GN 4-9003 Von Fakten und Fiktionen Mittelalterliche Gcschichtsclarstcllungcn und ihre kritische Aufarbeitung I IcMMlls^c^clicil Villi Johannes Laudagc i 2003 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN VIII kleinen Monographie publiziert werden kann1. Die übrigen Vortrat fanden sich fast ausnahmslos im vorliegenden Band. Lediglich das Eröff nungsreferat von Johannes Fried ist inzwischen schon an anderer Stelle erschienen2, doch dürfte es angesichts der Prominenz des entsprechenden Druckortes keine Schwierigkeiten bieten, auch diesen Aufsatz rasch nachzulesen. Allen Referenten, Moderatoren und Mit-Organisatoren der Tagung sei daher herzlich gedankt. Zu danken habe ich aber auch meinen damaligen und heutigen Mitstreitern am Düsseldorfer Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte. Die Hauptlast der Tagungskoordination trug Herr Dr. Wolfgang Georgi, die Federführung bei der Redaktionsarbeit lag in den Händen von Herrn Christian Klein. Sie beide seien daher besonders hervorgehoben, doch danke ich auch Lars Hageneier, Yvonne Leiverkus, Ni-kola Möller, Carola Nikolai, Sebastian Pahnke, Matthias Schrör und Andrea zur Nieden. Sie alle haben ein stets vergnügtes und unermüdliches Arbeitsteam gebildet, das die Drucklegung energisch vorantrieb. Im Wirkverbund mit unserem Verlag und der Gerda Henkel Stiftung konnte so der erste Band einer neuen Schriftenreihe entstehen, die sich dem weiten Feld der „Europäischen Geschichtsdarstellungen« widmen wird. Für die finanzielle Starthilfe sei herzlich gedankt. Düsseldorf, im August 2002 Jobannes Laudage rf SEMMLER, Der Dynastiewechsel von 751 und die fränkische Königssalbung, Düs- rf 2003- ^ • nnA Vergessen Die Gegenwart stiftet die Einheit der mnes FRIED, Erinnerung und Vergessen, uic h eenheit, in: HZ 273 (2001) S. 561-593. Von Fakten und Fiktionen. Zu einigen Grundsatzfragen Der historischen Erkenntnis von Otto Gerhard Oexle i. Thema des Kongresses über „Mittelalterliche Geschichtsdarstellungen und ihre kritische Aufarbeitung" war die Frage nach den Bedingungen des Wissens mittelalterlicher Geschichtsschreiber und der Art ihrer Darstellung. Ich sehe die vorliegenden Überlegungen in einer dazu komplementären Fragestellung. Mir geht es um die Bedingungen des historischen Wissens und der Erkenntnis moderner Historiker. Es geht um Tragweite und Grenzen der historischen Erkenntnis, um die Leistungsfähigkeit von Geschichtswissenschaft. Die großen Debatten vor drei Jahrzehnten, vor und nach 1970, drehten sich um den gesellschaftlichen Nutzen der Geschichtswissenschaft („Wozu noch Geschichte?"). Darüber herrscht heute, wie mir scheint, eher ein allgemeines Einverständnis. Historiker haben in der Gesellschaft zwei Aufgaben: sie produzieren historische Tatsachen und sie haben für die Deutung, für den „Sinn" dieser Tatsachen zu sorgen. Die entscheidende Frage ist freilich, wie sie das tun. Darum geht es in einem neuen „Grundlagenstreit in der Geschichtswissenschaft"1: nicht um das Wozu, sondern um das W i e und Warum. Ausgelöst wurde der Streit durch die „Frage nach der Literarizität der Wissenschaft von der Geschichte"2. Ist „Geschichte" überhaupt eine Wissenschaft? Oder ist sie nicht eher eine „Kunst"? Die Frage wur 1 Darüber die Beiträge in: Rainer Maria KlESOw/Dieter SIMON (Hgg.), Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit. Zum Grundlagenstreit in der Geschichtswissenschaft (2000). 2 Rainer Maria KlESOW, Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit. Eine Vorbemerkung, in: KlESOwVSiMON, Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit (wie Anm. 1) S. 7-12, hier S. 8. 2 Otto Gerhard Oexle spätestens seit Hayden Whites „Metahistory" (1970)3 und dem allee • nen französisch-amerikanischen Diskurs über die sogenannte Po* moderne" virulent und kommt seitdem nicht zur Ruhe- Warum G Schichtswissenschaft?"4 Der „gegenwärtige und anhaltende Boom an" historischer Literatur«, so äußerte jüngst ein Jurist und Rechtshistoriker entspreche „lediglich der Evidenz der Geschichte, einer Evidenz, die sich aus der Anschaulichkeit eines linearen Zeitmodells und dem damit unausweichlichen jederzeitigen Verlust der Zeit" ergebe5. Daraus resultierten aber „zunächst nur vergangene Geschichten, die jetzt erzählt werden können. Die auf wissenschaftliche Wahrheit zielende Erzählung des hochspezialisierten Technikers der akademischen Geschichtsforschung" liege jedoch „vollständig neben dieser Evidenz". Mit anderen Worten: „Die Evidenz der Geschichte führt nicht zur Evidenz von Geschichtswissenschaft". Vielmehr öffne die Evidenz der Geschichte gerade ihre „Tore für die wissenschaftlicher Wahrheit abholde Kunst und Poesie" und ermögliche das Gedächtnis, „das immer nur gegenwärtige Gedächtnis, in dem die Geschichten als stets neu geschaffene aufbewahrt sind. In dieser Gegenwart entkommen die Historiker der Kunst und der Poesie nicht". Diese „grausame Aporie" sei „nicht hintergehbar": „Die Historiker und Wissenschaftler mögen als Historiker und a 1 s Wissenschaftler sprechen, weil sie dem Dämon der Geschichtsphilosophie, dem Teufel der Spekulation und der Manipulation entrinnen möchten". Aber: „Die Geschichte bleibt eine Hure. Sie bietet sich jedem an. Auch dem Politiker". Es lasse sich also die Vorstellung nicht mehr von der Hand weisen, „daß die Koinzidenz von Gegenstand und Gegenstandserkenntnis nicht beobachtbar", und das heißt: daß sie „zufällig ist". Auch der Rekurs auf methodische Disziplin und systematische Arbeit und Forschung verhelfe nicht dazu, daß die Historiker als Wissenschaftler dem „Labyrinth der Meinungen" entkommen, die „der Tod der Wahrheit freigesetzt" habe. Wenn aber die Geschichte weder durch Wahrheit noch Von Fakten und Fiktionen 3 durch Disziplin zu bändigen sei, so verkümmere die Differenz zwischen Anarchie und Methode: „Die Anarchie wird zur Methode". In seinem jüngst erschienenen Buch „Der Liebeswunsch" hat der Kölner Schriftsteller Dieter Wellershoff eben dieses Thema sehr pointiert erörtert6. Das Buch handelt von Leonhard, dem Juristen, und von Paul, dem Chirurgen, und von ihren verworrenen Geschichten mit Ehefrauen und Geliebten. Leonhard, der Jurist, weiß, daß die „richterliche Wahrheitsfindung, trotz Indizien, Beweisen und Geständnissen, immer Züge eines Konstruktes" hat und nichts anderes als ein „Konstrukt" sein kann. Aber eben dies „beunruhigte ihn tief". Er möchte, daß die richterliche Untersuchung zur Erkenntnis führt, „wie es eigentlich gewesen", daß sie zur Wahrheit führt, weil nur diese eigentlich Grundlage eines richterlichen Urteils sein kann. Paul, der Chirurg, hingegen ist Anhänger des Chaos. Chaos, so sagt er, sei der Zustand, „in dem es gleich wahrscheinlich sei, daß der Kamm in der Bürste oder in der Butter stecke", und in dem, so darf man hinzufügen, es auch völlig gleichgültig ist, ob der Kamm in der Bürste oder aber in der Butter steckt. Dies wiederum stößt Leonhard zutiefst ab. Die Anarchie also werde zur Methode, so unser rechtshistorischer Gewährsmann, und deshalb sei festzustellen, daß „das Beharren der Historiker-Wissenschaftler" auf methodischer Disziplin, systematischer Arbeit und Forschung „seine historische Zeit gehabt" hat. Die Annahme, damit werde es immer weitergehen, sei „unhistorisch". In einer „neuen Zeit" würden diese Bemühungen der Historiker-Wissenschaftler „als einer verlorenen Zeit angehörig betrachtet werden" müssen. „Die verlorene Zeit" aber sei — „verloren"7. J Hayden WHITE, Metahistory. The historical Imagination in Nineteenth-Century Europe (1973); deutsche Ausgabe: DERS., Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa (1991). c . 4 KIESOW, Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit (wie Anm. 2) b. 1. 5 Ebda. S. 9 f. Hier auch die folgenden Zitate. 6 Dieter WELLERSHOFF, Der Liebeswunsch (2000) S. 191 f. 7 KlESOw", Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit (wie Anm. 2) S. 10 f. 4 Otto Gerhard Oexle Von Fakten und Fiktionen 3 II. r j „-«.n werden so wie es derzeit aussieht, von Auf diese Herausforderungen werden, ^^^^^^R zu rier r kann auf den fachlichen „Betrieb« hinwe1Sen, der ja auch wie eh und Je flone*. Dies ist ganz unbestreitbar. Aber: genügt das? Und gehört es nicht zu den konstitutiven Kennzeichen von Wissenschaft daß Gegensatz zum Alltagswissen - nicht nur etwasweiß .sondern auch darüber reflektiert, warum sie etwas weiß und welcher Modus des Wissens ihr eignet9? Dazu kommt, daß im derzeitigen Moment die Haltung des Ignorierens und Aussitzens der Herausforderungen mit Hinweis auf die unbestreitbaren Leistungen des „Betriebs" Risiken impliziert. Ich erinnere daran, wie im Zeichen knapper finanzieller Mittel die Sozialwissenschaften sich zu „Hard Science" mausern wollen, - was natürlich ganz unbegründet ist. Aber was hätten Historiker dem entgegenzuhalten, wenn sie nicht einmal über die Bedingungen ihres eigenen Wissens nachzudenken wünschen? Die Risiken einer solchen Haltung werden sogleich auch dann sichtbar, wenn man zu den Naturwissenschaften hinüberblickt. Dort ist nämlich, und zwar in der Physik ebenso wie in der Biologie, nicht nur eine unaufhörlich weiterschreitende, empirische Forschung zu sehen, die täglich neue und zuweilen bestürzend neue Ergebnisse vorzuzeigen hat, sondern diese unaufhörliche Erweiterung unseres Wissens im Bereich der naturwissenschaftlichen Erkenntnis ist -jedenfalls sehr viel häufiger als bei Historikern - begleitet von einer Dauer-Reflexion der Naturwissenschaftler selbst über das, was sie tun. 8 Zum folgenden bereits Otto Gerhard OEXLE, Im Archiv der Fiktionen, Rechtshistori sches Journal 18 (1999) S. 511-525; wieder abgedruckt in: K,ESOW/SlMON Auf dertuZ nach der verlorenen Wahrheit (wie Anm. 1) S. 87-103 che 'Diese Anfrage an den „Betrieb" der Wissenschaft ist natürlich nicht neu Sie w„rH ■ der Zeit der sogenannten „Krise des Historismus« am Beginn des 20 Uh i 7 " (2) Eine zweite Antwort auf die „postmodernen" Herausforderungen wird darin sichtbar, daß der Streit aufgenommen wird. So tut es zum Beispiel der britische Historiker Richard J. Evans in seinem Buch „Zur Verteidigung der Geschichtswissenschaft" („In Defence of History") von 1997, das unter dem Titel „Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis" inzwischen auch in deutscher Sprache erschienen ist10. Zur Widerlegung der „postmodernen Theorien" seit den 1980er Jahren, mit der linguistischen Wende, welche die Geschichtswissenschaft in eine tiefe „epistemologische Krise" gestürzt und „bis in ihre wissenschaftlichen und kulturellen Fundamente hinein erschüttert" habe und die geradezu eine „Auflösung" der Geschichtswissenschaft betreibe, möchte Evans die Historiker aus ihrer „Selbstgenügsamkeit" und ihrer „sklerotischen Selbstzufriedenheit" aufrütteln. Es sei an der Zeit, daß die Historiker „Verantwortung dafür übernehmen, zu erklären, was (sie) tun, wie (sie) es tun und warum es wert ist, getan zu werden", so fordert er. Historiker seien zwar anerkannte Experten, wenn es darum gehe, die Vergangenheit zu verstehen; doch ende ihr Expertentum, wenn es darum gehe, zu verstehen, wie sie die Vergangenheit verstehen. Evans kämpft deshalb gegen das „Verschwinden des historischen Faktums" bei den „Postmodernen" und möchte den Historikern ihren „Glauben ... an die vergangene Wirklichkeit und an die Möglichkeit, sie zu rekonstruieren" wiedergeben. Denn: Fakten gebe es doch wirklich. Ich zitiere Evans: „Historische Fakten sind Dinge, die in der Geschichte geschehen sind und die als solche anhand der überlieferten Spuren überprüft werden können". Ob Historiker „bisher den Akt der Überprüfung" schon unternommen hätten oder nicht, sei „für die Faktizität" der Fakten ganz „ohne Belang". Denn: „die Fakten existieren vollkommen unabhängig von den Historikern". Und so endet das Buch von Evans denn auch mit einer leidenschaftlichen Beschwörung der Realität der Vergangenheit und ihrer Erkennbarkeit: die Vergangenheit sei doch „wirklich geschehen", und Historiker könnten, wenn sie „sehr gewissenhaft, vorsichtig und selbstkritisch sind", „tatsächlich" herausfinden, „wie sie geschah". 10 Richard J. evans, Fakten und Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis (1998). Die folgenden Zitate hier S. 13 f., S. 20 f., S. 79, S. 103, S. 115 und S. 243. 6 Otto Gerhard Oexle Ganz analoge Debatten neuerdings auch in der deutschen Wissenschaft. Auch hier wurde jüngst Geschichte als „Kunstprodukt" erklärt und wurde für die „Entbehrlichkeit" der Tatsachen plädiert. Denn, was man „Tatsachen" nenne, sei doch nichts anderes als „sprachliche Botschaften, denen gegenwärtig aus pragmatischen Gründen allgemein Glauben geschenkt wird"; und Historiker seien doch „nur eine gelehrte und sich auf ältere Texte und Zeichen stützende Spezies der Gattung .Dichter/Schriftsteller'"11. Und auch hierzulande wird gegen eine solche postmoderne Verunsicherung in beschwörendem Ton zur Anerkennung der Realität, der Tatsächlichkeit der Tatsachen aufgerufen. Wie in einem „Säurebad" sei der „Pfeiler, das Grundelement aller Geschichte als Wissenschaft", die „Tatsache" aufgelöst worden12. Deshalb gelte es nun, „den Schlingpflanzen der theoretischen Verunsicherung" nicht zu erliegen. Die Geschichtswissenschaft sei mittlerweile an der „Schwelle ihrer Selbstzerstörung angelangt"; nun aber müsse der „systematischen Verdächtigung der Tatsache" ein Ende gemacht werden. Denn es gebe doch eine „Irreduktibilität der Tatsachen, die schlechterdings grundlegend (sei) und nicht bestritten werden (könne)", es gebe doch eine „pragmatische Evidenz" des Tatsächlichen, „die wir uns nicht ausreden lassen sollten". Vor allem müsse die „Primärtatsache ... wieder in ihre Würde eingesetzt werden". Und mit der Wiederentdeckung der Tatsache werde die Geschichtswissenschaft auch wieder zur „Wahrheit" finden. Man wird sich fragen müssen, was mit solch schlichten Behauptungen des Gegenteils gegen die „Herausforderungen des Postmodernismus" gewonnen werden kann. Zwar gewinnt eine solche Diskussion über den Gegensatz von „Fakten" und „Fiktionen" ihre Plausibüität dadurch, daß sie den Anschein erzeugt, es gebe nichts Drittes, man müsse eben „Fak-tualist" oder „Fiktionalist" sein. Aber diese Plausibüität ist wirklich nur eine scheinbare. Handelt es sich doch bei dem Gegensatz von „Fakten" und „Fiktionen" um ein epistemologisches Paar im Sinne von Gaston 11 So Michael stolleis, Rechtsgeschichte als Kunstprodukt. Zur Entbehrlichkeit von „Begriff" und „Tatsache" (1997) S. 16 und S. 27. 12 So Werner paravicini, Rettung aus dem Archiv? Eine Betrachtung aus Anlaß der 700-Jahrfeier der Lübecker Trese, Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 78 (1998) S. 1146; die Zitate hier S. 23, S. 33 f. und S. 39 f. Von Fakten und Fiktumen 7 Bachelard, das, seinem kontradiktorischen und wechselseitig exklusiven Habitus zum Trotz, in einer zentralen Grundannahme übereinstimmt, welche man teilen kann, - oder aber nicht: weil beide den Anspruch erheben, das Wesentliche über das .Ganze" und über die Bedingungen des Wissens vom „Ganzen" zu wissen. Teilt man diese Grundannahme nicht, so werden sogleich andere Möglichkeiten jenseits dieses scheinbar so exklusiven Gegensatzes sichtbar. Im Fall von .Fakten und Fiktionen" ist die gemeinsame Grundannahme, daß das .Ganze* historischer Erkenntnis in diesen beiden Positionen richtig und jeweils vollständig beschrieben ist. Aber ist das wirklich so? Deshalb nimmt die Plausibüität dieser Debatte sofort ab, wenn man sich ihrer Historizität bewußt wird. Die Position von Richard J. Evans gegen die Postmodernen steht ganz in der nationalen, kulturellen episte-mologischen Tradition des britischen Empirismus. Evans „Gewährsmann" ist Geoffrey R. Elton mit seinem Buch „The Practice of History" von 1967, einem dezidierten Plädoyer für „things that happen", für „true facts", für „real" oder „hard history", und mit der Vorstellung vom Historiker als einem Handwerksmeister, der Dinge aus der Vergangenheit wieder herstellt13. Ganz anders deshalb der Umgang der Franzosen mit dem Problem, worauf ich hier nicht eingehen kann'4. Es ist leicht zu verstehen, daß eben diese Tradition des britischen Empirismus es ist, die gerade bei amerikanischen Wissenschaftlern ihr Gegenstück, den „Postmodernismus" provoziert hat und damit dann auch wiederum die erneute vehemente Gegenreaktion auf britischer Seite, wie sie zum Beispiel Evans vertritt. Auch die deutschen Positionen von Fakten und Fiktionen sind unschwer zu historisieren. Denn hinter dem leidenschaftlichen Plädoyer für die Tatsachen und ihre Wahrheit steckt die klassische deutsche Tradition der historischen Erkenntnis als Faktenerkenntnis nach Rankes Programm von 1831 („Mein Grundgedanke ist,... die Fakten, wie sie sind, ... zu erkennen, zu durchdringen und darzustellen. Die wahre Lehre hegt m 13 Geoffrey R. ELTON, The Practice of History (1%7). Dazu Oexle, Im Archiv der Fiktionen (wie Anm. 8) S. 99. Vgl. Quemin S xl inner, Sir Geoffrey Ehon and the Practice of History (Transactions of the Royal Historical Society 7,1997) S. 301-316. 14 OEXLE, Im Archiv der Fiktionen (wie Anm. 8) S. 9« ff. 8 Otto Gerhard Oexle Von Fakten und g \ \mnm der Erkenntnis der Tatsachen")15 und mit Rankes so unendlich oft und immer wieder aufs neue zitiertem Diktum vom „Sagen, wie es eigentlich gewesen" von 182416. Man könnte auch an Rankes Berliner Antrittsvorlesung von 1836 erinnern, wo Ranke Geschichtswissenschaft und Naturwissenschaft vergleicht: „Denn wie die Naturwissenschaft einerseits die Gestalt der Naturwesen sorgfältig zu zeichnen unternimmt, andererseits aber Höheres erstrebt und die ewigen Gesetze, welche der Welt selbst und den einzelnen Teilen und Gliedern derselben gegeben sind, zu untersuchen sich bemüht, dann aber zu dem innern Quell der Natur, aus dem Alles hervorströmt, vordringt: gerade so ist es mit der Historie: wie sehr sie auch danach trachtet, die Reihenfolge der Begebenheiten so scharf und genau wie möglich aufzurollen und jeder derselben ihre Farbe und Gestalt wiederzugeben und darauf den höchsten Wert legt: so bleibt sie doch bei dieser Arbeit nicht stehen, sondern schreitet zur Erforschung der Anfänge fort und sucht bis zu den tiefsten und geheimsten Regungen des Lebens, welches das Menschengeschlecht führt, hindurchzudringen". Und dies sei „das letzte Ziel" der Geschichtswissenschaft: „den Kern und das tiefste Geheimnis der Begebenheiten in sich aufzunehmen". Dies aber sei „gleichsam ein Teil des göttlichen Wissens"17. Werden diese Auffassungen Rankes evoziert, so wird dabei immer der Eindruck erweckt, als sei diese Position seither niemals in Frage gestellt worden. Ebenso bleibt unberücksichtigt, was die alleinige Bedingung der Möglichkeit des Programms Rankes war, nämlich die Annahme einer durch Religion begründeten Ideen-Erkenntnis. Historisches Wissen war für Ranke, wie bereits erwähnt, „gleichsam ein Teil des göttlichen Wissens. Eben nach diesem ... suchen wir mit Hülfe der Geschichte vorzudringen"18. Es geht hier also um „Geschichtsreligion" (Wolfgang Hardt- wig)". Wie aber sollte, nach dem nicht erst im 19 . einsenden Gewißheiten, ™t a,s den ^ ^ ^ j££ RankeanerundI * Neo-Rankeaner seiner Zeit und derenTaLen besessenheit 1881 ungerührt dtese .Facta" aU .(acta fieta- ^„..„ („Morgenröte" N, 307). Historiker hätten es ^T^Z wrkhch geschehen ist zu tun, sondern nur mit .vermeintlichen Ereignissen . Was siedie „Weltgeschichte" nennen, seien nur .Meinung über vermeintliche Handlungen und deren vermeintliche Motive" ABe Historiker" erzählen nur „von Dingen, die nie existiert haben außer in (ihrer) Vorstellung". Und auch die von den Historikern viel beschworene „Objektivität" oder gar „Wahrheit" ihrer Erkenntnis, so hatte Nietzsche schon in seiner zweiten unzeitgemäßen Betrachtung „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Üben" von 1874 dargelegt, sei nichts alt eine leere Behauptung, bestenfalls eine Selbsttäuschung, und erweise sich bei genauerer Betrachtung nur als ein Ausdruck des Willens zur Macht"20. Ist es nun sinnvoll, heute noch einmal Nietzsche gegen Ranke und Ranke gegen Nietzsche antreten zu lassen? Ist es sinnvoll, den Faktenglauben von Historikern ad absurdum zu führen - oder aber die Fik-tionalitätsthese der „Postmodernen" mit dem trotzigen Hinweis auf eine angeblich unbestreitbare Faktizität historischer Fakten und mit der emphatischen Beschwörung des „Sagen, wie es eigentlich gewesen' zu bekämpfen? 15 So Ranke in einem Brief vom 21. November 1831 an seinen Bruder Heinrich, in: Leopold von Ranke, Das Briefwerk, hg. von Walther Peter FUCHS (1949) S. 246. 16 Zit. nach Wolfgang Hardtwig (Hg.), Über das Studium der Geschichte (1990) S. 45. * Leopold VON RANKE, Uber die Verwandtschaft und den Unterschied der Historie und der Politik. Eine Rede zum Antritt der ordentlichen Professur an der Universität zu Berlin im Jahre 1836, in: HARDTwlG, Über das Studium der Geschichte (wie Anm. 16) S. 47-60, hier S. 51 f. ■ Ebda. S. 52. - WolfgangHARDTWlG, Geschichtsreügion - Wissenschaft als Arbek - Obernau D« Historismus in neuer Sicht, HZ 252 (1991) S. 1-32.__w<.r ^ TMwimTiT * Otto Gerhard OEXLE, .Historismus". Ub^r^en zur (^^^^^ <^q und des Begriffs, in: DERS., Geschichtswissenschaft un ^^^^^^^ Ufe. zu Problerngeschichten der Moderne (dusche Studien zur Goch*****»™» 1996) S. 41-72, hier S. 53 ff. 10 Otto Gerhard Oexle m. Will man in diesen Debatten und Kontroversen weiterkommen, so kann dies, so denke 1Ch, nur auf dem Wege geschehen, den ich mit meinen letzten Bemerkungen bereits beschritten habe: nämlich auf dem Wege einer umfassenden Histonsierung des Themas. Eine solche Historisierung macht zunächst einmal (1) die speziellen „nationalen Wissen-schaftskulturen der Moderne sichtbar, die auch zu spezifischen Diskussionen und Definitionen von Wissenschaft und historischer Wissenschaft in der Moderne geführt haben. Darauf kann ich hier nicht eingehen . Eine solche Historisierung fuhrt außerdem (2) zu einer umfassenden Diachronie und zu „Tiefenschärfe" in der Wahrnehmung der Genese moderner Wissenschaft und moderner Geschichtswissenschaft und ihrer ständigen „Krise". Dazu hier einige Bemerkungen. Eine der wichtigsten und zentralen Ausformungen dieser Krisenhaftigkeit moderner Wissenschaft ist der Historismus, nämlich die Wahrnehmung, daß alles, was ist, historisch bedingt und historisch vermittelt ist, - auch die historische Erkenntnis selbst22. Dieses konstitutive Problem der Moderne ist eine Konsequenz von Aufklärung und Revolution. Ein Konsequenz der Aufklärung, insofern diese, nach der berühmten Formel von Kant, eine Epoche der Kritik darstellt23, also eine Epoche der Emanzipation des Menschen von allen Traditionen, Autoritäten, Lehren, Institutionen, Gewohnheiten und Konventionen, die vor der autonomen menschlichen Vernunft nicht bestehen können. Als das wichtigste Instrument dieser Kritik galt den Aufklärern die Wissenschaft. Die Frage nach der Begründung von Wissenschaft wurde dadurch Von Fakten und Fiktionen 11 eine zentrale Frage der Moderne. Die Revolution wiederum bedeutete die permanente Destabilisierung aller politischen und sozialen Strukturen, und deshalb auch, nach der Formulierung Jacob Burckhardts, „den Sturz von Moralen und Religionen"". Bereits die führenden Akteure der Revolution von 1789 sahen sich gezwungen, die „Leere" (le „vide") festzustellen, die sie durch ihr Handeln hervorgebracht hatten, und sie erkannten die Notwendigkeit, neue Traditionen und Riten zu schaffen25. Dies ist der Ausgangspunkt der Festfeiern der Französischen Revolution und der mit ihnen verknüpften „neuen Mythologien" (Manfred Frank)26, die - und das ist das Entscheidende - mit den Mitteln der Geschichte, mit dem Instrument des kulturellen Gedächtnisses organisiert und ausstaffiert wurden. Eine der fundamentalsten Konsequenzen von Aufklärung und Revolution ist deshalb die allgemeine Historisierung, die Erkenntnis der umfassenden Historizität alles dessen, was ist. Es handelt sich dabei um eine Wahrnehmung des Menschen und der Welt, die ganz neu und bis dahin unerhört war. In seiner Vorlesung über die „Geschichte des Revolutionszeitalters" reflektierte Jacob Burckhardt 1867 über die „Welle", auf der wir - nach dem „Sturm" von 1789 - im „Ozean" treiben, - und über „Geschichte" reflektieren. Die Antwort ist paradox und benennt das, was man am Anfang des 20. Jahrhunderts als die „Krise des Historismus" bezeichnen wird: daß wir nämlich „die Welle selbst" sind27 und daher einer neuen Reflexion und Bestimmung unserer Arbeit als Historiker bedürfen. Historismus bedeutet also zwei Dinge zugleich: Chancen und Zumutungen. 21 Dazu die Bemerkungen von OEXLE, Im Archiv der Fiktionen (wie Anm. 8) S. 98 ff. 22 Dazu die Beiträge in: Otto Gerhard OEXLE, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus (wie Anm. 20); DERS., Kulturelles Gedächtnis im Zeichen des Historismus, in: Bauten und Orte als Träger von Erinnerung. Die Erinnerungsdebatte und die Denkmalpflege, hgg. von Hans-Rudolf MEYER/Marion WOHLLEBEN (Veröffentlichungen des Instituts für Denkmalpflege an der ETH Zürich 21, 2000) S. 59-75. » So Kant in der Vorrede zur ersten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft" von 1781 (A XII): „Unser Zeitalter ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen w Jacob burckhardt, Über das Studium der Geschichte. Der Text der »Weltgeschichtlichen Betrachtungen" auf Grund der Vorarbeiten von Emst Ziegler nach den Handschrilten herausgegeben von Peter ganz (1982) S. 229. 25 Vgl. OEXLE, Kulturelles Gedächtnis im Zeichen des Historismus (wie Anm. 22) S. 65 f. 26 Vgl. Manfred Frank, Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie, I. Teil (1982). 27 Jacob BURCKHARDT, Einleitung in die Geschichte des Revolutionszeitalters, in: DERS., Historische Fragmente, hgg. von Emil DÜRR/Werner KAEGl (1942) S. 200 f. (freundlicher Hinweis von Reinhard Laube). 10 Otto Gerhard Oexle ni. Will man in diesen Debatten und Kontroversen weiterkommen, so kann dies, so denke ich, nur auf dem Wege geschehen, den^ich mit meinen letzten Bemerkungen bereits beschritten habe: namhch auf dem Wege einer umfassenden Historisierung des Themas Eine solche Motorisierung macht zunächst einmal (1) die spezifischen „nationalen Wissenschaftskulturen der Moderne sichtbar, die auch zu spezifischen Diskussionen und Definitionen von Wissenschaft und historischer Wissenschaft in der Moderne geführt haben. Darauf kann ich hier nicht eingehen . Eine solche Historisierung führt außerdem (2) zu einer umfassenden Diachronie und zu „Tiefenschärfe" in der Wahrnehmung der Genese moderner Wissenschaft und moderner Geschichtswissenschaft und ihrer stand igen „Krise". Dazu hier einige Bemerkungen. Eine der wichtigsten und zentralen Ausformungen dieser Krisenhaftigkeit moderner Wissenschaft ist der Historismus, nämlich die Wahrnehmung, daß alles, was ist, historisch bedingt und historisch vermittelt ist, - auch die historische Erkenntnis selbst22. Dieses konstitutive Problem der Moderne ist eine Konsequenz von Aufklärung und Re-volution. Ein Konsequenz der Aufklärung, insofern diese, nach der berühmten Formel von Kant, eine Epoche der Kritik darstellt23, also eine Epoche der Emanzipation des Menschen von allen Traditionen, Autoritäten, Lehren, Institutionen, Gewohnheiten und Konventionen, die vor der autonomen menschlichen Vernunft nicht bestehen können. Als das wichtigste Instrument dieser Kritik galt den Aufklärern die Wissenschaft. Die Frage nach der Begründung von Wissenschaft wurde dadurch 21 Dazu die Bemerkungen von OEXLE, Im Archiv der Fiktionen (wie Anm. 8) S. 98 ff. 22 Dazu die Beiträge in: Otto Gerhard oexle, Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus (wie Anm. 20); Ders., Kulturelles Gedächtnis im Zeichen des Historismus, in: Bauten und Orte als Träger von Erinnerung. Die Erinnerungsdebatte und die Denkmalpflege hgg. von Hans-Rudolf meyer/Marion wohlleben (Veröffentlichungen des Instituts für Denkmalpflege an der ETH Zürich 21,2000) S 59-75 (A^tjltr7lTde 1 emen 386 dCr "KHtik der reinen ^munh* von 1781 (AXJI). „Unser Zeitalter ist das etgenthche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen Von Fakten und Fiktionen 11 eine zentrale Frage der Moderne. Die Revolution wiederum bedeutete die permanente Destabilisierung aller politischen und sozialen Strukturen, und deshalb auch, nach der Formulierung Jacob Burckhardts, „den Sturz von Moralen und Religionen"24. Bereits die führenden Akteure der Revolution von 1789 sahen sich gezwungen, die „Leere" (le „vide") festzustellen, die sie durch ihr Handeln hervorgebracht hatten, und sie erkannten die Notwendigkeit, neue Traditionen und Riten zu schaffen25. Dies ist der Ausgangspunkt der Festfeiern der Französischen Revolution und der mit ihnen verknüpften „neuen Mythologien" (Manfred Frank)26, die - und das ist das Entscheidende - mit den Mitteln der Geschichte, mit dem Instrument des kulturellen Gedächtnisses organisiert und ausstaffiert wurden. Eine der fundamentalsten Konsequenzen von Aufklärung und Revolution ist deshalb die allgemeine Historisierung, die Erkenntnis der umfassenden Historizität alles dessen, was ist. Es handelt sich dabei um eine Wahrnehmung des Menschen und der Welt, die ganz neu und bis dahin unerhört war. In seiner Vorlesung über die „Geschichte des Revolutionszeitalters" reflektierte Jacob Burckhardt 1867 über die „Welle", auf der wir - nach dem „Sturm" von 1789 - im „Ozean" treiben, - und über „Geschichte" reflektieren. Die Antwort ist paradox und benennt das, was man am Anfang des 20. Jahrhunderts als die „Krise des Historismus" bezeichnen wird: daß wir nämlich „die Welle selbst" sind27 und daher einer neuen Reflexion und Bestimmung unserer Arbeit als Historiker bedürfen. Historismus bedeutet also zwei Dinge zugleich: Chancen und Zumutungen. 24 Jacob BURCKHARDT, Über das Studium der Geschichte. Der Text der „Weltgeschichtlichen Betrachtungen" auf Grund der Vorarbeiten von Ernst Ziegler nach den Handschriften herausgegeben von Peter GANZ (1982) S. 229. " Vgl. OEXLE, Kulturelles Gedächtnis im Zeichen des Historismus (wie Anm. 22) S. 65 f. 2i Vgl. Manfred FRANK, Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie, I. Teil (1982). 27 Jacob BURCKHARDT, Einleitung in die Geschichte des Revolutionszeitalters, m: DERS., Historische Fragmente, hgg. von Emil DÜRR/Werner KAEGI (1942) S. 200 f. (freundlicher Hinweis von Reinhard Laube). 12 Otto Gerhtrd Oedt Die Chancen bestehen in der unerhörten Erweiterung des historischen Wissens, in der Möglichkeit, zu einer durch und durch historischen Wahrnehmung des Menschen und der Welt zu kommen und deshalb auch zu intellektuellen Orientierungen, die auf dem unausschöpfbaren Reichtum der Geschichte beruhen. Diese unerhörte Erweiterung des historischen Wissens provozierte die Genese einer Wissenschaft von der Geschichte, zum Beispiel bei Leopold von Ranke mit seinem Programm des »Sagen, wie es eigentlich gewesen" von 1824. Der Historismus war eine Konsequenz der Geschichte2*, und er machte „Geschichte" zur Leit-wissenschaft des 19. Jahrhunderts. Dies zog sogleich eine unaufhaltsame Historisierung auch bisher systematischer Wissenschaften nach sich, zum Beispiel der Theologie, der Rechtswissenschaft, der Nationalökonomie29. Und ständig entstanden neue historische Wissenschaften, wie zum Beispiel die Philologien und die Kunstgeschichte. In der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts zog die unaufhörliche Vermehrung des historischen Wissens eine Verfügbarkeit aller bisher gewesener Kulturen nach sich, die für eine Nutzung in der Gegenwart bereitstanden. Man erinnere sich an die „historistische" Kunst und Architektur vom 19. Jahrhundert bis heute50. Auf der anderen Seite stehen die Zumutungen des Historismus. Zumutungen zum einen, weil - wie schon angedeutet - die allgemeine Historisierung auch die historische Wissenschaft selbst ergreift. Johann Gustav Droysen hat das bereits 1857 in seiner „Historik" ausgesprochen: „Das historische Forschen setzt die Einsicht voraus, daß auch der Inhalt unseres Ich ein vielfach vermittelter, ein geschichtliches Resultat ist"31. 21 Zur Bedeutung der „Bifokalität" und „Polyfokalität" in der Kunst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts und den daraus sich ergebenden „Kontrastkoppelungen" (Werner Hofmann) in ihrer Bedeutung für die Genese des Historismus: OEXLE, Kulturelles Gedächtnis im Zeichen des Historismus (wie Anm. 22) S. 64 f. * Annette WnTKAU, Historismus. Zur Geschichte des Begriffs und des Problems (21994). K Otto Gerhard OEXLE, Die Moderne und ihr Mittelalter. Eine folgenreiche Problemgeschichte, in: Mittelalter und Moderne. Entdeckung und Rekonstruktion der mittelalterlichen Welt, hg. von Peter SEGL (1997) S. 307-364. 31 Johann Gustav DROYSEN, Historik. Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung r Vorlesungen (1857). Grundriß der Historik in der ersten handschriftlichen (1857/ Von Fakten und Fiktionen 13 Auch die Geschichtswissenschaft selbst unterliegt der Historisierung. Was aber ist dann der Status ihres Wissens? - Zumutungen andererseits, weil die grenzenlose Vermehrung des historischen Wissens mit einer immer größeren Zahl von Tatsachen geradezu verhindert, den „Sinn", die Bedeutung dieser Tatsachen und der Vermehrung des historischen Wissens und der Geschichte selbst zu erkennen. Das historische Wissen verliert somit seine Fähigkeit, zum Handeln in der Gegenwart anzuleiten. Anders gesagt: der ungeheuren Erweiterung historischer Wahrneh-mungs- und Orientierungsmöglichkeiten steht die gleichzeitige Reduzierung, ja Relativierung dieser Orientierungen gegenüber, insofern die Gleichzeitigkeit aller die Verbindlichkeit und Normativität jeder einzelnen in Frage stellt. Dies ist bekanntlich das Thema, das Friedrich Nietzsche in seiner zweiten unzeitgemäßen Betrachtung „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben" (1874) in die Mitte seiner Überlegungen gestellt hat: die „historische Krankheit" des modernen Menschen, die eine Konsequenz des ihm zugemuteten „Ubermaßes an Historie" darstelle12. Dieses resultiere aus der unaufhörlichen und immer schnelleren Vermehrung des historischen Wissens und daraus, daß die Historie eine Wissenschaft geworden ist. Denn diese Wissenschaft zeige alles in seinem Werden und deshalb auch in seinem Vergehen. Die Geschichtswissenschaft sei „die Wissenschaft des universalen Werdens"33, und noch keine Generation habe ein solches Schauspiel gesehen. Indem sie alles in seinem Werden und deshalb auch in seinem Vergehen zeige, wirke die Geschichtswissenschaft zerstörerisch. Sie raube dem Menschen die Orientierungen seines Handelns und führe zu Skeptizismus und Zynismus und letztlich zur Lähmung und Zerstörung der Lebenskräfte. Nietzsches anschauliches Beispiel dafür ist der „jetzige theologus liberalis vulgaris", der Repräsentant der historischen Theologie, welche das Christentum in 1858) und in der letzten gedruckten Fassung (1882). Textausgabe von Peter LEYH (1977) S. 399. B Friedrich NIETZSCHE, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874), in: DERS., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, hgg. von dorgio COLLI/Mazzino MONTINARI, Bd. 1 C1988) S. 329. 33 Ebda. S. 272. 14 Otto Gerhard Oexie „reines Wissen um das Christentum" aufgelöst und „dadurch vernichtet" habe34. Dazu tritt in Nietzsches Argumentation gegen die Historie als Wissenschaft, wie wir schon wissen, als drittes Moment, daß ihr Anspruch auf Objektivität eine Ideologie, bestenfalls eine „Illusion" und „Mythologie", in Wahrheit aber ein Ausdruck des „Willens zur Macht" sei. Wie haben die Vertreter der Geschichtswissenschaft auf diese Herausforderung reagiert? Eine zweite Herausforderung für die Historiker ging von der modernen empirischen Naturwissenschaft aus, die sich, aufgrund der empirisch-wissenschaftlichen Erkenntnismethode, der Beobachtung als alleiniger Methode wissenschaftlicher Erkenntnis, im Bereich der Naturwissenschaft gegen Ende der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts formierte und die eine neue Epoche des naturwissenschaftlichen Erkennens überhaupt bedeutete35. Für ihre Methode und ihre Ergebnisse forderte sie unbeschränkte Geltung. Es ging ihr um die Erkenntnis von unumstößlichen (sogenannten „harten") „Tatsachen" und um die aus diesen zu ermittelnden, absolut gültigen (sogenannten „ewigen") „Gesetze". Führende Naturwissenschaftler wie Rudolf Virchow, Hermann von Helmholtz und Emil Du Bois-Reymond stellten deshalb die Frage nach dem epistemolo-gischen Status der historischen Erkenntnis16. Denn: alle Kenntnis, so Virchow 1849, stamme aus der empirischen Beobachtung, und deshalb beruhe „aller Fortschritt des Menschengeschlechts ... einzig und allein" darauf, daß die „ewigen Gesetze" der Natur durch „immer fortgesetzte sinnliche Beobachtung" immer genauer ergründet würden. Die naturwissenschaftliche Methode der „positiven Erfahrungen ... auf empirischem Wege" sei deshalb „die einzige wissenschaftliche" und „die höchste Form menschlicher Einsicht" (so Virchow 1860). Sie sei nicht nur die M Ebda. S. 297. " Dazu Annette WlTTKAU-HORGBY, Materialismus. Entstehung und Wirkung in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts (1998). 36 Otto Gerhard oexle, Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft. Momente einer Problemgeschichte, in: Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft: Einheit - Gegensatz - Komplementarität?, hg. von Dems. (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 6, 22000) S. 99-151, hier S. 107 ff. Der Nachweis der folgenden Zitate ebda. S. 108 f. Von Fakten und Fiktionen 15 „Mutter" aller Wissenschaften, sondern müsse auch „die Methode der ganzen Nation", ja sogar die „eigentliche Maxime des Denkens (und) des sittlichen Handelns" werden, wie Virchow 1871 verkündete. Wie haben die Historiker auf diese zweite Herausforderung geantwortet? rv. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ging es also für Historiker um zwei zentrale Fragen: um die Frage des Historismus und um die Frage des Verhältnisses von Naturerkenntnis und historischer Erkenntnis. Zu diesem Thema müßte vieles erörtert werden37: der positivistische Szien-tismus auch bei Historikern; Johann Gustav Droysens „Historik"; Diltheys Konzept von „Geisteswissenschaft". Dies ist hier nicht möglich. Doch will ich die Auseinandersetzungen über diese beiden Fragen etwas eingehender beleuchten für die Epoche der fünf Jahrzehnte etwa zwischen 1880 und 1932, die man mit Recht als eine „Achsenzeit" moderner Wissenschaft bezeichnet hat (Roland Kany). In dieser Phase entwickelte sich in Deutschland eine „Historische Kulturwissenschaft", die mit den Namen von Georg Simmel, Max Weber, Ernst Cassirer, Karl Mannheim und anderer verbunden ist3*. Der Ausgangspunkt dieses Neuansatzes war, in epistemologischer Hinsicht gesehen, ein dreifacher. Zum einen ging es darum, an die Stelle von Rankes am Anfang des 19. Jahrhunderts entwickeltem Programm einer Faktenerkenntnis und Erkenntnis der Geschichte „wie es eigentlich gewesen", begründet auf „Geschichtsreligion" (W. Hardtwig) und Ideen- " Dazu oexle, Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft (wie Anm. 36) S. 111 ff. 31 Darüber Otto Gerhard oexle, Geschichte als Historische Kulturwissenschaft, in: Kulturgeschichte Heute, hgg. von Wolfgang HARDTWIG/Hans-Ulrich Wehler (Geschichte und Gesellschaft. Sonderheft 16, 1996) S. 1440; ders., Kultur, Kulturwissenschaft, Historische Kulturwissenschaft. Überlegungen zur kulturwissenschafthchen Wende in- Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 5 (2000), S. 13-33; ders (Hg) Das Problem der Problemgeschichte 1880-1932 (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 12, 2001). Zur Genese des Problems: Johannes HESSEN, Em Indikator für die Probleme der Problemgeschichte: Kulturhistorische Entdifferenzierung am Ende des 19. Jahrhunderts, in: ebda. S. 39-84. 16 Otto Gerhard Oexle Von Fakten und Fiktionen 17 erkenntnis, ein neues Konzept von historischer Erkenntnis zu setzen weil Rankes Programm eben wegen seiner Fundierung auf Geschichtsre^ ligion und Ideenerkenntnis als Grundlage nicht mehr brauchbar erschien Zweitens ging es darum, die Fragen einer empirischen Naturwissenschaft so zu beantworten, daß beide Bereiche der Wissenschaft von einer gemeinsamen Grundlage her und zugleich in ihrer Unterschiedenheit definiert werden konnten. Drittens ging es darum, Nietzsches Frage nach dem Historismus und seinen Konsequenzen, also die Frage nach dem Verhältnis von „Wissenschaft" und „Leben" ernstzunehmen, ebenso wie seine Absage an den wissenschaftlichen Objektivismus, - so freilich, daß man diese Fragen ernst nahm, aber andere Antworten darauf zu geben suchte, als Nietzsche selbst sie gegeben hatte39. Die Absage an Rankes „Wie es eigentlich gewesen" und die Antworten auf die Frage der Naturwissenschaft nach dem Status der historischen Erkenntnis und auf Nietzsches These von der Fiktionalität historischer Erkenntnis wurden in zwei Hinsichten begründet: (1) in den materiálen Ansätzen neuer Forschungen und (2) in einer neuen Begründung von Tragweite und Grenzen historischer Erkenntnis. (1) Zum einen kreierten die Vertreter einer Historischen Kulturwissenschaft ein um den Begriff der Kultur fokussiertes neues Programm historischer Erkenntnis. Dieses wandte sich von der auf die Geschichte der Völker und Staaten ausgerichteten Historie ab zugunsten eines Programms historischer Erkenntnis, das eine integrierende Betrachtung aller Dimensionen historischer Ereignisse und Prozesse in den Blick zu nehmen versuchte: eben im Begriff der „Kultur". Der Forschungsbegriff der „Kultur" umfaßt die Vielfalt von Vorstellungen und Denkformen, von Mentalitäten, geistigen Haltungen und Emotionen, von Normen, Wertsystemen und Erwartungen, mit denen Welt und Geschichte von Individuen und Gruppen wahrgenommen, gedeutet und gestaltet werden. „Kultur" bezieht sich gleichermaßen auf das Gesamt von Lebensweisen, Formen des Verhaltens und des Handelns von Menschen, auf ihre soziale und kulturelle Praxis und deren Objektivationen, nämlich literarische und künstlerische Werke, Symbole, Rituale und Institutionen. Objekti- 39 Andrea germer, Wissenschaft und Leben. Max Webers Antwort auf eine Frage Friedrich Nietzsches (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 105, 1994). mittlung und Verschränkung von Mentalitäten und Weltdeutungen, Praxis und Institutionenbildung mit Begriffen wie „praktische Lebens- • en Praxis und Wahrnehmungen werden dabei in ihrer wechselsei-VaU°nVerschränkung gesehen. Deutungen und Symbole, Produkte und tlgenutionen sind Momente eines Prozesses. Sie werden nicht nur „ge-InStht", sondern zugleich wahrgenommen oder verkannt, angeeignet maC abeelehnt. Einzelne oder Gruppen interpretieren, nuancieren und ^formieren sie40. Max Weber hat am Anfang des 20. Jahrhunderts die Ven Ehrung" und „Gesamthabitus" zu erfassen versucht Wie man am historischen Werk eines Georg Simmel oder eines Max Weber ablesen kann, bedeutet dieses Programm, daß der Kreis möglicher Fragen dabei nicht weit genug gespannt werden kann: einerseits in einer Totalität" aller nur denkbaren Fragestellungen und Perspektiven; sodann, und im Blick auf die Gegenstände dieser Erkenntnis, in einer nicht weit genug auszudehnenden diachronischen „Tiefe" der Analyse; und schließlich, in der Einbeziehung auch anderer Kulturen als nur der europäischen, in einer schlechthin universalen Ausweitung hin zu kom-paratistischen Fragestellungen. (2) Die neue epistemologische Begründung historischer Erkenntnis erfolgte durch den Rückgriff auf den Kritizismus Immanuel Kants. Historische Erkenntnis ist demnach empirisch, sie ist auf historisches Material gestützt. Sie ist aber nicht Abbildung einer äußeren, gewesenen „Wirklichkeit", sondern vielmehr „Entwurf", sie ist Hypothese, Konstruktion, - freilich keine willkürliche, sondern eine materialgebundene, eben eine empirische. Es geht demnach also nicht mehr um eine abbildende Darstellung von vergangener „Wirklichkeit", die (wie übrigens schon Johann Gustav Droysen in seiner „Historik" festgestellt hatte) vergangen ist und eben deshalb gar nicht „Gegenstand" von Erkenntnis sein kann, weil sie nicht mehr „gegeben" ist. Ansatzpunkt der historischen Erkenntnis kann vielmehr nur das noch „Gegebene" sein, und das ist das So die Definition des Begriffs der „Kultur" im Forschungsprogramm des Max-Planck-Instituts für Geschichte in Göttingen seit 1999. Zur Genese des Konzepts im Blick auf Max Weber: OEXLE, Kultur, Kulturwissenschaft, Historische Kulturwissenschaft (wie nnv 38) S. 13 ff.; vgl. auch: Memoria als Kultur, hg. von DEMS. (Veröffentlichungen des «-Planck-Instituts für Geschichte 121,1995) bes. die Einleitung. 20 Otto Gerbard Oexie liehen' ursächlichen Zusammenhangs ausmünden soll"47. Die gegeb .Wirklichkeit'" wird, „um sie zur historischen ,Tatsache' zu machen" ein Gedankengebilde" verwandelt, denn: „in der .Tatsache' steckt nai Goethe zu reden, Theorie". Die Konstituierung der wissenschaftlichen Gegenstände in der Konstituierung von „Problemen" bedeutet aber auch, daß die Gegenwart des Historikers ein konstitutives Moment in der Genese der historischen Erkenntnis darstellt. „Was Gegenstand der Untersuchung wird, und wie weit sich diese Untersuchung in die Unendlichkeit der Kausalzusammenhänge erstreckt", so Weber 1904, „das bestimmen die den Forscher und seine Zeit beherrschenden Wertideen"48, das wird also von dem bestimmt, worauf es dem Historiker (in seiner Zeit) bei seiner Erkenntnis „ankommt". Die „Kulturprobleme, welche die Menschen bewegen", verändern sich ständig, es verändert sich ständig, was „Sinn und Bedeutung für uns" hat und was dementsprechend die Fragestellung des Historikers bestimmt. „Die Ausgangspunkte der Kulturwissenschaften bleiben damit wandelbar in die grenzenlose Zukunft hinein". Oder anders und noch einmal mit Weber gesprochen: „Das Licht der großen Kulturprobleme" zieht immer weiter, und dann rüste sich „auch die Wissenschaft, ihren Standort und ihren Begriffsapparat zu wechseln"49. Das bedeute ebensowohl „die Vergänglichkeit aller, aber zugleich (auch) die Unvermeidlichkeit immer neuer .... Konstruktionen" der historischen Erkenntnis, es bedeute die Vergänglichkeit aller Ergebnisse historischer Erkenntnis, es bedeute aber auch die „ewige Jugendlichkeit" der „h i -s t o r i s c h e n Disziplinen", das heißt aller jener Disziplinen, „denen der ewig fortschreitende Fluß der Kultur stets neue Problemstellungen zuführt"50. Damit ist das Problem des Historismus und der Historizität auch jeder wissenschaftlichen und jeder geschichtswissenschaftlichen Er- 47 Ebda S. 275, hier auch das folgende Zitat. Zu Max Webers Theorie der Erkenntnis als „Theorie der sogenannten .objektiven Möglichkeit'" Uwe BARRELMEYER, Geschichtliche Wirklichkeit als Problem. Untersuchungen zu geschichtstheoretischen Begründungen historischen Wissens bei Johann Gustav Droysen, Georg Simmel und Max Weber (Beiträge zur Geschichte der Soziologie 9, 1997) S. 215 ff. 41 WEBER, Wissenschaftslehre(wie Anm. 43) S. 184. Hier auch das folgende Zitat. 49 Ebda. S. 214. hda. S. 206. Von Fakten und Fiktionen 21 kenntnis nicht „gelöst"; denn es ist „unlösbar"; aber: es ist als P benannt und in die Reflexion aufgenommen. " aradoxie" Was schließlich das Verhältnis von Geschichtswtssenschaft und Na turwissenschatt angeht, so wird diese Frage erneut (wie übrigen h bei Droysen)5' im Sinne einer Komplementarität beider WiLTsctafT bereiche beantwortet. Mit den Worten Max Webers: „Begriff" und Ex periment" sind, in gleicher Weise, die „großen Mittel alles Wissenschaft! chen Erkennens" . Dies feststellen heißt auch, auf das Begriffliche in den Experimenten der Naturwissenschaft und auf das Experimentelle in den Begriffen der Kulturwissenschaft hinzuweisen. Naturwissenschaft und historische Erkenntnis werden also im Sinne einer wechselseitigen Komplementarität definiert. Aber verhält es sich nicht so, daß Kants kritizistische Theorie der Erkenntnis, auf die sich auch Weber bezieht, sich nur auf die naturwissenschaftliche Erkenntnis bezieht? Die Antwort auf diese Frage ergibt sich aus Kants Metapher vom Wissenschaftler als einem „Untersuchungsrichter", der Fragen stellt und anhand von Zeugenaussagen und Berichten, von Tatwerkzeugen und anderen materialen Gegebenheiten einen Sachverhalt empirisch ermittelt, in dem er selbst nicht steht. Es ist kein Zufall, daß Marc Bloch, der wohl bedeutendste Historiker des 20. Jahrhunderts, die Arbeit gerade des Historikers als die eines Untersuchungsrichters dargestellt hat53. V. Die deutschen Historiker um 1900 in ihrer Gesamtheit haben von alledem wenig zur Kenntnis genommen. Spätmittelalterhistoriker kennen das Diktum über Rom, das „die Reform verhindert und dafür wenig S1 Dazu OEXLE, Naturwissenschaft und Geschichtswissenschaft (wie Anm. 36) S. 114 ff. " WEBER, Wissenschaftslehre (wie Anm. 43) S. 596. " Dazu Ulrich RAULFF, Ein Historiker im 20. Jahrhunden- Marc Bloch (1995) S. 184 it., und, mit der Verknüpfung zu Kants „Kritik der reinen Vernunft", Otto Gerhard OEXLE „Une science humaine plus vaste". Marc Bloch und die Genese einer Histonscnen Kulturwissenschaft, in: Marc Bloch. Historiker und Widerstandskämpfer, hg. von leter SCHÖTTLER (1999) S. 102-144, bes. S. 128. 22 Otto Gerhard Oexle Von Fakten und Fiktionen spater die Reformation erhalten" habe54. Entsprechend könnte man gen: die deutschen Historiker haben die Historische Kulturwissenschaft abgelehnt und dafür wenig später die Soziologie bekommen, gegen deren Etablierung manche ihrer führenden Vertreter (allen voran Georg von Below)55 dann einen erbitterten, freilich vergeblichen Kampf geführt haben. Von den Historikern wurden auch Ernst Cassirers brillante Darlegungen über „Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit", der erste Band von 1906, nicht wahrgenommen wonach nur einer „naiven Auffassung" sich das Erkennen als ein Prozess darstellt, „in dem wir uns eine an sich vorhandene, geordnete und gegliederte Wirklichkeit nachbildend zum Bewußtsein bringen", wohingegen es ein Ergebnis der gesamten Theorie der wissenschaftlichen Erkenntnis seit dem Nominalismus und bis zu Kant sei, daß wissenschaftliches Wissen gerade nicht ein „Akt der Wiederholung" sei, also es gerade nicht „mit einer einfachen Wiedergabe", sondern „mit einer Gestaltung und inneren Umformung des Stoffes zu tun habe, der sich uns von außen darbietet". Wissenschaft bestehe „nicht in der nachahmenden Beschreibung, sondern in der Auswahl und der kritischen Gliederung, die an der Mannigfaltigkeit der Wahrnehmungsdinge zu vollziehen ist"; die Begriffe der Wissenschaft seien deshalb „nicht mehr als Nachahmungen dinglicher Existenzen, sondern als Symbole für die Ordnungen und funktionalen Verknüpfungen innerhalb des Wirklichen" aufzufassen. Sie sind „nur immer erneute hypothetische Ansätze und Versuche, den Inhalt der Erfahrung ... auszusprechen und zusammenzufassen"56. Ebenso vergeblich die Probemanalyse, die der Theologe, Historiker und Soziologe Ernst Troeltsch 1922 in seinem brillanten Essay über die 23 54 So der katholische Kirchenhistoriker Karl August FINK in: Handbuch der Kirchengeschichte m/2, hg. von Hubert JEDIN (1968) S. 588. 55 Otto Gerhard OEXLE, Ein politischer Historiker: Georg von Below (1858-1927), in: Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, hg. von Notker HAMMERSTEIN (1988) s. 283-312, bes. S. 304 ff. 56 Emst CASSIRER, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. 1 (1906), Nachdruck der 3. Auflage 1922 (1974) s. 1 f. und s. 4. Dazu Michael HÄNEL, Problemgeschichte als Forschung: Die Erbschaft des Neukantianismus, in: Das Problem der Problemgeschichte 1880-1932 (wie Anm. 38) s. 85-127. „Krisis des Historismus" und in seinem großen WpA -l , rismus und seine Probleme" aus demselben Jahr » 'Hi$l(y wert die höhnische Abfuhr, die Troeltsch durch G ""^ ' Bemerketls-einem der führenden Repräsentanten der deutsch*!0? T ř*1™ aU schaft zuteil wurde58. Troeltschs Essay über dT? Gesch^htswissen-ist jedoch ohne Zweifel der tiefgehendste und „ "* Hist0rW gesamten Problemkonstellation ^es tó^S^*^ * historischen Wissens und seiner Bedingungen in der M 7 begrundeten zugleich ein Stück WissenschaftsreflexL^ 5 « das in jede Textsammlung über das *^TŠS£™£ und das doch bis heute in keiner einzigen zu finden ist Das h" ° auch damit zusammen, daß Troeltsch den professionellen Hisfonkern seiner Zeit vorsätzlich immer wteder auf die Füße trat, indem er ihr 2 ditionelles Selbstverstandnis und ihre selbstgenügsame Art der Fiestel lung im Rahmen des „Betriebs" der „Historikerzunft« und indem er die Orientierungen, die ihren Arbeiten zugrundelagen, kritisierte Auch die Fragen Troeltschs waren fundamentaler An: wie Objektivität in der historischen Erkenntnis möglich sei; - wie sich gesellschaftliche Bedingungen auch auf die wissenschaftliche Erkenntnis auswirken; - von welchen Wertsetzungen her denn die Geschichtswissenschaft ihre Auswahl in der Darstellung treffe, wie sie also ihre „historischen Gegenstände aus dem flüssigen Kontinuum des Lebens" herausschneide". Freilich hat Troeltsch diese Fragen ganz anders als Weber und Cassirer beantwortet60. Die Ablehnung des Aufbruchs zu einer Historischen Kulturwissenschaft und zu einer neuen Begründung von historischer Erkenntnis bei den deutschen Historikern um 1900 und erst recht nach 1918 hatte verschiedene Gründe. (1) Zum einen lag es sicher an der Suggestivität des Rankeschen „Sagen, wie es eigentlich gewesen", das inzwischen offensichtlich zu einer „Beruhigungsphilosophie" geworden war, in deren Fahrwasser man sei- 57 Dazu der oben Anm. 9 genannte Beitrag 'Troeltschs Dilemma'. 58 Ebda. S. 55 ff. "Ebda. S. 36 ff. und S. 40 ff. wEbda. S.51f. 24 Otto Gerhard Oexle Von Fakten und Fiktionen nen Forschungen unbehelligt von allen Irritationen der Gegenwart nach gehen zu können oder gegen diese Irritationen ein sicheres Gegenmittel zu besitzen glaubte. Daß, wie schon angedeutet, Rankes „Wie es -----------o - -- eigentlich gewesen" schon längst seine Begründung verloren hatte, fiel offenbar niemandem auf. Es erscheint mir bemerkenswert, daß noch anläßlich des Ranke-Jubiläums von 1986 ein bekannter deutscher Neuhistoriker die These vertrat, daß Rankes Theorie der historischen Erkenntnis auch ohne ihre religiösen Bedingungen eine „starke Theorie" sei61, - was mit guten Gründen angezweifelt werden darf. Die Lösung von der Vorstellung einer »an sich seienden" historischen „Wirklichkeit", die man sich dann „nachbildend zum Bewusstsein" bringt*', scheint noch heute als ein schmerzhafter, ja unerträglicher Verlust erlebt zu werden. Das zeigt auch die Heftigkeit der Reaktion gegen die „post modernen Herausforderungen", wovon eingangs berichtet wurde10. Und das wird ebenso deutlich in den nicht enden wollenden Bekundungen der Abwehr gegen Max Webers Theorie der historischen Erkenntnis, die nun schon seit bald einem Jahrhundert immer wieder aufs neue repetiert werden64: so zum Beispiel die auf die Georgeaner"5 und den Kampf gegen die sogenannten .Neukantianer" zurückgehende Diffamierung Webers als eines „Positivi-sten", als eines Vertreters von „Wertfreiheit" und „Voraussetzungslo-sigkeit" der Wissenschaft, und die Dichotomie der Wahrnehmung von .Weber der Positivist" und „Weber der Dezisionist"66, - mit der Auffas-s*ung von Webers Theorie der historischen Erkenntnis als Theorie eines „uneingelösten und uneinlösbaren Begehrens" mitsamt der dafür gewählten, überaus decouvrierenden Metapher vom „intellektuellen coitus louiui NrPPERDFV, Zum Problem der Objektivität bei Ranke, in: Leopold von Ranke und die moderne Geschiehtr»'issenschaft, hg. von Wolfgang J. MOMMSEN (1988) S. 215-222; das Zitat S. 222. " S. oben bei Anm. 56. ° S. oben Abschnitt IL m VgL Otto Gerhard OEXLE, Priester - Krieger - Bürger. Formen der Herrschaft in Max Weben »Mittelalter" (Im Druck), Abschnitt L ■ S. unten Abschnitt VT So jüngst wieder Ute DANIEL, Auf Gänsefüßchen unterwegs im Wertedschungel - Ei« Max Webers ,Wissenschaftsiehre', Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Ge-29 (2000) S. 1*3-206. interruptus namheh der „Verpflichtung des Wissens die größtmögliche Annäherung an einen beeehrtm ft *hahlers - auf diesen zu beflecken"67. S nrtCn 0«f "Ug4', ohne (2) Ein zweiter Grund für die Ablehnung lag |n dem U Funktionieren des wissenschaftlichen „Betriebe A„ u Unb,eslreitD»ren -» .uer "«storiker und sei- nen unbestreitbaren Erfolgen. Darum ging es schon am Anfane des Jahrhunderts in der bereits erwähnten Kontroverse zwischen dem Mtnt «oriker Eduard Meyer und Max Weber; haue doch Meyer die These vertreten: wenn der „Betneb" funktionier, bedürfe er keiner theoreti sehen Begründung; denn erkenntnistheoretische und methodologische Erwägungen seien an der „Aufzeigung und Lösung sachlicher Probleme" .noch niemals entscheidend beteiligt" gewesen'4. Weber hat das bestritten, indem er darauf hinwies, daß in dem gegenwärtigen Moment eine fundamentale Debatte über das „Wesen" der historischen Erkenntnis geführt werde, und daß deshalb auch der „überkommene Betrieb* einer „Revision (seiner) logischen Formen" bedürfe69. Darin war sich Weber mit Ernst Troeltsch einig, auch wenn seine Antworten auf die vorliegenden Fragen andere waren. Auch Ernst Troeltsch erschien 1922 der fachwissenschaftliche „Betrieb" der Historiker als ein Problem - obwohl, oder besser: gerade weil er so erfolgreich sei. In dieser Hinsicht gesehen sei die Wissenschaft „gesund". Um so gravierender dann aber die „Krise des Historismus", die „aus der inneren Natur der Geschichte selbst" stamme und gerade deshalb gebieterisch nach einer Antwort verlange. Eine solche zu finden, sei auch die Aufgabe der Historiker. Die aber seien erstickt in einer „sinnlosen Bücherproduktion" und „Vielschreiberei" und hätten, so Troeltsch 1922, den Charakter der Krise noch nicht einmal verstanden70. (3) Ein drittes Moment der Ablehnung war darin begründet, daß die deutschen Historiker sich der Fundamente ihrer Arbeit und deren Begründungen auch in inhaltlicher Hinsicht ganz und gar sicher zu sein glaubten. Denn ihnen galt „der Staat" als die Mitte und das Ziel der histo- 47 Ebda. S. 205. "WEBER, Wissenschaftslehre (wie Anm. 38) S. 217. " Ebda. S. 218. 71 OEXLE, Troeltschs Dilemma (wie Anm. 9) S. 36 f. rischen Erkenntnis überhaupt. So hatte schon Ranke in seiner Antritts. Vorlesung von 183* definiert: es sei „die Autgahe de. I hswme, das Wesen des Staates aus der Reihe der früheren Begebenheiten darzutun und cU*. selbe /um Verständnis zu bringen"''. lV«e Autgabe stellte man sich erst recht nach der Reichsgründung von 1870/71. Georg von Below, einer der einflußreichsten und mächtigsten Vertreter und Sprecher der deutschen Geschichtswissenschaft, hat dies 1915 und noch einmal 1924 dahingehend erläutert, daß mit der Gründung des Bismarck-Reiches und vor allem mit der innenpolitischen Wende von 1878/79 die Fundamente einer neuen und nicht mehr überholbaren Entwicklung der deutschen Geschichtsschreibung gelegt worden seien, nämlich im Sinne eines Sieges der politischen Geschichtsschreibung72. Und dieser Sieg habe sich auch manifestiert in der Zuwendung der Forschung zu denjenigen Teilen der Kultur, die zum Staat in nächster Beziehung stehen, nämlich Wirtschaft, Verwaltung und Verfassung. Sogar die Wirtschaftsgeschichte bilde mit der politischen Geschichte eine Einheit, als Wirtschaftsgeschichte „wesentlich unter politischem Gesichtspunkt, dem der Wechselwirkung von Staat und Wirtschaft ... mit der Betonung der Beeinflussung der Wirtschaft durch den Staat". Wiederum war es Ernst Troeltsch, der nach dem Weltkrieg und dem Zusammenbruch von 1918 die deutschen Historiker aufforderte, die Konsequenzen aus den Ereignissen zu ziehen und ihre Fixierung auf das Bismarck-Reich und auf den Staat aufzugeben. Er forderte sie zugleich auf, die Konsequenzen aus der Geschichte seit dem Beginn der Moderne, also seit Aufklärung und Revolution zu ziehen und die Frage der umfassenden „gesellschaftlichen Grundlagen des Lebens" sowohl in ihrer inhaltlichen Forschung als auch in der Reflexion darüber und über sich selbst und ihre Arbeit zum Zuge kommen zu lassen". Auch damit hatte er keinen Erfolg. 71 RANKE, Über die Verwandtschaft und den Unterschied der Historie und der Politik (wie Anm. 17) S. 55. 72 OEXLE, Georg von Below (wie Anm. 55) S. 293 ff. S. auch Hans CVMOREK, Georg von Below und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900 (Vierteljahrschrift für Sozial-und Wirtschaftsgeschichte. Beiheft 142, 1998). n OEXLE, Troeltschs Dilemma (wie Anm. 9) S. 35 f. Von F4ktrn unii Fiktionen ^ Schließlieh (4) ist daran zu erinnern, daß die deutsche Geschichtswi*. senschaft zwischen 1880 und 1933 zwar heftige Kontroversen geführt hat - ich erinnere an den sogenannten Lamprecht-Streit und an die von den Georgeanern gegen die „Fachhistorie" geführten Attacken - daß diese Kontroversen aber - zumindest aus dem Abstand eines Jahrhunderts gesehen - als fruchtlos und unergiebig bezeichnet werden dürfen. Auch nach 1918 trat also kein grundlegender Wandel ein - im Gegenteil. Darin zeigt sich ein eklatanter Gegensatz zu Frankreich, wo ein Marc Bloch - gerade mit Hinweis auf den Weltkrieg und den Zusammenbruch als einer europäischen Katastrophe - die Bedingungen für eine Erneuerung der europäischen Geschichtswissenschaft und zwar im Sinne einer vergleichenden europäischen Sozialgeschichte definierte74. Dieses Urteil kann auch dann aufrechterhalten werden, wenn man jene neuen Ansätze und Aufbrüche berücksichtigt, die in der deutschen Mediävistik zum Beispiel im Werk eines Carl Erdmann, eines Percy Ernst Schramm oder eines Gerd Tellenbach sichtbar wurden. Aber schon das fundamentale mediävistische Spätwerk eines Otto Hintze, um 1930, mit einer Fülle neuer Ansätze und Fragestellungen, blieb unbeachtet, und daran hat sich im Grunde bis heute nichts geändert. VI. Die Verweigerung der deutschen Geschichtswissenschaft wird um so deutlicher sichtbar, wenn wir den Horizont unserer Überlegungen über die Epoche zwischen 1880 und 1932 einerseits kulturwissenschaftlich erweitern, andererseits problemgeschichtlich pointieren. Denn dann können wir erkennen, in welchem Maß diese Debatten über historische Erkenntnis und über eine Neubegründung von historischer Objektivität mitsamt der Reflexion über die Historizität der historischen Erkenntnis selbst in einen großen Problemzusammenhang gehören, den man als „Die Suche nach der Wirklichkeit" bezeichnen 74 OEXLE, « Une science humaine plus vaste »(wie Anm. 53). 28 Otto Gerbard Oexle könnte75. Dies ist, in den fünf Jahrzehnten seit den 1880er Jahren und bis zur sogenannten Machtergreifung der Nationalsozialisten, das große Thema: nicht nur in der Geschichtswissenschaft und in anderen Geisteswissenschaften, sondern auch in der Kunst, in der Literatur und last but not least, in den Naturwissenschaften. Dabei ist wichtig, zu verstehen, daß diese Debatte um die Wirklichkeit und die Erkennbarkeit der Wirklichkeit zugleich ein Streit über die Bedingungen der Modernität und deren Konsequenzen war. Für alle jene, die Wissenschaft auf der Grundlage des kantischen Kritizismus definierten, war klar, daß wissenschaftliche Erkenntnis keine Abbildung von äußerer Natur-Wirklichkeit oder von (gewesener) historischer Wirklichkeit sein kann, gleichwohl aber auch nicht eine bloße Fiktion ist. Sie ist vielmehr eine relationale Erkenntnis - und kann nichts anderes sein. In diesem Sinne hat Max Weber, wie bereits erwähnt, historische Erkenntnis in der Verbindung von Empirie und transzendentaler Reflexion als „Wirklichkeitswissenschaft" bestimmt76. Dagegen wandte sich - wie schon angedeutet - Ernst Troeltsch, der den kantischen Kritizismus ebenso ablehnte wie Rankes „Geschichtsreligion" oder Diltheys Begründung von historischer Erkenntnis auf die „innere Erfahrung" des Historikers und der deshalb eine Neubegründung der modernen Geschichtswissenschaft auf der Grundlage der Metaphysik des 17. Jahrhunderts (Malebranche, Leibniz) forderte. Denn Troeltsch wollte auf die Vorstellung von „Gegenständen" der historischen Erkenntnis, die „immer dieselben" seien, nicht verzichten; historische Erkenntnis müsse nämlich - so Troeltschs Forderung - wieder zu einer wahren, zu einer „wirklichen" Erkenntnis werden, damit sie - vermittels einer historisch begründeten europäischen „Kultursynthese" - Werte und Maximen für die gegenwärtige Gesellschaft „wirksam" begründen könne77. Auch die Georgeaner haben sich - wie Max Weber und Ernst Troeltsch - nach 1900 gegen den „Betrieb" der Fachhistorie, - ebenso scharf Fakten und Ftkttonen 29 75 Vgl. Otto Gerhard OEXLE, „Wirklichkeit" - „Krise der Wirklichkeit" - „Neue Wirklichkeit". Deutungsmuster und Paradigmenkämpfe in der deutschen Wissenschaft vor und nach 1933 (im Druck). 7* OEXLE, Max Weber - Geschichte als Problemgeschichte (wie Anm. 45). 77 OEXLE, Troeltschs Dilemma (wie Anm. 9) S. 46 ff. ^OEXl aber auch gegen Webers «Wirklichkeitswissenschaft" . , « Ihnen erschien, wie Friedrich Gundolf 1911 in7 ^gesprochen». Beitrag über „Wesen und Beziehung" zum AuT^ Pr°\rammati^en relationale Erkenntnis als u^^Z$^£?$> ** M heutige Form des Atheismus, die Jen"£TL" Und ^ * * gehe es nun darum, den Kampf ÄS ^ Relativen zu fuhren, der jetzt ,n eine neue Phase getreten sei ^ haben die: Georgeaner deshalb Webers al Wissenschaft bekämpft, der sie ihre eigene als eine neue gegenüber teU ten. Diese aber war an Nietzsche orientiert, vor allem an Nietzsches monumentahscher Geschichtsschreibung, die im Dienst des Lebensstand, und deshalb nicht mehr Wissenschaft sein sollte. Aus dem Kreis der Georgeaner kam dann auch - im Rahmen der Geschichtswissenschaft - die rigorose Forderung nach einer neuen Form der historischen Erkenntnis. Ernst Kantorowicz, der Verfasser von „Kaiser Friedrich der Zweite" (1927), hat sie 1930 anläßlich des deutschen Historikertags in Halle in seinem Vonrag über „Grenzen, Möglichkeiten und Aufgaben der Darstellung mittelalterlicher Geschichte" formuliert14. Der Vortrag enthielt zwei scharfe Kampfansagen: an die Kantianer und an die Rankeaner. Auch Kantorowicz forderte also eine Überwindung des herkömmlichen „Betriebs" der Historiker und verurteilte deshalb auch die internationale Forschung: sie sei „gesinnungslos", eben weil sie international sei. Welch ein Kontrast zu Marc Bloch und seinem Programm einer Erneuerung der Forschung durch eine vergleichende europäische Sozialgeschichte, das er 1928 auf dem internationalen Historikertag in Oslo vorgetragen hatte! Ganz anders also Kantorowicz: Nicht Geschichtsforschung sondern Geschichtsschreibung sei die Aulgabe der Zukunft. Es gehe um eine neue Historie, die den „ganzen aktiven Menschen" fordere, der mit seiner Arbeit einem „Glauben" und ei- 71 Dazu und zum Folgenden Otto Gerhard OEXLE, Das Mittelalter als Waffe. Ernst H. Kantorowicz' „Kaiser Friedrich der Zweite" in den politischen Kontroversen der Weimarer Republik, in: DERS., Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus (wie Anm. 20) S. 163-215, bes. S. 186 ff. 79 Friedrich gundolf, Wesen und Beziehung, Jahrbuch für die Geistige Bewegung 2 (1911) S. 10-35. K OEXLE, Das Mittelalter als Waffe (wie Anm. 78) S. 198 ff. 30 Otto Gerbard Oexle nem „Ganzen" diene. Dieses „Ganze" aber sei die Nation und der „Glaube an das echtere Deutschland". Gegen die Intemationalität der Forschung forderte Kantorowicz also die Nationalisierung der Historie und ihre Verpflichtung auf die Werte der „Deutschheit". „Fiat veritas in vita", so seine Devise, die eine knappe Zusammenfassung von Nietzsches Programm der Wissenschaft im Dienst des „Lebens" darstellte, und dieses Programm zugleich im deutsch-nationalen Sinn interpretierte. In ähnlicher Weise hat dann, übrigens zur gleichen Zeit, der Soziologe Hans Freyer in seinem Buch „Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft" (1930) auch seinerseits und für sein Fach die ausdrückliche Absage an Kant mit einer programmatischen Zuwendung zu Nietzsche verknüpft und „Wirklichkeitswissenschaft" in ganz anderem Sinn definiert. Denn, so Freyer, Grundlage einer „wirklichen", einer „wahren Erkenntnis" sei: der „wahre Wille"81. Dies ist der Gegen-Entwurf zur kritizistisch begründeten Wissenschaftstheorie eines Max Weber und zur Wissensoziologie eines Karl Mannheim, der in seiner „Allgemeinen Soziologie", ebenfalls von 1930, schrieb: „Wir fallen, sehen unser Fallen, und beeinflussen durch das Sehen das Fallen"82. In der Kunstkritik hatte sich gegenüber einem solchen Verständnis von „Wirklichkeit" schon seit dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts eine „Sehnsucht nach großen, notwendigen Werten" ausgesprochen, die von einer neuen, „gemeinschaftsbezogenen" Kunst, einer „neuen Gotik" geschaffen werden sollten (so 1908 der Kunsthistoriker Wilhelm Worringer)83, einer neuen Kunst, als deren konkreter Ausdruck alsbald der Expressionismus galt. Von den „wirklichen Wirklichkeiten" des Von Fakten und Fiktionen 31 Expressionismus sprach Wassily Kandinsky 19H" e L Wirklichkeit" dann, nach dem Scheitern des Expressinn ™\ ^ den Künstlern der „Neuen Sachlichkeit" in 4Uch b« in der Zeitlosigkeit eines neuen Klassizismus, zum Beispiele * Schrimpf, oder sei es in der „Aufdeckung des Chaos" als des Gesichts unserer Zeit" (zum Beispiel bei Otto Dix), wie der Direktor dT Mannheimer Kunsthalle, Gustav Friedrich Hanlaub, 1925 formulierte15 In der Literatur wiederum hat Robert Musil in seinen Essays Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste" (1922)"und „Der deutsche Mensch als Symptom" (1923) das „Bedürfnis nach Wirklichkeit" analysiert, den unaufhörlich zunehmenden „Gewinn an Wissen" beklagt, der indes einen ständigen „Verlust an Leben" bedeute: „Man hat alle historischen Möglichkeiten und keine gegenwärtige Wirklichkeit""1 Das Thema seines großen Romans „Der Mann ohne Eigenschaften" von 1930 ist die Auflösung der Substanz des Subjekts in einem Gewebe aus „Relationen und Funktionen", die Zusammenhanglosigkeit und Gestaltlosigkeit des modernen Menschen. Betrachte man den „geistigen Inhalt der Gegenwart", so Musil in seinem Essay „Der deutsche Mensch als Symptom", so zeige sich „ein Gemenge der widerspruchsvollsten Gedanken, Gefühle und Richtkräfte. Der ideologische Zustand ist ungeheuer partikularistisch, ja individualistisch. ... Keine Ideologie herrscht. Individuelle Teile werden individuell ausgelesen. Man kann es eine unaus-drückbare Vielspältigkeit nennen"87. Besonderen Widerhall in der Öffentlichkeit fanden in diesem Kontext der 1920er Jahre die Debatten der Naturwissenschaftler über „Wirklichkeit"88. " Hans FREYER, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft (1930) s. 307. Die Absage an Kant ebda. S. 3. 13 Dazu Reinhard LAUBE, Mannheims „Kategorie der Bürgerlichkeit": Bürgerlichkeit und Amibürgerlichkeit im Spiegel der Suche nach der „wirklichen Wirklichkeit", in: Karl Mannheims Analyse der Moderne. Mannheims erste Frankfurter Vorlesung von 1930. Edition und Studien, hgg. von Martin ENDRESS/Ilja SRUBAR (2000) s. 263-291. Das Zitat hier S. 26; DERS., „Perspektivität": Ein wissenssoziologisches Problem zwischen kulturbedingter Entproblematisierung und kulturwissenschaftlicher Reproblematisierung, in: Das Problem der Problemgeschichte 1880-1932 (wie Anm. 38) s. 129-179. '3 Dazu OEXLE, Die Moderne und ihr Mittelalter (wie oben Anm. 30) s. 334 f. M Zitiert nach LAUBE, Mannheims „Kategorie der Bürgerlichkeit" (wie Anm. 82) S. 266. 85 Hans-Jürgen BUDERER, Neue Sachlichkeit. Bilder auf der Suche nach der Wirkhchkeit. Figurative Malerei der zwanziger Jahre, hg. und mit einem Vorwort von Manfred Fath (1994); das Zitat S. 7. „ „ . „ , rt * Darüber OEXLE, Troeltschs Dilemma (wie Anm. 9) S. 24 ff. D,e Texte m: Robert MUSIL, Prosa und Stücke. Kleine Prosa, Aphorismen. Auiobiopap^hes. Essays und Reden. Kritik (Gesammehe Werke II), hg. von Adolf FRISfi (1978) S. 1082 f. und S. 1356. " Dat dieBehräge und Quellentexte in: Karl VON MEVENN (Hg.), Quantenmechanik und Weimarer Republik (1994). 32 Otto Gerhard Oexle Von Fakten und Fiktionen 33 Der Wiener Physiker Franz Exner vertrat in seinen „Vorlesungen üb die physikalischen Grundlagen der Naturwissenschaften" schon um 1920 die These, daß strenge Naturgesetze „eine Schöpfung des Menschen sind und nicht ein Stück Natur", und auch der Göttinger Mathematiker Hermann Weyl erteilte in seiner Schrift über „Das Verhältnis der kausa len zur statistischen Betrachtungsweise in der Physik" (1920) dem Kausalitätsprinzip eine Absage". In seinem Essay „Über die gegenwärtige Krise der theoretischen Physik" vom August 1922 stellte Albert Einstein fest daß die „Grundlagen der theoretischen Physik erschütten" seien: die Erfahrung rufe „nach dem Ausdruck einer höheren Stufe von Gesetzlichkeit. Wann wird uns der erlösende Gedanke beschert werden?"90 Max Planck hingegen sprach in seinem in der Preußischen Akademie der Wis-senschaften im Februar 1923 gehaltenen öffentlichen Vortrag über „Kausalgesetz und Willensfreiheit" von „einer gewissen Willkür", die der Lehre Kants anhafte und von deren Verwurzelung „auf metaphysischem Boden", gab seiner Überzeugung von der Gültigkeit der „Kausalität" und von der „Gesetzlichkeit im Weltgeschehen, als eines von unseren Sinnesempfindungen ganz unabhängigen Begriffs", Ausdruck und bezog schließlich auch die Geisteswissenschaften, speziell die „allen vorangehende Geschichtswissenschaft" in seine Überlegungen ein: Die Frage, „ob ... das zukünftige Verhalten des Menschen in allen Einzelheiten nach bestimmten Gesetzen determiniert" werde, sei von allen Wissenschaften „mit Entschiedenheit" und in „vollem Umfange zu bejahen"". Wie diese Debatten über die theoretischen Grundlagen der physikalischen Erkenntnis und des Kausalitätsprinzips in der Naturwissenschaft mit den Ausführungen Max Webers über historische Erkenntnis als „objektive Möglichkeit" von 1906 zusammenhängen92 (und was sich daraus für „kausale Erklärung" und die „Kausalbeziehung" in der „Geschichte" ergibt), ist noch offen. Die Frage wurde noch nicht einmal gestellt. 19 Zitiert bei Paul FORMAN, Weimarer Kultur, Kausalität und Quantentheorie 1918-1927, in: VON MEYENN, Quantenmechanik (wie Anm. 88) S. 61-200, hier S. 136 und S. 139. * Abgedruckt in: VON MEYENN, Quantenmechanik (wie Anm. 88) S. 239. " Abgedruckt ebda. S. 241-281; die Zitate S. 255, S. 261, S. 267 und S. 269. n Max WEBER, Wissenschaftslehre (wie Anm. 43) S. 272 f. Allerdings hat dann die „revolutionäre", nämlich empirisch .gründete Wendung der Mikrophysik mit Werner Heisenbergs Unbestimmtheitsrelation und Niels Bohrs Komplementaritätsprinzip der bald danach ein ganz anderes Gewicht gegeben. Nun könne die vtonsche Mechanik nicht mehr als die „Grundlage aller exakten Frage Physik" angesehen werden und sei durch „eine andere, .relativistische' Mechanik zu ersetzen", so Heisenberg 1927 in seinem Essay „Über die Grundprinzipien der .Quantenmechanik'"93. Das Kausalitätsgesetz (sei) in gewisser Weise gegenstandslos" geworden: „An der scharfen Formu-íierung des Kausalgesetzes: Wenn wir die Gegenwart kennen, können wir die Zukunft berechnen, ist nicht der Nachsatz, sondern die Voraussetzung falsch. Wir können die Gegenwart prinzipiell nicht in allen Bestimmungsstücken genau kennenlernen"; damit sei „die Ungültigkeit oder jedenfalls die Gegenstandslosigkeit des Kausalgesetzes definitiv festgestellt". Diese von der Mikrophysik ausgelöste fulminante Wendung in der Frage nach der „Eindeutigkeit" der „Wirklichkeit" provozierte bekanntlich fundamentale Debatten, in denen Einstein gegen Heisenberg und Bohr den Determinismus, den Objektivismus und den Realismus für alle Fundamentaltheorien der Physik aufrechtzuerhalten suchte94. In einem provozierenden Vortrag vor der Preußischen Akademie mit dem Titel „Ist die Naturwissenschaft milieubedingt?" bezeichnete dann auch der Physiker Erwin Schrödinger 1932 die Überzeugung, daß für „die Naturwissenschaft ein ganz bestimmtes Objekt" vorliege, das vom Beobachter unabhängig sei und „das nach und nach ausgeforscht wird", als gegenstandslos und wandte sich der Aufgabe zu, in der modernen Physik „milieubedingte, der Gesamtkultur gemeinsame Züge ... aufzufinden"95. Für die Biologie schließlich sprach der Mikrobiologe Ludwik Fleck von einer „Krise der Wirklichkeit"; denn „jedem Erkennen, "Abgedruckt in: von meyenn, Quantenmechanik (wie Anm. 88) S. 283-284. Hier auch die folgenden Zitate. 94 Dazu Bernulf Kanttscheider, Das Weltbild Albert Einsteins (1988) S. 80 ff. und S. 88. Abgedruckt in: von meyenn, Quantenmechanik (wie Anm. 88) S. 295-332. Die Zitate ebda. S. 306 und S. 312. jedem Erkenntnissystem, jedem sozialen Beziehungseingehen" entspre u „eine eigene Wirklichkeit"'6. f 'e Von Fakten und Fiktionen 35 vn. Im Blick auf die Geschichtswissenschaft könnte man also sagen: Die Theoriedebatten und die Diskussionen über die „Wirklichkeit" zwischen 1880 und 1933 waren beherrscht von den wechselnden Konstellationen dreier Gestirne, nämlich: Ranke, Nietzsche und Kant. Der Einfluß Kants ging dabei nach 1918 zunehmend zurück. Man sieht das einerseits an den negativ verlaufenden Auseinandersetzungen über Webers Theorie der historischen Erkenntnis, zuletzt vorgetragen in seinem Text „Wissenschaft als Beruf (1917/19)97, andererseits an der zunehmenden Bekämpfung der Kantianer als sogenannter „Neu-Kantia-ner" mit ihrem angeblich „auflösenden", ja „zersetzenden" Denken, das -wie man alsbald feststellte - „keine Haltepunkte und Sicherheiten in der Unendlichkeit des Daseins kenne und anerkenne"91. Demgegenüber gewann - wir haben es bei den Gegorgeanern, bei Ernst Kantorowicz und Hans Freyer schon feststellen können - die Orientierung an Nietzsche eine immer größere Bedeutung. „Unser Hintergrund war Nietzsche", so stellte auch Gottfried Benn fest, als er mehr als zwanzig Jahre später, 1955, auf die Debatten über die „Wirklichkeit" seit Anfang des Jahrhunderts und bis 1933 zurückblickte. „Wirklichkeit - Europas dämonischer Begriff", so Benn 1955; und er erinnerte sich dabei an die „fundamentale Erschütterung" bei der „Zertrümmerung der nanirwissenschaftlichen (Wirklichkeit)" und an das, was von der „Wirklichkeit" damals geblieben sei: „Beziehungen und Funktionen; irre, wurzellose Utopien; humanitäre, soziale oder pazifistische Makulaturen,... überall eine Flora und Fauna von Betriebsmonaden und ■ Ludwik fleck, Zur Krise der .Wirklichkeit" (1929), wieder abgedruckt in: DERS., Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufsätze (1983) S. 46-58; die Zitate S. 48. ** Dazu OEXLE, Das Mittelalter als Waffe (wie Anm. 78) S. 191 ff. " So der Kant-Forscher Raymund SCHMIDT in seinem Artikel „Das Judentum in der deutschen Philosophie*, in: Handbuch der Judenfrage, hg. von Theodor FRITSCH (4I1938) S. 391-401, hier S. 393. alle verkrochen hinter Funktionen und Begriff. Auflösung der Natur Auflösung der Geschichte"". Benns Äußerungen von 1955i, ü rechtfertigender Art. Hatte doch auch Benn 1933 zu jenen geh" endlich das Ende des „Nihilismus" gekommen sahen und den eines neuen „Zeitalters des Geistes", nämlich eines .realen Geistes, de" nirgends die WirkÜchkeit verlasst" und dessen „Axiom" „als ein Rom' mando" für Benn damals „in der Kunst Georges" ebenso deutlich „lebte" wie „im Kolonnenschritt der braunen Bataillone"100. Hier wäre noch vieles anzufügen: über Wirklichkeit, über „Krise der Wirklichkeit" und schließlich über die „neue WirkÜchkeit", - die von 1933 nämlich, als einer Rückkehr zu Gemeinschaft und Ganzheit, zu Ordnung, Einheit und Gestalt, wie so viele annahmen und mit solchen Leitbegriffen und Deutungsmustern propagierten und in intellektuellen Paradigmenkämpfen, zum Beispiel gegen das „zersetzende" Denken der sogenannten „Neukantianer", aber auch zum Teil in niederträchtiger Praxis, durchzusetzen suchten151. Daß so viele diese Wiederkehr des „Wirklichen" in der sogenannten Machtergreifung der Nationalsozialisten zu erkennen glaubten, erklärt - in einem erst neuerdings deutlicher werdenden Maße - die unglaubliche Resonanz, die diese „Machtergreifung" gerade bei Wissenschaftlern und Gelehrten, bei Professoren und Intellektuellen fand102. Jenen, die - wie Helmuth Plessner und Ernst Cassirer - damals auf der anderen Seite standen, war sie schon früh ein Gegenstand wissenschaftlichen Nachdenkens103. * Gottfried benn, Einleitung zu Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts (1955), in: ders., Essays und Reden in der Fassung der Erstdrucke, hg. von Bruno Hillebrand (1989) S. 413-424; die Zitate S. 418 und S. 419 f. 100 Gottfried benn, Rede auf Stefan George (1934), in: DERS., Essays und Reden m der Fassung der Erstdrucke (wie Anm. 99) S. 479-490; die Zitate hier S. 488. »> Dazu Otto Gerhard OEXLE, „Zusammenarbeit mit Baal". Uber die Mental.tatendeut-scher Geisteswissenschaftler 1933 - und nach 1945, Historische Anthropologie 8 LOOO) S. 1-27; ders., „Wirklichkeit» - „Krise der Wirklichkeit" - ^Wlrt^; ^°f£ muster und Paradigmenkämpfe in der deutschen Wissenschaft vor und nach 1933 (** -TgL Winfried SCHULZE/Otto Gerhard OEXLE (Hgg.), Deutsche Historiker im Nauo- "mÄnarbeit mit Baal" (wie Anm. 101) * * " „Krise der Wirklichkeit" - „Neue Wirklichkeit" (wie Anm. 75) Abschnitt IV. Otto Gerbtrd Oexle VIII. 1945 dann, wie zu erwarten, bei den deutschen Historikern die Rückkehr zu Ranke. Es diente dies der Wiederherstellung des „Betriebs" nach der „Katastrophe" des Nationalsozialismus, im Grundsätzlichen wie im Pragmatischen. Wie Winfried Schulze in seinem Buch „Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945" (1989) dargestellt hat, konnte man im Zeichen Rankes und in der Wiederanknüpfung an Rankes Begriff der „Objektivität" eine aktuelle Positionsbestimmung für die Zukunft anbieten und zugleich einen den Historikern jener Jahre höchst willkommenen „Fluchtraum" schaffen, mit der Möglichkeit, die Entwicklung der jüngsten deutschen Geschichte und die Rolle der Geschichtswissenschaft darin als „Abweichung vom Gebot der Objektivität darzustellen", die Rückkehr zur Rankeschen Objektivität hingegen als Rückkehr zu den unantastbaren Grundlagen von Wissenschaft sichtbar werden zu lassen und damit „verlorenes Terrain wiederzugewinnen"104. Auch in anderen Hinsichten wurden nach 1945 die Paradigmenkämpfe der Zeit vor 1933 fortgeführt: zum Beispiel in Hans-Georg Gadamers „Hermeneutik"105, in der sich die Ablehnung des sogenannten „Neukantianismus" fortsetzt, die Ablehnung Max Webers, und die Distanzierung von Naturwissenschaft10* - wobei allerdings die fundamentale Wendung im Selbstverständnis der Naturwissenschaft in den 1920er Jahren unbeachtet blieb und der Kampf gegen die positivistische und szientistische Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts fortgeführt wurde, so als ob nichts geschehen wäre. Und seit den 1970er Jahren dann, vermittelt durch den französischen „Poststrukturalismus" und insbesondere durch Michel Foucault, die Wiederkehr Nietzsches in die Grundsatzdebatten der Geisteswissenschaften. Der zuletzt durch Indienstnahme für den Nationalsozialismus suspekt IW Winfried schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945 (1989); die Zitate hier s. 202. ,os Dazu OEXLE, „Zusammenarbeit mit Baal" (wie Anm. 101) S. 23 f. 106 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode (^1965) S. 2 f., S. 15, S. 21 (gegen die Naturwissenschaft) und S. 478 f. (gegen die Kantianer, gegen Max Weber und seine „extrem nominalistische Basis"). Von Fakten und Fiktionen 37 gewordene Nietzsche schien dadurch wieder „ehrlich" eewnrrUn daß seine Texte durch die Hände der Franzosen gegangen unddamS die deutsche Ruckaneignung von der politisch-moralischen (Selbst )Ze sur freigegeben schienen", wie Manfred Frank dazu treffend anmerkte10"' Und so stehen wir nun heute - am Beginn des 21. Jahrhundens da mit „Fakten" und „Fiktionen". Sind die Historiker damit gut gerüstet für die Zukunft? Dies darf bezweifelt werden. Die Frage nach dem Wie und nach dem Warum der Geschichtswissenschaft kann damit jedenfalls, so meine ich, nicht beantwortet werden. Dem „Labyrinth der Meinungen, die der Tod der Wahrheit" freigesetzt habe, um noch einmal meinen eingangs zitierten rechtshistorischen Gewährsmann zu Won kommen zu lassen108, ist mit dieser Ausstattung jedenfalls nicht beizukommen. Und: Es bleiben die beiden großen Fragen, die mit der Genese einer modernen Geschichtswissenschaft seit dem 18. und im 19. Jahrhunden aufs engste verbunden waren. Das eine ist die Frage nach dem Historismus und seinen Konsequenzen, einschließlich der Historizität der historischen Erkenntnis selbst, mit der wir immer neue und unabweisliche Erfahrungen machen109. Das andere ist die Frage der Naturwissenschaftler nach dem epistemologischen Status der historischen Erkenntnis. In dem Gedankenwerk von „Fakten und Fiktionen" wird man auf diese beiden Fragen keine brauchbare Antwort finden können. Das gilt gerade für die Auseinandersetzung mit der Naturwissenschaft. Die Debatte über „Fakten und Fiktionen", so wie sie derzeit geführt wird, ist dabei von keinem Nutzen, im Gegenteil. Denn die Behauptung, man habe „wahre" Erkenntnis von historischen Fakten oder von „der" Vergangenheit, wird epistemologisch informierte Naturwissenschaftler nicht beeindrucken. Und die Auffassung, daß historische Erkenntnis nichts sei als Dichtung und der Historiker „nur eine Spezies der Gattung Dichter/Schriftsteller"', wird allerhöchstem jenen Naturwissenschaftler gefallen, die ohnedies die Zurückdrängung von Kulturwissenschaften und Geschichts- l0? Manfred frank, Conditio moderna. Essays, Reden, Programm (1993) S. 120. « D^^n FREI, Vergangenhenspolitik. Die A^^S^ NS-Vergangenheit (1996); Edgar WOLFRUM, Gescbchtspolu,!, m derIto Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Ennnerung 1948-1990 [VW Otto Oněmi Omh Von Fakien und Fiktione Wissenschaft in die .Hinterwelt" wünschen oder sogar für deren Abschaf-rune plädieren. Mit anderen Worten: die Historiker müssen darauf acn. ten, daß sie in der Theorie der Erkenntnis nicht hinter den Standards einer modernen Epistemologie zurückbleiben. Für die Naturwissenschaft von heute gilt Heisenbergs Unscharfere!», tion und Niels Bohrs Komplementaritätsprinzip nach wie vor. Heisenbergs berühmte Formulierung von 1927, nämlich von der Bahn eines Teilchens, die »erst dadurch (entsteht), daß wir sie beobachten", hat - wie oben bereits angedeutet"0 - das objektivistisch verstandene Subjekt-Objekt-Modell zerstört, weil in der Welt der kleinsten „Teilchen" die beobachteten Phänomene durch den Beobachter und den Vorgang der Beobachtung zuallererst konstituiert werden. Physikalische Erkenntnis hat demnach nicht absoluten, sondern relationalen Charakter. Das ändert gleichwohl nichts an der Tragfähigkeit ihrer empirisch gewonnenen Erkenntnisse. Diese neue Physik beschreibt Natur nicht, wie sie „an sich" oder „eigentlich" ist, sondern sie beschreibt, noch einmal mit den Worten Werner Heisenbergs, „die Natur, die unserer Fragestellung und unseren Methoden ausgesetzt ist""1. Diese neue Physik reflektiert also nicht über Natur im Sinne einer „Theorie der Wirklichkeit als solcher", sondern vielmehr im Sinne einer „Theorie des möglichen Wissens von der Wirklichkeit""2. Es darf hier noch einmal an Webers Theorie der „objektiven Möglichkeit" erinnert werden115. Selbstverständlich gilt die Quantenunschärfe auch für die moderne Molekularbiologie. Das impliziert eine Auffassung von Wissenschaft, in der die Möglichkeiten physikalischen und biologischen Wissens enorm erweitert wurden, zugleich aber alle objektivistischen, reduktionisti-schen, mechanistischen und deterministischen Auffassungen über Natur und Naturwissenschaft in Frage gestellt sind, da eine solche Wissenschaft 1,0 S. oben bei Anm. 93. Werner HEISENBERG, Die Entwicklung der philosophischen Ideen seit Descartcs im Vergleich zu der neuen Lage in der Quantentheorie, in: DERS., Physik und Philosophie f 1978) S. 61-79, bes. S. 66. m Alfred GlERER, Naturwissenschaft und Menschenbild, in: Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft, Kulturwissenschaft: Einheit - Gegensatz - Komplementarität? (wie Anm. 36) S. 41-60, bes. S. 46. m S. oben Anm. 47. davon ausgehen muß, daß es Grenzen der Bestimmk i • Berechenbarkeit der Welt gibt und daß eine exakte Th" *" schaft und eine vollständige Absicherung der Wissen^ch?0" eigenen Mitteln demnach überhaupt nicht erreichbar ist M™" 'hrC" Worten: Keine Wissenschaft kann ihre eigene Widerson.r».7"l " Vollständigkeit beweisen-. Dieser Sachverhalt stelh aber t flSt festgestellt werden muß, die Leistungen zum Beispiel der Molekül !! logie, etwa in der Erklärung der Ausbildung komplexer Gestalten bei dt Entwicklung des Embryos, sie stellt die Leistungen zum Beispiel de Hirnforschung, etwa in der Erklärung der Funktion des Gehirns b Informationsverarbeitung und Verhaltenssteuerung, in gar keiner Wei" in Frage. Aber: Es bleibt auch festzustellen, daß die Annahme von de! definitiven Lösung der Probleme zum Beispiel des menschlichen Bewußtseins eine irrige Annahme ist, wie der Molekularbiologe Alfred Gierer jüngst bemerkte115. Ebenso verwies der Neurologe Wolf Singer jüngst darauf, daß nach wie vor die Frage ungeklärt sei, „ob sich ein kognitives System selbst erschöpfend beschreiben" könne. Das menschliche Hirn sei als ein „distributiv organisiertes, hochdynamisches System" aufzufassen, „das sich selbst organisiert, anstatt seine Funktionen einer zentralisti-schen Bewertungs- und Entscheidungsinstanz unterzuordnen"; es formuliere „unentwegt Hypothesen über die es umgebende Welt". Es „hat die Initiative", „anstatt lediglich auf Reize zu reagieren""6. Es „konstruiert", aber es konstruiert nicht willkürlich. Statt sich in von der Sache her sinnlose und deshalb auch fruchtlose Debatten zu verstricken, sollten Historiker sich in der Frage nach der Wahrnehmung und Erkenntnis von „Wirklichkeit" in einer auch die Naturwissenschaften einbeziehenden Weise orientieren und äußern. Sie sind dann auch in der Lage, die Frage nach der Historizität auch der Naturwissenschaft zu stellen, - eine Frage, M Darüber Alfred GlERER, Im Spiegel der Natur erkennen wir uns selbst. Wissenschaft und Menschenbild (1998). 1,5 Ebda. S. 75 ff. Wolf SINGER, Wissen und seine Quellen aus neurobiologischer Sicht, in: Die Zukunft des Wissens. XVIII. Deutscher Kongress für Philosophie, Konstanz, 4.-8. Oktober 1999, hg. von Jürgen MlTTELSTRASS (2000) S. 518-528, hier S. 527 f. 40 Otto Gerhard OtxU die - wie wir wissen - nicht nur eine epistemologische, sondern auch ein wissenschaftspolitische, ja, eine politische Frage ist. IX. Die Historizität der Welt bleibt und ebenso die Historizität der Wissenschaft und der historischen Erkenntnis. Und es bleibt deshalb auch die Aufgabe der Historiker, mit den Mitteln ihrer Wissenschaft darauf intelligente und überzeugende Antworten zu geben, nicht nur über die „Geschichte" zu reden, sondern auch auf die Frage nach dem „Wie" und nach dem „Warum" der Geschichtswissenschaft zu antworten. Überzeugende Antworten werden die Historiker aber nur geben können, wenn sie auf „ganzheitliche" Begründungen nach dem Muster „Fakten oder Fiktionen" verzichten und sich stattdessen der Paradoxien ihrer wissenschaftlichen Arbeit bewußt bleiben. Ich will einige dieser Paradoxien am Ende meiner Überlegungen benennen: (1) Wissenschaft, auch die Geschichtswissenschaft, bleibt der Wahrheit als einem regulativen Prinzip verpflichtet, auch wenn sie weiß, daß ihre Ergebnisse niemals absolut, sondern immer nur relational wahr sein können, insofern ihre Ergebnisse immer in einem Verhältnis stehen zu der Frage, auf die sie antworten117. Die immer noch verbreitete, aus den Problemlagen der 1920er Jahre stammende Verwechslung von „Relationalismus" und „Relativismus" ist dabei nicht hilfreich. (2) Dies bedeutet zweitens, daß Wissenschaft einen Prozeß darstellt, der, so hat es einst Kant formuliert, in eine „unbestimmbare Weite" führt118, weil jede Antwort sogleich neue Fragen erzeugt. Dies bedeutet die praktische „Unendlichkeit" des Prozesses wissenschaftlichen Fragens, - im ganzen wie in jeder einzelnen Wissenschaft, (3) Wissenschaft führt in eine „unbestimmbare Weite". Denn über den Gang dieses Prozesses im ganzen kann, drittens, mit den Mitteln der Wissenschaft selbst nichts Abschließendes gesagt werden. Für die '" Vgl. Ute Daniel, Geschichte als historische Kulturwissenschaft. Konturen eines Wiedergängers, in: Kulturwissenschaft, hgg. von Heide Al'pelsmeyer u. a. (2001), S. 195-214, hier S. 211 L v " '" Kant, Kritik der reinen Vernunft (wie Anm. 23) B 541. Von Fakten und Fiktionen 41 •ssenschaftliche Erkenntnis, so hat es einmal Werner Heisenberg für die Maturwissenschaften formuhert' ßlbt eS immer nur eine -Mitte", von der s die Forschung nach allen Seiten auszugreifen versucht, „in tastenden Versuchen", sich „in begrenzten Bereichen der Wirklichkeit" zu-echtzufinden119. Wissenschaft zielt zwar auf das „Ganze", aber sie weiß, d ß sie das „Ganze" nicht erreicht, und daß sie „im Ganzen" in Wahrheit ichts aussagen kann. Wissenschaft vermehrt das Wissen unaufhörlich, ja n! j;cj1( und zwar immer schneller; aber sie weiß, daß sie über den Verlauf und den „Sinn" der Gewinnung dieses Wissen im ganzen nichts sagen kann. Der Prozeß der Gewinnung von Wissen erfolgt vielmehr auf „un-Überschaubaren Wissensstrecken", wie Wolfgang Frühwald jüngst formuliert hat120. (4) Diese „Unendlichkeit" der Wissenschaft kollidiert ständig mit der Begrenztheit und Endlichkeit des „Lebens". Dieser Sachverhalt ist unauf-hebbar, und deshalb muß jede Theorie der Erkenntnis ihm Rechnung tragen. (5) Und schließlich, fünftens, der für den Wissenschaftler wohl schmerzlichste Punkt: Das unaufhörliche Veralten der Ergebnisse der Wissenschaft. Es wirft die Frage nach dem „Sinn" der Wissenschaft auf, und macht zugleich klar, daß diese Frage mit den Mitteln der Wissenschaft nicht abschließend beantwortet werden kann. Max Weber hat bekanntlich das Veralten, das Überholtwerden, als den „Sinn der Arbeit der Wissenschaft" bezeichnet121. Das ist eine genuin kantianisch fundierte Feststellung, und sie ist - sofern man sie überhaupt zur Kenntnis nahm -Weber immer wieder übelgenommen worden, oder sie wurde ignoriert oder „entschärft", bis zum heutigen Tag122, - obwohl sie doch unser aller ," Werner HEISENBERG, Die Einheit des naturwissenschaftlichen Weltbildes (1941), in: DERS., Wandlungen in den Grundlagen der Naturwissenschaft (u1980) S. 107-128, bes. S. 128. 120 Wolfgang frühwald, Wir bestehen buchstäblich aus Sternenstaub, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 4. Dezember 1999. 121 Weber, Wissenschaftslehre (wie Anm. 43) S. 592. 1,1 So bei Hans-Ulrich WEHLER, Rückblick und Ausblick - oder: arbeiten um überholt zu werden? (Bielefelder Universitatsgespräche und Vorträge 6, 1996) S. 7; wieder abgedruckt in: Perspektiven der Gesellschaftsgeschichte, hg. von Paul NOLTE u. a. (2000) S. 159-168, bes. S, 159. 42 Otto Gerhard Oexle Alltagserfahrung von Wissenschaft entspricht. Die Frage stellt sich b sonders dringlich, sobald man sich von der Ranke-Tradition des Q\^~ bens an den schließlichen Aufbau des „Ganzen" aus der Vielzahl der alt mählich verfertigten Teile verabschiedet hatUJ. Aber auch hier gibt einen wenngleich nur paradoxalen Trost. Max Weber hat ihn so be schrieben, und wir haben es schon gehört: Die Vergänglichkeit aller wissenschaftlichen Erkenntnisse bedeute doch zugleich auch die Urj-vermeidlichkeit immer neuer. Und darin sei die „ewige Ju. gendlichkeit" „aller historischen Disziplinen" begründet, aller jener Disziplinen nämlich, „denen der ewig fortschreitende Fluß der Kultur stets neue Problemstellungen zuführt"124. Die Wahrheit historischer Erkenntnis, das Wissen „wie es eigentlich gewesen", ist also nicht zu bekommen. Aber gleichwohl gibt es doch sehr viel mehr als nur Fiktionen. Wer als Historiker heute noch nach der „Wahrheit" „der Vergangenheit" sucht, mag durchaus in eine „verlorene Zeit" geraten. Dies wäre dann eine Folge der Theorie, für die er sich entschieden hat. Hat der Historiker mit einem Rekurs auf methodische Disziplin, auf systematische Arbeit und Forschung „seine historische Zeit gehabt"125? Fiktionalisten mögen das so sehen, wenn sie wollen. Ich für meinen Teil setze - und, wie mir scheint, mit guten Argumenten - auf die „ewige Jugendlichkeit" „aller historischen Disziplinen": eben weil ihnen der „ewig fortschreitende Fluß der Kultur stets neue Problemstellungen zuführt". Dazu Otto Gerhard Oexle, »Der Teil und das Ganze" als Problem geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis. Ein historisch-typologischer Versuch (1990), wieder abgedruckt in: Ders., Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus (wie Anm. 20) S. 216-240, bes. S. 226. 1J< WEBER, Wissenschaftslehre (wie Anm. 43) S. 206. ]n S. oben Abschnitt I. "'S. ob< von spurensuchern und zeichendeutern Zum Selbstverständnis mittelalterlicher geschichtsschreiber von Verena Epp „Wie entgeht eine Ameise einem Ameisenbär?", fragte mich neulich mein älterer Sohn beim Frühstück, in der Absicht, mich mit einem Witz zu erheitern „Indem sie ihr A' wegwirft" - verkündete er stolz als Lösung Was hat dieser Witz mit dem Thema zu tun, wird sich der geneigte Leser fragen. Der wirklichkeitsstiftende Charakter sprachlicher Formulierung, den der Witz voraussetzt, aber gleichzeitig ad absurdum führt, ist Gegenstand der postmodernen Fassung der Geschichtstheorie1. Die Postmoderne betrachtet das historische Denken als „Sinnbildungsleistung des Erzählens"2 und sucht sich seiner Grundlagen im Kontext der Erinnerungskultur3 der jeweiligen Gesellschaften zu versichern. „Nicht in den kognitiven Prozessen methodisch geregelter Erkenntnis, sondern in den rhetorisch geregelten Prozessen narrativer Vergegenwärtigung zeitlicher Vorgänge" vollzieht sich nach Ansicht der Postmoderne Historie4. Ob bzw. inwieweit der Historiker aus Texten der 1 Zur Genese und Bedeutung des Begriffs »Postmoderne" v.a. Michael BORGOLTE, Mittelalterforschung und Postmoderne, Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 43 (1995) S. 615-628 mit weiterer Literatur. 2 Jörn rüsen, Postmoderně Geschichtstheorie, in: Geschichtswissenschaft vor 2000: Perspektiven der Historiographiegeschichte, Geschichtstheorie, Sozial- und Kulturgeschichte. Festschrift für Georg G. Iggers, hgg. von Konrad H. jarausch/Jörn rüsen/Hans schleier (1991) S. 27-48, Zitat S. 44 f. 5 Otto Gerhard oexle (Hg.), Memoria als Kultur (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 121, 1995) besonders S. 9-78; Jaques Le GOFF, Geschichte und Gedächtnis (1992); Johannes fried, The Veil of Memory, The 1997 Annual Lecture of the German Historical Institute London (1998); ders., Erinnerung und Vergessen, HZ 273 (2001) S. 561-593. 4 Jörn rüsen, „Moderne" und .Postmoderne", in: Geschichtsdiskurs 1, hgg. von Wolfgang küttler/Jörn rüsen/Ernst schulin (1993) S. 23.