aus ihrem rechtsstiftenden und rechtserhaltenden Charakter verständlich wird. Aber ihre Dominanz blendet ganze Bereiche aus, auf die sich unsere Neugierde richtet. So arbeitet der Historiker hier mit vergleichsweise wenigen und zudem einseitig überlieferten Resten. Sein Schachbrett ist gleichsam nur mit einigen Figuren, wenig Bauern, mehr Offizieren, besetzt, mit deren begrenzter Zahl er immer neue Kombinationen erfindet, um eine Forschungsstrategie siegreich zu Ende zu führen. So können die dominierenden Urkunden, etwa auf ihre Namen hin befragt, ganze Adelsgeschlechter in ihren kirchlichen oder ständischen Positionen rekonstruieren helfen. Seit dem Spätmittelalter drehen sich die Zahlenverhältnisse gleichsam um. Der Historiker steht seitdem vor mehr Überresten, als er überhaupt verkraften kann. Zu den Urkunden kommen die Akten, all die Vorgänge, die zu rechtskräftigen Urkunden hinführen mochten. Aber gerade diese Vielzahl an Dokumenten ist ebenfalls begrenzt. Die Behörden, von der Kommune bis zum Staat, werden nach dem Klerus schriftfähig, und die entstehende Bürokratie lebt von der Schriftlichkeit überhaupt. Die mündliche Tradition wird überholt, aber seitdem wird nicht nur die erzählte Geschichte, wie schon lange zuvor, verschriftlicht, sondern auch die zu erforschende Geschichte wird an schriftliche Dokumente zurückgebunden. Damit wird die Perspektive schärfer, aber auch eingeengt. Hinzu kommt ein Perspektivenwechsel. Seit dem späten Mittelalter wird eine wachsende Menge an Schriftgut produziert und überlieferungsfähig, das aber alle denkbaren Geschichten, die man ihm entlocken kann, zunächst aus der Perspektive von oben beleuchtet. Gewiß beherrscht der Historiker die Kunst, Dokumente auch gegen den Strich zu lesen, aber eine prinzipielle Grenze bleibt bestehen. Hinreichende Auskünfte oder gar Begründungen etwa für Bevölkerungswachstum oder Produktivität einer Landschaft, um zwei Beispiele zu nennen, lassen sich nicht ohne weiteres dem Schriftgut entnehmen, das uns die Bürokratie in die Archive geschleust hat. Wieder stehen wir vor einem tiefen, gelegentlich unüberbrückbaren Graben, der sich zwischen überlieferten Archivalien und einer gesuchten und zu schreibenden Geschichte auftut. Auch die Zukunft birgt noch allerhand Überraschungen, mögliche Limitierungen neuer Art. Ich denke hier weniger an den Persönlichkeitsschutz, der die in Computern gespeicherten Daten sperrt, eine Sperre, die sich zunehmend auf die absterbenden und verstorbenen Generationen ausdehnen und damit deren Erforschung unmöglich machen kann. Weiter reichen die Folgen der Datenspeicher selber. Viele Primärinformationen werden in Zahlen transponiert, und selbst wenn sie rückübersetzbar bleiben, kann ein elektronischer Blitz die in Bändern und Kapseln gespeicherten Informationen löschen. Dann hätten wir das Zeitalter der Nachschriftlichkeit endgültig erreicht, dem Zustand vergleichbar, in dem sich ein psychiatrischer Patient nach dem Elektroschock befindet. Der Erinnerungsverlust wäre dann eine fragwürdige Prämie auf Gesundheit. Genug der Einschränkungen, die uns die Archivalien aus Vergangenheit, Gegenwart und in Zukunft auferlegen. Sie sind teils äußerlicher Art - durch Verlust und Vernichtung -, teils sind sie dem jeweiligen Typus des Archivguts inhärent. Gewiß bleibt das Archiv weiterhin eine Arche Noah der Überlieferung. Aber selbst wenn sie alle Tiere in sich aufgenommen hätte, um den Vergleich auszuspinnen, fehlen die Varianten einer Gattung, vor allem fehlen die Pflanzen und Früchte, von denen sie 74 Theorieskizzen Archivalien - Quellen - Geschichten 75 leben, und mehr noch: ihre Umwelt und ihr Boden, auf dem sie leben müßten. Damit hätten wir ein erstes Ergebnis, das uns warnen sollte, in den Archivalien selbst schon die Geschichten zu sehen, um deren Erkenntnis es uns geht. Die Archivalien sind eine unverzichtbare und notwendige Voraussetzung für die Historie, aber für sich genommen reichen sie nicht aus. Was wir zuerst von den Funktionen der Berufsgruppen sagten: Alle Archivare sind auch Historiker, aber nicht alle Historiker sind Archivare - das läßt sich jetzt auch für ihre Gegenstandsbereiche sagen: Alle Archivalien haben ihre eigenen Geschichten, und sie enthalten ihre Geschichten, aber nicht alle Geschichten, die wir erkunden und schreiben wollen, haben die ihnen gemäßen Archivalien. Deshalb möchte ich jetzt unsere Frage umdrehen und sie weniger aus der Sicht des Archivars und seines Archivgutes als aus der Sicht des Historikers und seiner Quellen behandeln. Um eine Geschichte zu erkunden und zu erzählen, müssen zunächst die Archivalien zum Sprechen gebracht werden. Dazu bedarf es ihrer Befragung. Erst wenn wir ein Archivstück befragen, wird aus dem Archivstück eine Quelle. Wer nichts sucht, findet nichts, wer nichts fragt, erhält keine Antwort. Erst durch die Suche und durch die Frage gewinnt das stumme Archivale den Rang einer Quelle. Dann erst fängt es zu sprechen an, oder wie die Metapher lautet, fängt es an zu fließen. Und die Quelle fließt immer aufs neue, wenn wir sie erneut befragen. Durch keinen Gebrauch kann sie, wie Hans-Georg Gadamer einmal sagte, verunreinigt werden.1 Obwohl also das Archivale und die Quelle in ihrem materiellen Substrat dasselbe sind, ändert sich wissenschaftstheoretisch ihr Status, je nachdem ob es mit allen Künsten der Erhaltung im Regal oder im Kasten oder im Panzerschrank gelagert wird - oder ob es herausgeholt, auf den Tisch gelegt, in die Hand genommen, untersucht und befragt wird. In dem Archivale ist die Vergangenheit zwar gegenwärtig, aber stumm, sie schlummert, ist aber nicht tot. Wird es durch unsere i [Vgl. Hans-Georg Gadamer, »Exkurs V«, in: ders., Gesammelte Werke, Bd.i: Hermeneutik II. Wahrheit und Methode. Ergänzungen und Register, Tübingen 1986, S.38317] Fragen zur Quelle, so wird das, was in ihr auf die Vergangenheit verweist, gleichsam lebendig, fängt an zu sprechen. Die historische Quelle fängt nur an zu fließen, wenn sie geöffnet wird. Aber das, was die einmal befragten Archivalien als Quellen zu sagen wissen, ist keineswegs die Geschichte, um deren Erkenntnis es uns geht. Eine Geschichte ist immer etwas anderes, zugleich mehr und auch weniger als das, was wir einer Quelle entnehmen können. Lassen Sie mich das in vier Punkten erläutern. 1. Quellen sind immer punktuelle, niomenm si-tuativeAu&schnitte, die-schr-iftlich oder bildlieh etwas fixieren. Was aus der Feder irgendeines Schreibers geflossen ist, ist immer nur ein perspektivischer Ausschnitt; was durch die Hand eines Wachsgießers geprägt wurde, ist vielleicht nur das Symbol des Gemeinten; was vom Maler, Zeichner oder Fotografen festgehalten wurde, ist nur ein Moment, vielleicht mit Anspruch auf Dauer. Niemals öffnet uns eine Quelle den zeitlichen Durchblick, den Zusammenhang des Gebotenen mit seinem Früher oder Später, mit dem Zufrüh oder dem Zuspät, den Zusammenhang mit all dem, was nicht in dieser Quelle zu finden ist. Nun bietet sich ein sinnvoller, aber nicht hinreichender Ausweg an: die Summe der erreichbaren Quellen zu edieren. So notwendig Quelleneditionen für die Forschung sind, die Geschichtsschreibung können sie nicht ersetzen, auch wenn man das zeitweilig geglaubt hatte. Eine Summe von addierten Aktenstücken ergibt sowenig eine Geschichte, wie die Aneinanderreihung von Punkten eine Linie ergibt. Keine Quelle ist also fähig, jenen zeitlichen Zusammenhang zu stiften, ohne den es keine Geschichte'glbtrDie ( Geschichte hat sich sozusagen hinter den Quellen ereignet, gele"-' gentlich durch sie hindurch, nie aber ist eine QüelTeHIeUeschi'chte -selber. Ein zeitlicher Prozeß verschiedener Kräfte, ihr Anwachsen oder Abflauen, Beschleunigung oder Verzögerung: All das läßt sich mit Hilfe von Quellen eruieren, nicht aber in den Quellen selber finden. Es bedarf also der gedanklichen und begrifflichen Anstrengung des Historikers, um die Geschichten zu! *erforscKen7 zu erkennen und wiederzugeben, die wir als ehedem tatsächliche Geschichten voraussetzen. 2. Selbst im günstigsten Fall bleiben alle Quellenaussagen be- 76 Theorieskizzen Archivalien - Quellen - Geschichten 77 grenzt. Das entspricht den immanenten Grenzen, die schon das Archivgut je nach seiner Herkunft limitiert haben. Die Willensbildungsprozesse im diplomatischen Verkehr, die Aktionen und Reaktionen der Beteiligten - so etwas läßt sich aus der vergleichsweise homogenen Quellengattung außenpolitischer Akten ermitteln. Aber schon die heute übliche Frage nach wirtschaftlichen Motiven, die hinter außenpolitischen Aktionen, im Frieden oder gar zum Kriege führend, wirken mögen - diese Frage läßt sich trotz aller interpretativer Anstrengungen aus den überlieferten Akten nur schwer beantworten. Also nicht nur zeitlich sich dehnende Zusammenhänge werden von Quellen kaum belegt, auch Fragen nach gleichzeitigen Vorgängen können von Quellen als solchen nur schwer beantwortet werden. Wie Wirtschaft und Politik, wie beides mit sozialen Verhaltensweisen oder religiösen Einstellungen zusammenhängt - zwischen solchen gleichzeitig wirkenden Faktoren kann auch die Summe vieler Quellen keinen Zusammenhang stiften. Auch hier ist die produktive Leistung des Historikers gefordert, um Geschichte zu schreiben. Die Vielschichtigkeit der Geschichten kann von keiner einzelnen, aber auch nicht von einer Quellenreihe wiedergegeben werden. 3. Es kann durchaus sein, daß uns die Begrenztheit einer Quellenaussage weiterhilft, daß wir diesem Befund wichtige Aussagen abgewinnen. So mag es vorkommen, daß man einen Kubikmeter an Akten, Briefen, Tagebüchern oder Memoiren durchgewälzt hat, oder auch nur überflogen, um in wenigen Sätzen eine Fehlanzeige zu registrieren. Dann haben wir ein negatives Ergebnis, das für eine Geschichte genauso wichtig sein kann wie ein positives. Denn oft ist das, was die Menschen unterlassen, nicht gesagt, gesehen oder getan haben, wichtiger für eine Geschichte als das, was sie getan oder geschrieben haben. Leicht ist hier die methodische Schwierigkeit herauszuhören, die jedem begegnet, der sich mit dem Widerstand im Dritten Reich beschäftigt. 4. Schließlich kann es vorkommen, und das ist j e nach thematisiertem Zeitalter und je nach gestellter Frage ein häufiger Fall, daß uns die Quellen vollends im Stich lassen. Was ist verschwiegen worden ? Was ist nur durch das Telefon oder nur im Nebenzimmer tete-ä-tete erledigt worden ? Hier können Lücken in der Information zurückbleiben, die nie mehr zu schließen sind. Solange aus dem Gesagten oder Geschriebenen aber Motive des Verschweigens ermittelbar sind, mag sich ein findiger Historiker weiterhelfen. Aber wenn er gar nicht fündig wird ? Paul Valery hat 1918, nach der Katastrophe, wohl als einer der ersten die Forderung formuliert, daß die Historiker sich von den Ereignissen abwenden sollten, um jene dauerhaften Strukturen zu erkunden, die gerade im Ersten Weltkrieg aufgelöst wurden.2 Wer Fragen nach langfristigen Phänomenen stellt, nach Sitten und Gebräuchen, nach Einstellungen und Verhaltensweisen, nach den materiellen Lebensbedingungen und ihrem langsamen Wandel, der ist genötigt, streckenweise auf archivierte Dokumente zu verzichten. Er mag Befragungen durchführen, Feldforschung betreiben, Denkmäler und Ruinen aufsuchen, Siedlungsgeographie treiben, ja, er mag zum Ethnologen und Archäologen werden oder sich deren Hilfen bedienen, er mag Mythen und Märchen neu zu deuten suchen. Kurzum, es gibt Forschungssituationen, in denen die archivarisch betreuten Quellen versiegen. Schließlich kann der Historiker alles und jedes zu seiner Quelle machen, wenn er nur die richtigen Fragen zu formulieren versteht. Das archivierte Material hat also keine Monopolstellung im Feld der konkurrierenden Forschungen, die ihre Grenzen immer weiter hinauszuschieben trachten. Ich erwähne nur die gleich ehrwürdige Institution der Bibliotheken, deren gedruckte Schätze ebenfalls zu Quellen werden, sobald die entsprechende Frage an sie gerichtet wird. Meine vier kritischen Punkte, die den Quellenstatus der Archivalien relativiert haben, könnten den Verdacht aufkommen lassen, als wachse die Distanz, die sich zwischen Archivalien und Geschichten ausmessen läßt. Nichts wäre falscher als dieser Verdacht. Gewiß: Unsere Quellen sind punktuell, sie sagen uns nichts über diachrone, mittel- oä^J^^^gpJ^^idtmdVio^se. "Unsere "Quellen bleiben begrenzt. Sie belehren uns nicht über die VielschichtigkeituncTKa^ toren. Unsere Quellen schweigen sich aus, und nur der Historiker kann ihnen Antworten entlocken, die sie von sich aus nicht geben wollten. Schließlich fehlen uns Quellen dort, wo wir sie bräuch- 2 [Zu Valerys Kritik der Ereignisgeschichte vgl. Karl Löwith, Paul Valery. Grundzüge seines philosophischen Denkens, Göttingen 1971, S.93 f.] 7« Theorieskizzen Archivalien - Quellen - Geschichten 79 ten, um eine Geschichte erkunden zu können, die es gegeben haben muß, auch wenn wir noch nichts von ihr wissen. Wollten wir uns mit diesem Ergebnis begnügen, so wäre es gewiß nicht geeignet, zum 150. Geburtsjahr unseres Hauptstaatsarchivs feierlich vorgetragen zu werden. Wir haben den Weg ausgemessen, der von der geschehenden Geschichte zum Archiv führt und von den gehegten Archivalien zurück über die Quellenexegese zur erzählten Geschichte. Sicherlich: Archivalien sind keine Geschichte, aber sie enthalten in sich jene Quellen, ohne die keine wissenschaftliche Historie betrieben werden kann. Wenn Geschichtsschreibung mehr ist als die subjektive Produktion fingierter Vergangenheiten oder die kollektive Herstellung ideologischer Wünschbarkeiten, dann liegt das an der Quellenkontrolle, der sich jede Historie unterwerfen muß. Jede historische Theorie, jede Hypothese: oder.Konjektur muß sich der.prit fendenjnstanz unterwerfen, die mit der Selbstaussage einer Quelle vorgegeben ist. Quellen haben ein Vetorecht. Der Historiker kann nicht behaupten, was er will, da eTBeweispflichtig bleibt. Seine Beweise kann er nur den Quellen entnehmen, ohne die er vieles, gegen die er aber gar nichts sagen kann. In der Quellenkontrolle liegt die Bedingung wissenschaftlicher Objektivität beschlossen. Deshalb stoßen wir hier auf einen institutionellen Zweck der Archive. Sie bieten jedem Leser Zugang, um sich mit der Glaubwürdigkeit einer historischen Aussage am Archivmaterial auseinandersetzen zu können. Hier ist der institutionalisierte Umschlagplatz historischer Wahrheitsfindung. Und der Archivar, der den fragenden oder nachfragenden Forscher begleitet, betreut, berät und bedient, wird gleichsam zum Bürgen geschichtlicher Objektivierung - oder er beteiligt sich selber als Historiker an diesem fortwährenden Prozeß. Das verstaubte, vielleicht auch angekohlte, jedenfalls vergilbte Archivgut, das wohlbehütet zu schlummern scheint, gewinnt dann als Quelle strahlende Kraft. Das betrifft sowohl seinen Umfang wie seine Qualität. Was den Umfang betrifft, so finden sich in den gestapelten Archivalien immer wieder neue, bisher ungehobene Schätze. So wurde z. B. dem preußischen Staat vorgeworfen, gegen die Kinderar- beit erst dann eingeschritten zu sein, als das Militär merkte, daß seine Rekruten verkrüppelt und unterernährt waren. Nun haben vor einiger Zeit drei Historiker unabhängig voneinander und an verschiedenen Orten einen Aktenvorgang entdeckt, der davon zeugt, daß der preußische Staat bereits lange zuvor, nämlich 1817, vorbeugende Maßnahmen in die Wege leiten wollte. Der Anlaß war der Besuch des siegreichen Blücher in London, in dessen Gefolge sich der Statistiker Hoffmann befand. Dieser traf Owen, den Frühsozialisten, von dem er über das erschreckende Ausmaß des Elends informiert wurde, in dem die arbeitenden Kinder dahinvegetierten. Aufgrund dieser Fremderfahrung suchte die preußische Verwaltung vorbeugende Maßnahmen zu ergreifen, die dann von den begutachtenden Beamten mehrheitlich abgelehnt wurden: teils aus Geldmangel, teils aus wirtschaftsliberalen Grundsätzen heraus.3 Nun, dieser Vorgang zeigt uns, wie eine sich ändernde Geschichte neue Neugierden weckt und wie neuerschlossenes Archivgut unsere Urteile ergänzen oder korrigieren kann. Also nicht nur quantitativ, auch qualitativ enthalten die Quellen stets neue Erkenntnischancen. Was sie alles enthalten, läßt sich kaum ausschöpfen. Ich erinnere an die Fischer-Kontroverse, die durch neuentdeckte, dann aber immer wieder und gegenläufig gelesene Quellen insgesamt unsere Urteile über die deutsche (Mit-) Schuld am Ersten Weltkrieg weithin verändert und korrigiert hat. Trotz mancher überzogener Antithese zur nationalen Stilisierung der deutschen Unschuld von 1914 läßt sich die treibende Rolle der deutschen Reichsführung zu Beginn der anhebenden Katastrophe nicht mehr leugnen. Diese Objektivierung der vergangenen Geschichte bewirkte eine Ernüchterung im geschichtlich-politischen Bewußtsein der nachgeborenen Generation. So darf ich zum Schluß fragen: Was wäre unsere Forschung, wo bliebe die politische Funktion, die unsere Wissenschaft ausübt, hätten wir nicht unsere Archive ? Die Antwort ist klar: Sie liegt in dem Dank, den ich hiermit im Namen der Historiker unserem Hauptstaatsarchiv aussprechen möchte. 3 [Ausführlicher dazu Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung 1791-1S48, Stuttgart 2i975, S. 624ff.] Fiktion und geschichtliche Wirklichkeit 8l Fiktion und geschichtliche Wirklichkeit Wer sich heute auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Fiktion und geschichtlicher Wirklichkeit einläßt, der steht unter einer doppelten Herausforderung. Einmal fordert ihn die Tradition heraus. Denn die Antithese der res factae und der res fictae gehört zu den Topoi, die seit alters in immer neuen Zuordnungen reflektiert wurden. Untersucht man die Geschichte dieser Topoi, so ist es möglich, den Wandel dessen zu erkennen, was jeweils als geschichtliche Wirklichkeit erfahren wurde. Und es würde sich dabei herausstellen, daß diese Erfahrung nicht unabhängig davon ist, was jeweils als Fiktion, speziell innerhalb der Dichtung, begriffen wurde. Die zweite Herausforderung, unter der unsere Frage heute steht, geht von der aktuellen Diskussion aus, inwieweit fiktionale Texte von der geschichtlichen Wirklichkeit bedingt seien und wieweit sie auf diese einwirken sollen. Diese Frage ist insofern neu, als sie in solcher Zuspitzung erst seit der Aufklärung und ihrer Geschichtsphilosophie gestellt werden kann. Freilich steht auch diese Aktualität in einer Tradition, denn die Zuordnung der res factae zu den res fictae gehörte früher zum Geschäft der Rhetorik, modern gesprochen also einer gesellschaftspolitisch eo ipso relevanten Kunstlehre. Lassen Sie mich zunächst zwei Geschichten erzählen, die aus der Praxis des Historikers stammen, der es ja, so scheint es, professionell mit dem zu tun hat, was man geschichtliche Wirklichkeit nennen mag. Daraus lassen sich allgemeinere Überlegungen ableiten, die zu einer These führen, die schließlich einiges Licht wirft auf das Verhältnis von fiktionalen Texten zur sogenannten geschichtlichen Wirklichkeit. Meine beiden Geschichten sind kurz. Die erste stammt von einem Arzt aus dem Jahre 1934. »Während ich mich nach der Sprechstunde, etwa gegen neun Uhr abends, mit einem Buch über Matthias Grünewald friedlich auf dem Sofa ausstrecken will, wird mein Zimmer, meine Wohnung plötzlich wandlos. Ich sehe mich entsetzt um, alle Wohnungen, soweit das Auge reicht, haben keine Wände mehr. Ich höre einen Lautsprecher brüllen: >Laut Erlaß zur Abschaffung von Wänden vom 17. des Monats<.« Die andere Geschichte stammt ebenfalls aus den dreißiger Jahren, und zwar von einem jüdischen Rechtsanwalt: »Zwei Bänke stehen im Tiergarten, eine normal grün, eine gelb (Juden durften sich damals nur noch auf gelb angestrichene Bänke setzen), und zwischen beiden ein Papierkorb. Ich setze mich auf den Papierkorb und befestige selbst ein Schild an meinem Hals, wie es blinde Bettler zuweilen tragen, wie es aber auch >Rassenschändern< behördlicherseits umgehängt wurde: >Wenn nötig, mache ich dem Papier Platz<.« Beide Geschichten entstammen einer Traumsammlung aus der Zeit des Dritten Reiches, die Charlotte Beradt herausgegeben hat.1 Die Träumer sind anonym. Als Träume sind sie authentisch überliefert. Beide Träume erzählen Geschichten, sie enthalten eine Handlung mit Anfang und Ende, eine Handlung, die freilich nie so stattgefunden hat, wie sie berichtet wird. Verstehen wir unsere Fragestellung nach Fiktion und geschichtlicher Wirklichkeit alternativ, so gehören die beiden Kurzgeschichten offenbar in den Bereich fiktionaler Texte. Und so können sie sich lesen lassen. Von der Dichte und Prägnanz ihrer Aussage her ähneln diese Träume den kurzen Erzählungen von Kleist oder - mehr noch - von Kafka. Niemand wird ihnen eine dichterische Qualität absprechen wollen. Damit nähern sie sich der Dichtung, die - aristotelisch gesprochen - nicht wie der Historiker berichtet, was geschehen ist und wie es sich zufällig traf, sondern vielmehr, was geschehen könnte.2 Die beiden Träume enthalten eine andere Wahrscheinlichkeit, als zu der Zeit, da sie geträumt wurden, empirisch einlösbar schien. Sie nehmen das empirisch Unwahrscheinliche vorweg, das später - in der Katastrophe des Untergangs - zum Ereignis wurde. Sie wurden zum Ereignis, und demnach waren die beiden Traumgeschichten nicht nur Fiktion, zumindest sind sie es nicht geblieben. Offensichtlich lassen sich die Geschichten, die in diesen Träumen erzählt werden, nicht unter die Zwangsalternative »fiktionaler Text oder geschichtliche Wirklichkeit« pressen. 1 Charlotte Beradt, Das Dritte Reich des Traums, München 1966, S.25 und 138. 2 [Vgl. Aristoteles, De art. poet. 1451b.] 8z Theorieskizzen Fiktion und geschichtliche Wirklichkeit 83 Gestatten Sie mir darüber zunächst einen historischen Exkurs. In der klassischen Toposgeschichte werden die res fictae der Poetik, die res factae der Historik zugeordnet - mehr polemisch formuliert, hat es die eine mit dem Schein, die andere mit dem Sein zu tun: »Si fingat, peccat in historiam; si non fingat, peccat in poe-sin« .3 Von diesen Extrempositionen her lassen sich modellhaft zwei Lager ableiten, die entweder der Historie oder der Dichtung den höheren Rang zuwiesen. So wurde von den einen der Wahrheitsgehalt der Geschichtsschreibung höher eingestuft als der der Dichtung, denn wer sich mit den res factae abgebe, müsse die Wirklichkeit selbst zeigen, während die res fictae zur Lüge verleiten. Es waren natürlich vorzüglich Historiker, die sich dieser der eigenen Position förderlichen Argumentation bedienten. Sie beriefen sich immer wieder auf die seit Lukian weitergereichte Spiegelmetapher, um ihren Auftrag zu bestimmen, die »nackte Wahrheit« zu schildern und sonst nichts. Die Historie habe eine »nudite si noble et si majestueuse«, schrieb Fenelon 1714, so daß sie keiner poetischen Ausschmückung bedürfe.4 »[D]ie nackte Wahrheit zu sagen, das ist, die Begebenheiten, die sich zugetragen haben, ohne allen Firniß, ohne alle Schminke, zu erzählen«, so bestätigt Gottsched die hehre Aufgabe der Historiker.5 Nun lassen sich ohne Zweifel aus diesem Zugriff Ethos und Pathos der historischen Schule, speziell ihrer subtilen philologischen Methode, ableiten, um alles so zu zeigen, »wie es eigentlich gewesen«, wie es zuerst Lukian und später Ranke formuliert haben. Die Freilegung der Ereignisse, die Hinwendung zum sogenannten harten Kern der Fakten hat denn auch eine methodische Einstellung hervorgetrieben, die es nicht zuließ, etwa Träume in die Gattungen möglicher Quellen einzubeziehen. Unbeschadet ihrer schweren Zugänglichkeit gehören sie seit der Aufklärung grundsätzlich in den Bereich bloßer Fiktion, zählen nicht zu den Geschehnissen, nicht zu den res factae, weder zu Handlungen noch zu Taten, während Hero-dot und viele nach ihm sie noch für berichtenswert hielten. 3 [Johan Heinrich Aisted, Scientiarium omnium encyclopaedia, 4 Bde., 3. Aufl. Lyon 1649, Bd. 2, Tafel zu S. 619.] 4 Fenelon, CEuvres completes, Bd.6, Paris 1850, S.639. 5 Johann Christoph Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst, Nachdruck der vierten Auflage (Leipzig 1742), Darmstadt 1962, S. 354. Wenden wir uns der Gegenposition zu. Sie betont stärker die aktive, die schaffende Rolle des Autors, im Gegensatz zur reaktiven Rolle dessen, der sich auf die Spiegelmetapher beruft. Daß die Spiegelmetapher nicht trägt, um das Geschäft des Historikers hinreichend zu umschreiben, hat schon Lukian eingeräumt. Er fügte nämlich sofort einen weiteren Vergleich hinzu: Der Historiker müsse wie Phidias arbeiten. Das Material sei ihm vorgegeben, nur komme es darauf an, durch das eigene Schaffen, durch poiesis, aus dem Material die literarische Gestalt dem Geschehen sozusagen angemessen herauszuarbeiten.6 Die erkenntnistheoretische Unbekümmertheit der Spiegelmetaphorik wird damit schon zurückgenommen zugunsten der anderen Position, die sich auf Aristoteles berief. Aristoteles hatte bekanntlich die Historie gegenüber der Dichtung abgewertet, weil sie sich nur nach dem Ablauf der Zeit richte, in der vielerlei geschehe, wie es sich gerade trifft. Die Dichtung ziele dagegen auf das Mögliche und das Allgemeine. Wie es Lessing, der Aristoteliker im 18. Jahrhundert, formulierte: »zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis notwendiger Vernunft-wahrheiten nie werden«,7 die innere Wahrscheinlichkeit der Richtung habe deshalb eine größere Kraft als das oft nur allzu Fragwürdige des historisch vermeintlich Wahren. Im Gegensatz zum Historiker ist »der Dichter«, wie es Lessing moderner ausdrückte, »Herr über die Geschichte; und er kann die Begebenheiten so nahe zusammenrücken als er will«.8 Lessing war denn auch konsequent genug, dort, wo er als Geschichtsphilosoph auftrat, in seiner Erziehung des Menschengeschlechts, auf den Ausdruck »Geschichte« zu verzichten. Er handelte hier eben nicht von jenen res factae, mit denen sich nur ein Historiker beschäftige. Lessing mochte den gerade damals gebildeten Kollektivsingular der >Geschichte schlechthin<, der die Sum- 6 Lukian, Wie man Geschichte schreiben soll, hg. und komm. v. Helene Homeyer, München 1965, S. 154. 7 [Gotthold Ephraim Lessing, »Über den Beweis des Geistes und der Kraft« (1777), in: ders., Werke, hg. v. Herbert G. Göpfert, Bd. 8: Theologiekritische Schriften III. Philosophische Schriften, München 1976, S. 9-14, hier S. 12.] 8 Gotthold Ephraim Lessing, Briefe, die neueste Literatur betreffend, 63. Brief (18. Oktober 1759), in: ders., Werke, hg. v. Herbert G. Göpfert, Bd. 5: Literaturkritik. Poetik und Philologie, München 1973, S. 207 í. 84 Theorieskizzen Fiktion und geschichtliche Wirklichkeit 85 me aller einzelnen Geschichten umgreift, schon gekannt haben. Aber er ließ den modernen Ausdruck in seiner überkommenen Hierarchie von Historie-Dichtung-Philosophie noch nicht aufsteigen, um sich als Philosoph etwa mit »Geschichte überhaupt« abzugeben - was er in unserer Terminologie bereits tat, als er seine Reflexionen über Weg und Ziel des Menschengeschlechts niederschrieb. Brechen wir hier unseren historischen Exkurs ab, der modellhaft den zweitausendjährigen Gebrauch zweier Topoi zusammengerafft hat. Es bleibt unbestreitbar, daß Fiktion und Faktizität unterscheidbar sind. Ein Unterschied läßt sich nicht verleugnen, der zwischen Erzählungen bestehen muß, die von dem berichten, was sich tatsächlich ereignet hat, und denen, die von dem berichten, was sich ereignet haben könnte, oder vorgeben, es habe sich ereignet, oder die selbst auf jedes Wirklichkeitssignal verzichten. Die Frage ist vielmehr, ob sich Fiktion und Faktizität überhaupt unterscheiden lassen, indem der eine Bereich dem Dichter vorbehalten bleibt, der andere dem Historiker. Res factae und res fictae sind offenbar in anderer Weise verschränkt, als daß sie sich durch Tätigkeitsmerkmale oder Gegenstandsbereiche zweier Berufsgruppen voneinander scheiden ließen. Es ist ja bekannt, daß seit dem 18. Jahrhundert, seitdem die Geschichte der Neuzeit einen neuen Erwartungshorizont und einen neuen Erfahrungsraum erschlossen hat, auch Poetik und Historik auf neue Weise einander zugeordnet werden. Der erste empirische Testfall dessen ist die Osmose, die Roman und Historiographie seit der Aufklärung verbunden hat. Was der Roman an geschichtlichem Wirklichkeitsanspruch gewann, nötigte umgekehrt die Historie zu sinnstiftenden Einheiten, ohne die Geschichte nicht erkannt werden mochte.9 Wenn man die Frage nach der Priorität stellt, so ist es der Roman gewesen, der - jedenfalls in Deutschland - früher schon als »Geschichte«, als »wirkliche Geschichte« bezeichnet wurde, bevor die Historiker dazu übergingen, von »der Geschichte« zu handeln, statt Historien von einzelnen Geschichten zu erzählen. Seit 9 Vgl. hierzu Reinhart Koselleck, Art. »Geschichte, Historie«, in: Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. z, Stuttgart 1975, S.647H. der Mitte des 18. Jahrhunderts rückt »die Geschichte« auf zur gemeinsamen Thematik. Diese semantische Konvergenz ist nun für unsere Ausgangsfrage wegweisend. Seitdem verläuft nämlich die theoretisch entscheidende Frage nicht mehr zwischen dem Faktischen, von dem die Historiker handeln, und den Fiktionen, die die Dichter stiften. Die Frontlinie verschiebt sich und ruft neue Zuordnungen hervor, indem sie die Frage aufwirft: Wie verhält sich die sprachliche Konstitution einer Geschichte, sei es die Geschichte eines historischen, eines poetischen oder sonst eines Schriftstellers, zu dem, was nunmehr als geschichtliche Wirklichkeit erfahren und bezeichnet wird ? Das möchte ich jetzt erläutern. Und zwar greife ich wieder auf jene Traumgeschichten zurück, deren Status als fiktionale Texte wir kennengelernt haben, ohne uns damit zufriedengeben zu können. Gewiß erzählen die Träume Geschichten, die sich so wie erzählt nie ereignet haben. Zugleich aber ereignet sich etwas in den Traumgeschichten, was einmalig und unmittelbar mit der damaligen geschichtlichen Wirklichkeit zu tun hatte. Unsere zitierten Träume sind ein Grenzfall, aber er führt uns ins Zentrum unserer Fragestellung. Denn bevor die Träume in Form einer Erzählung erinnert wurden, haben sie sich im Binnenraum der Träumer abgespielt, wenn man so will, vorsprachlich ereignet. Damit gewinnen sie für den Psychoanalytiker, aber unter gegebenen Umständen auch für den Historiker einen anderen Stellenwert, als wenn nur auf die Struktur ihrer Erzählung geachtet wird. Die genannten Träume eröffnen Schichten, an die selbst Tagebuchnotizen nicht heranreichen. Und das gilt für alle Träume, die Charlotte Beradt gesammelt und in die Emigration gerettet hat. Sie stammen von rund 300 Personen aus dem Berlin der dreißiger Jahre. In ihnen brechen sich Erfahrungsweisen von erschütternder Eindringlichkeit. Die schleichende Anpassung an das neue Regime, die Unterwerfung aus schlechtem Gewissen, die Spirale der Angst, die Lähmung des Widerstandes, das Zusammenspiel von Henker und Opfer - all das taucht in den Träumen mit leichter Verfremdung der Bilder, oft unmittelbar realistisch empor. Der Befund ist erdrückend. 86 Theorieskizzen Fiktion und geschichtliche Wirklichkeit 87 Sicher sind es die Träume von Verfolgten, aber keineswegs nur, es sind Träume derer, die sich anpaßten oder die sich anpassen wollten, aber nicht durften. Wir kennen nicht die Träume der Begeisterten und Sieger - auch diese hat es gegeben, und wer weiß, wie oft sich ihr Inhalt mit den Visionen derer deckt, die von den Siegern an die Wand gequetscht wurden. Jedenfalls bezeugen die zitierten Traumgeschichten den anfangs oft nur stummen Terror, dessen offene Steigerung sie vorwegnehmen. So mag sie denn der Historiker als Quelle verwenden, mit der gebotenen methodischen Vorsicht, um aus den erst geträumten und dann erzählten Geschichten Rückschlüsse zu ziehen. Er kann aus ihnen ableiten, wie der dem NS-System immanente Terror wenigstens in den ersten Jahren gewirkt hat, welche beklemmenden Ängste der Terror hervorgetrieben hat, welche Bilder er hat auftauchen lassen, in denen die kommende Katastrophe vorweggenommen wurde. Mit derartigen Fragen wird freilich eine methodische Einengung vorgenommen. Die überlieferten Träume werden als schriftliche Quellen eingeführt, um auf etwas zu schließen, was hinter ihnen steht, die geschichtliche Wirklichkeit nämlich des Terrors nach 1933- Die vom Text her eindeutig als Fiktion zu deutenden Geschichten sollen den Blick freigeben auf die Faktizität des aufbrechenden Dritten Reiches. Wir verbleiben, indem wir diese methodischen Schritte des Historikers nachvollziehen, im Bannkreis der Trennung zwischen den res fictae und den res factae. Vom einen soll auf das andere geschlossen werden. Jede fiktionale Texteinheit kann dann besser oder weniger gut, jedenfalls grundsätzlich als Zeugnis für Faktizität eingebracht werden. Die eingangs geschilderten Träume sind aber mehr als nur ein Zeugnis, das in eine Quelle verwandelt werden kann, indem man die erforderlichen methodischen Vorkehrungen trifft. Sie sind, obwohl nur als Erzählung greifbar, bereits vorsprachlich Geschichten, die sich in und mit den betroffenen Personen ereignet haben. Sie sind leiblich manifest gewordene Erscheinungsweisen des Terrors. Mit anderen Worten: Gerade als Fiktion sind sie Element der geschichtlichen Wirklichkeit gewesen. Die Träume verweisen nicht nur auf die Bedingungen, die solche Träume - als Fiktion - ermöglicht haben. Bereits als Erscheinung sind die Träume Vollzugsweisen des Terrors selbst. Nun lassen sich die beiden Träume des Arztes und des jüdischen Rechtsanwaltes - die biographische Genese als bekannt vorausgesetzt - zweifellos in einem analytischen Zugriff individualpsychologisch deuten. Aber es ist auffällig, daß in den geschilderten Traumgeschichten der latente und der manifeste Trauminhalt fast nahtlos zur Deckung kommen. Die politische Funktion der Träume, auch wenn private Konditionen dahinter stehen, wird unmittelbar einsichtig. Die politischen Erfahrungen und Bedrohungen haben, um in der psychoanalytischen Symbolik zu bleiben, den Pförtner überspült und sind ungehindert in das sogenannte Unterbewußte eingeflutet. Hier haben sie Bilder und Geschichten entstehen lassen, deren politische Spitze dem Bewußtsein unmittelbar einleuchtend wird. Die Abschaffung der Wände qua Verordnung entkleidet den Privatraum jeglichen Schutzes. Der Lautsprecher läßt dem Träumer keinen Zweifel, sein Haus wird aufgebrochen zugunsten einer Kontrolle, die im Namen der Volksgemeinschaft von jedem über jeden ausgeübt werden kann. - Der beklemmende Zwang des jüdischen Anwalts, selbst dem Papier und sogar freiwillig dem Papier Platz zu machen, bedarf für den, der die Geschichte erfahren hat, keiner deutenden Übersetzung. In einer selbsttätigen Lähmung wird das Unwahrscheinliche zum Ereignis. Der Verfolgte ergibt sich einer so existentiellen wie banalen Absurdität, bevor diese selbst an ihm vollstreckt wird. Offenbar gibt es eine Vernunft des Leibes, die weiter reicht, als die Angst dem Träumer im Wachsein zu handeln erlaubt. Freilich mußte das nicht so sein. George Grosz hatte einen ähnlichen Traum, der ihn, wenn wir seinen Erinnerungen glauben dürfen, rechtzeitig nötigte, nach Amerika zu emigrieren.10 Ich enthalte mich, an dieser Stelle die historischen Traumanalysen weiterzutreiben und die gesamte Gesellschaft nach Komplexen, Übertragungen und Identifikationszwängen aufzuschlüsseln. Die methodischen Schwierigkeiten sind größer, als viele Äußerungen dazu vermuten lassen. Schon die Träume, die Cayrol aus den Konzentrationslagern selbst berichtet, entziehen sich einer unmittelbar politischen Deu- 10 [Vgl. George Grosz, Ein kleines Ja und ein großes Hein. Sein Leben von ihm selbst erzählt, Hamburg 1955, S. 212-2,18.] 88 Theorieskizzen Fiktion und geschichtliche Wirklichkeit 89 tung.11 Gerade darin erblickte Cayrol, vermutlich zu Recht, eine Chance des Überlebens, weil nunmehr die restlose Entäußerung vom empirischen Selbst die stumme und stille Waffe bot, dem vorweggenommenen Tod zu begegnen. Wer noch sozial und politisch zu träumen vermochte, der gab nach den Erfahrungen von Cayrol seine Widerstandskraft auf, weil er sie aus einer unerreichbaren Vergangenheit speiste. Er räumte dem Tod eine größere Chance ein, als dieser institutionellerweise im KZ ohnehin hatte. Für unsere Ausgangsfrage nach dem Verhältnis von Fiktion und Faktizität haben wir unterderhand eine Einsicht gewonnen, die fich als These formulieren möchte: Geschichtliche Wirklichkeit kommt nie zur Deckung mit dem, was sprachlich in ihr und über I sie artikuliert werden kann. I Indem wir den Inhalt unserer Träume nicht auf seine Fiktivität hin befragt haben, sondern als Ausdruck politischen Terrors, sind wir in eine vorsprachliche Schicht vorgestoßen, in der sich so etwas wie geschichtliche Wirklichkeit erkennen ließ. Das lag zunächst an dem Grenzfall, der einen Brückenschlag von der Fiktion zur Wirklichkeit herausforderte. Aber das Ergebnis ist von allgemeinerer Bedeutung: Geschichte geht nie in Sprache auf. Wir befinden uns in einer unaufhebbaren Spannung, die es verhindert, daß irgendeine Sprachhandlung jemals geschichtliche Wirklichkeit einholen kann. Und das gilt sowohl für den Vollzug der Geschichte wie auch für die Erinnerung, die vergangene Geschichte schriftlich fixiert. Gewiß vollzieht sich die Wirklichkeit der Geschichte, indem sich die Täter und Erleider sprachlich einander zuordnen, agieren und reagieren. Keine politische Handlungseinheit ist aktionsfähig ohne Sprache, ohne gemeinsame Begriffe, ohne Befehl, ohne Vertrag, ohne Diskussion, wohl auch nicht ohne Propaganda und ohne das Verstummen derer, die nicht mitsprechen können oder dürfen. Geschichtliche Wirklichkeit selber konstituiert sich aber erst zwischen, vor oder nach den sprachlichen Artikulationen, die auf sie zielen. Sprache und politisch-sozialer Sachverhalt kommen jeweils auf andere Weise zur Deckung, als die Sprechenden selber wahrnehmen können. 11 Jean Cayrol, Lazarus unter uns, Stuttgart 1959. Das hat nun einen ganz plausiblen Grund, denn was eine Geschichte sei, erweist sich immer erst ex post. Und ist sie erst"einmaT gewesen, ist sie nicht mehr wirklich, jedenfalls nicht mehr wirk-■Ucirin dem Sinne, wie sie wirklich ist, solange sie noch nicht abgeschlossen ist. Es ist die Temporalität der Geschichte, die durch keinen sprachlichen Akt eingeholt werden kann. Um Goethe zu bemühen: "»Ein "Bedeutendes Ereignisi wird man, in derselben Stadt, Abends anders als des Morgens erzählen hören.«12 Und das gilt nicht nur für die Geschichte ex post, sondern ebenso für die Geschichte in spe. Was du heute sagst, hat morgen bereits eine andere Bedeutung. Ein einmal gesprochenes Wort, ein einmal geschriebener Satz gerinnen, sofern sie aufbewahrt werden, unwiderruflich und unveränderlich. Aber die Rezeption entzieht sich der Verfügung dessen, der gesprochen oder geschrieben hat. Wir dürfen also davon ausgehen, daß keine sprachliche Artikulation, gleich welcher Art und welchen Ranges, jemals das erreicht, was sich in der Geschichte wirklich vollzieht. Geschichte vollzieht sich zwar nie ohne Sprache, sie ist aber zugleich immer anderes: mehr oder weniger. Wenn unsere These stimmt, so ergibt sich daraus eine Folgerung. Es folgt nämlich, daß unsere Frage nach dem Verhältnis von Fiktion und geschichtlicher Wirklichkeit nur beantwortet werden kann, wenn die Trennungslinie zwischen historischer Wissenschaft und fiktionalen Texten nicht zu weit getrieben wird. Der Historiker, der Literaturhistoriker und der Dichter - heute wohl nur mehr Schriftsteller genannt -, alle stehen gemeinsam vor derselben Inkommensurabilität von geschichtlicher Wirklichkeit und ihrer sprachlichen Verarbeitung. Nur reagieren sie verschieden auf dieselbe Herausforderung. Das möchte ich zum Schluß erläutern. 1. Der Historiker geht von vornherein davon aus, daß kein sprachliches Zeugnis zur Gänze jene Wirklichkeit erfaßt, um deren Erkenntnis es ihm geht. Er befragt keinen Text, kein Tagebuch, keinen Brief, keine Urkunde, keine Chronik, keine Darstellung um 12 (Johann Wolfgang Goethe, »Brief an König Ludwig I. von Bayern« (iz. Januar 18 3 o), in: Goethes Briefe, hg. u. komm. v. Karl Robert Mandelkow, Bd. 4: Briefe der Jahre 1821-1832, Hamburg 1967, S. 363.] 90 Theorieskizzen Fiktion und geschichtliche Wirklichkeit 91 ihrer selbst willen. Im allgemeinen dienen sie ihm nur als Quellen, um einen Verweisungszusammenhang herzustellen, der auf etwas zielt, das hinter den Texten steht. Selbst Völkerrechtsverträge, in denen wohl am ehesten der Textsinn mit seiner politischen Funktion zusammenfällt, werden vom Historiker daraufhin befragt, was sie verschweigen oder stilisieren, um auf Bewegungen zu schließen, die sich nur indirekt aus dem Quellentext ermitteln lassen. Mit derartigen Fragen unterscheidet sich der Historiker vom Linguisten und vom Literaturhistoriker, soweit diese zunächst einen Text um seiner selbst oder um seiner Aussage willen thematisieren. Das wird deutlich dort, wo etwa die Wirklichkeit der Fiktion untersucht wird, wie es Iser getan hat.13 Außer- und vorsprachliche Faktoren werden von ihm nur herangezogen, um die sprachimmanente Struktur eines fiktionalen Textes besser erklären zu können. Damit will ich nicht sagen, daß diese Fragestellung nicht von unmittelbarer Wirkung auf das Geschäft des Historikers sei. Schließlich lebt jede historische Aussage von sprachlich vorgegebenen Rastern, die erst die Bedingung möglicher geschichtlicher Erfahrung stiften. Eine historische Textlinguistik ist aber wohl erst im Entstehen. Für die Mehrzahl der historischen Zunft gilt jedenfalls, daß sprachliche Zeugnisse nur als Hinweise verwendet werden für etwas, was von den sprachlichen Zeugnissen unmittelbar nicht intendiert worden war. Und das gilt um so mehr, wenn sich ein Historiker von der sogenannten Ereignisgeschichte abwendet, um längerfristige Abläufe, Strukturen und Prozesse in den Blick zu rücken. Ereignisse mögen in schriftlichen Zeugnissen noch unmittelbar greifbar sein - Abläufe, Strukturen von längerer Dauer und Prozesse sind es jedenfalls nicht. Wenn ein Historiker davon ausgehen darf, daß ihn die Bedingungen möglicher Ereignisse ebenso interessieren wie die Ereignisse selbst, so ist er genötigt, alle sprachlichen und schriftlichen Zeugnisse zu transzendieren. Denn jedes sprachliche oder schriftliche Zeugnis bleibt situationsgebunden, und die Überschußinformation, die es enthalten kann, 13 [Vgl. Wolfgang Iser, »Die Wirklichkeit der Fiktion - Elemente eines funktionsgeschichtlichen Textmodells«, in: Rainer Warning (Hg.), Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis, München 1975, S. 277-314.] reicht nie hin, jene geschichtliche Wirklichkeit zu erfassen, die sich quer durch alle sprachlichen Ereignisse hindurchzieht. Ich will hier nicht auf die methodischen Schwierigkeiten eingehen, die mit der Erstellung von Langzeitreihen verbunden sind oder mit der quellenmäßigen Absicherung von Strukturaussagen, , etwa der Art, daß alle Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen sei. Ich frage vielmehr nach dem Status einer historischen Aussage über jene geschichtliche Wirklichkeit, die sich der sprachlichen Festlegung immer wieder entzieht - sei es, daß Geschichte immer wieder umgeschrieben werden muß, weil sie sich selbst ändert, neue Fragen provoziert und weil neue Erwartungen zurückwirken, sei es, daß die vergangene Geschichte als Wirklichkeit festzuschreiben sowieso ein Risiko bleibt. Wirklich in einem zugänglichen und auch überprüfbaren Sinne sind nur die Zeügnisse^lcfie" uns als Relikte^yon früHer überkommen sind. Die daraus abgeleitete Wirklichkeit der Geschichte ist dagegen ein Produkt sprachlicher Möglichkeiten, theoretischer Vorgaben und methodischer Durchgänge, die schließlich zu einer Erzählung oder Darstellung zusammenfinden. Das Ergebnis ist nicht die Wiedergabe einer vergangenen Wirklichkeit, sondern, überspitzt formuliert, die Fiktion des Faktischen.. Wenn es mir erlaubt ist, noch einmal Goethe zu zitieren, so hat er genau diesen von der Sprache her abgeleiteten Sachverhalt gemeint, als er seine Selbstbiographie als eine »Art von Fiktion« definierte.14 Er nannte sie Fiktion, teils weil er nur die Resultate, nicht aber die Ereignisse und Einzelheiten selber wiedererinnern konnte, teils um dem geschichtlichen Wahrheitsanspruch gerecht zu werden, der sich nur im Medium der Fiktion einlösen lasse. Diese Fiktion bezeichnete er auch als Erzählung oder eben als Dichtung, wie sie im Titel mit der Wahrheit verflochten wird. Goethe hat seinen definitorischen Schnitt genau auf jener sprachlichen Ebene angesetzt, die uns nötigt, von der Fiktion des Faktischen zu sprechen statt naiverweise von der Wiedergabe selbst. Damit betritt der Historiker freilich noch lange nicht jenen Frei- 14 [Wie Anm. 12.] 92 Theorieskizzen Fiktion und geschichtliche Wirklichkeit 93 räum, der üblicherweise dem Dichter konzediert wird, indem dieser, wie Lessing sagte, die Begebenheiten, die er erfindet, zusammenrücken darf, wie er will. Der Historiker bleibt einer Kontrollinstanz von zwingender Rationalität unterworfen. Es ist eine Kontrollinstanz negativer Art, die sich aus der historischen Methode ergibt. Sie nämlich läßt keine Aussage zu, die nicht durch die Düse der Quellenlektüre gepreßt wurde, und Quellen haben eine Widerständigkeit eigener Art. Nie zeigt eine Quelle, was gesagt werden soll, immer aber zeigt sie, was nicht geiagt 'werden darf. Die Quellen besitzen ein VetorecTrtTpl^^ - methodisch präpariert - einen Mi- nimalbereich für rationale Einsicht, so daß bestimmte Ergebnisse historischer Forschung unbeschadet des Standortes eines Historikers universal kommunikabel und kontrollierbar sind. Gewiß darf dieser Bereich quellengebundener Einspruchsrechte nicht überschätzt werden. Aber er bleibt auf dem Boden jener wissenschaftlichen Empirie, die gegen Behauptungen gefeit ist, die mit dem Anspruch einer von sich selbst überzeugten Gewißheit auftreten. Der Historiker unterliegt einer Aussagensperre, die er sich kraft seiner quellengebundenen Methode selber auferlegt. Deshalb gehört auch Alexander Kluges Schlachtbeschreibung von Stalingrad15 zu den respektablen historischen Leistungen, denn unerachtet der Schnitt- und Montagetechnik, deren sich Kluge bedient, hat er genügend Quellen herangezogen, um seine These überprüfbar zu machen, daß nämlich die Katastrophe in einem sozialgeschichtlich aufweisbaren Hierarchiegefälle von gewissenloser Starre ihren Ursprung habe. Als Bedingungsanalyse der Stalingrad-Katastrophe ist diese These von Kluge sicher ernsthaft diskutabel. Freilich fehlt, wie in Plieviers Stalingrad-Roman,16 ein vielleicht tiefer sitzender und weiter reichender Faktor: die Angst vor den Russen, die vieles erklären kann, was sich schriftlich kaum niedergeschlagen hat, weil es nicht erlaubt war oder geboten schien, darüber zu schreiben. 15 [Alexander Kluge, Schiacbtbeschreibung, Ölten und Freiburg i. Br. 1964, rev. und erw. Fassung Frankfurt am Main 1983.] 16 [Theodor Plievier, Stalingrad, Berlin 1946.] 2. Mit Alexander Kluge und Plievier sind wir unversehens in das Feld der Literaturbetrachtung übergewechselt, ohne damit den Bezug zur geschichtlichen Wirklichkeit aufzugeben. Mein Einwand gegen Kluge, vor allem aber gegen Plievier, zielt auf einen Bereich, der quellenmäßig schon kaum mehr greifbar ist, nämlich die Angst als Handlungsmotiv zu artikulieren. Damit stehen wir vor einer Frage, die sich der methodischen Kontrolle des Historikers weitgehend entzieht, ohne darum aufzuhören, von großem Gewicht für die geschichtliche Wirksamkeit zu sein. Der Übergang vom Faktischen zum Fiktiven, gleichwohl Konkreten, ist also gleitend, wie wir es bei den Träumen nach 1933 schon gesehen haben. Was geschichtliche Wirklichkeit ist, entscheidet sich, anders gewendet, nicht nur auf der Ebene methodischer Quellenkontrolle, sondern schon dort, wo überhaupt versucht wird, sie sprachlich zu artikulieren. Wir sagten vorhin, daß Sprache und Geschichte nie zur Deckung kommen. Gewiß sind geschichtliche Ereignisse ohne Sprechhandlungen nicht denkbar, geschichtliche Erfahrung und Erinnerung ohne Sprache nicht zu vermitteln. Aber immer gehen zahlreiche vor- und außersprachliche Faktoren in eine Geschichte ein, die zu artikulieren freilich selbst wiederum eine sprachliche Leistung darstellt. Deshalb rücken historische und fik-tionale Texte nahe aneinander. Denn beide haben es in dieser Perspektive immer mit der Differenzbestimmung zwischen sprachlicher Artikulation und außersprachlicher Erfahrung zu tun. Lassen Sie mich das am Beispiel eines heute historisierenden Schriftstellers und mäßigen Dramatikers, nämlich Dieter Fortes, zeigen. Die Einführung der Buchhaltung17 erborgt sich ihre Legitimität aus der historischen Quellenverwendung, von der Richtigkeit dessen, was sie als vermeintlich wirklichkeitsgetreu auf die Bretter bringt. Der Anspruch des Autors, quellengemäß zu verfahren, läßt sich nun freilich leicht widerlegen. Denn Umdatierungen, etwa der Schenkung des Augustinerklosters an Luther, oder Auslassungen, etwa der kritischen Anklagen Luthers gegen die Fürsten, geraten gemäß der historischen Quellenkontrolle schnell in die 17 [Dieter Forte, Martin Luther & Thomas Münzer oder Die Einführung der Buchhaltung, Berlin 1971.] 94 Theorieskizzen Fiktion und geschichtliche Wirklichkeit 95 Zone schlichter Fälschung. Aber nicht derartige Manipulationen, die auch Historikern unterlaufen, machen das Luther-Münzer-Stück zu einem schwachen Drama. Der gewichtige Einwand, der erhoben werden muß, zielt vielmehr auf die mangelhafte Theorie dessen, was hier eigentlich Geschichte sein soll. Der Einwand bewegt sich auf einer Ebene, auf der sich historische oder dichtende Schriftsteller treffen. Für die Rezeptionsgeschichte der Reformation sind Ranke oder Forte auf derselben Ebene anzusiedeln: Aber deshalb müssen sich auch beide dem gleichen Kriterienkatalog unterwerfen lassen, wenn sie den Anspruch erheben, die Reformation als geschichtliche Wirklichkeit wiederzugeben. Forte entwirft nun seine handelnden Personen so, daß die vermeintlichen Folgewirkungen der deutschen Geschichte den damals handelnden Personen imputiert werden. So entsteht eine personalisierende Geschichte unter Absehung von den wirklichen Personen. Luther redet bei Forte wie Wilhelm IL, der sich bekanntlich gerne lutherischer Redeweisen bediente. Aber ob jemand lutherisch redet oder ob Luther redet, ist eben ein Unterschied, den Forte nicht wahrnehmen kann. Jedes Wort an seinem Ort. Forte, vermeintliche Wirkungen zurückprojizierend auf vermeintliche Ursachen, verfehlt a fortiori das, was Geschichte auszeichnet, nämlich niemals rundum aus ihren Vorgegebenheiten ableitbar zu sein oder rundum in ihrer bisherigen Wirkung aufzugehen. Forte sitzt, wie viele Historiker auch, einer linearen Entwicklungstheorie auf, um die Reformation als frühbürgerliche Revolution zu deuten und dementsprechend den heutigen Betrachter politisch zu inspirieren. Wenn schon die Reformation eine bürgerliche Revolution in nuce sein soll, wofür manches spricht, dann hätte jedenfalls nicht Münzer, sondern Fugger der tragische Held werden müssen, der es nicht geschafft hat, seine ökonomischen Interessen dem ständischen Herrschaftsgefüge überzustülpen. Die Schuldner des Fugger, der Hochadel des Reiches, blieben schließlich länger an der Macht als ihr finanzieller Gläubiger, dessen Familie sie allenthalben in ihr System zu integrieren vermochten. Die geschichtliche Wirklichkeit war, und das ist nicht nur eine Frage der Theorie, sondern auch der schlichten Quellenlektüre, komplizierter, als Forte wahrnimmt. Luther war nämlich ökonomisch konservativ, theologisch revolutionär. Fugger dagegen, den Forte in ein Boot mit Luther verfrachtet, war ökonomisch progressiv, theologisch aber konservativ. Die Konfliktlinien verliefen eben nicht linear, sondern waren vielschichtig und gebrochen. Um ein letztes Mal Goethe zu bemühen: »je inkommensurabler und für den Verstand unfaßlicher eine poetische Produktion, desto besser.«18 Es könnte sein, daß Goethe damit für die Dichtung etwas gefordert hat, das um so mehr zutrifft, wenn diese Dichtung geschichtliche Wirklichkeit zeigen soll. Geschichte läßt sich sprachlich rationalisieren, deshalb ist sie selber noch lange nicht rational. Kleists Verlobung in St. Domingo als Darstellung des ersten Sklavenaufstandes im Zeichen der Französischen Revolution oder Melvilles Benito Cereno als Schlüsselgeschichte für den amerikanischen Bürgerkrieg mögen das belegen. Die sprachlichen Zeugnisse dieser Dichter fangen für die Situation um 1800 oder um 1860 vielleicht mehr geschichtliche Wirklichkeit ein, als alle historischen Textgattungen zusammengenommen leisten können. Denn die Grenzziehung, die uns vorgegeben bleibt, ist nicht die zwischen Fiktion und Faktizität, sondern die zwischen Geschichte und sprachlichen Zeugnissen. 3. Eine abschließende Bemerkung zur Literaturhistorie, die sich heute als Sozialgeschichte der Literatur oder als Rezeptionsgeschichte entwirft: Eine so verstandene Wissenschaft wird zur Historiographie im besten Sinne. Nur bürdet sie sich alle jene methodischen und theoretischen Schwierigkeiten auf, die sich jedem normalen Historiker stellen: nämlich auf das Vetorecht der Quellen angewiesen zu bleiben, ohne damit schon hinlänglich geschichtliche Wirklichkeit beschreiben zu können. Jedenfalls darf die Geschichtswissenschaft dankbar sein für den Sukkurs, den sie von einer solcherweise neu verstandenen Literaturwissenschaft erhält. Die »Geschichte« tritt zur Hintertür wieder ein, nachdem viele gemeint haben, daß ihr die Vordertür zugeschlagen worden sei. 18 Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten ]ahren seines Lebens, hg. v. Christoph Michel, Frankfurt am Main 1999 (= Goethe, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 39), S. 616 (Gespräch v. 6. Mai 1827).