GESCHICHTLICHE GRUNDBEGRIFFE Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland Herausgegeben von Otto Brunner "j* Werner Conze j" Reinhart Koselleck Band 3 H-Me Klett-Cotta Abküizungsveraeichnis Schweiz- schweizerisch Übers., übers. Übersetzung, übersetzt Sekt., aect. Sektion, sectio(n) u. d. T. unter dem Titel Ser., ser. Serie, aérie ung. ungarisch Slg. Sammlung Unters. Untersuchungen SozÖk. Sozialökonomik anv. unverändert SozWiss. Sozial Wissenschaften v., vv. Vers, -e Sp. span. Spalte Verh. Verhandlungen spanisch Veiöff. Veröffentlichung, -en StA Staatsarchiv Vers., -vers. Versammlung Sten.Ber. Stenographische(r) Vjbll. Vierteljahresblätter Bericht(e) Vjh. Vierteljahresheft, -e Suppl. (Bd.) Supplement, Vjschr. Vierteljahr(es)schrift Supplementband vol., vols. volume, volumes s. V. sub verbo WA Weimarer Ausgabe SW Sämthche Werke Wb. Wörterbuch synon. synonymisch westf. westfälisch . t. tome, tomus wiss., WÍS8. wissenschaftlich, Wissen- theol,, theol. theologisch, théologique, schaft, -en theologie z. Zeile Theol. Theologie zit. zitiert (bei) Tit. Titel Zs. Zeitschrift Tl. Teil Ergänzungen zum Verzeichnis der Quellenreihen und Sammelwerke (vgl. Bd. 1, 925) CC Ser. Lat. Corpus christianorum, Series Latina (Turnhout 1953 ff.) DLE [Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen.] Deutsche Literatur. Sammlung literarischer Kunst- und Kulturdenkmäler in Entwick-hmgsreihen, hg. v. Heinz Kindermann, 26 Reihen, 110 Bde. [unvollendet] (Leipzig, später Stuttgart 1928—1950; Ndr. der meisten Bde. Darmstadt 1964 ff.) Sten. Ber. Dt. Nationalvers. Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der deutschen constituirenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, hg. v. Franz Wigard, 9 Bde. (Frankfurt 1848—1849) Herrschaft I. Einleitung. II. 'Herrschaft* im Mittelalter. 1. Einleitung. 2, Sprachliches, a) Deutsch, b) Lateinisch. 3. Früh- und Hochmittelalter, a) Germanisch-deutsch, b) Lateinisch. 4. SpätinitteEalter. III. 'Herrschaft' von der frühen Neuzeit bis zur Französischen Revolution. 1. Begriff, Bedeutung und Gebrauch. 2. 'Herrschaft' im 16. Jahrhundert, a) Machia-velli. b) Herrschaftebegriffe im reformatorischen Deutschland, cj Calvinistiache Begriffsbildung und der Einfluß des juristischen Denkens, d) Zur Dialektik des Herrschaftsbegriffs. e) Bodins Antwort auf die Krise. 3. 'Herrschaft' im Staatsvertrag, a) Althusius und Grotius. b) Hobbes und der Absolutismus. 4. 'Herrschaft' im rationalen Naturrecht des 17. und 18. Jahrhunderts. 5. Drei Themen langfristiger Auseinandersetzung, a) 'Imperium' und 'dominium', b) Herrschaft des Hausvaters, c) Dienstbarkeit, Gesinde, Knechtschaft; Herr und Knecht, d) Spiegelungen auf der Wörterbuchebene. 6, Aufklärung und Revolutionierung der Herrschaft, a) Vernünftige Herrschaft, b) Historisierung und Aktualisierung, c) Kritik aller Herrschaft, d) „Herrschaft des Schreckens". 7. „Herrschaft und Knechtschaft". 8. Die Beziehung zwischen 'Herr' und 'Knecht' in ihrer lexikalischen Erfassung. 9. Die Verallgemeinerung der Anredeform 'Herr'. IV. Der Herrschaftsbegriff im Zeitalter der Revolutionen: Grundzüge seiner Geschichte. V. Der Herrschaftsbegriff an der Schwelle der Groflen Revolution. 1. Fundamentaldemokratische Herrschaft und kommissarische Regierung, a) 'Herrschaft' und 'Gleichheit', b) Autonomie und Absolutismus, c) Die Trennung von 'Herrschaft' und 'Regierung'. 2, Republikanismus, Privat, herrschaft und moralisches Gesetz, a) 'Republikanismus' und 'Despotismus', b) 'Hausherrschaft' und 'Personenrecht', c) Das moralische Gesetz: Imperativ ohne imperans. VI. Die Ökonomisierung des Herrschaftsbegriffs. 1. Herrschaft in der „kommerziellen Gesellschaft". 2. Herrschaft der Bourgeoisie und Diktatur des Proletariats, a) Herrschaft der Arbeit im dialektischen Selbstunterschied, b) Die letzte Herrschaft von Menschen über Menschen, c) Klassenlose Gesellschaft und wahre Demokratie. 3. Von der Fabrikherrschaft zum Regime der Manager. VII. Herrschaft und Genossenschaft. 1. Verfassungsgeschichte als Auflösung der Identität des Sinnenhaften und des Sinnhaften. 2. Verfassungsgeschichte als Dialektik von Herrschaft und Genossenschaft mit immanentem Entwicklungsziel. 3. Zum politischen Sprachgebrauch zwischen vorrevolutionärer Tradition und tendenzieller Demokratisierung. 4. 'Herrschaft' und 'Genossenschaft' als allgemeine Wissenschaftstermmi. VIII. Die Substitution von 'Herrschaft' durch 'Führung'. IX. Ausblick. I. Einleitung 'Herrschaft' gehört heute zu jenen politischen Schlagworten, die entweder tabuiert sind oder nur in kritischer Absicht verwendet werden. Dieser Sprachgebrauch zeichnet sich seit dem 18. Jahrhundert ab, wurde aber erst durchschlagkräftig, nachdem zuvor 'Herrschaft' als ein universaler Rechtsbegriff (Gierke) oder als soziologischer Allgemeinbegriff (Max Weber) terminologisch festgeschrieben worden war. Verfolgt man den Sprachgebrauch von 'Herrschaft' in die Vergangenheit zurück, so fällt auf, daß dieser Ausdruck keineswegs jene allgemeine Geltung beanspruchen konnte, der lateinischen Äquivalenten wie 'dominium', 'impérium', 'auetoritas', 'potestas' füglich zugeschrieben werden darf. Anders gewendet, die Begriffsgeschichte von 'Herrschaft' läßt sich nur aus dem Bereich konkreter Einzelanalysen herausführen, indem moderne wissenschaftsterminologische Erklärungen hinzukommen. Dann differenziert sich das Bild sehr schnell". XII 1 Herrschaft I. Einleitung I. Einleitung Herrschaft Gerade die Erforschung der mittelalterlichen Herrschaftsstrukturen steigt, wie notwendig ea ist, terminologische Erörterungen und begriffsgeschichtliche Analysen zu kombinieren. Ohne die Auawertung und Übersetzung der leitenden Begriffe aus dem Lateinischen und aus dem Deutschen der zunächst spärlich fließenden Quellen läßt sich gar nichts ausmachen über das, was erst seit der Neuzeit als 'Herrschaft' in einem abstraktionsfähigen Sinne bezeichnet worden ist. Wie wegweisend die Forschungen gerade hier vorangeschritten, aber auch wieder in verschiedene Eichtungen geraten sind, bezeugt der Mittelalter-Abschnitt. Offensichtlich führt es zu einer Verkürzung der damaligen Wirklichkeit nicht nur, wenn sie mit dem modernen Begriff des 'Staates', sondern auch mit einem Begriff von 'Herrschaft' schlechthin interpretiert wird. 'Herrschaft' taucht zwar schon im Althochdeutschen auf, aber „die ersten klaren Belege für 'herscaph' als Herrenstellung über Sachen, Bigenleute oder größere Gebiete entstammen dem 13. Jahrhundert"1. Herrschaft bezog sich immer auf einen konkreten Herren, auf seine Gerechtsame und seinen Machtbereich, sei er nun Dorfherr, Stadtherr, Grundherr, Gerichtsherr oder Landesherr gewesen, um nur wichtige Positionen zu nennen. Zuvor schon sind auseinanderzuhalten die Lehensherrschaft und die Hausherrschaft sowie die Bezeichnung des Königs oder Gottes mit dem Ausdruck 'Herr'. Der Ausdruck läßt sich demnach in unterschiedlichen sozialen, politischen, rechtlichen und theologischen, einander auch überschneidenden Kontexten wiederfinden. Gemeinsam blieb ihm nicht einmal die Zuordnung zum Adel, da auch das Stadtbürgertum Herrschaft ausübte, dessen jeweiliger Rat auch so bezeichnet werden konnte. Allgemein läßt sich nur festhalten, daß alle Herrschaft nicht nur Recht schützte und wahrte, sondern auch an Recht gebunden blieb. 'Herrschaft' war kein Begriff, der absolut gesetzt werden konnte. 'Herrschaft' blieb von theologischer Kritik, aber auch von konkurrierenden kirchlichen Herrschaftsansprüchen flankiert, so daß die christliche Zweiweltenlehre vielfältig in die politische Herrschaftspraxis hineinreichte. Ferner blieb Herrschaft pluralistisch ausgefächert, auch nachdem sich — seit dem 13. Jahrhundert — die territorialen Landesherrschaften langsam ausbildeten : dieser Vorgang blieb an ständische Mitwirkung gebunden. So läßt sich zwar sagen, wer jeweils Herr in welchem Bereich war, und insofern auch, was im konkreten Fall Herrschaft gewesen ist, aber es scheint ohne terminologische Erläuterung nicht möglich zu sein, aus der Begiiffsgeschichte selbst einen theoriefähigen Herrschaftsbegriff abzuleiten. Selbst der Fürst des frühneuzeitlichen Flächenstaates blieb als oberster Herr persönlich verantwortlich, wobei er sowohl mit einem Hausherren und -seinen Amtspflichten wie mit dem allmächtigen, gerechten Gott in Analogie gesetzt werden, konnte. Die unmittelbare personale Herrschaft gehörte zur Alltagserfahrung vor allem auf der untersten Ebene der Guts- und Grundherrschaften, die in Regionalständen zusammenwirkten. Im Gegensatz zum deutschen hat der lateinische Sprachgebrauch in der römischrechtlichen und in der theologischen Tradition das Begriffsbündel um 'impérium' und 'dominium' herum zu theoriefähigen Aussagen geführt. Sternberger hat auf 1 Kahl Kboeschem., Haus und Herrschaft im frühen deutschen Recht. Ein methodischer Versuch (Gottingen 1968), 18f.; ders., Art. Herrschaft, Hwb. z. dt. Reehtsgesch., Bd. 3 (1978), 104ff. die beiden Modelle von Augustin und von Thomas von Aquin hingewiesen, die wirkungsgeschiehtlich besonders herausragen. Auoustin deutete alle Herrschaft als Folge des Sündenfalls, um mit ihrer Hilfe dessen Folgen niedrig zu halten — womit er auf die lutherische Position und darüber hinaus wirkte. Thomas hat dagegen im Sinne des Aristoteles die Herrschaft von Freien über sich selbst bereits in die Zeit des Paradieses vor dem Sündenfall verlegt. Auf diese Weise war es möglich, Herrschaft auch ohne Unterwerfung zu legitimieren, — womit auf die naturrechtlich begründeten Verfassungstheorien der Neuzeit verwiesen wird, die 'Herrschaft' demokratisch einzubinden suchen2. Die Aufgaben eines Herren wurden — im Gefolge der Fürstenspiegelliteratur — auch noch frühneuzeitlich als christlicher Dienst, als Knechtschaft begriffen. Wie Henisch ein ganz auf die Person des Herrschers bezogenes Sprichwort registriert: Fürsten müssen ihrer Diener Knecht sein3. Innerhalb der deutschen Reichsstaatsrechtslehre, die auf die antike Typologie der Herrschaftsweisen zurückgriff, rückte dann 'Herrschaft' in die klassische Theoriediskussion ein. Dabei wurde der Begriff zunehmend auf den Staat als die übergreifende Einheit bezogen, Damit verwandelte sich 'Herrschaft' langsam aus einer personalen Relationsbestimmung in eine naturrechtlich begründete Funktionsbestimmung, die von persönlicher Herrschaft abzusehen auffordert. Daß der Fürst nur als „der erste Diener des Staates" zu betrachten sei — diese Wendung Friedrichs des Grossen faßt die Umbesetzung einer alten christlich-personalen Herrschaftsdefmition in eine generelle Funktionsbestimmung aphoristisch zusammen. Seit dem 18. Jahrhundert gibt es kaum noch theoretische Zugriffe, die nicht von der Depersonalisierung von 'Herrschaft' ausgehen, wodurch diesem Begriff zwangsläufig eine neue metaphorische Dimension zuwuchs. 'Herrschaft' existiert im Kontext der Aufklärung nur noch unter Absehung von 'Herren', die Herrschaft ausüben könnten. Sei es, daß die Herrschaft der Gesetze, sei es, daß die Herrschaft der Menschen über sich selbst, sei es, daß die Beseitigung von Herrschaft überhaupt postuliert wird — immer handelt es sich um Theorien, die jedenfalls das Ende konkreter persönlicher Herrschaft fordern oder voraussetzen. 'Herrschaft' wird als Begriff der Vergangenheit zugewiesen und so natürlich in der Rechtsgeschichte weiterhin behandelt. Im 19. Jahrhundert treten 'verfassungsgemäße Regierung' oder 'gesetzmäßige Verwaltung' an die Stelle von 'Herrschaft'. Insofern ist spätestens seit der Französischen Revolution 'Herrschaft' ein immer schwerer legitimierbarer Begriff geworden. Seitdem driftet der Sprachgebrauch im Alltag, in politischen Reden und in wissenschaftlichen Texten immer weiter auseinander. Wo Herrschaft im täglichen Umgang personenbezogen sichtbar blieb, wurde sie auch so angesprochen. Mehr oder weniger unangefochten blieb Herrschaft lange im Haus erhalten. Der Hausherr in bezug auf die Familie, besonders auf das Gesinde, übte Herrschaft aus, an der die Frau, verschieden dosiert, teilhaben konnte. Vom 'Herrn im Haus' wurde der Be- 2 Dolp Starnberger, Der alte Streit um den Ursprung der Herrschaft (1977), Sehr., Bd. 3 (Frankfurt 1980), 9 ff. Vgl. ferner Ferdinand Seibt, Thomas und die Utopisten, Miscellanea medievalia Ii (1977), 253ff. 3 Gboüo Henisch, Thesaurus linguae et sapientiae germanicae, t. 1 (Augsburg 1616), 701, s. v. Diener. 2 3 Herrschaft I. Einleitung a) Deutsch Herrschaft griff übertragen auf den 'Fabrikherrn' und gehörte so in der entstehenden Industriegesellschaft zur Alltagssprache. In der politischen und in der Wissensehaftssprache wurde der Ausdruck nur von konservativen Autoren positiv beibehalten, während er mehrheitlich entweder negativ besetzt oder im Sinne der soziologischen Wirklichkeitsbeschreibung verwendet wurde. Daraus ergaben sich neue Mehrdeutigkeiten. Wenn Herrschaft in der komplexer werdenden Gesellschaft aufgewiesen wurde, so mußte sie in gesellschaftlichen Institutionen, in Produktionsverhältnissen, in staatlichen oder wirtschaftlichen Organisationen, in Verwaltungsemrichtungen usw. gefunden werden, als deren Vollstrecker zwar Menschen tätig sind, ohne daß sie sich aber selbst persönliche Herrschaft zubilligen dürften. Selbst die bürgerlich-kapitalistische 'Klassenherrschaft' im konstitutionellen oder liberalen Verfassungssystem wurde dann etwa von Lobenz von Stein oder von Mam nicht als Herrschaft von einzelnen Personen begriffen. In diesem Spannungsfeld zwischen soziologisch beschreibbarer Wirklichkeit von Herrschaftsstrukturen und theoretisch deduzierten Sollenssätzen einer nicht mehr zuzulassenden persönlichen Herrschaft bewegt sieh weiterhin der Sprachgebrauch der Wissenschaft. Freilich herrscht zwischen den Sprachbereichen von Wissenschaft und Politik ein lebhafter Wechselverkehr, nicht zuletzt dank der Ideologiekritik, die zwischen Theorie und Praxis vermitteln soll. So konnte Marx die herrschenden Gedanken als Ausdruck der herrschenden Klasse interpretieren, und so konnte Bismarck, der sich als Konservativer immer zu 'Herrschaft' bekannt hat, seine parlamentarischen Gegner angreifen: Kurz, sie verstehen unter „Freiheit" eigentlich „Herrschaft"; unter „Freiheit der Rede" verstehen sie „Herrschaft der Redner"; unter „Freiheit der Presse" .. .den vorwiegenden Einfluß der Redaktionen;.. .unter „Freiheit der Kirche" die Herrschaft der Priester*. Gerade die Vorkämpfer einer Aufhebung jeder Herrschaft werden von Bismarck ideologiekritisch auf ihre persönlichen Herrschaftsinteressen zurückgeführt. In ähnlicher Rhetorik ist heute die Rede von den anonym „Herrschenden", um die sogenannten politischen, wirtschaftlichen oder technischen Sachzwänge zu personalisieren und auf diese Weise besser angreifen zu können. Andererseits wurde dort, wo Herrschaft persönlich sichtbar blieb, im Typus des modernen 'Führers', der sich seit Napoleon I. mit demokratischer Legitimation ausstattet, auf den Begriff verzichtet. Der neuzeitliche Diktator oder Führer appelliert an Klasse, Volk oder Gefolgschaft, ohne terminologisch noch 'Untertanen' beherrschen zu wollen. Zwischen personaler Beziehung und institutioneller Einfassung, zwischen Tabuie-rung und Ideologiekritik, zwischen Wirklichkeitsanalyse und normativen Postulä-ten hat der Ausdmck 'Herrschaft' jede Eindeutigkeit verloren. In vielfacher metaphorischer Abschichtung reicht sein Gebrauch vom Schlagwort bis zur wissenschaftlichen Kategorie, mit deren Hilfe Max Weber erstmals versucht hat, alle befragten Phänomene zu klassifizieren. Die folgende Begriffsgeschichte soll dazu beitragen, die Probleme diaehron zu entzerren und somit erneut zur Debatte zu stellen. Reinhart Koselleck ' Marx/Engels, Die deutsche Ideologie (1845/46), MEW Bd. 3 (1958), 46; BiSMABCK, Rede v. 15. 3. 1884, Die politischen Reden des Fürsten Bismarck, hg. v. Horst Kohl, Bd. 10 (Stuttgart 1894; Ndr. Aalen 1970), 59. II. 'Herrschaft' im Mittelalter 1. Einleitung Die Erörterung des sehr komplexen Begriffs 'Herrschaft' auf knappstem Raum muß für unser Zeitalter nicht nur vielfach ohne Vorarbeiten auskommen, sondern stößt auch auf große allgemeine und besondere Schwierigkeiten. Jene sind vor allem die unterschiedliche Abstraktionsfähigkeit und die differierenden geistigen Traditionen der lateinischen und der deutschen Sprache, sodann der chronologisch und regional sehr verschiedene Quellenbestand und die wechselnde soziale Basis der Belege5; diese sind besonders der vielfach hohe Anteil von zeichenhaft, also nicht schriftlich dargestellter und daher kaum adäquat erfaßbarer Herrschaft6 sowie in ganz anderer Richtung die Verwendung unseres Begriffs als zentralen Terminus der modernen Verfassungsgeschiehte des Mittelalters anstelle von 'Staat', was z. T. zu einer anachronistischen Überlagerung der Quellensprache durch die Forschungssprache und damit zu Verwirrung geführt hat'. Im Mittelalter verblieb unser Begriff stets im Schatten des Konkretums 'Herr' und „konkreterer" Abstrakta, die einzelne, hier nicht zu verfolgende Herrschaftsformen bezeichnen, und noch am Ende des Zeitalters existiert kein zentraler Oberbegriff 'Herrschaft'. So kann man vom mittelalterlichen Anteil an der begrifflichen Ausformung eines vielleicht zeitlosen Problems schwerlich einen geschlossenen Bindruck vermitteln, weil es diese Geschlossenheit kaum gibt. Künftige Forschung wird ohnedies wohl noch stärkere Differenzierungen erarbeiten. 2. Sprachliches a) Deutsch. Das ahd. Wort 'herscaf(t)', zunächst auch 'hertuom', stammt vom ahd. Adjektiv 'her', das „grau(haarig)", „erhaben", „würdig" bedeutet, und wird noch in inhd. und späterer Zeit entsprechend verwendet8. Im Hochmittelalter voll- 5 Das hohe Maß an Vorläufigkeit mittelalterlicher Begriffageschichte läßt sich leicht erweisen: Es fehlt z. B. eine Geschichte der Abstraktion, die begriffsgeschichtliche Einzei-erörterungen aus ihrer Isolierung befreien und vor allem das weithin ungeklärte Verhältnis von lateinischer und deutscher Sprache erhellen könnte (der Terminus 'Ubersetzung' trifft diese Beziehung oft nicht). Solange auch keine Sozialgeschichte der mittelalterlichen Schriftlichkeit vorliegt, arbeitet man notgedrungen mit der ungeprüften Annahme einer etwa neuzeitlichen Gegebenheiten vergleichbaren Begriffstradierung im Zeitablauf. 8 Auch über das Verhältnis von schriftlicher Fixierung und politischer Welt wissen wir mangels einer Wirkungsgeschichte der mittelalterlichen Schriftlichkeit wenig Zuverlässiges. ' Deshalb kann im folgenden die Darstellung der verfassungsgeschichtlichen Forschungssituation nicht entbehrt werden, deren Erwähnung auch darauf hindeuten mag, daß der Begriff 'Herrschaft* nicht aus dem Konnex mit anderen verwandten Kernbegriffen politischer Existenz ('Königtum', 'Adel', 'Gefolgschaft' usw.) herausgelöst werden kann, die hier nicht zu erörtern sind. 8 Benecke/Müller/Zabncke Bd. 1 (1854; Ndr. 1963), 669, s. v. herschaft; Grimm Bd. 4/2 {1877), J152, s. v. Herr; RWB Bd. 5 (1953/60), S54ff., Art. Herrschaft; noch Fbisch, Dt.-lat. Wb. (1741), 445, s. v. Herr, registriert die Formen 'her' und 'Er' als Titulworte 4 5 Herrschaft ti. 2. Sprachliches i) Germanisch-deutsch Herrschaft zog sich eine entscheidende Neuerung, die Anlehnung an 'herre'9. Dieses Wort entstand im 7. Jahrhundert als ahd. 'herro' aus dem Komparativ 'hěriro' des Adjektivs 'hěr'; 'hěriro' war Lehnübersetzung zu 'senior' (spätantike Rangbezeichnung) und Übersetzung von 'presbyter'. Durch den Übergang vom Adjektiv zum Substantiv vermochte 'herro' auch den Hoch- oder Höchstgesteliten zu bezeichnen und sich damit neben 'dominus' zu stellen. b) Lateinisch. Lateinische Äquivalente von 'Herrschaft' können sein 'dominium' (von 'dominus' und 'domus'), aber auch z. T. 'potestas', 'potentia', 'auctoritas', 'regnum' u. a. 'Dominium' bezeichnet zuerst (neben 'potestas' im eigentlichen Sinne und 'manus') einen Aspekt der unumschränkten, unteilbaren, auf 'auctoritas' gegründeten hausherrlichen Gewalt des „pater familias". In friihrepublikanischer Zeit wurde 'dominium' als Herrenrecht über Sklaven und leblose Dinge begrifflich ausgesondert10. Wohl nach Christi Geburt fällt die für die Zukunft entscheidende Aufspaltung in einen weiteren, offenbar von 'dominus' ständig neu gespeisten Sinn von „Herrengewalt" (auch über Personen) und in einen verengten technischen Sinn von „Eigentum" (über Sachen). Jenes gilt mehr für die Literatur (seit Livius und besonders Seneca, nicht bei Cicero), dieses — häufiger belegt—kann als ausgezeichnete Abstraktionsleistung römischer Jurisprudenz gelten (quiritisches und dann bonita-risches Eigentum, durch Justinian vereinheitlicht)11. Wegen dieser präzisen Auffüllung haben Vulgáta und Patristik gegenüber 'dominium' große Zurückhaltung geübt und damit für das Mittelalter vorentschieden. Hieronymus sprach nur von 'dominus', 'regnum' (was 'basileia', einem Zentralbegriff der Synoptiker, entsprach) und von 'potestas'; Augustin gebraucht in „De civitate Dei" äußerstenfalls 'dominatio'12. Die Päpste folgten diesem Beispiel, besonders der überaus häufig im Sinne von ehr oder Ehren im Kanzleistil und im Niedersächsischen. Ebenso Kaunitz Bd. 23 (1781), 78, Art. Herr, der 'Herr' höher einstuft als Ehr (im Hoch- und Oberdeutschen) und Heer (im Niederdeutschen). 9 Gbimm Bd. 4/2, U24ff.; RWB Bd. 5, 781 flf., Art. Herr. — Gustav Ehrismann, Die Wörter für 'Herr' im Althochdeutschen, Zs. f. Wortforsch. 7 (1905/06), 173ff.; Peter Mezger, Die Gruppe 'Herr sein, Knecht sein' im Germanischen, Arch. f. d. Studium d. neueren Sprachen 158 (1930), 96ff.; Arno Schirokauer, Die Wortgeschichte von 'Herr', in: ders., Germanistische Studien (Hamburg 1957), 213ff.; Dennis Howard Green, The Carolingian Lord. Semantic Studies on four Old High German Words: balder, fro, truhtin, herro (Cambridge 1965). 10 R. Leonhard, Art. Dominium, RE Bd. 9 (1903), 1302ff.; vgl. K. J. Neumann, Art. Dominas, ebd., 1305ff.; Franz Wieackek, Vom römischen Recht, 2. Aufl. (Stuttgart 1961), lOff. 11 Hermann Gottlieb Heumann / Emil Seckel, Handlexikon zu den Quellen des römischen Rechts, 9. Aufl. (Jena 1914), 158; Wieacker, Vom römischen Recht, 187ff.; FranCO Neoro, Das Eigentum. Geschichte und Zukunft. Versuch eines Überblicks (München, Berlin 1963), lOff. 12 'Dominium' nur zweimal in der Vulgáta: 1. Makk. 11, 8; Tob. 8. 24. Vgl. Rudolf Schnackenburo, Gottes Herrschaft und Reich. Eine biblisch-theologische Studie (Freiburg 1959); Wilhelm Dantine, Regnum Christi — gubernatio Dei, Theol. Zs. 15 (1959), 195ff.; Ernst Bernheim, Mittelalterliche Zeitanschauungen, Bd. 1: Die Augustinischen Ideen (Tübingen 1918), 39ff. zitierte Gelasius I., der auctoritas sacrata pontifwum und regalis potestas einander gegenüberstellte13. An der Kurie mochte man sich damals noch der schweren altrömischen Fracht dieser Worte bewußt gewesen sein. Bald indessen machten auf dem Weg zum Mittelalter das Sinnfeld „Herrschaft" und der juristisch präzisierte Eigentumsbegriff einen noch kaum erforschten Vulgarisierungsprozeß durch. Die Sondertraditionen der römischen Wörter in diesem Sinnbezirk gingen verloren, auch die Unterscheidung von 'dominium' und 'possessio', d. h. von 'Eigentum' und 'Besitz', verfiel. Der Bereich der Austauschbarkeit weitete sich aus, tautologischer Gebrauch stellte sich ein14. 3, Früh- und Hochmittelalter a) Germanisch-deutsch. Das derzeit für das frühere Mittelalter verbreitet anerkannte, eindrucksvoll geschlossene verfassungsgeschichtliche Lehrgebäude, in welchem das Wort- und Begriffsfeld 'Herrschaft' wiasenschaftsterminologiscii eine grundlegende Rolle spielt, ist vor allem das Werk Walter Schlesingers15; es ist besonders von Karl Kroeschell angegriffen worden, der von der wortgeschichtlichen Basis ausging13. Die Forschung ist in Fluß geraten. Das Ineinandergreifen begriffsgeschichtlicher und über die Wortgeschichte hinausreichender Zeugnisse und Argumente und die Verflechtung von Quellenbefund und moderner Terminologie kann hier nicht dargetan werden: Im großen und ganzen verändert sich die Situation bis zum Ausgang des Mittelalters derart, daß Verabredungsbegriffe zunehmend zu quellenbelegten Begriffen werden, wenn auch in unterschiedlichem Maße — ohne daß sich zumal die ältere Forschung dieser zu äußerster Vorsieht verpflichtenden Situation immer voll bewußt gewesen wäre. Es sei nur angedeutet, daß nach herrschender Lehre frühe germanisch-deutsche Herrschaft im Kern auf der Hausherrschaft des Hausherrn über Familie und Gesinde ruhte. Hausherrschaft weitete sich aus zur Herrschaft über Land und Leute. Herrschaft über Freie entstand besonders durch Gefolgs- 13 Gelasius, Ep. 12, 2—8 an Kaiser Anastasius (494), abgedr. Quellen zur Geschichte des Papsttums und des römischen Katholizismus, hg. v. Carl Mirbt, 6. Aufl., hg. v. Kurt Aland, Bd. 1 (Tübingen 1967), 222, Nr. 462. Vgl. Wilhelm Ensslin, Auctoritas und Potestas, Hist. Jb. 74 (1955), 661 ff. 11 Ernst Lew, Weströmisches Vulgarrecht (Weimar 1956); Wieacker, Vom römischen Recht, 222ff.; Gerhard Köbler, Das Recht im frühen Mittelalter (Köln, Wien 1971), 147. ls Walter Schlesinger, Die Entstehung der Landesherrschaft (Dresden 1941; Ndr. Darmstadt 1968), bes. 9ff.; ders., Herrschaft und Gefolgschaft in der germanisch-deutschen Verfassungsgeschichte (1953), in: ders., Beiträge zur deutschen Verfassungsgeschichte des Mittelalters, Bd. 1 (Göttingen 1963), 9ff. 355ff.; vgl. Reinhard Wenskcs, Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes (Köln, Graz 1961), 339 ff. 18 K. Kroeschell, Rez. W. Schlesinger, Beiträge zur deutschen Verfassungsgeschichte des Mittelalters, 2 Bde., Der Staat 5 (1966), 239ff.; ders., Haus und Herrschaft im frühen deutschen Recht (Göttingen 1968). Schlesingers Antwort vgl. W. Schlesinger, Rez. K, Kroeschell, Haus und Herrschaft im frühen deutschen Recht, Zs. f. Rechtsgeseh., germanist. Abt. 86 (1969), 227ff.; ders., Beiträge zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 2 (1963), 286ff.; Kroeschell, Art. Herrschaft, Hwb. z, dt.Rechtsgeseh., Bd.3,104ff.; Hans Kurt Schulze, Art. Grundherrschaft, ebd., Bd. 1 (1971), 1824ff. 6 7 Herrschaft II. 3. Früh- und Hochmittelalter 3>) Lateinisch Herrschaft herrschaft und Heerkönigtum. Die Parallelisierung von Königs- und Hausherrsehaft und von Herrschaft über Land und Leute ist wie die Aufteilung des „öffentlichen" Lebens an Herrschaftsverbände auf Kritik gestoßen. Die herrschende Lehre bedarf offenbar der Einschränknng und der Ergänzung durch andere Organisation»- und Rechtsprinzipien, auch aus nichtgermanischer Tradition. Es wird auch immer mehr danach gefragt, was eigentlich germanisch sei. Zugleich hebt man die Distanz zwischen einem wie auch immer beschaffenen germanischen Altertum und dem fränkisch-deutschen Mittelalter stärker hervor. So wird das Bild für die Frühzeit differenzierter und komplizierter werden. Auch im engeren deutschen Mittelalter ist jede Abstraktion und Systematik von 'Herrschaft' bis mm Ende unseres Zeitraums Konstruktion der Forschung, wie die Geschichte des Begriffs 'Grundherrschaft' schön zeigen könnte. Man unterscheidet, der Sache nach einigermaßen sinnvoll, 'Königsherrschaft', 'Lehnsherrschaft', 'Herrschaft über Land und Leute', 'Kirchenherrschaft', 'Stadt- und Dorfherrschaft', 'Gerichts-, Leib-, Vogt- und Dienstherrschaft' und dann 'Landesherrschaft' in regional jeweils sehr unterschiedlicher Ausprägung. Auf festem Grund stehen wohl die von der Forschung erarbeiteten inneren Prinzipien mittelalterlicher Herrschaft, d. h. die Gegenseitigkeit von Herrschen und Beherrschtwerden („Schutz und Schirm" gegenüber „Rat und Hilfe"; bei Schmälerung ein Widerstandsrecht des Beherrschten) sowie die Einbettung von Herrschaft in die religiöse Sphäre und in eine stark religiös beeinflußte Rechtssphäre. Herrschaft im vollen Sinn mediatisierte die Beherrschten gegenüber einer höheren Gewalt. Die Herrschaftsverbände des Adels waren offenbar zumindest im Prinzip autogen, nicht von einer Zentralgewalt abgeleitet, d. h. jede oder gar keine Gewalt war im Mittelalter „staatlich", jedenfalls nicht allein die königliche. Der sprachliche Befund stellt sich bei insgesamt auf lange Zeit hin spärlicher und oft sehr uneinheitlicher Überlieferung wie folgt dar: Das von Notker dem Deutschen am Ende der althochdeutschen Zeit bezeugte Durchsetzen von 'hěrro' („Herr") gegenüber 'frö' und 'trühtin' kennzeichnet die Vereinfachung einer ehemals sehr komplizierten wortgeschichtlichen Situation. Das Wort 'hěrro' gehört vor allem der Sphäre der Vasallität und des aufkommenden Lehnswesens an und bezeugt mit seinem Erfolg dessen alles durchdringende Macht, Hierzu gehört nun das Abstraktum 'hértuom' (auf Personen, nicht auf Sachen bezogen). Schlesinger hatte aus der Tatsache, daß 'hértuom' u. a. 'res publica' und 'regnum' glossierte, den recht weitreichenden, methodisch nicht voll abgesicherten Schluß gezogen, in germanisch-fränkischer Zeit würden 'Staat' und 'Herrschaft' gleichgeachtet, und er hat das Auseinandertreten antiker und germanischer Traditionen konstatiert. Diese Interpretation vereinfacht wohl die Überlieferung in zu hohem Maße. Der Ton wird eher darauf liegen, daß 'hértuom' (Absehn, II. 2. a) „Vornehmheit", „Erhabenheit" in verschiedener Gestalt wiedergibt, erst danach auch die (im einzelnen ganz unterschiedliche) konkrete Stellung eines Herrn; ein allgemeiner Begriff von 'Herrschaft' läßt sich nicht oder kaum erkennen. Um und nach 1200 zeigt sich der gleiche Befund. Einerseits dominiert in der staufischen Dichtung für 'hěrschafť die Bedeutung „Herrenwürde", „Hoheit"17; hiervon rührt als Kollektivum „versam- " Nibelungenlied vv. 1274, 1; 1434, 2; Wolfram von Eschesbach, Paraival, hg. v. Karl Lachmann, 7. Aufl., hg. v. Eduard Hartl, Bd. 1 (Berlin 1952), 229, v. 481, 3; Gottfried Hielte hohe Herren" her18. Andererseits mündet deT im 11. und 12. Jahrhundert dunkle Weg des Äquivalents von Notkers 'dominatio' — angelehnt an das Wort 'Herr' — in historischer und juristischer Prosa zunächst im Begriff 'Herrensteilung' im Sinn von (unklar umrissener) Amtsstellung (ca. 1265)19. Die Herrenstellung ist auf verschiedene Weise gefüllt: Herr gegenüber Knecht in OtfriedS von WeisSen-hurg „Bvangeüenharmonie" (verfaßt 863/71); hüsherro im 11. Jahrhundert, Herr eines Gegenstandes von Hartmanns von Aue „Iwein" (verfaßt um oder bald nach 1200) an20. b) Lateinisch. Nicht nur Vulgarisierung, sondern in nicht präzis davon abhebbarem Maße auch Germanisierung hat auf die recht klaren altrömischen Vorstellungen von 'dominium' eingewirkt21. Die deutschrechtlichen Begriffe von 'Herrschaft' und von 'Eigentum' verweisen ohnehin auf ein urtümliches, vorwissenschaftliches Rechtsdenken. Sie sind wie im Altlateinischen eines Ursprungs und blieben weit über das Ende des Hochmittelalters hinaus verflochten. Herrschaft ruhte auf dem Eigen, und Eigentum an Land und Leuten war wirkliche Herrschaft. In der Urkunden-Sprache des 7. bis 12. Jahrhunderts meint demnach 'dominium' im Zusammenhang mit Liegenschaftsübertragungen, gern kombiniert mit synonym gebrauchten Begriffen ('ius', 'potestas', 'proprietas', 'possessio')22, ein Innehaben ohne Scheidung von 'Eigentum' und 'Besitz' und ohne Abgrenzung gegenüber 'Herrschaft', ja mit Einschluß oder gar Betonung der Bedeutung „Herrschaft über Land und Leute". Der lateinisch formulierte, germanisch-deutsche Eigentumsbegriff 23ist demnach aufzufassen als ein Ausschnitt aus einem weiteren Bereich von 'Herrschaft'. Er ist eher von StrassbuRG, Tristan, hg. v. Gottfried Weber, Gertrud Ulzmann, Werner Hoffmann (Darmstadt 1967), 113,v. 4042ff. Vgl. Ruth Schmidt-Wiegand, Historische Onomasiologie und Mittelalterforschung, Frühmittelalterliche Studien9(1975),48ff.,bes. 76f.; Benecke/ Müller/Zarncke Bd. 1, 668f., s. v. herschaft. 18 Bei Bekthold von Regensburg, vgl. RWB Bd. 5, 862, Art. Herrschaft. " Lexee Bd. 1 (1872), 1262, s. v. hSr-sehaft; Eberhards Reimehronik von Gandersheim, MG Deutsche Chroniken, Bd. 2, hg. v. Ludwig Weiland (Hannover 1877), 399. 20 Otfbied von Weissenburg, Evangelienbuch 5, 4, 11. 22, hg. v. Oskar Erdmann u. Ludwig Wolff, 6. Aufl. (Tübingen 1973), 177; Hastmann von Ade, Iwein, Text d. 7. Aufl. v. G. F. Benecke, K. Lachmann, L. Wolff, hg. v. Thomas Cramer (Berlin 1968), 20, v. 1001; RWB Bd. 5, 426f„ Art. Hausherr. Vgl. Schulze, Art. Hausherrschaft, 2030ff.; im städtischen Milieu findet sich die Gegenüberstellung von 'Herrschaft' und 'Knecht' seit dem 14. Jahrhundert, vgl. RWB Bd. 5, 862, Art. Herrschaft. 81 Du Cange 9e ed., t, 3 (1884; Ndr. 1954), 172f„ s. v. dominium; Jan Frederik Nier-meyer, Mediae latinitatis lexicon minus (Leiden 1954ff,), 353, s. v. dominium; H. K. Schulze / W. Ogris, Art. dominium, Hwb. z. dt. Rechtagesch., Bd. 1, 754ff.; Wilhelm Kölmel, Regimen Christianum. Weg und Ergebnisse des Gevvaltenverhaltnisses und des Gewaltenverständnisses. 8. bis 14. Jh. (Berlin 1970), 3f.; Helmut Rittstieg, Eigentum als Verfassungsproblem. Zur Geschichte und Gegenwart des bürgerlichen Verfassungs-staates (Darmstadt 1975). 1 ff. -— Für die Erlaubnis, die Sammlungen des „Mittellatei-niachenWörterbuchs" (München) einsehen zu dürfen, danke ich herzlich Frau Dr. Th. Payr. 22 Köbler, Recht im frühen Mittelalter, 44 f. 23 RWB Bd. 2 (1032/35), 132lff., Art. Eigentum; Dieter Schwab, Art. Eigen, Hwb. t. dt. Rechtagesch., Bd. 1, 877ff.; H.-R. Hagemann, Art. Eigent um, ebd., 882ff.; Rudolf Hübner, Grundzüge des deutschen Privatrechts, 6. Aufl. (Leipzig 1930), 241 ff.; Wilhelm 8 9 Herrschaft II. 3. Früh, und Hnchniitlelallcr IT. 4. SpHtmittelalter Herrschaft vielfältig als vage, jedenfalls nicht abstrakt-verallgemeinernd wie der klassisch-röraische, sondern hängt aufs engste mit dem entsprechenden konkreten Recht zusammen. Es konnte einen „dominus" auch bei sehr beschränkten Rechten geben, oder: die gleiche Sache vermochte verschiedene „domini" zu tragen; der „dominus" war auf jeden Fall entscheidend. Zur Bezeichnung des Herrschaftsaspekts bediente man sich demgemäß des Wortes 'dominium' vom 8. bis 11. Jahrhundert in Form von 'dominium regis' u. ä. in der Bedeutung von „Königsherrschaft"; aber häufiger formulierte man mit Hilfe von 'dominus', 'rex', 'regnum' und verbalen Konstruktionen. Von den mit 'dominium' angesprochenen Bereichen können hier nur die drei wichtigsten erwähnt werden: 1) Die Stellung des Lehnsherrn gegenüber dem Lehnsmann, zumal solange die Vasallenrechte noch nicht überhandgenommen hatten21. 2) Das Herrenrecht des Königs am Königsgut, besonders konkret gegenüber dessen einzelnen Teilen, ein Wortgebrauch, der im Reich mit dem Königsgut selbst seit dem 13. Jahrhundert schnell schwand, im Spätmittelalter noch gelegentlich die Reichsunmittelbarkeit bezeichnen konnte und vor allem in Frankreich zum Begriff der königlichen Domäne weiterentwickelt wurde. Zumal im Westen des Reiches bezeichnete das Wort auch den Kern der Herrschaft großer Herren. Aus diesen Zusammenhängen erwuchs seit dem 9. Jahrhundert die sich in Deutschland offenbar langsamer als in Frankreich vollziehende Hinwendung des Begriffs zur räumlichen Dimension25, die zunächst auf kleine Gebilde im Zusammenhang mit konkreten Herrenrechten bezogen war. So entwickelte sich also 'dominium' von der Herrengewalt über die Anwendung dieser Gewalt zur Bezeichnung eines Gebiets. 3) Mit der beginnenden Rezeption des römischen Rechts beim Königtum seit salischer, zumal seit staufischer Zeit trat der Kaiser als 'dominus mundi' in Publizistik und Dichtung hervor. Jedoch ist in der politischen Realität ein „dominium mundi" nicht nur nicht ernsthaft beansprucht worden, sondern eine unkommentierte Übersetzung (die die mittelalterlichen Rahmenbedingungen außer acht läßt) mit „Weltherrschaft" würde auch sehr mißverständliche Assoziationen auslösen. Wesentlich weiter reichte die von der potestas Christi über die potestas Petri auf die Päpste übergegangene Gewalt, die seit Bernhard von Clairvaux zur 'plenitudo potestatis' wurde. Der Papst besaß anctoritas, potestas, sacerdotium als einzige universale Gewalt des Abendlandes28. Ebel, Über den Leihegedanken in der deutschen Rechtsgeschiehte, Vorträge und Forschungen, hg. v. Theodor Mayer, Bd. 5 (Konstanz 1960), llff.; -» Eigentum, Bd. 2, 65ff.; Dietmar Willoweit, Dominium und Proprietas, Hist. Jb. 94 (1974), 131 ff. " Niermeyer, Mediae latinitatis lexicon, 353, s. v. dominium; Francis-Louis Ganshof, Was ist das Lehnswesen ? (Darmstadt 1961), 200. !B Du Cange 9" ed., t. 3, 55, s. v. demanium; Niermeyer, Mediae latinitatis lexicon, 353, s.v. dominium; ebd., 318, s.v. demanium; Schulze / Ogris, Art. Dominium, 754ff.; G. Neusser, Art. Domäne, Hwb. z, dt. Rechtsgeschichte, Bd. 1,7508*.; Gamillscheo 2. Aufl. (1969), 327, s. v. domaine; Walther Kienast, Französische Krondomäne und deutsche» Reichsgut, Hist. Zs. 165 (1942), HOff. « Walter Stach, Salve mundi dominet, Ber. über d. Verh. d. Sachs. Akad. d. Wiss. zu Leipzig, Philos.mst. Kl. 91, H. 3 (1939); Helmut Qüaritsch, Staat und Souveränität, Bd. 1: Die Grundlagen (Frankfurt 1970), 83ff.; Kölmel, Regimen Christianum (s. Anra. 21), 660. 4. Spätmittelalter In diesem Zeitalter, in welchem man endlich lateinische und deutsehe Belege sinnvoll gemeinsam behandeln kann, stehen im Vordergrund die verstärkte Aufnahme antiker Traditionen in der kirchlichen Publizistik und beim praktizierten Recht sowie die Entstehung und Entwicklung der Landesherrschaft. Die publizistische Diskussion im Zusammenhang mit dem Aufstieg und den Ansprüchen des Papsttums (1302 Bulle „Unam sanctam") nährte sich aus kanonischem und römischem Recht. Beim Begriff 'dominium' trat der Eigentumsaspekt wieder deutlicher hervor, während man sich über die Gewalt Gottes, des Papstes, der Könige und Fürsten vor allem mit Hilfe von 'potentia , potestas', 'impérium', 'regnum', 'monarchia', 'regimen', 'snperioritas' aussprach". Thomas von Aquin28 hat von 'dominium' nur wenig Gebrauch gemacht, Anders handelte der Vollender seines Fürstenspiegels „De regimine principům", Tholomäus von Lucca29. Tholomäus, der damit eine Ausnahme auf dem Kontinent darstellt, ging wohl von der Relation 'dominium'/'servitus' im Urständ der Menschheit aus und entwickelte daraus das geschichtliche 'dominium', ohne jedoch für dessen abstrahierende Austauschbarkeit mit 'regimen', 'potestas', 'impérium' viel Gefolgschaft zu finden. Der radikale Papalist ÄGiDrus Romanos30 („De ecclesiastica sive summi pontificis potestate", um 1300) hat mit der antiken Zweiwertigkeit von 'dominium' ein Doppelspiel getrieben, indem er dem Papst auf Grund der „plenitudo potestatis" nicht nur Herrschaftsrechte, sondern auch ein Obereigentum an sämtlichen Gütern als vollständige Sachherrschaft im altrömischen Sinne zusprach; den gläubigen Laien wies der machtpolitisch und heilsgerecht gleichermaßen konsequent denkende Autor nur ein spezielles Untereigentum zu. Die Vorstellung von einem geteilten 'dominium' wurde zwar von den Glossatoren, zumal in der Glosse des Accursius, formal römischrechtlich konstruiert, ist jedoch inhaltlich mittelalterlich-nordalpinen Rechts-vorstellungen nachgebildet31; denn hier ist deutlicher 'Herrschaft' ah 'Eigentum' " Reinhold Seebeho, Lehrbuch der Dogmengeschichte, 4. Aufl., Bd. 3 (Leipzig 1930), U2ff. 297ff. 558ff.; Lunwio Buisson, Potestas und Caritas. Die päpstliche Gewalt im Spätmittelalter (Köln, Graz 1958), 16. 58. 76; Susanne Hauser, Untersuchungen zum semantischen Feld der Staatsbegriffe von der Zeit Dantes bis zu Machiavelli (phil. Diss. Zürich 1967); Kölmel, Regimen Christianům, 11 f. M Thomas von Aquin, Opuscuta omnia neenon opera minora, ed. Joannes Perrier, t. 1 (Paris 1949), 220ff.; Ludwig Schütz, Thomas-Lexikon, 2. Aufl. (Paderborn 1895), 257f.; Georges de Laoarde, La naissance de i'esprit laique au déclin du moyen äge, 2" ed., t. 2 (Löwen, Paris 195S), 342. M Vgl. Thomas. Opuscula, 270ff.; Tholomäus von Lucca, Determinatio compendiosa de iurisdictione imperii, MG Fontes iuris antiqui, ed. Marius Krammer (Hannover, Leipzig 1909), 80; Martin Grabmanh, Mittelalterliches Geistesleben, Abh. z. Gesch. d. Scholastik u. Mystik, Bd. 1 (München 1926), 354ff.; Laoarde, Esprit laique, 2' ed., t. 2, 341; Kölmel, Regimen Christianum. 276ff. 30 Richard Scholz, Die Publizistik zur Zeit Philipps des Schönen und Bonifaz' VIII. (Stuttgart 1903), 49 ff.; Laoarde, Esprit laique, 2' ed., t. 2, 308 f.; Kölmel, Regimen Christianům, 29111. 31 Ernst Landsberg, Die Glosse des Accursius und ihre Lehre, vom Eigentum (Leipzig 1883), 87. 92ff.; Robert Holtzmann, Dominium mundi und impérium merum. Ein Beitrag zur Geschichte des staufischen Reichsgedankens, Zs. f. Kirchengesch. 61 (1942), 10 11 Herrschaft 11. 4. Spätmillelaller IL 4. Spätmittelalter Herrschaft geraeint, so auch bei Bartolus. So wurde dem Lehnsherrn das 'dominium directum' ('dominium eminens' und 'superius'), dem Lehnsmann das 'dominium utile' zugesprochen. Diese Formulierung drang vom 13. Jahrhundert an vom Westen her in Deutschland ein und dehnte sich dort aus, wo mehrfache Rechte an einer Liegenschaft bestanden. — Am zweiten Höhepunkt der publizistischen Diskussion, im Zeitalter Ludwigs des Bayern, auch im Zusammenhang mit dem Armutsstreit der Franziskaner, trat nachMARSiLius von Padua mit seinem „Defensor pacis" (1324)3ä, wo der Henschafta- und der Eigentumsaspekt von 'dominium' wieder getrennt sind, vor allem Wimelm von Ookham33 hervor. Er zerlegte die Entwicklung des Eigentums historisch in dTei Stufen und widersprach der allzu gewagten These der Kuriali-sten von der Gleichsetzbarkeit eines aus kühner Bibelexegese gewonnenen 'dominium' vor dem Sündenfall mit dem römisch-rechtlichen 'dominium'. Diese Theorie ist eine scharfe Waffe im Konflikt von päpstlicher Allgewalt und Kaiserrecht unter Ludwig dem Bayern gewesen. Von größter politischer Bedeutung für die Geschichte Deutschlands in Mittelalter und Neuzeit wurde die Entstehung der Landesherrschaft34 als Ausdruck der Gewalt des Landesherrn in seinem Territorium. Wir kommen damit wieder zunächst zur Forschungsterminologie. Das Werden von Landesherrschaft ist als Prozeß der allmählichen Bündelung älterer Einzelrechte aufzufassen, die zu verschiedener Zeit in der Hand eines Herrn vereint wurden, mehr aufgrund von strenger Auslese im Kampf der Nachbarn untereinander als gegen das Königtum. Die Unterlegenen wurden ganz langsam, zumal in der frühen Neuzeit, als private Grundherren35 auf- 191 ff.; Giu.es Cot/vreuh, Les pauvres ont-ils des droits? Recherches sur le vol en caa ďextréme nécessíté depuia la concordia de Gratien jusqu'a Guillaume d'Auxerre (Rom 1961), 279 ff. 32 Marsiijus von Padua, Der Verteidiger des Friedens, hg. v. Horst Kusch (Berlin 1958), 290. 292. 428. 484. 486; Kölmel, Regimen Christianům, 517ff. 33 Wilhelm von Ockham, Tractatus de imperatorum et pontificuni potestate, ed. W. Mulder, Arch. Franciscanum hist. 16 (1923),469ff.; ebd. 17 (1924), 72ff.; R. Scholz, Unbekannte kirehenpolitisehe Streitschriften aus der Zeit Ludwigs des Bayern. 1327—1354, Bd. 1 (Rom 1911), 144ff.; Bd. 2 (1919), 329ff.; LaGarde, Esprit laique, 2'ed., t. 4 (1963), 195ff.; Jürgen Miethke, Ockhams Weg zur Sozialphiloaophie (Berlin 1969), 350ff. 440ff. 458ff.; KÖLMEL, Regimen Christianům, 657. Vgl. J. Miethke, Parteistandpunkt und historisches Argument in der spätmittelalterlichen Publizistik, in: Objektivität und Partei-lichkeit in der Geschichtswissenschaft, hg. v. Reinhart Koselleck, Wolfgang J. Möhnsen, Jörn Rüsen (München 1977), 47ff. 34 Vgl. die Lit. in Anm. 15f. Ferner: F. Merzbacjier, Art. Landesherr, Landesherrschaft, Hwb. z. dt. Rechtsgesch., Bd. 2, 13831T.; W. Sellert, Art. Landeshoheit, ebd., 1388ff. (Begriff des 17. Jahrhunderts); Karl Siegfried Bader, Herrschaft und Staat im deutschen Mittelalter, Hist. Jb. 62/69 (1949), 618ff.; Th. Mayer, Analekten zum Problem der Entstehung der Landeshoheit, BU. f. dt. Landesgesch. 89 (1952), 87ff.; K. S. Bader, Territorialbildung und Landeshoheit, ebd. 90 (1953), 109ff.; W. Schlesinger, Die Landesherrschaft der Herren von Schönburg (Münster, Köln 1954); Hans Patze, Die Entstehung der Landesherrschaft in Thüringen, Bd. 1 (Köln, Graz 1962); Otto Brunner, Land und Herrschaft (1939), 5. Aufl. (Darmstadt 1965). 36 Erstbelege für 'Grundherr' 1303, 1343 (ungedruckt), verbreitet erst im 15. und 16. Jahrhundert im ,,privaten" Sinne, Grimm Bd. 4/1, 6 (1935), 825ff., s. v. Grundherr; RWB Bd. 4 (1939/51), 1189ff., Art. Grundherr; vgl. Schulze, Art. Grundherrschaft (s. Anm. 16). 1824 ff. gefaßt, die Sieger klärten ihre Rechte juristisch zur Landeshoheit ab. Mit der allmählichen Ausweitung des Staatszwecks wurde die Landesherrschaft aktiviert und verdichtet. Die schon der Entwicklung des Lehnsrechts innewohnende Tendenz zur Verdinglichung wurde durch den Bezug auf die Fläche auch bei der Landesherrschaft wirksam, während der nächste Schritt zur Versachlichung oder Entpersönlichung von Herrschaft mit der Sonderung von öffentlichen und privaten Rechten, mit der. Annahme von Staatsgewalt, Staatsnotwendigkeit und gemeinem Wohl als maßgebliche Bezugspunkte und mit dem Verständnis des ganzen Landes als politischer Einheit gewöhnlich erst der Neuzeit angehört. Hat sich damit die Sache in ihrer Kompliziertheit nur langsam fortentwickelt, so erst recht die Begrifflichkeit. Der Terminus dominus terrae ist zuerst 1229, in der Reichsgesetzgebung 1231/32 belegt36. Der dominus terrae oder lantherr (was aber auch „Herr im Land" heißen kann) verbreitete sich rasch, ebenso noch das geschmeidige lateinische Abstraktum dominium in dieser Bedeutung (zuerst 1225/28), das deutsche Abstraktum Herrschaft jedoch erscheint in diesem Sinn einigermaßen zweifelsfrei erst vom 14. Jahrhundert an3'. Wesentlich ist, daß die lateinische und die deutsche, die personenbezogene und die abstrakte Terminologie wohl nirgends allein und scharf auf Landesherrschaft im verfassungstechnischen Sinn bezogen sind; d.h. selbst der Begriff 'dominus terrae' ist noch nicht klar vom Aspekt des Eigentums gelöst, jedoch wird die räumliche Komponente immer deutlicher. Um 1400, bei hochentwickelter Landesherrschaft, war jedenfalls das sprachliche Abstraktionsvermögen in unserem Bereich noch recht gering38. Es lebten auch die oben angeführten älteren Wortinhalte fort, regionale Sonderformen bestanden weiter oder bildeten sich aus39. So kann man zusammenfassend sagen: Wer in irgendeiner Weise ein „Herr" war (auch nur im Hinblick auf eine spezielle Einnahme), konnte „Herrschaft" ausüben. Von diesem Begriffskern abgesehen, teilte der Terminus 'Herrschaft' mit anderen Wörtern der Staatssprache in Deutschland jene Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit, die bis ins 18. Jahrhundert anzudauern scheint. Petes Moraw 38 Brunner, Land und Herrschaft, 203; Constitutio in favorem prinoipum (1232), MG Const. Bd. 2 (1896), 211 ff., Nr. 171; Sententia de übertäte stratarum regalium (1229), ebd., 401 ff., Nr. 285; Sententia de iure stratuum terrae (1231), ebd.. 420ff., Nr. 305. 37 Lat.: Mecklenburgisches Urkundenbuch. Bd. 1 (Schwerin 1863), 311 f., Nr. 319; vgl. SoHüLz/OoHis, Art. Dominium (s. Anm. 21), 754ff. Dt.: für 'Landesherrschaft' gibt es im Mittelalter offenbar keine Belege; vgl. Grimm Bd. 6 (1885), 110, s. v. Landesherrschaft; Schlesinger, Landesherrschaft (s. Anm. 15), 12f,; Wolfgang Adam, Herrschaftsgefüge und Verfassungsdenken im Reich zur Zeit der Absetzung König Wenzels (phil. Diss. Hamburg 1969), 37ff.; 'Herrschaft' im Sinne von „Landesherrschaft", darunter auch die herrschaft und das tant oder lande und herscheft ze Beyern, seit den dreißiger Jahren des 14. Jahrhunderts, RWB Bd. 5, 855, Art. Herrschaft. 38 Adam, Herrschaftsgefüge, passim. 39 Richard Schröder, Das Eigentum am Kieler Hafen, Zs. f. Rechtsgesch., germanist. Abt. 29 (1905), 341 ff.; Joseph Joachim Menzel, Jura ducalia. Die mittelalterlichen Grundlagen der Domanialverfassung in Schlesien (Würzburg 1964). 12 13 Herrschaft ÍH. 1. 'Herrschaft' in der frühen Neuzeit: Bedeutung und Gebrauch III. 1. 'Herrschaft' in der frühen Neuzeit; Bedentang and Gebrauch Herrschaft III. 'Herrschaft' von der frühen Neuzeit bis zur Französischen Revolution 1. Begriff, Bedeutung und Gebrauch In der frühen Neuzeit ist der Begriff 'Herrschaft' auf der Ebene des allgemeinen Sprachgebrauchs und der Wörterbücher immer noch weitgehend unbestimmt. Er steht für konkrete Rechtsverhältnisse ebenso wie für Abstraktionen der antiken politischen Theorie und der neuzeitlichen Staatsphilosophie. In die Bezeichnung konkreter Rechtsverhältnisse teilt er sich mit anderen Begriffen wie 'Herxschung*, 'Beherrschung', 'Gewalt', 'Gebiet', 'Gerichtsbarkeit', 'Regiment', 'Obrigkeit', 'Magistrat', mit denen er auch oft gemeinsam benutzt wird, oder er bedarf dazu einer Spezifikation wie bei 'Grundherrschaft', 'Landesherrschafť und 'Oberherrschaft'. Kein einzelner Begriff des Lateinischen oder der neueren Sprachen kann auch nur ungefähr als Äquivalent seines Bedeutungsnmfanges gelten; schon in den frühen Wörterbüchern und Übersetzungen kann er für eine ganze Anzahl verschiedener Begriffe stehen, im Lateinischen z. B. für: 'auctoritas', 'dignitas', 'ditio', 'domina-tus', 'dominium', 'impérium', 'iurisdictio', 'maiestas', 'potestas', 'principatns', 'terri-torium'. Im Französischen für: 'autoritě', 'domination', 'empire', 'juridiction', 'maitrise', 'pouvoir', 'puissance', 'seigneurie', 'souveraineté', und entsprechend im Englischen für: 'authority', 'commanď, 'dominion', 'empire', 'lordship', 'ma-norial estate', 'mastery', 'reign', 'rule', 'sovereignty', um nur die wichtigsten zu nennen, Neben dieser Fülle von Synonymen und Äquivalenten steht als weitere Schwierigkeit die Tatsache, daß die Enzyklopädien der Staats- und Sozialwissenschaften des 19. Jahrhunderts diesen Begriff meist aussparen und nur auf andere Stichworte verweisen, unter denen Teile seines Inhalts behandelt werden. Das hat zum Teil seinen Grund ebenfalls darin, daß 'Herrschaft' zu unspezifisch ist oder noch nicht die abstrakte Allgemeinheit besaß, die sie zu einem Grundbegriff der politischen Theorie und zu einem soziologischen Universale hat werden lassen, mit dessen Hilfe sich alles gesellschaftliche Handeln zwischen subordinierten Personen oder Gruppen beschreiben läßt. Die Mehrdeutigkeit von 'Herrschaft' stammt aus der mittelalterlichen Bedeutungsvielfalt des Begriffs, wo er u. a. die Herrengewalt über Haus und Gefolgschaft, auch die Anwendung dieser Gewalt in einem räumlichen Bereich und dabei den Ausübenden sowohl wie das Gebiet seiner Hoheitsrechte bezeichnen konnte. Kaum unterschieden und oft als zusammengehörig betrachtet werden Herrschaft über Sachen (Eigentum) und Herrschaft über Personen (Gewalt). Die mehr oder weniger ausführlichen Aufzählungen der frühen Wörterbücher erlauben kaum Schlüsse auf den Sprachgebrauch, sondern lediglich auf die Entwicklung der lexikographischen Technik und auf die Sorgfalt der Darstellung. Synonyme und Äquivalente, die sich unter dem Stichwort selbst nicht finden, sind häufig unter verwandten Begriffen und in nicht systematisch geordneten Beispielsätzen aufgeführt. In den variierenden Zuordnungen der Synonyme zu den Äquivalenten in mehrsprachigen Wörterbüchern dürfen vor der Mitte des 18. Jahrhunderts kaum je definitorische Klärungen vermutet werden, obwohl solche Arbeiten seit dem 15. Jahrhundert in Werken wie Lorenzo Vallas „Elegantiae linguae latinae" geleistet wurden. Vielmehr handelt es sich bei diesen meist praktisch orientierten Wörterbüchern um die Berücksichtigung unterschiedlicher Kontexte und sprachlicher Situationen40. Der Sprachgebrauch gleichzeitiger Autoren wird von ihnen nur ungenügend registriert, so daß sich weder der Bedeutungsgehalt in zeitgenössischen Werken aus ihnen erschließen läßt, noch in der Entwicklungsreihe der Wörterbücher der Prozeß des politischen Denkens in der frühen Neuzeit ablesbar wird. Adelung versucht als erster eine systematische Ordnung der vorher variabel und oft gegensätzlich verteilten Äquivalente fremdsprachlicher Begriffe, allerdings um den Preis der Zuordnung zu anderen Sprachen. Er unterscheidet ein Abstraktum im Singular, die Gewalt, andern zu befehlen, von dem er die Prognose wagt, daß es zu veralten anfängt, sowie die Gewalt, Sachen als Eigenlhum zu gebrauchen, und ein Konkrétum, das entweder die Personen bezeichnet, welche in einem Land, Ort oder der Familie die Herrschaft auaüben, oder das Gebiet, über welches jemand Herr ist*1. Campb strafft den Artikel etwas, erweitert aber die Definition des abstrakten Begriffs um die Macht, die Befugnis des Herren, d. h. die Macht, Gewalt, andern zu gebieten, von ihnen seinen Willen als Gesetz befolgen zu lassen, und, wenn der Gegenstand eine Sache ist, die Macht, sie als sein Eigenthum nach Belieben zu gebrauchen^. Insgesamt ist Adelungs Systematik noch für die jüngsten lexikalischen Arbeiten wegweisend. Die sprachwissenschaftlich orientierten Wörterbücher von Heyse (1833) und Sanders (1876) verkürzten sie nur, Definitionen und Beispiele blieben im wesentlichen dieselben, wie auch Scheidlers Artikel im Ersch/Gruber sich wörtlich an Adelung anlehnt43. Grimms „Deutsches Wörterbuch" ergänzt die nur bis ins frühe 18. Jahrhundert belegte Bedeutung würde, vornehme Stellung, vereinfacht im übrigen Adelungs Einteilung, ändert aber die Reihenfolge, indem es das räumliche Konkrétum dem personalen vorangehen läßt44. Das „Deutsche Rechtswörterbuch" (i960) geht in Anlehnung an Heyse von der frühen Bedeutung aus, folgt dann aber Adelungs Systematik, die rechtshistorisch differenziert wird, vereinzelt auftretende Bedeutungen dazu erhält, aber keine Veränderung der kategorialen Bestimmungen erfährt45. Kaum einen Hinweis geben die Wörterbücher darauf, daß 'Herrschaft' kritisierbar wird, sobald sie aus dem Bereich der natürlichen und natürlich sich ablösenden Altersrelation (senior — signoria — seigneurie) und dem Bereich des Hauses (domus — dominus — dominatio) übertragen wird auf die Herrschaft über Menschen, die tich als frei verstehen. Die Argumente dazu stehen zu Beginn der frühen Neuzeit bereit. Sie stammen aus verschiedenen Bereichen. Einmal ist es die Freiheit des Bürgers antiker Republiken, der selbst alternierend an der Regierung der Polis teilhat und keinen Despoten oder Tyrannen über sich duldet, oder wie in Rom nach dem Sturz des Königtums ein System der Gewaltbeschränkung entwickelt und selbst in der Zeit der Kaiser noch zwischen dem Amt des Fürsten und der Stellung eines " Vgl. die Anm. 226ff. 11 Adelung Bd. 2 (1775), 1133f., a. v. Herrschaft. 12 Campe Bd. 2 (1808; Ndr. 1069), 657, 8. v. Herrschaft. 13 Heyse Bd. 1 (1833), 705f., s. v. Herr; Daniel Sanders, Wörterbuch der deutschen Sprache, Bd. 1 (Leipzig 1860), 749f., s. v. Herrschaft; Karl Hermann Scheidler, Art. Herrschen, Herrschaft, ErsCh/Gkuber 2. Sect., Bd. 7 (1830), 37f. 14 Grimm Bd. 4/2, 1152f., s. v. Herrschaft. 45 RWB Bd. 5, 854ff., Art. Herrschaft. 14 15 Herrschaft III. 1. 'Herrschaft' in der frühen Neuzeit: Bedeutung und Gebrauch III. 1. 'Herrschaft' in der frühen Neuzeit: Bedeutung und Gehrauch Herrschaft Herrn unterscheidet. Bodin und noch Rousseau werden zustimmend Plinius' Wort an Trajan zitieren: Principis sedern, obtines, ne sit domino locus*6. Damit wird nicht nur rechtlose Willkür und Unterdrückung abgewiesen, sondern die grundlegende Unterscheidung getroffen zwischen der (staatsrechtlichen) Herrschaft über freie Menschen und dem (privatrechtlichen) Verfügen über Unmündige und Sachen; die Staatsgewalt kann der Regierende entsprechend nicht als Eigentümer innehaben', sondern nur als Amtsträger, dessen Machtbefugnis vom Volk verliehen ist. Mit diesen Begriffen konnten Vorstellungen aus ganz anderen Bereichen verbunden werden, solche von deutschTechtlicher Freiheit und germanischem Wahlkönigtum oder naturrechtliche. Konstruktionen wie die geniale Entwicklung der Volkssouveränität bei Nicolaus Cusanus". Hier ist die Freiheit des Bürgers im politischen Gemeinwesen der leitende Gesichtspunkt. Seit sich in der Spätantike die Bedeutung des öffentlichen Lebens verringert, entwickelt sich mit stoisch-epikuräischen ebenso wie mit christlichen Vorstellungen ein Begriff individueller Freiheit. Und damit verändert sich auch die Bedeutung politischer Herrschaft: ist sie den einen als Garant äußerer Sicherheit ein notwendiges Übel, sonst aber nur ein zufälliges Gebilde innerhalb der durch Vernunft und Sittlichkeit verbundenen menschlichen Gemeinschaft, so ist sie den anderen Verkörperung des Bösen, denn nicht von Natur aus, sondern nur der Sünde wegen herrschen Menschen über Menschen, und die christliche Gehorsamspflicht hat ihren Sinn in der Erwartung des Endes aller Herrschaft, sie gilt nur vorläufig: donec Iranseat iniquilas, et evacuetur omnis prineipatus et potestas humana, et sit Deut omnia in omnibusia. Die politischen Auseinandersetzungen der Neuzeit gewinnen ihre Dynamik nicht zuletzt aus diesem Potential verschiedener und in sich gegensätzlicher Argumente, die sich unterschiedlich verbinden können, sich aber jeweils an den realen Institutionen und ihrer Praxis messen. 'Herrschaft' hat aber nicht nur ein Regulativ in der naturrechtlichen Freiheit und Gleichheit, in den Versuchen, die faktische gesellschaftliche Ungleichheit der Stände oder Klassen auszugleichen oder zu beseitigen, sondern 'Herrschaft' kann insgesamt in Frage gestellt werden. Die Absicht, Herrschaft zu mildern und einzuschränken zugunsten größerer politischer Freiheit des Bürgers, hat zwei mögliche Richtungen, Einmal kann sie Herrschaft absolut setzen und damit neutralisieren um der individuellen Freiheit willen. Zum anderen kann Herrschaft als unvereinbar mit der Bestimmung des freien Menschen erscheinen und deshalb ihre Aufhebung eschatologiseh erwartet oder hier und jetzt ins Werk gesetzt werden. In diesem Bedeutungsfeld muß 'Herrschaft' gesehen werden, denn nicht erst in revolutionären Krisen, sondern gleich zu Beginn der Neuzeit bezeichnet sie, neben den überlieferten Rechten und Pflichten des Hausvaters oder eines jeweiligen Her- '■ Plinius, Panegyricus Traiano Imperátori dictus 55, 7; vgl. Bodin, Les six livres de la République 2, 3 (Paris 1583; Ndr. Aalen 1961), 279; Rousseau. Discoura sur ľorigine et les fondemens de ľinégalité pármi les hommea (1755), Oenvres compl., t. 3 (1964), 181. i7 Nicolaits CiJSANUS, De concordantia catholica 2, 14 (1433), Opera omnia, t. 14/1, ed. Gerhardus Kallen {Hamburg 1968), 162ff.; vgl. ebd. 3, 41 (p. 460ff.). í8 Atiot/sTiNus. De civitate Dei 19,15. ren, auch schon den Sachverhalt unberechtigter Gewalt und Unterdrückung, den im Lateinischen nicht 'impérium' oder 'dominium', sondern 'dorainari', 'dominatio' ausdrücken. Daß die frühen Wörterbücher und die Lexika und Enzyklopädien der Epoche von 1775 (Adelung) bis 1830 (Ersch/Gruber) dem kaum Rechnung tragen, und das im Gegensatz zum wirklichen Sprachgebrauch ihrer Zeit, ist ein Faktum, das selbst der Interpretation bedarf. Diesseits der Zensur wird dabei eine Ansicht des politischen Zustandes vor allem Deutschlands verlängert, die zunächst zutraf: Im Deutschen Reiche ist die machthabende Allgemeinheit, als die Quelle alles Rechts, versekwunden, weil sie sich isoliert, zum Besonderen gemacht hat19. Diese schon vergangene Welt war eine Beschränkung auf eine ordnungsvolle Herrschaft über sein Eigentum, ein Beschauen und Genuß seiner völlig untertänigen kleinen Welt, und dann auch eine diese Beschränkung versöhnende Selbstvernichtung und Erhebung im Gedanken an den Himmel51'. In den Wörterbüchern noch des 19. und 20. Jahrhunderts lebt diese Ansicht fort. Das personale und das räumliche Konkrétum 'Herrschaft' werden — wenn überhaupt — als langsam veraltend, bis in die Gegenwart registriert, das Abstraktum wird nach Ausweis der Belege vorwiegend in figürlichem Sinne gebraucht, was Adelungs Prognose zu bestätigen scheint51. Und für die Rechtssprache ist es ein unklarer Sammelbegriff aller Rechte und Verbindlichkeiten der höchsten Gewalt12, der in den wichtigsten Enzyklopädien und juristischen Handbüchern nicht eigens abgehandelt wird, sondern nur zum Verweis auf eine Reihe anderer Begriffe dient. Zu diesen Begriffen gehört nicht 'Gewalt', als welche 'Herrschaft' doch regelmäßig definiert wird, und auch nicht 'Macht', die seit Campe häufig definierender Begriff ist53, und auch nicht die in den Beispielen von Adelung synonym gebrauchte 'Regierung'54. Vielmehr sind es 'Landeshoheit' ('Oberherrschaft', 'Oberherrlichkeit') und, in Schbidemantels „Repertorium" (1783) wie in der „Deutschen Encyclopä-die" (1790) fast gleichlautend, 'Dominium', 'Territorium', 'Majestät', 'Dynastie' und 'Gerichtsbarkeit'. Mit dem Ende des alten Reiches verlieren sich die beiden Begriffe 'Dominium' und 'Territorium', die ein Jahrzehnt später nicht einmal mehr als Fremdwörter registriert werden55. Es gibt Verweise auf 'Gesinde', keine jedoch auf komplementäre oder antonyme Begriffe wie 'Freiheit', 'Knechtschaft' usw. Freilich wird eine zunehmende Kritik an 'Herrschaft' in den Artikeln über 'Knechtschaft' dem Leser vermittelt56. 13 Hebel, Die Verfassung Deutschlands (1800/1802). Einleitung (1799/1800), Werke, hg. v. Eda Moldenhauer u. Karl Markus Michel, Bd. 1 {Frankfurt 1971), 459. 5I> Ebd., 458. 51 Vgl. Ruth Klaffenbach / Wolfgano, Steinitz, Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache, Bd. 3 (Berlin 1969). 1805f., s. v. Herrschaft; Hermann Paul, Deutsches Wörterbuch, 5. Aufl., hg. v. Werner Betz (Tübingen 1966), 308, s. v. herrlich, Herrschaft. 52 Scheidler, Art. Herrschen, Herrschaft, 29. J1 Campe Bd. 2, 657, s. v. Herrschaft. 54 Adelung Bd. 2, 1133. 8. v. Herrschaft. 55 Vgl. SciraiDEMASTTCL Bd. 2 (1793), Art. Herrschaft; Dt. Enc, Bd. 15 (1790), 285ff., Art. Herrschaft; ferner Schulz/Basler (1913; 1942), wo die Begriffe fehlen. 58 s. u. Abschn. III. 8. 16 17 Herrschaft til. 2, 'Herrschaft' im 16. Jahrhundert n) MachiaTelli Herrschaft Das semantische Feld erweitert sich, wenn man etwa aus Cämpes „Verdeutschungswörterbuch" diejenigen Begriffe heranzieht, zu deren Übersetzung 'Herrschaft? in meist negativen Wortverbindungen gebraucht wird. So für Aristocrat: Herr-scherling, für Democratie u. a. Volksherrschaftbl. Despotismus ist der willkürliche Gewaltsgebrauch, die willkürliche Herrschaft, die Zwing- oder Zwangsherrschaft, die Gewalt- oder Gewatisherrschaft. Man kann beides sagen, jenes für Herrschaft durch Zwang oder Gewalt, dieses für Herrschaft des Zwanges oder der Gewalt. Dominium: das Herrschafts- oder Eigenthumsrecht; das Eigenthum.. Geradezu synonym ist nur Regiment: die Herrschaft, die Staatsverwaltung. In der Erklärung von Souverainete findet sieh neben die oberste oder unbeschränkte Staatsgewalt, mit einem Worte, die Obergewalt oder Oberstaatsgewalt ... Oberherrlichlceit . Machtvollkommenheit . .. GrundgewaÜ auch Herrsehergewalt (besser Herrschgewalt)5*. Für Terrorismus steht Herrschaft des Schreckens oder durch Schrecken; also ii? Schreckensherrschaft, und schließlich für Tyrannei: die Herrschwut, gelinder, die Herrschsucht und die Zwangsherrschaft.. . die Alleinherrschaft. Der politische Gehalt des Begriffs läßt sich auf der Ebene der Wörterbücher so nur auf indirektem Wege erschließen. Festzuhalten bleibt die politische Zurückhaltung nicht nur gegenüber den Kämpfen, sondern auch den Diskursen, die zu dieser Zeit um die Verfassung und den Wechsel der Herrschaft und um ihre Berechtigung überhaupt ausgetragen wurden. Es kennzeichnet die Lage zwischen Revolution und Restauration, daß das politische Begriffsfeld sich nur auf dem Umweg der oft wenig glücklichen Übersetzungsversuche romantischer Puristen erschließen läßt. Methodisch folgt daraus, daß die Wörterbücher als eine sekundäre Quellengattung kontrastiert werden müssen mit dem Sprachgebrauch, der aus den Texten zu erarbeiten ist. 2. 'Herrschaft' im 16. Jahrhundert a) MachiarelH. Im Vergleich mit der staatsrechtlichen und politischen Literatur der vorausgegangenen Zeit betreten wir hier völlig neuen Boden. Ist das Verlassen einer toten Sprache allein schon der wichtigste Schritt im Entwicklungsgange der Sprachen"0, so ist das Bewußtsein, mit welchem Machiavelli seine Vorstellungen begrifflich gestaltet, vorher nicht zu finden und ebensowenig die schroffe Unbekümmertheit um die geschichtlich gewordenen Institutionen und Gesetze der westeuropäischen Länder seiner Zeit. Zudem ist er völlig frei von kirchenrechtlichem Denken, in dessen Rahmen die staatsrechtlichen Lehren des Mittelalters entwickelt wurden, unter ihnen gerade auch die modern anmutenden, die erst durch die Übertragung aus dem sakralen Bereich revolutionierende Konsequenzen für die Auffassung der Staatsgewalt gewannen. « Campe, Fremdwb., 2. Aufl. {1813; Ndr. 1970), 125, s. v. Aristocrat; vgl. ebd., s. v. Aristocratie: Adelherrschaft, Herrschelei; ebd., 253, s. v. Democratie, 58 Ebd., 258, s. v. Despotismus; ebd., 272, s. v. Dominium; ebd., 523, s. v. Regiment; ebd., 562, b. v. Souverainete. 69 Ebd., 585, s. v. Terrorismus; ebd., 597, s. v. Tyrannei. " Wilhelm v. Humboldt, Über die Verschiedenheiten des menschlichen Sprachbaus I, § 10 (1827/29), AA Bd. 6 (1907), 123. Fragen wir, methodisch rückblickend, für welche Begriffe Rehberg in seiner Übersetzung des „Principe" von 1810 'Herrschaft' einsetzen kann, so finden wir deren vier: 'imperio', 'prineipato', 'stato', 'dominio'. Sie alle treten gleich im ersten Satz des Werkes auf, wo sie im Deutschen natürlich differenziert werden müssen. Tutti li stati, tutti e' dominii che hanno avuto e hanno imperio sopra li uomini, sono stati e sono o republiche o prineipati*1. Bei Rehbebg : Alk Staaten und Gewalten welche Herrschaft über die Menschen gehabt haben, sind Republiken oder Fürstentümer ge-wesenta. Im Latein des 16. Jahrhunderts: Quaecunque fuü unquam, aut est imperandi ratio, qua homines hominibus dominari consuevere, ea, aut Respublica aut prineipatus appeUatur63. 'Stato' und 'dominio' bezeichnen hier die Herrschaftsweise, 'imperandi ratio', an anderen Stellen die Wahrung der Herrschaft, aber auch objektiv das beherrschte Reich64, 'imperio' die Ausübung der Herrschaft und die Herrschersteilung wie 'prineipato', daneben das alte wie das neue Römische Reich und das kaiserliche Ansehen65, 'prineipato' auch das Fürstentum und 'dominio' schließlich außer der genannten Bedeutung emphatisch die schmachvolle Gewaltherrschaft: questo barbaro dominiom. Die beiden, in der Antike gewöhnlich strikt unterschiedenen Begriffe 'impérium' und 'dominium', „Befehlsgewalt" bzw. „Eigentumsrecht", die im Mittelalter heftig umkämpft waren und in kurialistischem ebenso wie in deutschrechtliehem Zusammenhang vermischt werden konnten, treten hier klar auseinander: 'imperio' hat neutralen Sinn, 'dominio' daneben den negativen einer Herrschaft, die nicht sein soll, wie die fremder Herrscher über Italien; 'imperio' wird nur subjektiv gebraucht, 'dominio' subjektiv und objektiv. Sachlich gliedert sich das Begriffsfeld in Fürstenherrschaft und republikanische Herrschaft. Dabei gehört letztere, von Machiavellis Blickpunkt aus gesehen, wesentlich der Vergangenheit an, obwohl sie die vorzüglichere ist, was die Entfaltung der menschlichen Fähigkeiten, aber auch Sicherheit und Dauer betrifft, ganz zu schweigen von Würde und Freiheit. Aber zu seiner Zeit gibt es kein kraftvolles Beispiel ihrer Gattung mehr, und er muß ihre Gesetze an der Frühzeit Roms darstellen. Die prägende Erfahrung seiner Gegenwart ist der unaufhörliche Wechsel von Herrschaften, ihre Unbeständigkeit, die fortwährende Gefahr von Umsturz, Aufruhr, Eroberung und Fremdherrschaft. Gegen dieses Chaos der italienischen Staaten, in weichem zwar Kunst, Wissenschaft und Handel blühen wie nie zuvor, empfiehlt er als Gewaltkur die Fürstenherrschaft, deren Regeln er im „Principe" zur gleichen Zeit verfaßt wie die längerfristig besseren der republikanischen Herrschaft in den „Discorsi". In dieser Zeit, die er wie kein anderer begreift und zu deren Nutzen er schreibt, sind Legitimation von Herrschaft, Abgrenzung von geistlicher und welt- " Niccolo Machiavelli, II Principe 1 (1513), ed. Giuliano Procacei e Sergio Berteiii (Mailand 1960), 15. 83 Dere., Das Buch vom Fürsten 1, dt. v. August Wilhelm Rehbero (Hannover 1810), 57. " N. Machiavelli, Princeps, ex SyIvestriTeliiPulginatis traduetione diligenter emendatus (o. O. 1589), 1. ** Ders., Principe 20 (p. 85); 24 (p, 97). *" Ebd. 12 (p. 57f.), " Ebd. 26 (p. 105). 18 19 Herrschaft III. 2. 'Herrschaft' im 16. Jahrhundert Herrschaft licher Gewalt, Zuerkennung der Souveränität und andere Probleme, die vor und nach ihm das Staatsrecht beschäftigen, gegenstandslos. Das erlaubt ihm, von rechtlichen und institutionellen Fragen abzusehen und in klaren Gesetzen die Mechanik der Macht zu formulieren. Indem er Herrschaft als Faktum voraussetzt, kann er den Wechsel ihrer Formen im Anschluß an Polybios beschreiben und der Typik ihres Verlaufes Handlungsmaximen zu seiner Beeinflussung entgegensetzen. Diese Methode eröffnet ihm dialektische Einsichten, die sich den naturrechtlich konstruierenden Denkern der folgenden Zeit verschließen: daß z. B. die Freiheit des Volkes den Privilegienträgern als ihre eigene Knechtschaft erscheine, die sie auf jede Weise zu verhindern suchen67; daß die Kirche es sein kann, die — wie in Italien — als weltliche Gewalt die staatliche Einheit verhindert und die Eeligion selbst zerstört69; daß das Prinzip monarchischer Erbfolge die dadurch beabsichtigte Dauer öffent-. Hoher Sicherheit gefährdet, während die Übereinstimmung eines Volkes sie auch über Umsturzversuche hin gewährleisten kann69. Herrschaftsvertrag, Gewaltübertragung und Volkssouveranität können in diesem Denken keinen Platz finden, das allein darauf abzielt, die Chancen relativer Dauer der öffentlichen Einrichtungen zu ergründen, mit welchen die Bürger eines Staates im Innern die stets bedrohte Freiheit kämpfend behaupten und nach außen Macht erwerben können70. Die unabhängige Analyse seiner Gegenwart und das planvolle historische Studium bilden mit der Fähigkeit, diese Erfahrungen als Gesetze zu formulieren, eine Instanz politischen Denkens, dessen jahrhundertelange Perhorreszierung nicht verhindern kann, daß alles spätere an ihm zu messen ist. b) Herrschaftsbegriffe im reformatorischen Deutschland. Die deutsche Situation unterscheidet sich nicht nur dadurch grundlegend von der italienischen, daß der rasche Wechsel von Herrschaften und der Kampf verschiedener Parteien oder Klassen um sie unbekannt war und daß die veränderte Kriegstechnik sowie soziale Unruhe erst mit einer gewissen Verspätung auftraten, sondern auch dadurch, daß nirgendwo ein Ort scharfsichtiger Analyse gegeben zu sein schien, der alternative Möglichkeiten des Handelns zu formulieren erlaubt hätte. Das Fehlen eineT Theorie nötigt dazu, aus den verschiedenen und gegnerischen Mahnungen und Forderungen zusammen den vollständigen Begriff'Herrschaft'in dieser Zeit zu entwickeln. Erasmus von Rotterdam versucht im GeiBte des Humanismus, die antik-republikanischen Anschauungen' mit dem Bild des christlichen Fürsten zu versöhnen. Zum ATgumentationähaushalt gehörte, mit Bezug auf Aristoteles, die Rechtfertigung von Herrschaft aufgmnd natürlicher Überlegenheit, ungeachtet der naturrechtlichen Gleichheit, In einer zeitgenössischen Paraphrase: Eben die Uut, so da vor andern eyn wachem verstand habend, die seind von natur Herren über andere manschen71. Es ließ sich aber doch unterscheiden, was berechtigtes Herrschen (imperare) *7 Ders., Discorsi sopra la prima deca di Tito Livio 1, 16 (1513/17), ed. G. Procacci e S. Berteiii (Mailand 1960), 173ff. 88 Ebd. 1, 12 (p. 163ff.). « Ebd. 1, 10 (p. 158f.); vgl. ebd. 1, 58 (p. 240f.); 3, 7 (p. 412f.). '» Ebd. 1, 1 (p. 125ff.); 1, 58 (p. 240f.); 2, 33 (p. 345ff.); 2, 1 (p. 275ff.)j 2, 9 (p. 300ff.). 71 Dakte Alighieki, Monarchey Oder Dasz das Keyaerthumb zu der Wolfart diser Welt von nöten (Basel 1559), H; Aristoteles, Politik 1255a, ■i sei und was unberechtigtes (dominari). Bei qualitativer Differenz ist die Subordination auch naturrechtlich begründbar, und die Einigkeit schien so groß, daß ein 3: . AufsusTlNUS-Referat sich in die Cicero-Ausgaben einschleichen konnte: Cur igitur 53? deus homini, animus imperat corpori, ratio libidini ... ei ceteris vitiosis animi parti- * i-ws™. Die Schwierigkeit beginnt bei dem republikanischen Abscheu vor der Königs-i herrschaft: Desunt omnino ei poplilo multa, gui sub rege est, in primisque liberta», ; guae non in eo est, ut iusto vtamur domino, sed ut nullo73. Es ist denkwürdig, daß Rrasmus diesen Gedanken in einer Fürstenlehre entwickelt und nicht nur 'domi-; nium', dem die deutschrechtliche 'Herrschaft' entspricht, sondern auch 'impérium' * als unchristlich ablehnt und die Begriffe nur nennt für etwas, das christlich ver-A wandelt werden müsse: Cogitato semper dominium, impérium, regnurn, maiestatem, % potentiam, ethnicorum esse vocabula, non Christianorum. Christianům impérium nihil \ aliud esse quam administrationem, quam beneßcentiam, quam, custodiam. Die zeit-4 genössische Übersetzung: Gedenck allweg, das dise namen herrschaft, rych, regierung, i| maieslat, gwalt wörtlin sind, die den heyden zu gehören, nit Christen. Ein Christeliche i| regierung und gepyet, ist nüt anders, dann ein pflog, ein guthat, ein huť74. Das ent-if spricht zwar weitgehend der antik-römischen Selbatdarstellung: Also mochte das l Römisch Reich vil warlicher ein besehirmung des gantzen erdtrichs, dann ein gewaltige if hersehung genant werden7*. Und nicht der Bibel, sondern Xenophons Ökonomie ent-4 stammt das Ideal, mit dem noch Hegel das Perikleische Zeitalter verklären wird: ^ divinum imperare liberis ac volentibus, das es meer gütlich sy, dann menschlich, zu \ herschen über die fryen und willigen7^. Gäbe es eine christliche Staatslehre, die nicht il diese Welt verneinte und entwertete, so würde sie auf diesen Prinzipien aufbauen. \ Wenn Luther einen eigenständigen Beitrag zut Staatslehre geliefert hat, dann i liegt er — anders als seine Apologeten denken — darin, daß eine christliche Politik \nicht möglich ist: Es ist kein ampt so Hein, es ist hengens werd. Göttlich und reckt sind die ampt, beide der Fürsten und Amptleute, aber des Teufels sind sie gemeiniglich, die drinnen sind und brauchen . . . Das macht die böse, verderbte natur, die gute Tage nicht tragen han, das ist, sie kan ehre, gemalt und herrschafft nicht Göttlich brauchen77. I ■Selbstverständlich ermahnt er die Fürsten, nach Möglichkeit gut zu handeln: Welcher nu eyn Christlicher fürst sein will, der muß warlich die meynung ablegen, das er Hirschen und mit gewallt faren wolle. Denn verflucht und verdampf ist alles leben, das yhm selb zu nutz und zu gutt gelebt und gesucht wirt, verflucht alle werde, die nit ynn der liebe gehen73. Weltliches Gesetz kann nicht positiv begriffen werden, es ist allem um der Sünde willen da: Haec tria, lex, peccatum, mors sunt inseparábilia™. 72 Cicero, De re publica 3, 24; Augustinus, De civitate Dei 19, 21. 's Cicero, De re publica 2, 23. j " Erasmus von Rotterdam, Institutio prineipis Christiani (Basel 1517), DiijT; ders., Ein ^ nützliche underwisung eines Christenlichen fürsten wol zu regieren (Zürich 1521), XXIIIr. :| ; " Cicero, Ofiicia, Teutech: Des Fürtreflichen, hochberülimpten Römischen Redners Í . Marci Tullij Ciceronia drey Bücher an seinen Sohn; von Gebührlichen Wercken .. • (Er&nk-I : . ftirt 1565), 89; vgl. ders.. De officis 2, 6. I 76 Erasmus, Nutzliche underwisung, XXIIir; vgl. die Widmungs-,.Epistel". í 37 Luther, Auslegung des 101. Psalms (1534/35), WA Bd. 51 (1914), 254. - '8 Ders., Von weltlicher Oberkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei (1523), WA IM. 11 (1900), 271 f. 79 Ders., Quinta disputatio contra Antinomos (1538), WA Bd. 39/1 (1926), 354. 20 21 Herrschaft til. 2. 'Herrschaft* im Ii. Jahrhundert c) Calvinis tische BejrrifFsbilduug Herrschaft Und ist das Amt zwar unantastbar, wenn auch jeglichem Mißbrauch ausgesetzt, so kann umgekehrt die Integrität des Amtsträgers nicht die Heillosigkeit seines Handelns verhindern: Ein Fürst Jean wol ein Christen sein, aber als ein Christ mus er nicht regieren: und nach dem er regiret, heißt er nicht ein Christ, sondern ein Fürst. Die person ist wol ein Christ, aber das ampt odder Furstenihumb gehet sein Christentum nicht am80. Luther ist überzeugt, daß die Gesetze der Politik in der Antike erkannt und besser als je angewendet wurden; das Christentum, das von ihnen gar nicht betroffen wird, kann sie auch nicht vervollkommnen: Weil Gott den Heiden oder der vernunfft hat wollen die zeitliche herrschafft geben, hat er ja auch müssen leute dazu geben, die es mit Weisheit und mut, dazu geneigt und geschieht weren und erhielten*1. Der Begriff 'Herrschaft' wird im Gegensatz zu'Oberkeit' und 'Regiment'in negativem Sinn gebraucht und kann „Unterdrückung" bedeuten: Vnnd wer vergeblich ding, so ein priitat person auß Teutschland wold Jn Franckrich lauffen, den armen Christen rettung da zuthun wider die herschaffe. Dagegen verherrlicht er die neutraleren Begriffe für 'Gewalt' in einer auch für seine Zeitgenossen fast unbegreiflichen Weise, nachdem er einmal die Partei des Adels und der Fürsten ergriffen hatte: Denn ich mich schier rhtimen möchte, das sint der Apostel zeit das weltliche schtverd und oberheit nie so klerlich beschrieben und herrlich gepreiset ist . .. als durch mich*3. Verwendet er 'Herrschaft' in allgemeinem Sinn, so versteht er sie vorzüglich im Rahmen der Landesherrschaft. Reichsrechtliche Gesichtspunkte liegen ihm ferner. Fremd sind ihm die im spätmittelalterlichen Kirchenrecht und in den westeuropäischen Staaten entwickelten Konstruktionen der Gewaltbeschränkung und Volkssouveränität. Eine über sein Territorium reichende Verantwortlichkeit des Fürsten bestreitet er mit der Begründung: so werden alle Herrschafften eine Herrschafft, und ist eitel confusiou. Dabei kann er zur Anprangerung von Mißständen zu Beginn der Bauernunruhen und solange sie vorwiegend auf geistliche Territorien begrenzt sind, Worte finden, die denen Thomas Müntzers sehr ähnlich sind: Denn das sollt yhr wissen, lieben herrn, Gott schaffts also, das man nicht kan noch wll, noch soll ewr wüeterey die lenge dulden**. Milton wird sie in eine Tradition protestantischer Fürstenkritik einzureihen versuchen88. Im Moment der Entscheidung kann Luther noch schwanken und den geistlichen Herrschaften drohen: Und wenn ich lust hefte, mich an euch zu rechen, so möchte ich itzt ynn die faust lachen und den 80 Ders., Wochenpredigten über Matth. 5—7 (1530/32), WA Bd. 32 (1806), 440. 91 Ders., Auslegung des 101. Psalms, WA Bd. 51, 243. 82 Ders./melanchton an Kurfürst Friedrich u. Landgraf Philipp, 21, 11. 1542, WA Br., Bd. 10 (1947), 194. 83 Luther, Ob Kriegaleute auch ynn seligem stände seyn künden (1526), WA Bd. 19 (1897), 625. 84 Bedenken Luthers an Kurfürst Johann Friedrich aus dem Jahre 1532, zit. Friedrich Hortleder, Der Römische Keyser und Königlichen Majestäten ..., [Bd. 1] (Frankfurt 1617), 1223. 85 Luther. Ermanunge zum fride auff die zwelff Artickel der Bawrschafft ynn Schwaben (1525), WA Bd. 18 (1908), 294. M John Milton, The Tenure of Kings and Magistrats (1649), Works, ed. Frank Allen Patterson, vol. 5 (New York 1932), 46. baxrren zu sehen oder mich auch zu yhnen schlahen und die Sachen helffen erger machen*''. Die Auseinandersetzung polarisiert die Gegner anders, und welcher Partei Luther zuneigte, hat Müntzer später mit Bezug auf den Wormser Reichstag drastisch formuliert: So du zu Worms kettest gewancht, werest du ee erstochen vom Adel worden, dann loß gegeben, weiß doch ein yederu. Keine protestantische Staatslehre hat Luther begründet, eher eine frühe absolutistische vorbereitet. Deutlicher als seine Verteidiger hat das Bossuet erkannt, der gegnerische Historiker der Reformation und selbst absolutistischer Staatstheore-tiker". Auf die Staatsethik einer Minderheit (Rom. 13) Prinzipien der Herrschaft zu bauen, kann nur auf die Schattenseite des Machiavellismus führen; nur eine unpolitische Ethik ist darauf zu errichten, wie sie der Jansenismus theologisch konsequenter entwickeln sollte und ohne die Gefahr, herrschende Doktrin zu werden. Das Problem von Luthers Wirkung liegt darin, daß er einerseits die Lehre Augustina von den zwei Reichen noch radikalisiert und andererseits den eigenen Parteistand-punkt mit allen theologischen Mitteln zu armieren versucht. Dieser Widerspruch konnte nicht fruchtbar werden und führte in die lutherische Orthodoxie, deren Starrheit und Unbeweglichkeit Melanchthon mit seinen ganz anderen, versöhnenden Absichten nicht zu lösen vermochte, sondern durch Systematisierung der Lehre wider Willen noch verfestigte. In einem nicht vermittelbaren Gegensatz standen jene aufständischen Bauern, die alle Herrschaft beseitigen wollten, quod intentio eorum fuerit omnem principátům et dominium extinguere*", und jene Reformatoren, die nur dadurch sich glaubten retten zu können, daß sie die Partei der bestehenden Herrschaft ergriffen. Zu spät bemerkten sie, daß bei diesem Bündnis die Landesherrschaften sich konsolidierten, ihr eigener sozialer und politischer Gehalt neutralisiert wurde. c) Calvinistische Begriffsbildung and der Einfluß des juristischen Denkens. Calvin unterscheidet sich nicht dadurch von Luther, daß er die Obrigkeit etwa nicht von Gott herleitete. Und das gilt für die Fürsten, die zur Strafe des Volkes veroiniuste et impotenter dominantur"1, ebenso wie für die Gerechten: omnes ex aequo saneta illa maiestate esse praeditos, qua legitimam potestatem instruxffl*. Aber er stellt sie doch unter die Herrschaft des Gesetzes. Seine Staatslehre ist nicht nur im Umkreis der neuen französischen Schule der historischen Rechtsinterpretation entstanden und weithin juristisch konstruiert. Sie ist mit dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit, mit der Gemeindeverfassung und ihren Aufsichtsfunktionen auch fähig, auf die Gedanken des Herrschaftsvertrags, der Repräsentativverfassung und der *' Luther, Ermanunge zum fride, 296. 88 Thomas Müntzer, Hochverursachte Schutzrede und antwort wider das Gaistlose Sanftlebende fleysch zu Wittenberg (1524), Polit, Sehr., hg. v. Carl Hinrichs (Halle 1950),99. Jacques Benigne Bossuet, Histoire des variations des églises protestantes, t. 1 (Paris 1688), 27ff. 10 J. Trithemics, Der Bundschuh zu Untergrombach (1502). Bericht von Zeugenaussagen der Gefangenen, Annales Hirsaugenses 2 (1690), 589ff., abgedr. Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges, hg. v, Günther Franz (Darmstadt 1963), 74, Nr. 16. " Calv-tn, Institutio religionis christianae 4, 20, 25 (1559), CR Bd. 30 (1864), 1112 " Ebd. 22 23 Herrschaft HJ. 2. 'Herrschaft* im 16. Jahrhundert n) Dialektik des Herrsehaftsfcegriffs Herrschaft Kontrolle der Staatsgewalt anregend zu wirken. Die Begriffsbildung ist genügend allgemein, um in der Folge für monarchische ebenso wie für republikanische Staaten: zu gelten, und da der Calvinismus sich nur in Ausnahmefällen mit der bestehenden Herrschaft identifizieren kann, so geht es darum, Rechte für die Minderheitenkonfession und für die ökonomisch fortgeschrittenen, an der Staatsgewalt jedoch noch kaum beteiligten Stände zu erwirken. Darin liegt ein durch Rückschläge nicht zu entkräftendes Potential der Veränderung. Die Argumente stammen aus dem germanischen Wahlkönigtum, aus dem Kirchenrecht, dem Naturrecht und antikem Repnblikanismus. Der Modeilfall ist immer der gleiche: Mißbrauch der staatlichen Gewalt durch den Herrscher, der sie nicht mehr zum öffentlichen Wohle, sondern willkürlich zum eigenen Nutzen ausübt. Sed (ut humam sunt omnia) statu rerum in peius prolabente, quod publicae utilitatis causa fuerat constitutum imperium, in superbam dominationem vertifi3. Das widerspricht nicht nur der Natur und der Bürgerfreiheit94, sondern auch ihrer gegenseitigen vertraglichen Verpflichtung: mutua igitur regi cum civibus est pactioss, durch welche das Volk sich keineswegs seines höheren Rechts entäußert: igitur cum lex sit rege, populus lege potentior9*. Körperschaftsrechtliche Begriffe erlauben es, das Volk in den Individuen als Untertanen, im Ganzen aber als Souverän zu verstehen: Ut singuli principe inferiores sunt: ita universi, et qui universos repraesentant, regni officiarii, principe superiores sunt"7. Und die ihn einzusetzen befugt sind, haben auch die Macht, ihn bei Gesetzesbruch abzusetzen98, de s'opposer ä l'oppression manifeste du Roiaume^. Denn der Vertrag ist ein „Bündnis", dessen Verpflichtung von seiner Erfüllung abhängt: In constituendo principe mtervenit joedus inter ipsum et populum, tacitum, expressum, naturale, vel etiam civile, ut bene imperanti bene pareatur10". Mit wechselseitigem Vertrag, Souveränität des Volkes als Ganzem und Widerstandsrecht sind wesentliche Bestimmungen des modernen Begriffs 'legaler Herrschaft' gefunden, die über Bodin und Hobbes hinaus auf Rousseau verweisen, d) Zur Dialektik des Herrschaftsbegriff». Gingen diese Staatstheoretiker aus vorn Mißbrauch der Macht, von der Tyrannei, so wagt La Boetie eine Kritik der Monarchie überhaupt. Das Übel liegt in der persönlichen Herrschaft: c'est un extreme malheur d'estre subiect a un maistre duquel on ne se peut jamais asseurer qu'il seit bon. 43 George Buchanan, De iure regni apud scotoa, dialogus (Edinburgh 1579; Ndr. Amsterdam 1969), 20. 14 Ebd., 53. ,s Ebd., 96. »« Ebd., 86. 97 [Stephant/9 It/ntus Brutus Celta ? Hubert Lanotjet ? Philippe nu Plessis Mornay ?], Vindiciae contra tyrannos, sive de präneipia in populum, populique in principem legitima potestate (o. 0. 1579), 214. 88 [Theodore de Beze], Du droit des magistrats sur leurs Sujets (o. O. 157S), 81. » Ebd., 35 100 [Celta ? Lanottet ? Morítay ?], Vindiciae contra tyrannos, 215. puis qu'il est Urusjours en sa puissance d'estre mauvais quand il voudra101, und das widerstreitet nicht nur der Freiheit als der Bestimmung des Menschen, sondern dem Prinzip des Öffentlichen: pource qu'il est malaise de croire qu'il y ait rien de public en ce qouverneme.nl, ou tout est a un10z. Erklärungsbedürftig ist aber nicht die Anmaßung autoritärer Befehlsgewalt, sondern die Tatsache, daß ihr Folge geleistet wird, das Rätsel, de voir un million d'hommes servir miserablement, aianl le col sous le long, non pas contrains par une plus grande force, rnais aueunement (ce semble) enehantes et charmes par le nom seul d'un, duquel ils ne doivent ni craindre la puissance puiS qu'il est seul, ny aimer les qualit.es puis qu'il est en leur endroit inhumain et sauvage103. Damit ist ein Gemeinplatz der Staatslehre angesprochen, älter noch als der Vergleich des Staates mit einem Organismus und ebenso tief verwurzelt: daß es ein Prinzip sei, von dem die Entstehung, Bewegung, Entscheidung oder Erkenntnis eines Dinges ausgehe und daß deshalb auch einer herrschen solle. Die Polysemie von ägxn („Prinzip" und „Herrschaft")104 mag dazu beigetragen haben, und das Motiv der Übertragung läßt sich in der Struktur des patriarchalischen Familienverbandes sehen. Die Faszination einer Metapher kann vielleicht die Verführung einiger Staatstheoretiker, aber nicht die wirkliche Unterwerfung, „Dienstbarkeit" oder, Hin Luthers Neuprägung zu gebrauchen, „Knechtschaft" ganzer Völker erklaren. Der Grund liegt auch nicht in der im Vergleich zum Volke geringen bewaffneten Macht zum Schutz des Herrschers und zum Erzwingen des Gehorsams. La Boetie versucht das Geheimnis der Herrschaft, le secret de la domination, soziologisch zu erklären: es ist der Apparat, die hierarchisch gegliederte Komplizensehaft, die Verstrickung in den Nutzen aus der Gewaltausübung und dem Machtmißbrauch, der die ganze Gesellschaft durchzieht, bis die Zahl derer, ausquels la tirannie semble estre profitable1''1', denen gleichkommt, die noch die Freiheit wollen. Denn wollten sie sie alle wirklich und wären entschlossen, nicht länger Sklaven zu sein, so wären sie auch schon frei106. Dieses überraschende Werk, dessen Wirkung symptomatisch in den revolutionären Situationen der Neuzeit festzustellen ist, und dessen Gedanken erst in den Soziologien der Herrschaft, bei Lorenz von Stein und Max Weber, eine systematische Behandlung finden werden, formuliert vorgreifend den Gehalt des politischen Denkens der Neuzeit; was von diesem Gehalt verwirklichbar zu sein schien nach den entsetzlichen Erfahrungen der ersten Religionskriege, versucht Bodin mit den Mitteln historischer und reehtsvergleichender Forschung zu sichern. 101 Ětienne de La Boétie, La discours de la servitude volontaire ou le contr'un (1574), éd. Pierre Leonard (Paria 1976), 104; vgl. meine Ausgabe: dera.. Von der freiwilligen Knechtschaft, hg. v. Neithard Bulst u. Horst Günther (Frankfurt 1980). 102 La Boetie, Discours de la servitude, éd. Leonard, 104. 105 Ebd., 105. 104 Vgl. Aristoteles, Metaphysik 5, 1, 1013a; zur Wirkungsgeschichte des Homerzitats (Ibas 2, 2, 204f.), von dem La Boetie, Discours de la servitude, 173f., ausgeht, schon Theophrast, Characteres 26, 2. 100 La Iíoiítie, Discours de la servitude, éd Leonard, 150. 152f. Ebd.. 116. 24 25 Herrschaft III. 2. 'Henwhaft' im 16. Jahrhundert t) Bodin» Antwort auf die Krise Herrschaft e) Bodins Antwort auf die Krise. Dabei ist es eine Gewalttat, die Bodin die konstruktive Geschlossenheit seiner Staatslehre ermöglicht. Die beiden wesentlichen Streitfragen, die nicht nur den Auseinandersetzungen seiner Zeit zugrunde liegen, sondern bis zur Französischen Revolution virulent bleiben, sehließt er völlig aus. Bs ist die Freiheit der Konfession und des Gewissens, die er, wie die Partei der „Politiques", nur pragmatisch, von der Einheit des Staates aus, betrachtet und als religiöses Problem politisch zu neutralisieren versucht, ähnlich wie es Luther tat. Dann ist es die Beteiligung der Stände an der Staatsgewalt und die Rolle des Adels, vor allem im. Falle der Regentschaft, die bewegende Frage der nationalen Geschichtsschreibung von Hotmans „Franco-Gallia" (1573) bis ins 18. Jahrhundert hinein. Bodins Standpunkt in der zeitgenössischen Politik entspricht der entwickelten französischen Magistratur, die sich einen unbestreitbaren, letztinstanzlichen Kompetenzträger wünscht. Er versucht, den überlieferten Stoff der Politik vorwiegend nach juristischen Gesichtspunkten zu gestalten. Sein Verfahren ist formal das von allgemeinen Definitionen aus ins einzelne gehende des Petrus Ramus, inhaltlich ein enzyklopädisches, das die universa Rerum publicarum historia107 einsichtig machen will und aufgrund der logischen ebenso wie der historischen Allgemeingültigkeit den auf das Perikleische Athen beschränkten Aristoteles hinter sich läßt und anders als Piatons Idealstaat oder Morus' „Utopia" es mit der Wirklichkeit selbst zu tun hat, de suyvre les reigles Politiques1™. Dabei kollidiert die naturrechtliche Voraussetzung freier und gleicher Individuen mit der entwicklungsgeschicht-lichen Ableitung der Staatsgewalt aus der Herrschaft der Hausväter. Unbefragt wird da eine absolute Gewalt vorausgesetzt: chacun ehef de jamille estoit soilvrrain en sa maison1"6. In einem Gemeinwesen verwandelt sich der Hausvater, sobald er gemeinsame und öffentliche Angelegenheiten behandelt, zum Bürger: alors ü despouiüe le tiltre de maistre, de chef, de seigneur, pour estre compagnon, pair et associe avec les autres: laissant sa famille, pour entrer en la oiti: et les affaires do-mestiques, pour traitter les publiques: et au Heu de seigneur, il s'appeüe citoyen110. Aber nicht als auf dem Wege friedlicher Übereinkunft entstanden, dürfe man sich das Gemeinwesen denken, sondern als nach kriegerischerllnterwerfung erzwungene: et celuy qui ne vouloit quitter quelque chose de sa liberte, pour vivre sous l-es loix, et commandement d'autruy, la perdoit du tout. Ainsi le mot de seigneur, et de serviteur, de Prinee, de subiect auparavant ineongnus, furent mis en usage. La raison et la lumiere naturelle nous conduit a cela, de croire que la force et molence a donne smirce et origineaux Re publiques111. Beim zeitgenössischen Übersetzer lautet der letzte Satz: Und sollte uns der natürlich Verstand und Vernunfft selbst lehren, daß die Herrschafflen durch, gewalt anfangs auffkommen112. Die Unfähigkeit, zwischen 'seigneurie' und 'republique' einerseits und 'violence' und 'puissance' andererseits zu differenzieren, 1" Ebd. 1, 6 (p. 69). ,ls Ders., Res publica. Das ist: Gründliche und rechte Unterweisung .,,, dt. v. Johann Oswaldt (Mömpelgard 1592), 51. beides für Bodin grundlegende Unterschiede, die auch im Deutschen des 16. Jahrhunderts sprachlich möglich waren, geht zu Lasten des Übersetzers, der eine Wirkung von Bodins Gedanken in Deutschland nicht erleichterte. Denn liodin unterscheidet deutlieh zwischen der negativ bewerteten und im wesentlichen der Vergangenheit angehörenden Monarchie Seigneuriale und der positiven Monarchie Royale113 ebenso wie zwischen gesetzmäßiger Gewaltausübung und ihrem tyrannischen Mißbrauch. Allerdings wird dadurch nicht das Recht der Souveränität berührt, die Bodin am entschiedensten entwickelt hat. Sie ist ihm nicht nur die Eigenschaft der höchsten, unabhängigen, keinem Menschen verantwortlichen Gewalt des Staates, sondern die Gewalt über den Staat selbst, eine Summe von bestimmten Hoheitsreehten, die unmittelbar dem Volk oder dem Fürsten zukommen. Die Klarheit ihrer Darstellung verdankt er der französischen Situation weitgehender Unabhängigkeit von Kaiser, Kirche und Ständen. Sie mit logischer Stringenz als dauernd, rechtlich schrankenlos und unverantwortlich sowie als unteilbar zu beweisen, begründete zwar die absolutistische Doktrin, überzog jedoch die Möglichkeiten juristischer Demonstration. Denn daraus, daß nur eine souveräne Gewalt möglich sei, zu schließen, daß sie auch nur einem Organ zustehe, Gewaltenteilung mithin widersinnig sei, schleppt ein politisches Zweckargument ein in die juristische Beweisführung114. Folgenschwerer war es, die absolute Monarchie zu idealisieren, die höchste Gewalt herkömmlich dem Zufall der Geburt auszuliefern, alle Macht und die letzte Entscheidung der Willkür eines einzelnen zu überlassen. Als Institution ist die absolute Herrschaft im Normalfall überfordert, ihre Theorie krankt daran, daß sie den Machtapparat ignoriert, wo sie ihn nicht, wie Bodin, als verläßlich funktionierend voraussetzt. Die monarchische Mythologie in Literatur und öffentlicher Meinung wird das dadurch kompensieren, daß sie den König als im Grunde gut, nur von schlechten Räten umgeben darstellt. Die Theorie absoluter Herrschaft, die bei Bodin nicht zufällig in einem großangelegten Vergleich mit den göttlichen Gesetzen musikalischer Harmonie gipfelt, der Keplers Weltharmonik verwandt ist, bleibt bis hin zu Hegel Domäne der politischen Theologie. Ist sie in der Renaissance der Versuch, der Vorstellung von einem „dens in terra" Wirklichkeit zu verleihen, so wandelt sie sich mit der neuzeitlichen Metaphysik zu einem erkenntnistheoretischen Spielfeld, auf welchem alle geheime Sehnsucht von der herrschaftlichen Willkür und königlichen Freiheit des menschlichen Selbstbewußtseins scheinbar gefahrlos ausgespielt werden dnrfte. Wie hoch der Preis auch werden sollte, es darf nicht übersehen werden, daß noch Hegels Begriff des 'Monarchen' der Ort in der Rechtsphilosophie ist, wo die Theorie des Selbstbewußtseins mit den wesentlichen Bestimmungen, unvordenklich sowie letztinstanzlich zu sein, auftritt: das schlechthin aus sich Anfangende wird verbunden mit dem Moment der letzten sich selbst bestimmenden Willensentscheidung, und was dem Menschen mit der sich wissenden und damit wahrhaften Freiheit zukommt, das wird politisch nur dem «6er alle . . . Bedingung erhabenen Monarchen zugestanden115. 115 Bodin, Republique 2, 2f. (p. 270. 279). 111 Ebd. 2, 1 (p. 250 f. u. passim). m Hkokl, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), SW Bd. 7 (1928), 383f. 385f„ § 279. 26 27 Herrschaft III. S. 'Herrschaft' im SlaaUvertrag a) AlthuMua und Grotius Herrschaft 3. 'Herrschaft' iin Staatsvertrag Die Theorie der Souveränität setzt seit Bodin nicht nur die naturliche Freiheit des Individuums voraus, sondern auch eine souveräne Gewalt des Hausherrn als Ursprung der Gewalt des Herrschers oder des Staates, Um den Widerspruch zwisi hon den natürlichen Rechten des Individuums und ihrer gesellschaftlichen Einschränkung zu erklären, entwickelte man ein typisch neuzeitliches Modell, das nach der Französischen Revolution obsolet werden sollte: den Staatsvertrag, um mit dem privatrechtlichen Instrument des freien Kontraktes das Zusammenleben von Menschen und die Berechtigung von Herrschaft im Staat zu konstruieren. a) Althusius und Grotius. Wie alle bedeutenden Vertragstheoretiker bis hin zu Rousseau steht Althusius unter calvinistischem Einfluß. Und mit dem Ausgehen, von kleinen Gemeinschaften sowie dem strikten Festhalten an der Volkssouverämtät ist er Rousseau auch näher als Grotius oder Hobbes. Der naturrechtliche Vertragsgedanke, entstanden in der Spätantike mit der Auflösung der positiven Ordnungen, enthält ein Potential der Legitimierung revolutionär gedachter oder geschaffener Ordnungen. Dient das naturrechtliche Element in der Antike zur Konzeption des besseren Staates, ermöglicht es im Mittelalter kühne Konstruktionen, die jedoch nicht verwirklicht werden und es nicht werden können, weil ihnen ein einheitlicher Begriff von 'Herrschaft' fehlt, so hat es in der Neuzeit zunächst begründenden und versöhnenden Charakter, und erst die Inkonsequenzen und Radikalisierungen der Theorie setzen die revolutionäre Staatslehre frei. So ist es der Widerspruch Bodins und der Absolutisten zwischen der Unveräufler-lichkeit der Herrschersouveränität und ihrer Herleitung aus der ursprünglichen Souveränität des Volkes, den Althusius fruchtbar macht. Ist das Gemeinwesen auf den freien Vertrag der sich gegenseitig verpflichtenden Individuen gegründet, so bleiben sie gemeinsam als Volk Subjekt der unveräußerlichen Souveränität, und der Herrscher oder Magistrat ist nur mehr Träger der Staatsgewalt. Mit einer alten körperschaftsrechtliehen Unterscheidung werden die Bürger einzeln als Untertanen, im Ganzen, in ihrer Gesamtheit aber als Herrscher bestimmt: Hoc jus regni, seit majestatis jus, non singulis, sed conjunetim universis membris, et Mi corpori oon-sociatio regni eompetit1™. Mit diesem Gedanken wird Rousseau die „volonte generale" von der „volonte de tous" abheben. Diese Staatsgewalt des Volkes ist nicht absolut, sondern an Gesetze gebunden, kann sich selbst verpflichten, ohne darum weniger souverän zu sein. Althusius schreibt mit dem Blick auf republikanische Staaten wie die niederländischen Provinzen, die sich nie, wie er bemerkt, von der spanischen Herrschaft hätten befreien können, wenn sie Bodin gefolgt wären117. Der Einfluß Althusius' ist begrenzt auf kleinere, konsensfähige Gemeinwesen oder auf revolutionäre Situationen, z. B. den englischen Königsprozeß, wo Milton sich seiner bedienen wird. In den deutsehen Fürstenstaaten wird er fast allgemein bekämpft, besonders heftig von Coneinö, da e3 gefährlich sei, daß alle, Obrigkeit von des Volckes Willkuhr deperulire, 116 Johannes Althusius, Politica methodice digesta atque exempüs sacris et profanis illustrata 9, § 18 (1603), 3. ed. (Herborn 1614; Ndr. Aalen 1961), 175. 117 Ebd., Praefatio. und der noch Spuren dieser Lehre vertilgt, welche allen frieden zwischen Herrn und Unterthanen . . . zwar nicht in der qantzen Welt, wie die Althusianische, jedoch in gantz Sachsen-Land auf einmahl über den Hauffen werffenlu. Gerade sein fruchtbarster Gedanke, die Ableitung der Staatsgewalt aus freiwilligen Verträgen ohne Aufgabe der Souveränität, die vielfache föderale Gliederung des Gemeinwesens und die Rechtsstellung des Herrschers als Mandat, bezeichnet auch seine Grenze. Eine Vermittlung mit der politischen Wirklichkeit der großen Machtstaaten schien nicht möglieh, und so wirkte er eher auf die Verfassung zivilrechtlicher Gemeinschaften wie der entstehenden Handelsgesellschaften. Dieses unerklärte „Geheimnis der Herrschaft" versucht nun Gkotius zu beschreiben, nicht etwa zu beheben. Er bestreitet Althusius das naturrechtliche Fundament der Volkssouveränität. Dazu findet er aber nur ein erbärmliches Argument aus dem antiken Privatrecht: daß man sieh freiwillig in Privatsklaverei begeben könne, das auch schon Suarez benutzte119. Und er findet genügend historische Beispiele und Autoritäten, um diese Möglichkeit zu belegen, wie er andererseits auch, um enzyklopädisch allen Fällen gerecht zu werden, eine reiche Kasuistik des Widerstandsrechts gegen die Obrigkeiten entwickelt120. Grotius beabsichtigt, die größte Zahl noch vertretbarer Fälle zu integrieren, womit er das naturrechtliche Denken historisch überwuchern läßt. Und dieses selbst hat nicht mehr die politische Stoßkraft, die es bei La Boetie, Buchanan oder beim Verfasser der „Vindiciae contra tyrannos" besaß. Ein positiver Rechtsbegriff fehlt121, und die Natur des Naturrechts setzt Grotius gleich mit der Vernunft, die Vernunft mit Gott, dessen Handeln aus deT Heiligen Schrift zu erkennen ist. Das führt ihn dazu, Prinzipien von hoher Allgemeinheit durch entlegene Einzelfälle zu belegen oder Behauptungen, die eines naturrecht-lichen Beweises gar nicht fähig sind, durch Analogien oder historische Autoritäten zu sichern. Das Verfahren, das er dabei anwendet, hat eine überraschende Ähnlichkeit mit dem der barocken Allegorie in der Literatur und Kunst seiner Zeit: der eigentliche Gegenstand, Herrschaft im Staate und höchste Gewalt, wird dargestellt durch einen anderen, die Herrschaft in Familie und Haus, und beide durch einen dritten, die Herrschaft Gottes, die wiederum als väterliche Herrschaft veranschaulicht wird. Ein System von Verweisen tritt an die Stelle des unerkennbaren Gegenstandes122. Diese Übertragungen aus dem allein juristisch vollständig entwickelten Privatrecht und aus religiösen Vorstellungen trübten nicht die Klarheit der Begriffsbildung. Wie Grotius zwischen bürgerlicher und persönlicher Freiheit unterschied, so auch zwischen öffentlicher und privater Unterwerfung: die subjectio publica mindere nicht das persönliche Recht, sondern verleihe nur das jus perpetuum eos regendi, qua populus sunt, wie auch das Recht an der Herrschaft kein Eigentum privatrechtlichen Ils Hermann Conrino, Litterae ad Senatum Brunsvicensem (1650), Opera omnia, t. 3 (Braunschweig 1730), 999. u' Hugo Gkotius, De iure belli ac pacia libri tres 1, 3, 8 (1625), Ndr. d, Ausg. 1646, hg. v. James Brown Scott (Washington 1913), 53. m Ebd. 1, 4, 8ff. (p. 90f.). 121 Ebd. 1, 1, 3 (p. 2). 122 Vgl. ebd. 2, 13, 20 (p. 249); 2, 14,6 (p. 257f.). 28 29 Herrschaft III. 3. 'Herrschaft* im Staatsvertrag 'i Uoibt8 ^ itt Absolutismus Herrschaft Charakters ist, sondern Imperium, das kein Recht des dominium bedeute13*. Leugnete Bodin die Souveränität des Staates und Aithusius die des Herrschers, so versucht Grotius, beides anzuerkennen, indem er zwischen Souveränität des Staates und des Staatsorgans dadurch differenziert, daß er auf letztere die Kriterien der Teilbarkeit der Gewalt und des Widerrufs der Herrschaftsausiibung anwendet. Das erlaubt ihm, Staats- und Regierungsform deutlicher zu scheiden, als es Aithusius möglich war, der in der Demokratie Subjekt und Träger der Staatsgewalt so weit identifiziert, daß er sich keine Teilung der Gewalt, wohl aber ihre Einschränkung denken kann. Aber auch Grotius' Trennung der Bedeutung von 'populus' als Organ der Herrschaft in der Demokratie vom Staate selbst ist nicht klar genug, um nicht Hobbes zu einer schärferen Bestimmung herauszufordern. b) Hobbes und der Absolutismus. Während die französischen und deutschen Theoretiker des Absolutismus sich gewöhnlich damit begnügten, die königliche Herrschaft von der göttlichen abzuleiten, hielt Hobbes es im Umkreis calvinistischen Denkens und der Vorstellungen vom Wahlkönigtum für notwendig, die Herrschaftsübertragung genauer zu begründen. Dazu hat er die naturrechtliche Freiheit vor dem ersten Vertrag stärker akzentuiert, in welchem jedes Individuum jedem anderen verspricht, sich ein und derselben Herrschaft zu unterwerfen. Darauf übertragen in einem zweiten Vertrag alle ihr natürliches Recht, sich selbst zu regieren, auf ein einheitliches Herrsehaftsorgan. Denn die „wilde" Freiheit des Naturzustandes, der eine gedankliche Konstruktion des Ursprungs ist und weder historisch noch bei den neu entdeckten barbarischen Völkern nachweisbar sein muß, ist notwendig als vollkommene und uneingeschränkte Freiheit zu denken, damit nach der Übertragung die Herrschaft des Staatsorgans ebenso vollkommen und uneingeschränkt sein kann. Und die Übertragung aller einzelnen Willen auf einen Willen, der dann der Wille aller ist, muß ebenso als völlig frei gedacht werden, so daß die staatsgründende Versammlung der Individuen eine unmittelbare Demokratie darstellt. Nun besteht der Staat und seine Souveränität nur durch und im Staatsorgan, die Übertragung ist also so vollständig, daß der staatsgründenden Versammlung kein Recht mehr bleibt, bis es ihr — etwa beim Aussterben des Herrscherhauses — ebenso plötzlich und vollständig wieder zufällt. Dabei können Mängel der Beweisführung, Schwierigkeiten der Priorität von Volk, Staat und Staatsorgan im Akt der Konstitution der Herrschaft und bei dem des Verhältnisses von Individuum zum populus sowie dessen sofortige Wiederauflösung in eine dissoluta mutiüudo nach der Herrschaftsübertragung hier beiseite bleiben124. Sie haben ihren Grund in der politischen Absieht, die Unantastbarkeit des Souveräns — auch beim Mißbrauch der Staatsgewalt — durchzusetzen um des alleinigen Zieles der Friedenssicherung willen. Daß dabei die juristische Argumentation auf der Strecke bleibt, ist weniger erstaunlich, als daß Hobbes sich überhaupt so weit auf die naturrechtliche Begründung einläßt, deren revolutionäres Potential er wider 183 Ebd. 1, 3, 12 (p. 59f.). 121 Hobbes, De cive 7 (1642), Opera, t. 2 (1839; Ndr. 1961), 239. Unterschiede zwischen der allgemeinen und der besonderen Begründung vgl. ebd. 5 (p. 209ff.); 7 (p. 235ff.). Zur juristischen Konstruktion immer noch unersetzt Hermann Rehm, Geschichte der Stauts-reehtswisaenschaft (Freiburg, Leipzig 1896), 231 ff. ■Willen aufbereitet. Zeitgenössische Kritiker wie Johann Friedbich Horn waren sich der Gefährlichkeit der naturrechtlichen Argumente bewußt und wiesen deshalb jeden Versuch ab, die unumschränkte Herrschaft anders als unmittelbar von Gott abzuleiten125. Es gehört zu den Paradoxa der Geschichte politischer Theorien, daß Richelieu und das absolutistische Frankreich, deren Praxis am ehesten Hobbes' Vorstellungen entsprach, sich mit der religiösen Begründung sicherer fühlten, während England seine Entwicklung in einer Richtung vollzog, die zu Hobbes in striktem Gegensatz steht, der in gemäßigter Form auf die mitteleuropäischen Fürstenstaaten wirkt, die durch die radikalen Konsequenzen aus seiner Theorie ebenso aufgelöst werden wie das französische Ancien Regime. Ein Epiphänomen bildet die totalitäre Faszination, die seine Theorie im 20. Jahrhundert ausübt, nachdem vielfache Versuche absoluter Herrschaft gescheitert waren und ihr Ignorieren gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Bedingungen ebenso offenkundig war wie die Tatsache, daß sie gerade ihren Zweck, die Friedenssieherung, nicht zu erreichen vermochte. Diese Klugheit, die an ihren eigenen Plänen zuschanden geht, hat Calderon zur gleichen Zeit zum Gegenstand eines Schauspiels gemacht. Mit der zwingenden Logik, mit der Hobbes die Individuen im Staat auf ihren Willen verzichten läßt, weil ihre natürlichen Triebe sie unweigerlich in den Bürgerkrieg stürzten, kerkert der König in „La Vida es sueno" seinen Sohn wie ein wildes Tier ein, weil er in den Sternen las, daß der Prinz sich so verhalten würde. Was er vermeiden wollte, tritt ein, und der Prinz erst gewinnt die Einsicht, nachdem er die ihm zustehende Herrschaft usurpiert und sich selbst bezwungen hat, daß befürchtetes Unrecht sich nicht durch Begehen von Unrecht vermeiden läßt: la jortuna no se vence / eon injustieia y vengancalis. Während Hobbes das Ziel der Politik darin sieht, künftigen Herrschaftswechsel auszuschließen, versucht Selben, ihn aus der Natur der Menschen zu erklären: If the Prince be servus natura, of a servile base Spirit, and the Subjects liberi, Free and Ingenuous, oft-times they depose their Prince, and govern themselves. On the contrary, if the People be servi natura, and some one amongst them of a Free and Ingenuous Spirit, he makes himself King of the rest; and this is the Cause of all changes in State: Common-wealths into Monarchies ... and. Monarchies into Common-wealths11''. Die Staatstheoretiker des Absolutismus versuchten, in der „ratio status" ein objektivierbares Gesetz zu finden, das die Willkür unter Regeln bringt und die Fürsten selbst beherrscht: Principes subditis suis imperant, ratio Status etiam Principibus12*. Da es aber einmal die Fürsten sind, die herrschen, wird ihnen ein weiter Spielraum im Gebrauch des Notrechts eingeräumt: Ihrer viel sind der Meinung, daß ein weiser und witziger Printz nicht allein nach den Gesetzen herrschen, sondern auch die Gesetze beherrschen soll, wenn es die Noth erheischet. Und die Herrschaft selbst wird derart hypostasiert, daß sie als höchster Zweck alle Mittel heiligt: ,n Johann Friedrich Horn, Politicorum pars architectonica de civitate 2, 1, 19, ed. Simon Kuchenbecker (Leiden 1699), 231 ff. "* Pedro Calderon de la Babca, La vida es sueno 3, 14, 683. 127 John Selden, Table-Talk: Being the Discourses of John Seiden (1689; Ndr. London 1868), 89. 188 Henry Dtrc de Rohan, Trutina stratuum europae, ed. Josua Arnd (Rostock 1668), 2. 30 31 Herrschaft III. *• 'Herrschaft' im rationalen Naturrecht des 17. und 18. Jahrhunderts Herrschaft Wenn ja das Recht gebrochen seyn soll, so geschehe es umb zu herrschen12*. Dieses Ausnahmereeht, Fürstliche Reservaten und Hoheit™, wird unter dem Titel der „arcana iraperii" als spezifisches Herrscherreeht innerhalb des allgemeinen Staats-, rechts dogmatisch abgehandelt. Es bildet nun das secrel de domination, die Geheimnüsse der Regierung, welche diejenigen, die herrschen, schuldig seyn zu Erhaltung ihres Ansehens zu beobachten131. Der faktische Geltungsgrund solchen Handelns ist nur als Usurpation der Macht, als gewaltsame Aufhebung geltenden öffentlichen Rechts zu beschreiben, wie es in ohnmächtig bleibenden Protesten auch immer wieder geschah132. Es ist nicht zu leugnen, daß der entwickelte Absolutismus den fanatischen und partikularistischen Streit der Konfessionen beendete und eine private Meinungsund Gewissensfreiheit gestattete und auch auf dem Gebiet der Verwaltung und Wirtschaft moderne Formen der bürgerlichen Selbstverwirklichung ermöglichte. Ebenso war es methodisch ein Fortschritt, daß Hobbes mit den Mitteln der neuen Philosophie die Staatsgewalt aus einem Prinzip, dem Willen, und seinem Inhalt und alleinigen Zweck, der Selbsterhaltung, abzuleiten versuchte. Dabei läßt sich die Berechtigung bestreiten, die Methode auf einen anderen Gegenstand zu übertragen, aber auch die politisch motivierte Vermischung der Mechanik der Staatsgewalt mit der juristischen Rechtfertigung ihres durch kein Gesetz beschränkten Handelns. Pascal begreift "Gewalt' und 'Recht' als antithetische Prinzipien, die aber einander bedürfen: La justice sans la force est impuissante; la force sans la justice est tyrannique. Und die Lage des Rechts gegenüber der Gewalt ist prekär: La justice est sujette ä dispute, la force est tres reconnaissable et sans dispute133. Und da sie sich nicht verbinden lassen, bemächtige sich die Gewalt des Rechts: Et ainsi ne powvant faire que ce qui est juste füt fort, on a fait que ce qui est fort fut jus««134. Aber was nun Recht ist, ist nicht mehr das natürliche Recht, sondern das in die Hände der Gewalt geratene, das auf dieser Erde herrsche. Auf völlig andere Weise, mit Vorstellungen Attgustins, kommt Pascal zum gleichen Ergebnis wie Hobbes, daß die bestehende Herrschaft nicht bestritten werden soll. Und ebenso wie bei Hobbes läßt sich der Argumentationsgang zurückverfolgen und das gewonnene Ergebnis in einer veränderten politischen Situation in Frage stellen, wie es in Frankreich gerade bei den Jansenisten geschehen sollte, die die individuelle Moral zum Maßstab der Staats-raison machen werden. Pas barocke Trauerspiel, das die Darstellung der Affekte sich zum Ziel setzt, auf deren Analyse Hobbes seine Theorie begründet, ist ebenso wie er,-aber aus dramaturgischen Gründen, fasziniert vom souveränen Willen des Herrschers, der auch dort die Person aller repräsentiert. An kein Gesetz gebunden, ist er den sich in wilder Jagd folgenden Stürmen der Affekte ausgeliefert, und da er jede Entscheidung fällen kann, lähmt diese Allmacht seine Entschlußkraft. Den Höhepunkt vieler dieser Schauspiele bildet der mehrfache Wechsel von Todesurteil und Begnadigung, und die grübelnde Ohnmacht des Tyrannen kann innerhalb dieser Gattung der Passion des Märtyrers sich nähern. Ist das einst prächtige Reich derart ruiniert, wie es der barocken Vorliebe für verwüstete Schauplätze und der theologischen Ansicht von der Verworfenheit dieser Welt entspricht, dann wird ihre brüchige Ordnung im Opfergang versöhnt mit der Transzendenz wie z. B. in Gryphiüs' ,Catharina von Georgien": Gott beut mir höher Cronen an. f Diß was die Welt nicht geben kan j die Freyheit ist mir heut begegnet135. Verwandt damit und mit der eigentümlichen Simultaneität der darstellenden Künste des Barock ist die zirkuläre Begründung von Hobbes* wichtigstem Argument für die Unterwerfung unter eine höchste Gewalt. Der Krieg aller gegen alle ist nicht recht zu verorten; nachweisbar sind nur einzelne Kriege, die es auch nach Einrichtung der Staatsgewalt, gibt. Den Beweis trägt der Schrecken des modernen Bürgerkriegs, der so den ursprünglichen Vertrag motiviert, und vor allem die bewaffnete Unsicherheit der zeitgenössischen Souveräne, die untereinander in dem latenten Kriegszustand stehen, vor dem sie ihre Untertanen dadurch bewahren136. Horst Günther 4, 'Herrschaft' im rationalen NaturrecÜt des 17. und 18. Jahrhunderts Herrschaft — verstanden als Recht auf Gehorsam — ist ein zentrales Thema des modernen, von Hobbes begründeten rationalen Naturrechts. Denn die rechtliche Gleichheit und Freiheit aller Menschen wird hier als die Grundlage einer jeden gültigen rechtlichen Ordnung angesehen. Wer einem andern zum Gehorsam verpflichtet ist, der befindet sich nicht mehr im Zustand der Gleichheit und Freiheit; diese Ungleichheit und Unfreiheit bedarf auf dem Boden des modernen Naturrechts daher einer besonderen Begründung. So erklärt schon Hobbes : inaequaUta-tem, quae nunc est, puta a divitiis, a potentia, a nobilitate generis, projectam esse a lege civili131. Die Begründung kann letztlich nur in einem Akt der Anerkennung 13fl Gabriel Naude, Politisches Bedeneben über die Staatsstreiche (Leipzig, Merseburg 1678), 12. 121. 130 AßNOLDTJS Clapmarius, De arcanis rerumpublicarum 1, 4 (Amsterdam 1644), 8. 131 Naude, Politisches Bedencken, 53; ders,, Considerations politiques sur les coups d'estat (o. 0. 1667), 60. 132 [Michel Levassor]. Les soupirs de la France esclave qui aspire apres la liberie. 7" Memoire (Amsterdam 1689), 253 ff. 133 Blaise Pascal, PensSes, ed. Lton Brunschvig, t. 2 (Paris 1904), 224, Nr. 298. Vgl. die Analyse von Erich Auerbach, Über Pascals politische Theorie, Ges. Aufs. z. romanischen Piniol. {Bern 1967), 204ff. 134 Pascal, Pensees, 224, Nr. 298. 135 Andreas Gryphiüs, Catharina von Georgien. Oder bewehrte Beständigkeit (1657), hg. v. Willi Flemming, 4. Aufl. (Tübingen 1968), 80f., vv. 298ff.; vgl. H. Günther, Art. Trauerspiel, Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, hg. v. P. Merker u. W. Stammler, 3. Aufl. (Berlin 1981), 546 ff. 138 Hobbes, Leviathan 13 (1651), Opera, t. 3 (1841; Ndr. 1961), 97ff., bes. 100. 137 Ders., De cive 3, 13. Opera, t. 2, 189; ders., Philosophical Rudiments Concerning Government and Society (1640), EW vol. 2 (1841; Ndr. 1962), 38; ders., Leviathan 15. EW vol. 3 (1839; Ndr. 1962), 140; ders., De homine 15 (1658), Opera, t. 3, 118; vgl. Pufendorf, De iure naturae et gentium 3, 2, 9 (1688), ed. J. B. Scott (Oxford, London 32 33 Herrschaft 111. 4. 'Herrschaft' im rationalen Naturrecht des 17, und 18. Jahrhunderts t gefunden werden: there being no obligation on any man which ariseth not from some act of his ownue. In letzter Begründung beruht nach diesen Voraussetzungen jedes Herrschaftsrecht auf einer ausdrücklichen oder stillschweigenden Zustimmung dcä zum Gehorsam Verpflichteten; jeder Herrschaftstitel, der nicht aus einer solchen í Zustimmung deduziert werden kann, muß demnach zurückgewiesen werden. U'.e Zustimmung muß sich als ein Vertrag normativ rekonstruieren lassen, der entweder tatsächlich geschlossen worden ist oder als implizite Vereinbarung zugrunde gelegt werden darf. Die von späteren Autoren wie Hegel139 oft mißverstandi :ie Bedeutung des Vertragsgedankens im rationalen Naturrecht hat hier ihren Grund. Herrschaft im Sinne eines unabhängig von freier Zustimmung bestehenden Ee dits gilt daher fortan als unausgewiesen: „Herrschaft über Menschen" ist nicht erst im „Kommunistischen Manifest", sondern bereits im rationalen Naturrecht grundsätzlich in Frage gestellt worden. Seit Hobbes hat daher die Polemik gegen die aristotelische Lehre, einige seien von Natur aus zur Herrschaft, einige zur Knechtschaft bestimmt14", im ration, l.-n Naturrecht ihren festen Ort: Aristotle . . ., for a foundation of his doctrine, maketh men by nature, some more worthy to command, meaning the wiser sort, such as he thought himself to be for his philosophy; others to serve, meaning those that had strong bodies, but were not philosophers as Ac141. Zwar übersieht auch Hobbes nicht, daß de facto überlegene Macht und natürliche Kräfte (potentia et vires naturales) Herrschaftsverhältnisse begründen können; aber den Rechtsgrund eines solchen Herr-schaftsanspruchs leitet er auch aus einem Vertrage zwischen Siegern und Besiegten ab112. Denn eine Verpflichtung zum Gehorsam wird nur unter der Voraussetzung eines Vertrauensverhältnisses (fides, fiducia) anerkannt: pactum autem nisi fide habita nullum est; sobald dieses aufgehoben wird, herrscht nur noch physischer Zwang ohne Rechte und Pflichten143. Ebensowenig kann unter diesen Voraussetzungen von einem natürlichen Recht dpr Eltern auf den Gehorsam ihrer Kinder die Rede sein. Die Elternschaft als solche enthält keinen Rechtsgrund, aus dem sich irgendwelche Ansprüche ableiten lassen; daß man seinen Eltern gehorchen soll, ist ein synthetischer Satz: dominus non est 1934), 233; Christian Thomasius, Institutiones iurisprudentiae divinae 2, 24 (1688), 7. Aufl. (Halle 1730), 177; ders., Fundamenta iuris naturae et gentium 2, 3, 2 (1705; Ausg. Halle, Leipzig 1718), 213; Christian Wolff, Ius naturae methodo seientifica pertractatum ?_s (Frankfurt, Halle 1740-^18; Ndr. Hildesheim 1972). 138 Hobbes, Leviathan 21 (p. 203); ders., De hornine 21 (p. 164); vgl. Pufendorf, Im naturae 1, 6, 12 (p. 69f.). "» Hegel, Philosophie des Rechts, 131ff. 24Iff. 329ff„ §§ 75. 163. 258. -: 140 Aristoteles, Politik 1254a 15. 141 Hobbes, Leviathan 15 (p. 140); ders., De hornine 15 (p. 118); ders., The Elements of : Law 1, 17,1 (1640), ed. Ferdinand Tönnies, 2nd. ed. (Cambridge 1928), 68f.; ders., De cive 3, 13 (p. 189); ders., Philos. Rudiments, 38; vgl. Pufendorf, Ius naturae 3, 2, 8 (p. 231); j 6, 3, 2 (p. 637); Thomasius, Institutiones 2, 4, 17 (p. 120); Wolff, Ius naturae 7, 202 (p. 147); 7, 1085 (p. 788). 142 Hobbes, Elements 2, 3, 2 (p. 99f.); ders., De cive 8, 1 (p. 249f.); ders., Philos. Rudiments, 108f.; ders., Leviathan 20 (p. 189); ders., De hornine 20 (p. 153). 143 Dera., De cive 8, 3 (p. 250f.); ders., Elemente 2, 3, 3 (p. 100); ders., Philos. Rudiments, 110; ders., Leviathan 20 (p. 189); ders., De hornine 20 (p. 153). A_ 'Herrschaft' im rationalen Naturrecht des 17. und 18. Jahrhunderts Herrschaft in definitione patris1**. Diese auch heute vielfach noch anstößig wirkende Einsicht ergibt sich aus dem Grundsatz, daß alle Menschen von Geburt an auf die gleichen EVeiheitsrechte Anspruch haben. Auch gegenüber unmündigen Kindern, die sich aus eigener Kraft noch nicht erhalten könnten, müssen Herrschaftsrechte jedweder Art daher als Vertragsverhältnisse konstruiert werden145. Von denselben Voraussetzungen wie Hobbes ausgehend, hat daher Pufendorf auch die Lehre Johann Friedrich Horns, der Mann habe ein natürliches Herrschaftsrecht über die Frau146, zurückgewiesen: impérium marilale naturaliter ex consensu muheris oritur1". Die wichtigste Anwendung finden die Grundsätze des rationalen Naturrechts in der Lehre von der Souveränität des Staates. Ebenso wie die Idee eines Staatsvertrags dazu dienen soll, alle staatlichen Herrschaftsverhältnisse aus einem Konsens zwischen dem Inhaber der staatlichen Souveränität und den Untertanen zu begründen, so dient alle spätere Kritik an der Lehre vom Staatsvertrag gewollt oder ungewollt der Rechtfertigung von Herrschaftsansprüchen, die nicht auf den Konsens der Untertanen rechnen können. Schon bei Hobbes und nicht erst bei Rousseau nimmt diese Lehre die Gestalt eines Vertrags aller mit allen an, durch den sich ein gemeinsamer Wille konstituiert: Populus in omni civitate regnat. Dies gilt selbst für die Monarchie: Et in monarchia . . ., quamquam paradoxům sit, rex est populusxls. Das Volk ist nicht nur die Menge der Untertanen (muliitudo . .. quae regitur), sondern ebenso civitas quae imperat, vult et agit per voluntatem unius hominis, vel per voluntatis plunum hominum consenianeas1*6. Die Identität von Herrschern und Beherrschten im Staate ist damit in der Theorie bereits postuliert. Daß die bestehenden Herrschaftsverhältnisse, gemessen an den Regeln des rationalen Naturrechts, nicht durchweg zu rechtfertigen waren, unterlag kaum einem Zweifel. Die Repräsentanten dieser Rechtslehre ließen indes ihre revolutionären Konsequenzen insgesamt unausgesprochen. Bezeichnend hierfür ist, was Hobbes von den Prinzipien seiner Theorie sagt: Wether they come not into the sight of those that have power to make use of them, or be neglected by them, or not, concemeth my particular interests, at this day, very little15". Um so bemerkenswerter ist es, daß die Unterscheidung zwischen einem auf Zwang und Gewalt beruhenden Naturstaat und einem auf Konsens und freiwilligem Zusammenschluß beruhenden Vernunftstaat sich bereits bei Hobbes findet. Mit dieser Unterscheidung war als Alternative zu den bestehenden Herrschaftsverhältnissen die Idee einer rationalen Staatsver- 141 Ders., De cive 9, 1 (p. 225); ders., Philos. Rudimente, 115; ders., Elements 2, 4, 2 (p. 103); ders., Leviathan 20 (p. 186); vgl. Pufendorf, Ius naturae 6,2,4 (p. 623); Thomasius, Institutiones 3, 4, 28 (p. 373); Wolff, Ius naturae 7, 636 (p. 439). 145 Hobbes, Elements 2, 4, 3 (p. 103f.); ders., De cive 9, 2 Joseph v. Sonnenmsls, Handbuch der inneren Staatsverwaltung (Wien 1798). 41 f., Anra. 13. 3" [Theodor Gottlieh v. Hippel], Über die Ehe, 4. Aufl. (Berlin 1793), 245f. ans -^y v Humboldt, Über den Entwurf zu einer neuen Konstitution für die Juden (17. 7. 1809), AA Bd. 10 (1903), 103. 2m Ders., Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1792), AA Bd. 1 (1903), 135. 205 Gal. 4, 5; 4, 24f., Luther, Die gantze Heilige Schrifft Deudsch (Wittenberg 1545; Ndr. Darmstadt 1972), 2360f, !»= Grimm Bd. 5 (1873), 1399f., s. v. Knechtschaft. e) DienHibarUtit, Gesintl*' Knecm'":naf, Herrschaft em'ibersteht, in Geacians klassischer Formulierung: No ai mayor seňorío que el de si mismo, de sus afectos^. Aber selbst das ganz gebräuchliche Konkretum 'Knecht' wird immer wieder überwuchert voa ,},,,. bildliehen Sprache. Ihre wichtigste Wurzel hat sie in der Rede vom Knecht des Herrn, der als Messias die Welt verändern soll. Paulus nimmt die Progerie des Alten Testaments auf und bezieht sie auf Jesus, der trotz göttlicher gestalt cussert sich selbs, und nam Knechts gestalt an2as. Diese Umkehrung der weltlichen Ordnung, die sieh literarisch als Stilmischung äußert, enthält ein Potential der Veränderung, da sie einen Wechsel der Blickrichtung erlaubt. Der einfachste bildliche Wortgebrauch in der Umkehrung liegt dort vor, wo man über Laster und Mutwillen der Knechte klagt und diesen unerfreulichen Befund in der Aussage zusammenfaßt, daß unser Gesinde .. . gemachte Herren seien209. Auf einer weiteren Stufe ist aufgrund der gedanklichen Umkehrung des Verhältnisses von Herr und Knecht eine ethische Maxime formulierbar: Gegen die Diener und das andere. Gesinde soll ein Haus-Herr sich also erweisen, daß, wo Gott ihn nicht in dem Herrn, sondern in dem Dienst-Stand gesetzet, er mit seinem Herren willig könte zu frieden seyn""- Schließlich ist auf der esehatologischen Ebene im Unterschied von Zeit und Ewigkeit ein Ende aller Herrschaft zu erhoffen. Diese Aussicht soll aber keine vorzeitigen Folgen in dieser Welt erbringen, und selbst an ihrer Grenze, wie sie die populäre Totentanzliteratur markiert, kann gerade die weltliche Herrschaft bestätigt werden. Die Klage des Knechts findet kein Gehör: Wer diente gern Bey unserm stets lermenden, fluchenden, donnernden Herrn: Bey unsrer schwermüthigm, zankenden, balgenden Frauen? Aber der Tod rechtfertigt hier die Herrschaft und stellt jenseitigen Trost in Aussicht: Der Herr der Herrschenden belohnt den frommen Knecht: Er ordnet jeden Stand; ihm ist kein Sklave schlecht, der seine Pflicht erfüllt; nach seiner Knechtschaft Bürde schmückt Herrschaft ihn und Engels-Würdeul. Dieser weitreichende bildliche Sprachgebrauch führt dazu, daß die Eindeutigkeit deT sozialen Beziehung, ob einer des anderen Herr oder Knecht ist, damit kollidiert, daß die Wortbedeutungen von 'Herr' und 'Knecht' bzw. 'Diener' moraltheologisch und staatstheoretisch ambivalent waren. In der gesellschaftlichen Hierarchie gehört 'Herr' seit dem 18. Jahrhundert zu jedem männlichen Titel von der Rom. Kayserl. Majestät und dem Pabst an bis zu dem letzten Bader und Sei ffen-Sieder, sofern er z" Baltasar Gracian, Oráculo manuál y arte de prudencia (1647), ed. Miguel Romer-Navarro (Madrid 1954), 26. Nr. 8; ders., Handorakel und Kunst der Weltklugheit, dt. v. Arthur Schopenhauer, hg. v. Karl Voßler (Stuttgart 1973), 3, Nr. 8: Keine höhere Herrschaft, als die über sich selbst und seine Affekte. Schon Zedler, Bd. 15, 1065, Art. Knecht, übersetzt: Es ist keine, höhere Herrschaft als die Herrschaft über sich selbst und úbe.r seine Affekten. M» Jes. 42, 19; Phil. 2, «f., Luther, Heilige Schlifft., 1233. 2367. Johannes Colerus, Calendarium perpetuum et sex libri oeconomici ... Das ist: ein stets währender Kalender, auch sechs nothwendige und gantz nützliche Hausbücher, 2. Aufl. (Wittenberg 1627), 219. ,10 Caspar Jugelius, Oeconomica oder Nothwendiger Unterricht und Anleitung wie eine gantze Hauß-Haltung am nützlichsten .. . kan angestellt werden (Frankfurt, Leipzig 1677), 108. Rudolf u. Conrad Meyern, Die menschliche Sterblichkeit unter dem Titel Todten-Tanz (Hamburg, Leipzig 1759), 78. 44 45 Herrschaft III. 5. Drei Themen langfristiger Auseinandersetzung d) Spiegel«""?™ auf der Wörterbuchebene Herrschaft ein Meister ist212. 'Diener' heißen aber auch die höchsten Staatsbeamten, und so ist es gar kein Paradox, allerdings eine Pointe gegen das Amtsverständnis mancher fürstlicher Kollegen, wenn Friedrich II. vom Souverän sagt: Er ist nur der erste Diener des Staates, ist verpflichtet, mit Redlichkeit, mit überlegener Einsicht und vollkommener üneigennützigkeit zu handeln, als sollte er jeden Augenblick seinen Mitbürgern Rechenschaft über seine Verwaltung ablegen213. 'Knechtschaft' bezeichnet nur selten in eigentlicher Bedeutung den Stand einer Person, welche sich zu einem Herrn zu unermessener Arbeit verdinget, davor ihren Unterhalt zu haben, was nur mit ihrer freien Einwilligung geschehen kann214. Dabei behält der Knecht alle Rechte, die ihm als Menschen zukommen und ist insofern seinem Herrn gleich. Dann läßt sich der anonyme Lexikonautor zu der Bemerkung hinreißen, daß wir aber einander auch an der Gewalt gleich sein sollten, ist eben nicht nötig216. Die formale Freiheit des Dienstkontrakts und späteren Arbeitsvertrags erhöht nicht nur die Macht des Dienstherrn, der nach Lage des Arbeitsmarktes weitgehende und nahezu beliebige Bedingungen stellen konnte, sie verringert zugleich seine Verpflichtungen, und das Verhältnis wechselseitiger Rechte wie beim Klientel- oder Lehenswesen reduziert sich auf den bloß möglichen einseitigen Gnadenerweis gegenüber dem zum Hause gehörigen langjährigen Dienstboten. Man unterscheidet zwischen knechtischer . .. Arbeit und besserer Bedienung. Für die Knechte gilt lediglich: Ob wir uns gleich ihrer nicht aus Liebe, sondern aus Not gebrauchen, weshalb es auch zwischen uns und ihnen nicht leicht eine Freundschaft zu hoffen, so sind sie doch Mit-Glieder in häuslicher Gesellschaft, die man zum wenigsten nicht als Feinde tradieren soll. Würde Vertraulichkeit ihnen gegenüber von knechtischem Gemiite zeugen, so kann man mit denen, so bessere Bedienungen bekleiden, in Freundschaft und Vertrauen leben, wobei der erfahrene Dienstherr seine Gefühle zu rationalisieren weiß: Solchergestalt werden sie durch Leutseligkeit öfters mehr Gutes zu tun angetrieben, als ihnen vermöge ihrer Pflicht oblieget21*. Sucht man nach einem Entstehungsgrund für Herrschaft und Knechtschaft, so wird es als Folge des Eigentumsrechts angesehen: Die Leute wollten nach, dem eingeführten Eigenlhum entweder aus Ehrgeiz oder Geiz ein mehrers besitzen als sie selber erwerben konnten. Oder si&wollten aus Faulheit ihre eignen Güter nicht verwalten217. Die Untersuchung führt auf Ursachen, die traditionell als Laster galten, enthält also die Möglichkeit, die Folgen davon als verwerflich und veränderbar anzusehen. Das bewirkte jedoch keineswegs eine Besserung der Zustände, sondern zunächst, wie im sonstigen Privat- und Wirtschaftsleben, obrigkeitliehe Aufsicht: Denn es muß die Polizei/ nicht allein die Gr&nzen der häuslichen Gewalt der Herrschaften über ihr Gesinde bestimmen, sondern auch das Gesinde wider unbillige und harte Herrschaften schützen11*. 2,2 Nehrikg (1710), 95. 117. 120, Art. Herr; vgl. RWB Bd. 5, 781 ff., bes. 796f., Art. Herr, 213 Friedrich r>. Grosse, Regierungsformen und Herrscherpmchten (1777), Werke, hg. v. Gustav Berthold Volz, Bd. 7 (Berlin 1913), 235f. 214 Zedler Bd. 15, 1065, Art. Knecht. 216 Ebd., 1066f. 216 Chr. Thomasius, Kurtzer Entwurff der politischen Klugheit (Prankfurt. Leipzig 1725), 243. 245 f. 217 Zedler Bd. 12 (1735), 1800, Art. Herrschafft. 218 KBÜNm Bd. 17 (1787), 566, Art. Gesinde. Zu de" moralischen Erwägungen kommen ökonomische, die Bedienten-Sucht schaffe privilegierte Müßiggänger, Bediente ohne Arbeit, aus denen ein dritter Teil von unserm Gesinde im vorindustriellen Deutschland bestehe219. Die haus- und gutsherrschaftliche Selbstkritik zeitigte jedoch keine Rechtsfolgen, Auch in einer Epoche konstitutioneller Einschränkung der Staatsgewalt mußte sich der Dienende der häuslichen Gewalt buchstäblich unterwerfen. Er gelobt in den üblichen Dienstverträgen nicht nur, seine ganze Zeit und Tätigkeit dem Dienst der Herrschaft zu widmen, es bleibt ihm kein Rest privater Unabhängigkeit: Wie über die Geschicklichkeit in seinen dienstlichen Verrichtungen, so steht auch über die sittliche Aufführung fcs Dienstboten der Herrschaft die Aufsieht zu™. In den oft sehr detaillierten Gesindeordnungen sind die Pflichten des Gesindes meist auf die Begriffe 'Treue', 'Ehrerbietung' und 'Gehorsam', 'Abwendung des Schadens', 'Beförderung des Nutzens' der Herrschaft gebracht221. Auf der Seite der Herrschaft vermeidet man es sehr lange, von Pflichten zu sprechen, und noch in der unter Friedrich II. erlassenen Gesindeordnung formuliert man statt dessen umständlich: Wie sich die Herrschaften gegen das Gesinde zu verhalten222. Häufig und bei Strafe verboten wird der Herrschaft seit dem 16. Jahrhundert, daß keiner hinfüro seinem Gesinde das geringste säen, noch etwas an Viehe aufziehen oder halten lasse223, ihm Land verleihe oder die festgesetzten Löhne überbiete und Gesinde abwerbe224. d) Spiegelungen auf der Wörterbuchebene. Das weite Bedeutungsfeld von 'Herr' und 'Herrschaft' teilt die deutsche Sprache keineswegs mit anderen Sprachen. Um nur ein Beispiel zu bringen: so differenziert Johann Leonhard Frisch die Bedeutungen von 'Herr' in die französischen Äquivalente, die durch keinerlei etymologische Verwandtschaft untereinander verbunden sind: als gemeiner Ehren-Titel von andern, Sieur, Monsieur; gnädiger Herr, Seigneur, Monseigneur; Herr, sofern er Gesinde, Bediente und Untertanen hat, maitre; sofern er Leute hat, die seiner Hül§e bedürffen, patron; sofern er der Vornehmste unter andern ist, principal; große Herren, die keine über sich haben, les souverain$wh. Auch die eigentümliche Verbindung von 'Herrschaft' und 'dominium' unterscheidet die deutschen Wörterbücher von den französischen. Im Begriffsfeld von 'autorite' finden sich zwar fast alle anderen lateinischen Äquivalente, aber nicht 'dominium'. Das tritt bei dem auch lehensrechtlich gebrauchten Begriff 'seigneurie' auf, aber typischerweise noch nicht bei dem klassisch orientierten Estibnne, der es nur bei 'domination' anführt, sondern erst bei späteren Autoren228. Umgekehrt kommen in Ebd., 097f. ' ' 820 Vorschriften und Verhaltensregeln für Dienende (Berlin o. J-), §§ 3. 6. 221 Ebd. 222 Königlich Preußische und Chur-Brandenburgische neu-verbesserte Gesinde-Ordnung (Berlin 1746), 16. 223 Mantissa. Churfürstlich-Sächsiache Gesinde-Ordnung de Anno 1651, abgedr. Ahasver Feutsch, Famulus peccahs, sive tractatus de peccatis famuloruin (Nürnberg 1685), 67. 224 Känigf, Preuß, Gesinde-Ordnung, 34 f. Frisch (Ausg. 1712), 185, s. v. Herr. 228 Estienne (1549), s. v. domination ;NathanaelDhüez, DictionaireFrancois-Allemand-Latin (Leiden 1642), 563, s. v. seigneurial; Furetiere 4' 6d., t. 4 (1721), 1614, s. v. seigneurie. 46 47 Herrschaft III. 6. Aufklärung und Revolutionierung der Herrschaft B) Vernünftige Herrschaft Herrschaft frühen deutschen Vokabularien bei „Herrschaft", „Gewalt", „Gebiet" 'dominium* und die übrigen Äquivalente vor, aber 'impérium' fehlt22'. Josua Maaler in Zürich versucht, möglicherweise unter Einfluß der französischen Jurisprudenz, zu differenzieren : Herrschafft ist für ihn vor allem impérium, während HerrschungfBeherrschung mit mehreren Wörtern übersetzt wird, unter denen sich wohl dominium, nicht aber 'impérium' befindet228. Damit steht er jedoch allein. Schon Dasypodius hatte eher umgekehrt akzentuiert, aber auch beide unterschiedslos nebeneinandergesetzt, wie es auch die Lexikographen der folgenden Zeit tun werden. Überhaupt widersetzen sich die Wörterbücher der frühen Neuzeit den Versuchen semantischer Systematisierung. In den mehrsprachigen Wörterbüchern werden die Hauptbedeutungen durch die Übersetzungen der Beispielsätze oft ganz entscheidend erweitert, und die bei einer Sprache mit Hilfe der Übersetzung getroffenen Unterscheidungen werden bei der Gegenprobe im anderssprachigen Teil wieder über den Haufen geworfen, wobei man häufig nicht Gedankenlosigkeit der Bearbeiter, sondern Bezugnahme auf verschiedenartige Kontexte vermuten darf. Die Normierung in den nicht mehr an der Übersetzungsarbeit orientierten einsprachigen Wörterbüchern bedeutet deshalb auch eine Verarmung und zugleich den Ausschluß von Bedeutungen, die in der zeitgenössischen Sprache und Literatur gebraucht werden. Mehr noch als Bedeutungen fallen Beispielsätze dieser Selbstzensur zum Opfer, die nur noch sprachlich Steriles oder, wo sie sich poetischer Beispiele bedient, politisch Neutrales übrigläßt. Das gilt auch für die großen französischen Wörterbücher vor Diderots „Encyclo-pédie", der zuerst wieder bewußt anders vorgeht. Zum Beleg der kraftvollen Beispiele von Dhuez der Satz, der 'seigneurial' erläutert, wobei der barocke Pessimismus der neusprachlichen Fassungen eigentümlich kontrastiert zur Nüchternheit der lateinischen: L'injustice est plus forte, libře et plus seigneuriale que la justice, Die Ungerechtigkeit ist stärcker j Freyer f und Herrischer / dan die Gerechtigkeit f Latius imperat injustitia quam Justitiar. 6. Aufklärung und Revolutionierung der Herrschaft Die revolutionäre Veränderung von Staat und Gesellschaft im modernen Europa bedeutet auch eine Änderung des Herrschaftsbegriffs. Drei Übertragungen von dinglichen Rechtsvorstellungen müssen als unberechtigt erkannt werden, um einen eigenen Begriff 'politischer Herrschaft' zu bilden: sie beruht nicht auf einem Eigentumsrecht einzelner, sondern ist öffentliche Angelegenheit; sie ist keine Fortsetzung häuslicher Gewalt über Unmündige, sondern höchste Gewalt, ausgeübt im Auftrag der Bürger, und deren Verhältnis zum Staat darf deshalb nicht das der Knechtschaft sein. Der Begriff 'Herrschaft' unterscheidet sich dadurch von anderen politischen Begriffen, daß er ein Relationsbegriff ist und deshalb keine Zielvorstellung, kein Ideal von ihm formuliert werden kann. Vielmehr ist er selbst orientiert an anderen Begriffen, wie der Erhaltung des Staates und seines Rechtszustandes sowie an 22' Vocabularius ineipiens teutonieum ante latinům [Nürnberg?, Speyer? 1482?], 60. 49. 42. 83. 228 Maaler (1561), 219'. "* Dhuez, Dictionaire Francois-AIlemand-Latin, 563, s. v. seigneurial. der bürgerlichen Freiheit. Die begriffliche Klärung von 'Herrschaft' besteht deshalb wesentlich im Abweisen von Übergriffen, von verfehlten Bedeutungsübertragungen Da es zu sinnvollem Handeln klarer Begriffe bedarf, stellte Diderot sich dieser Aufgabe; er ist der erste, der das in einem Lexikon getan hat. a) Vernünftige Herrschaft. In einer Zeit, als das kontinentale Europa absolutistisch beherrscht wurde, als selbst Montesquieu nur mit größter Vorsicht auf das Beispiel der englischen Verfassung hinzuweisen wagte, und ein Jahrzehnt bevor Rousseau den „ContTat social" schrieb, entwickelte Diderot als Neuling in politischer Theorie den Begriff 'autorite politique'. Seine Demonstration ist von überwältigender Einfachheit, und obwohl sie populär, und das heißt damals noch, mit religiösen Vorstellungen argumentiert, ist das kein Versteekspielen, sondern die Herausforderung christlicher Lehre durch die Vernunft, die, wie der Cusaner oder Erasmus •— aber auch Zedier — beweisen, zu ganz anderen Ergebnissen gelangen kann als Luther oder Bossuet. Der Ausgangspunkt ist naturrechtlich: Aucun homme n'a recu de la nature le droit de Commander aux autres, Herrschaft über andere widerspricht der Freiheit und Vernunft, und von Natur gibt es nur die begrenzte väterliche Gewalt: Taute autre autorite vient d'une autre origine que de la nature. Herrschaft entsteht entweder durch Gewalt, dann ist sie Usurpation und dauert auch nicht länger, als die Gewalt es erzwingt, oder aber durch vertragliche Übereinstimmung, und dann zu einem bestimmten Zweck, pour le bien commun et pour le maintien de la socieli, und unter bestimmten Bedingungen. Religiös motiviert mit der scharfen Wendung, daß alle Religion andernfalls politischer Betrug wäre, ist das Einschränken der Unterwerfung von Menschen unter einen ihresgleichen: Toute autre soumission est le niritohle crime d'idoldtrie. Ebenso entschieden wie er die Vergötzung der Staatsgewalt verurteilt, leitet er aus dem Vertrag die bleibende Verpflichtung des Inhabers der Herrschaft denen gegenüber her, von denen er sie erhielt. Mißbrauch annulliert den Vertrag, und Eigentümer der Herrschaft als eines bien public bleibt das Volk selbst in der erblichen Monarchie: la couronne, le gouvernement et l'autorite publique, sonl des biens dont le corps de la nation est proprietaire%3a. Die Konsequenz, mit welcher der Begriff aus dem Zusammenhang von Volkssouveränität, Vertragsgedanken und Freiheitssicherung entwickelt wird, führt zum Bewußtsein, daß er notwendig so gedacht werden muß: denn monströs ist der Staat, der dem Privatinteresse der einen und der Knechtsgesinnung der anderen ausgeliefert ist, la soumission y est honteuse, et la domination cruelle. Um diesen Prinzipien höchste Autorität zu verleihen, zitiert Diderot einen Herrscher, der ihnen gemäß regierte, und er muß dazu auf das späte 10. Jahrhundert zurückgreifen, auf Henri IV.231. Es ist kein Wunder, daß das offizielle Frankreich das als skandalös empfand. Fur Diderot und die Begriffsbildung der französischen Aufklärung war es ein Vorzug, in 'autorite' einen neutralen Begriff gesetzmäßiger Herrschaft zu besitzen, der tr iditionell von 'domination' als unberechtigter und uneingeschränkter Herrschaft unterschieden war und ebenso von 'seignenrie' als lehensrechtlichem Institut. Denis Diderot, Art. autorite politique, Encyclopédie, t. 1 (1751), 898f. 881 Ebd., 899f. 48 49 Herrschaft III. 6. Aufklärung und Revolutioniernng der Herrschaft Kritik aäer Herrschaft Herrschaft b) Historisierung und Aktualisierung. Der deutsche Begriff 'Herrschaft' ist im Gegensatz zu Adelungs Prognose dadurch bestimmt, daß die immer noch vorhandenen konkreten regionalen Herrschaften und die persönlichen Dienstherrschaften als veraltet und unberechtigt angesehen werden. Das wirkt sich auf das wie 'autorite' nur im Singular gebrauchte Abstraktum 'Herrschaft' so aus, daß es' mit den konkreten Bedeutungen, aber stärker noch, den Inbegriff unberechtigter Gewaltaus-iibuttg bildet und zu 'Regierung' in Gegensatz tritt432. Danach erst, durch eine erneute Konkretisierung der abstrakten Bedeutung, bezeichnet sie den Besitz der Staatsgewalt, um den die verschiedenen Klassen der Gesellschaft und ihre Parteien kämpfen. Dieser Herrschaftsbegriff entsteht in der Dissoziation von Staat und Gesellschaft, in welcher die Begriffe 'Klasse' und 'Partei' einen neuen Inhalt gewinnen. Herrschaft einer der konkurrierenden Klassen bedeutet Ungleichheit und Unfreiheit der nicht zur Herrschaft gelangten Klassen. Dieser Prozeß, der im wesentlichen erst nach der Französischen Revolution, aber in Frankreich zuerst und beispielhaft für Europa bis 1848 durchgeführt wird, findet seine erste theoretische Darstellung bei Lorenz von Stein (1850), dem die repräsentativen deutschen Lexika um zwei bis drei Generationen nachhinken233. Zunächst verfällt der Historisierung schon im aufgeklärten Absolutismus der deutschrechtliche Begriff 'Herrschaft': Gemeiniglich hat eine solche mittelbare Herrschaft die Gerichtsbarkeit, die Policey und einige andere Hechte unter Anordnung, Aufsicht und Obergebietschaft der obersten Gewalt auszuüben. Allein, alle solche Verfassungen rühren aus Zeiten her, wo man eine schlechte Einsicht in die guten Regierungsgrundsätze gehabt hat, und verursachen viele unnötige Vorsorge und Maßregeln des Regenten, und viele Unbequemlichkeiten auf Seiten der Untertanen^*. Fast gleichzeitig beschreibt Justi in einer Satire das Leben eines dieser Landjunker, der über sechs Bauern und fünfzehn Hintersättler seine unumschränkte Herrschaft ausübt295. Als nächstes wird das „dominium eminens" der obersten Gewalt für obsolet erklärt, das nach Justis Erfahrung in denen despotischen Staaten schon auf eine erschreckliche Art gemißbrauchet wurde236. Biener versucht es noch 1780, in einem bildhaften Vergleich zu erläutern und zu verharmlosen: Nur kam ein zweites gleichsam unsichtbares Eigenthurri, wie eine Wolke oben her, welches in eigentlichem Verstände das Landes und Obereigenthum (dominium terrae) genannt wurde. Man muß also das Eigenthum der Landeshoheit ohne Nachteil der Privateigenthümer annehmen231. Das Recht 282 Vgl. Scheidler, Art. Herrschen, Herrschaft (s. Anm. 43), 37L; Fvbbtiem 3" ed., t. 1 (1708), s. v. autorite. 133 Lorenz von Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage (1850ff.), Ndr. hg. v. Gottfried Salomon, Bd. 1: Der Begriff der Gesellschaft und die soziale Geschichte der Französischen Revolution bis zum Jahre 1830 (München 1921 j Ndr. Darmatadt 1959), passim, bes. Einleitung. 13i J. H. G. v. Justi, Staatswirthsehaft oder Systematische Abhandlung aller Oekono-mischenund Cameral.Wissenschaften, 2. Aufl., Bd. 1 (Leipzig 1758; Ndr. Aalen 1963), 341. 235 Dera., Das Leben Junker Hansens, eines Landedelmannes (1760), abgedr. Satiren der Aufklärung, hg. v. Gunter Grimm (Stuttgart 1975), 108. 106. '« Dera., Natur und Wesen der Staaten als die Quelle aller ßegierungswissenschaften und Gesetze, hg. v. Heinrich Godfried Scheidemantel (Mitau 1771; Ndr. Aalen 1969), 109. 837 Christian Gottlob Biener, Bestimmung der kaiserlichen Machtvollkommenheit in der teutschen Eeicharegierung, Tl. 3 (Leipzig 1780), 200. der Untertanen wurde allerdings oft genug durch die Landeshoheiten verletzt, nicht jedoch deren Recht durch die „Machtvollkommenheit" des Kaisers. Für dieses Verhältnis findet Biener ein neues Bild: Man wollte die Maiestäl nicht neben sich in dem Lande, sondern bloß über sich haben; sie sollte ein Baum sein, welcher der Landeshoheit Schatten gäbe, ihr aber keine Nahrung und Wachstum entzöge; sie sollte über alles herrschen, aber nichts unmittelbar berühren23*. Ein groteskes Bild, der wurzellose Baum, der einer Wolke Schatten gibt, enthüllt ungewollt den Zustand des dahinsiechenden alten Deutschen Reiches. Zugleich verweist das Zitat auf eine zweite Bedeutung von 'Herrschen' und 'Herrschaft', die bloß formale Überordnung, die ebenfalls zu 'Regierung' in Gegensatz steht. Sie bezeichnet nicht nur das Verhältnis de*. Kaisers zu den Fürsten, sondern in der konstitutionellen und liberalen Auffassung auch das des Monarchen sowohl zur selbständig, aber auswechselbar gewordenen Regierung wie zur Gesellschaft überhaupt. Thlebs' klassische Formulierung : Le roi regne et ne gouverne pasi3® geht zurück auf die Forderung der polnischen Adelsfreiheit im 16. Jahrhundert: Regna, sed non impera1*0, die nicht nur die Anmaßung unberechtigter Gewalt, sondern jeden Herrschaftsakt verhindern will. c) Kritik aller Herrschaft. Zur Zeit der Französischen Revolution wird 'Herrschaft' als Ausübung oder Anmaßung unberechtigter Gewalt und, in deren Folge, als Willkür und Unterdrückung verurteilt im Gegensatz zur gesetzmäßigen und zweckbe-stimmten 'Regierung'. Dieser Unterschied zwischen 'Regieren' in konkreter und 'Herrschen' in abstrakt allgemeiner Bedeutung ist älter; ein anonymer Autor des Barock gebraucht ihn glanzvoll, um Karl V. seinen Thronverzicht erklären zu lassen: Ich höre auff zu regieren, damit ich ewiglich in der gedachtnuß der menschen herrschen möge2*1. Die neuere Synonymik unterscheidet beide Begriffe so, daß 'Herrschen' die gemeinsame Grundbedeutung, die Handlungen eines Andern bestimmen, ohne Angabe von Mittel und Zweck ausdrücke, 'Regieren' zusätzlich das Bestimmen der Mittel anzeigt, wodurch ein erwünschter Zweck erreicht wird1*2. So verwendet Goethe sie in der Bemerkung, Herrschen lernt sich leicht, Regieren schwer113. Entschiedener wird die Abwehr von Übergriffen auf das Recht des Bürgers, die sich aus der bloßen Machtstellung des Fürsten oder der Mehrheit in Gewissensfragen herleiten. In der Religionsdebatte der Nationalversammlung ergreift MirabeaU das Wort: On vous parle Sans cesse d'un culte dominant. Dominant! Messieurs, je n'en-tends pas ce mot, et j'ai besoin qu'on me le definisse. Est-ce un culte oppresseur que Von veut dire? . . . dominer. C'est un mot tyrannique qui doit etre banni de notre legis- 238 Ebd., 173f. 231 Adolphe Thiers, Le National, 19. 2. 1830. Für die Entstehungsgeschichte vgl. Anm. 418. 210 Jan Zamojski (1541—1605), mündlich im poln. Reichstag, zit. Büchmann 32. Aufl. (1972), 653. 841 [Anonym], Entdeckte Grufft Politischer Geheimnüssen, 2. Aufl. (Heidelberg 1664), 15. 242 Eberhard/Maass 3. Aufl., Bd. 3 (1827), 377, s. v. Herrschen, Regieren. 213 Goethe, Maximen und Reflexionen, HA Bd. 12 (1953), 378, Nr. 102. 50 5! Herrschaft 1H. 6. Aufklärung und ReYorationierung der Herrschaft J0i 7. „Herrschaft und Knechtschaft* Herrschaft te'om244. In „dominer" wie in „herrschen" steckt auch die Bedeutung quantitativen Überwiegens, mit der unberechtigten Folgerung, die Minderheit zu unterdrücken, Die Veränderung der Wirklichkeit verändert auch die Begriffe, aber sie fordert vor allem, klare Begriffe zu erarbeiten. Mirabeau hat sich dieser Aufgabe unterzogen, und deshalb ist sein politisches Argument auch Sprachkritik. Konnte Justi noch überzeugt sein, daß der Trieb zur Herrschaft über andere nicht in der menschlichen Natur gegründet, sondern bloß eine Folge von einem mittelmäßigen Verstände sei245, so ist die Psychologie der Herrschaft doch rasch in Bewegung geraten, Mirabeau hält die Herrschsucht für eine grundlegende Leidenschaft des vergesellschafteten Menschen, weshalb der Unterdrückte jede Gelegenheit ergreifen wird, sich zum Herrn zu machen: II n'est qu'un pas du despote ä l'esclave, de l'esclave ■ au despote, et le fer le franchit aisement2™. So beurteilt auch Georg Forster die ersten Phasen der neuen franzosischen Staatsreform: man habe die Mensehen dumm und blind zu machen gesucht, sich Herrschaft über freie Intelligenzen angemaßt und seine Leidenschaften dabei befriedigt. Ist es ein Wunder, daß die Ausbrüche des end-lieh erwachten Gefühls nun nicht ganz rein und ungemischt sein können?™ Im Prozeß gegen den König wird Saint-Just die radikalen naturrechtlichen Konsequenzen ziehen und nicht nur die Handlungen dieses Königs gegen sein Volk, sondern die königliche Herrschaft selbst als ein Verbrechen der Usurpation anklagen, gegen das jeder Bürger das Recht zum Widerstand habe. Und er beschwört das Bild einer zukünftigen Menschheit, die es sich zur Aufgabe machen wird, alle Herrschaft abzuschaffen, d'exterminer la domination en tout pays, denn Herrschaft ohne Schuld ist nicht möglich: On ne peut point regner innocemment*15'. Vor solchen Folgerungen scheute die deutsche Öffentlichkeit zurück. Hier galt noch länger, wie Fichte beklagt, daß noch die meisten unter uns meinen: ein Mensch könne Herr eines andern Menschen sein — ein Bürger könne durch die Geburt auf Vorzüge vor seinen Mitbürgern ein Recht bekommen1^. Und doch wird im Rückgriff auf die privatrechtliche Prägung des Begriffs 'Herrschaft', der Personen wie Sachen, Öffentliches und Allgemeines wie Privates ansieht, und Unterordnung ohne Zweck bezeichnet, im Vergleich mit 'Regierung' Sache und Begriff der 'Herrschaft' abgelehnt. Pestalozzi erläutert Beherrschung: Wesentlich von der Regierung verschieden, ist sie eine bloße Folge des Privateigentums, der Privatbedürfnisse und der Privatrechte. Die Regierung hingegen ist eine bestimmte Folge des allgemeinen Eigentums, der allgemeinen Bedürfnisse und Rechte1^0. Schärfer noch formuliert Seüme den Gegensatz: 214 [Honore Gabriel Victor Riquetti, Marquis de Misabeau], Rede v. 23. 8. 1788, Collection compl^te des travaux de M. Mirabeau l'aine ä l'Assembl^e Nationale, t. 2 (Paris 1791), 68f. 215 JtJSTI, Natur und Wesen der Staaten (s. Anm. 236), 39f.; vgl. ebd., 19f. 218 [H. G. V. Riquetti, Marquis de Mirabeau], Essai sur le despotisme, 2* ed. (London 1776), 25. 2" Georg Förster an Heyne, 12. 7. 1791, Sämtl. Sehr., Bd. 8 (1843), 149. 2i8 Antoise Louis Leon Florelle de Saint Just, Rede v. 13. 11. 1792, Archives parle- mentaires de 1787 ä 1860, ed. M. Mavidal et E. Laurent, t. 53 (Paris 1898), 391. 249 Fichte, Beitrag zur Berichtigung der Urtheile des Publikums über die Französische Revolution (1793), AA Bd. 1 (1964), 212. 250 Pestalozzi, Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des . Menschengeschlechts (1797), SW Bd. 12 (1938), 20. Die Wörter Herr und herrschen geben keinen vernünftigen Begriff unter vernünftigen Wesen. Man ist nur Herr und herrscht über Sachen und nie über Personen. Nur wer nicht gesetzlich gerecht regieren kann, maßt sich der Herrschaft an, und begeht den Hochverrat an der Vernunft251. Damit ist ein gewisser Abschluß der Entwicklung des Begriffs 'Herrschaft' erreicht, wie er von den naturrechtlichen Voraussetzungen aus möglich war. ii) jHemchaft des Schreckens", Keine der nachrevolutionären Parteien Frankreichs wäre ohne die Revolution möglich gewesen, und kaum ein europäisches Land hätte auf die durch sie in Gang gesetzte politische Neuordnung verzichten wollen, ■aber viele fühlten sieh bemüßigt, die Revolution lediglich an ihren Exzessen zu beurteilen. Zumeist wurde ihr Verrat oder Widerlegung ihrer Prinzipien von denen vorgeworfen, die diese Prinzipien nicht anerkannten. Und selbst die Denker, die der Französischen Revolution zutiefst verpflichtet waren, sahen sich vor ungewöhnlichen Schwierigkeiten der Rechtfertigung des Geschehens. Hegel beurteilte das : Moment deT Schuld im politischen Handeln kaum weniger radikal als Saint-Just. ■ Aber in einer bezeichnenden Wendung spricht er es nicht der monarchischen Herrschaft zu, sondern der wechselnden Regierung: Darin, daß sie Faktion ist, liegt ■ unmittelbar die Notwendigkeit ihres Untergangs; und daß sie Regierung ist, dies macht sie umgekehrt zur Faktion und schuldige. Deshalb schien es ihm, als ginge die 'absolute Freiheil aus ihrer sich selbst zerstörenden Wirklichkeit in ein anderes Land des selbstbewußten Geistes über™. Mit einer gewissen Verspätung erst wurde in Deutschland erkennbar, daß die '„Herrschaft des Schreckens" keine Widerlegung der Revolution war, sondern ihre praktische ökonomische Bedeutung in der dauernden Sicherung der neuen Bodenverteilung251 hatte. Sie beendete die Standesherrschaft und schuf den Raum für Bildung und Besitz und — in deren Folge — für die Herrschaft von Klassen. Von nun an kämpfen die ungleichen Klassen der Gesellschaft um Herrschaft als Teilhabe und Besitz von Staatsgewalt und Gesetzgebung. Damit ist die Möglichkeit gegeben, ■'daß 'Herrschaft', nach dem Veralten der konkreten räumlichen und personalen Bedeutungen, als soziologisches Universale in allen Gesellschaften die Chance bezeichnet, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu fin-dfe«255. Zugleich wächst der Widerspruch zu den sieh entwickelnden Begriffen von 'Freiheit' und 'Persönlichkeit' und drängt zu einer Aufhebung der Herrschaft über Mensr hen, die weiter geht als die bisherigen Versuche, deren Scheitern die Epochen der Geschichte bezeichnet. 7. „Herrschaft und Knechtschaft" Die literarische Gestaltung der sozialen Wirklichkeit spart den Knecht und die Warenproduktion so gut wie völlig aus. Sie kennt den Diener als Vertrauten, als 861 Seume, Apokryphen (1806/07), SW Bd. 4 (1839), 223f.; vgl. ebd., 270. 202 Hegel, Phänomenologie des Geistes (1807), SW Bd. 2 (1927), 455. 863 Ebd., 459. 264 Stein, Geschichte der sozialen Bewegung (s. Anm. 233), Bd. 1, 364. 256 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, hg. v. Johannes Winckelmann, 5. Aufl. (Tübingen 1972), 28. 52 53 Herrschaft HI. 7. „Herrschaft und Knechtschaft" -\ jjj ^ „Herrschaft und Knechtschaft" Herrschaft Gefährten der Abenteuer und, wenn es hoch kommt, als Gegenspieler der Intrige ? seiner Herrn. Und doch findet die psychologische Dialektik von Herrschaft und I Knechtschaft unübertroffene Gestaltung. Im „King Lear" bietet sich der eben ver- " bannte Kent verkleidet dem schon verarmten Lear zum Dienst an. Lear sieht nicht ; mehr wie ein König aus, aber er hat noch etwas: You have that in your countenin:,\ which I would fain call tnaster. Lear: What's that? Kent: Auihority™. Eine Hoheit, '. die zerbricht, sobald sie sich der Realität niedrigen Handelns gegenübersieht, d.v. sie sich nicht vorzustellen vermag und daher des Dieners bedarf. Würde ohne Amt, ?' die dann erst sich bewährt — Ay, every inch a hing — wenn der Herr aller Mit M beraubt, erniedrigt, nackt und närrisch, Einsicht gewinnt in das Unrecht und d^n Mißbrauch der Herrschaft: the great image of authority; a dog's obey'd in Office**1! Keine Herrschaft in der Literatur der Neuzeit, die nicht in Frage gestellt und problematisch wäre, und keine, die nicht schon aus dem Kontrast lebte zwischen einer Ver- * gangenheit, auf die sie ihre Geltung gründet, und einer Gegenwart, in der dl *■ Geltung bezweifelt wird. Der Rechtsgrund ist unwirklich geworden, eine IdeoIcL'i \ die den Herrn gefangen hält. Und der Diener bemächtigt sich ihrer, um den Herrn mit dessen eigenen Mitteln zu schlagen558. Das kann der närrische und doch, v »i* Heroismus des Don Quijote sein, mit dem Saneho Pausa ihn übertölpelt259, der das Dogma der Willensfreiheit des Herrn in Diderots „Jacques le fataliste" oder die Unwiderstehlichkeit des Grafen Almaviva in Beaumarchais' „Le mariage ih Figaro". Hier erst und endlich erhebt sieh die bewußte Überlegenheit des fahi-rrn Geistes gegen die Standesherrschaft des Ancien Regime, das mit ererbten Privilegien für einzelne alle anderen in allgemeiner Knechtschaft hält: Noblesse, fortune, un rang, '. des places, tout cela rend si fierf Qu'avez-vous fait pour lant de biens? Vorn vwis eles donnes la peine de naitre et rien de plus2ea. Die Knechtschaft, die von da an als unerträglich empfunden wird, ist nicht die des dienenden Standes, sondern die < Im1-. Rechts, das keinen Grund seiner Geltung mehr beanspruchen darf, will es nicht i Js selbstverschuldet angesehen werden. Die Ungleichheit von konkreten und abstrakten Begriffen, die in Wechselbeziehung zueinander stehen, hat schon die antike Dialektik beschäftigt. Für den konkreten Begriff ist es wesentlich, daß der einzelne Herr nicht Herr überhaupt von Knechten überhaupt, sondern nur Herr bestimmter Knechte sein kann, die wiederum Knechte = nur dieses Herrn sind. Herrschaft selbst aber verhält sich anders zu Knechts< i.ift als Herr zu Knecht261. Aber auch innerhalb dieser Relation ist eine Ungleichheit, auf die Aristoteles aufmerksam macht: formal ist der Herr seines Sklaven Herr ebenso wie der Sklave seines Herrn Sklave ist, aber der Herr besitzt seinen Sklaven, während der Sklave weder seinen Herrn noch sonst etwas besitzt282. Selbst beim - 35« William Shakespeabe, King Lear 1, 4, 29ff. 251 Ebd. 4, 6, 110. 163f. 25a Miguel de Cervantes, Don Quixote de la Mancha 1, 1, 22. Obras comp]., ed. Hodolfo Schevill y Adolfo Bonilla, t. 1 (Madrid 1928), 299. 2S0 Ebd. 1, 2, 10; vgl. die Interpretation von E. Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirk- - lichkeit in der abendländischen Literatur (1946), 3. Aufl. (Bern 1964), 319ff. 280 Pierre Auqustin Caron de Beaumarchais, La folle joumee ou le mariage de Figaro - 5, 3 (1783), Studies on Voltaire 63 (1968), 429f, 291 Plato, Parmenides 133d, e. 252 Aristoteles, Politik 1255b 10f. formal freien Kontrakt zwischen Herr und Knecht oder beim modernen Arbeits-vertraK hegt eine entscheidende Ungleichheit und Unfreiheit vor263. Die inhaltliche Ungleichheit findet sich aber auch in der Begriffsentwicklung von 'Herrschaft' gegenüber 'Knechtschaft'. 'Herrschaft' bezeichnet eine vorhandene Gewalt, die Personen, die diese Gewalt ausüben, Amt und Titel dieser Personen, das Gebiet, in dem diese Gewalt Geltung beansprucht und schließlich jedes Gewalt-verhältiu.1-. 'Knechtschaft' und seine Äquivalente dagegen bezeichnen nur allgemein die Eigenschaft, Knecht, Sklave oder abhängig zu sein. Und ihr bildlicher Gebrauch jjj'.'religionem und moralischem Sinn entspricht nicht der Ausdehnung und Verfestigung in der Entwicklung des Begriffs 'Herrschaft'. Übertragung liegt auch an der Stelle vor, zu deren Übersetzung Luther das Ab-strakturri 'Knechtschaft' prägte. Der Begriff bezeichnet ein zeitloses soziales Verhältnis', um dessen spirituelles Ende und Überholtsein anzukündigen. Das geschieht schon mit der Verinnerlichung des Freiheitsbegriffs in der Stoa und gleichzeitig bei Philo von Alexandrien264. Das bedeutet eine Umkehrung der sozialen Wertord-uung und eine Verinnerlichung der Ethik. Zugleich ist unbeabsichtigt ein Potential der Veränderung angelegt, denn eine neuerliche Übertragung in den Bereich gesellschaftlichen Handelns kann gar nicht ausgeschlossen werden. Interpretationsbedürf-tig bleibt vielmehr die Tatsache, daß eine Änderung in der Ansicht der gesellschaftlichen Institution Knechtschaft vor dem 18. Jahrhundert nur sehr selten zu belegen ist. Noch Leibniz hat in der Lehre der „Natürlichen Gesellschaften" die gleichen Schwierigkeiten wie Aristoteles und das römische Recht, die Knechte kategorial vom Vieh zu unterscheiden. Der Mangel an Verstand bei den Knechten, der ihre Knechtung legitimieren soll, dominiert deshalb im Argumentationshaushalt entschieden die unsterbliche Seele, die keine Rechtsfolgen hat und deshalb zugestanden werden kann265. In Hec.I'LS Denken bezeichnen 'Herrschaft' und 'Knechtschaft' zunächst, wie bei Paulus, eine unzureichende und vergangene Alternative, eine Trennung, die alle freie Vereinigung ausschließt^. In der „Phänomenologie des Geistes" wird dieser Zustand als durch Arbeit zu überwindende Stufe des Selbstbewußtseins entwickelt. InterpTetationsversuche, diesen Zustand sozialgeschichtlieh auf eine bestimmte Epoche oder psychologisch nur als Entfaltung des Prinzips Selbstbewußtsein zu deuten, bleiben unbefriedigend. Dafür sind zu viele und zu allgemeine Bestimmungen in diesem Begriftspaar. Hegel bezieht sich einmal auf den fiktiven historischen Wendepunkt, seit dem der Sieger den im Kampf Unterlegenen nicht mehr tötet, sondern unterwirft und arbeiten laßt. Es ist das Stadium der Geschichte, das Vico mit Schrecken noch aus den von den römischen Historikern geglätteten Spuren der Vorzeit erkannte und als impen ... ciclopici („zyklopische Herrschaft") und die ihr entsprechende Freiheit 292 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 455. 294 •■> Freiheit, Bd. 2, 456ff.; Philo von Alexandrien, Uber die Freiheit der Tüchtigen, 8 Hl. 295 Lkibniz, Die natürlichen Gesellschaften (1694/98), Kl. Sehr. z. Metaphysik. Opuscules mi'taphvbiques, hg. v. Hans Heinz Holz (Frankfurt 1965), 402f. 288 Heoel, Der Geist des Christentums und sein Schicksal. Entwurf 7 (1798/99), Hegels theo! Jugendsehr., hg. v. Hermann Nohl (Tübingen 1907), 374. 54 Ö5 Herrschaft Hl. 8. 'Herr' nnd 'Knecht' auf lexikalischer Eleb, t(Ij B. 'Ilerr' und 'Knecht* aof lexikalischer Ebene Herrschaft allein der Grundherren beschrieb2'17. Zugleich ist es der Individuationaprozeß ;„ einer durch Bedürfnisse und Arbeit bestimmten und sozial differenzierten Gesellschaft. Und ebenso bezeichnet es den mit der späten Bedeutung eines alten Begriffes 'Emanzipation' genannten Prozeß der sozialen und rechtlichen Lösung aus dem Schema des römischen Rechts in seiner ständischen Verfestigung. „Herrschaft und Knechtschaft" werden als Bewegung und in dieser Bewegung sich umkehrende Relation verstanden. Die Umkehrung ist nicht mehr die des Topos der „verkehrten Welt", sondern geschichtsphilosophische Einsicht. Der Stand des Herren, der im Kampf sein Leben wagte, woraus er die Macht über den Knecht, ab-leitet, und das Eroberte im Genuß vernichtet, enthält einen Mangel. Seiner Befriedigung fehlt daa Bestehen. Die Arbeit hingegen ist gehemmte Begierde, aufgehaltenes Verschwinden, oder sie bildet166. Das knechtische Bewußtsein, das scheinbar verzichten muß, erlangt die wirkliche Befriedigung, . .. denn es ist Begierde, Arbeil und Genuß gewesen; es hat als Bewußtsein gewollt, getan und genossenim. Zwar verdoppelt sich das Bewußtsein seiner ah des sich befreienden und als des absolut sich verwirrender und wird in diesem Widerspruch unglückliches Bewußtsein110, und erst in der Aufopferung verliert es sein Unglück, im Aufgeben des eignen Willens setzt es eineii allgemeinen. Es hat noch nicht die Freiheit gewonnen, aber eine Vorstellung der Vernunft"1. Was Hegel als Prozeß des bewußtwerdenden Individuums beschreibt, ist zugleich als weltgeschichtlicher Prozeß zu lesen. Die Verwandlung von „Herrschaft und Knechtschaft" im Bewußtsein der Freiheit ist ebensowenig verifizierbares Faktum wie abstraktes Denken einer Utopie. Es ist vielmehr ein Vorgriff auf die Geschichte, der sieh der Möglichkeit der Französischen Revolution verdankt und als konkretes ■: Begreifen .. . eine Gewalt gegen das Bestehende geworden ist272. Hobst Güstjier 8. Die Beziehung zwischen 'Herr' und 'Knecht' in ihrer lexikalischen Erfassung; Es kennzeichnet die Geschichte der Wörterbuchartikel „Herr/Herrschaft" und „Knecht/Knechtschaft", daß vom 18. zum 19. Jahrhundert die Bedeutungsgehalte stark verdünnt werden, während die historischen Rückblicke dementsprechend zunehmen. Herrschaft und Knechtschaft scheinen seit dem 19. Jahrhundert, Hofvn die Artikel noch auftauchen, der Vergangenheit anzugehören, Zedler und ähnlich Walch behandeln in zahlreichen Untertiteln das breit -i?-fächerte Begriffsfeld, erweitert um die Artikel „Gesinde", „Diener" und „Leibeigenschaft". Aber mehr noch: der gesamte Kosmos wird nach Herrschafts- inil Kuoohtäcbaftskriterien gegliedert, denn 'Herrschaft' ist in dem allerweitesten Ver-sid^6 diejenige Verhältniß derer Dinge gegeneinander, da die Abrichtung derer Ktäfte des einen von dem Willen des anderen abhanget. Nur Vernunft- und willensbegabte Wesen übten Herrschaft aus, wobei als erster Gott genannt wird, der seine Herrschaft weder durch Gesetze noch durch Rechte begrenzt habe273. Bei Walch rückt Gott bereits um einige Spalten nach hinten; Krünitz registriert 1781, daß Sott immer seltener mit Großbuchstaben geschrieben werde; und die „Deutsche Enzyklopädie" nennt 1790 in ihrem Artikel „Herrschaft" Gott überhaupt nicht mehr2'1. Der theologische Bezug auf Gottes Herrschaft, der in der politischen und "sozialer1 Alltagsspraehe weiterhin beschworen wird, ist aus der lexikalischen Registratur ausgefällt worden. Art zweiter Stelle rangiert bei Zedlee die Herrschafft über uns selbst, was Walch üobh (Js uneigentlichen Begriff bezeichnet, wobei die Vernunft, gebunden an Amt tmd Pflicht, über die Affekte zu herrschen habe275. Erst au dritter Stelle erscheint bei Zedler die Herrschaft der Menschen über Menschen, und zwar bereits zwielichtig, da sie sowohl rechtmäßig als unrechtmäßig ge-tiettnet werde. Wenn man aber von der Herrschaft überhaupt redet, so verstehet man hierunter die rechtmäßige Herrschaßt. Herrschaft, sowohl die landesherrliche Majestät Wie die hausherrliche Gewalt, haben also die Vermutung der Rechtmäßigkeit für sich; aber sie muß begründet werden. Denn von Natur sind wir alle einander gleich?'"'. Weder physische Unterschiede noch Verstandeskräfte könnten — wie bei Aristoteles. — Herrschaft und Knechtschaft legitimieren. Es gibt nur eine Legitimation der Ungleichheit — und hier sind Zedier und Walch in der Diktion identisch —: ■■ .weil durch den Stand der Herrschaft und den der Knechtschaft das Interesse des 'menschlichen Geschlechts befördert wird277. Deshalb sei die Ungleichheit dem natürlichen Recht nicht zuwider. Ihren Anlaß sehen die Autoren in der Stiftung des Eigentums, wobei Zedlek — im Unterschied zu Walch — bereits verzichtet, auf Sünde und Bosheit als Quelle der Herrschaft hinzuweisen. Beide Lexika insistieren i darauf, daß auch ein Knecht alle Bechtef behalte), die ihm als Menschen zukommen216. :■ Beide Lexika folgern daraus, daß jeder Status der Abhängigkeit und Ungleichheit 'offen oder stillschweigend nur aus einem Vertrag abgeleitet werden dürfe. Vor allem 'Walch besteht darauf, daß — entgegen der Wirklichkeit — auch die Leibeigenschaft nur vertraglich begründet werden dürfe. Denn man solle darauf nicht sehen, was geschieht, sondern was geschehen sollte. Deshalb dürfe man nicht beide weit unterschiedenen Begriffe der Ober-Herrschafft und der Eigenthums-Herrschafft (ver-menge.n)m. Er trennt bewußt 'Imperium' vom 'Dominium', das sich nicht auf v Menschen persönlich erstrecken dürfe. Und in der Auflage von 1775 wird mit Daries a" Giambattista Vico, La scienza nova, 2, 5, 8; 4, 13, 3 (1744), Opere, ed. Fausto. Nicolini, t. 4/1 (Bari 1928), 324; ebd., t. 4/2 (1928), 110. asB Hegel, Phänomenologie des Geistes, SW Bd. 2, 156. s«9 Ebd., 176. 270 Ebd., 166. 271 Ebd., ISO f. 272 Dere., Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, hg. v. Georg LassorJ, Bd. 4: Die germanische Welt (Leipzig 1920), 924. 27? Zedler Bd. 12, 1798, Art. Herrschaft. m Vgl. Walch 2. Aufl., Bd. 2 (1749), 1415, Art. Herrschaft; Krünitz Bd. 23, 75, Art. Herr; In. Ene., Bd. 15, 285ff., Art. Herrschaft. ,7S Zedler Bd. 12,1800, Art. Herrschaft; Walch 2. Aufl., Bd. 2,1415, Art. Herrschaft. iT« Zedler Bd. 12, 1800, Art. Herrschaft. 1,7 Walch 2. Aufl., Bd. 2, 1749, Art. Knechtschaft. Zkoler Bd. 15, 1066f., Art. Knecht. !-™ Walch 2. Aufl., Bd. 2, 1628, Art. Knechtschaft. 56 57 Herrschaft III. 8. 'Herr' und 'Knecht' auf lexikalischer Ebene |' ' jg g 'Herr' und 'Knecht' auf lexikalischer Ebene Herrschaft das Urteil soweit verschärft, daß es überhaupt keine Knechtschaft gebe, die auf i_ Einwilligung der Herrschaftsunterworfenen gründen könne280. Auch von Zbdler wird die Auseinandersetzung mit der römisch-rechtlichen Spr;- h-tradition kritisch vorangetrieben. Zwar habe es nie eine Republik mit allgemeinem Besitz aller gegeben, aber ebensowenig könne eine persönliche Herrschaft aus dem Dominium abgeleitet werden, indem von diesem Dominio . .. das Leben und die -' Glieder eines Menschen (eximieret werden), über welche er nicht Herr, sondern nur . 11 Wächter, Verwalter und usuariusquasi ist, das Dominium aber stehet bloß Gott zu . Der Mensch ist nur Herr über das, was er durch Fleiß, Glück und Menschen-Gunst -■ acquirieren kann; das Leben und Glieder des Menschen aber, können durch keinen '', Fleiß oder Glück, acquirieret werden2*1. Das verpflichtende Bindeglied zwischen Herrschaft und Knechtschaft wird von Zedier noch in der Doppelfunktion von Christus gesehen, der einerseits Herrschaft ausübe, und zwar als Prophet, als Hohepriester und als König, wobei er alle drei 5 Ämter bis zu seiner Wiederkehr an weltliche Amtsträger delegiert habe. Anderer- --.= seits nimmt er als Knecht des Herrn das Mittleramt zwischen Gott und Mensch w lir. Daraus folgt, wie es auch in den übrigen Lexika registriert wird, daß die Knechte " Gottes in der Priesterschaft zu finden seien. Der Stand der Knechtschaft wird von dem der Dienerschaft durch den unbefristeten -Vertrag unterschieden, denn Knecht ist diejenige Person, welche sich zu einem Herrn . zu unermessener Arbeit verdingt, davor ihren Unterhalt zu haben™-, wie es gemäß den frühneuzeitlichen Gesindeordnungen heißt. Neben pragmatischen Anweisungen für Herren und Knechte in der Landwirtschaft und in Haus, Hof und Stall, fällt um auf, daß Zedier die meisten Spalten darauf verwendet, die Geschichte der Knecht- » schaft von den Hebräern und Griechen bis zu den heutigen Deutschen abzuhandeln. ■ Dabei wird die Geschichte fortschrittlich ausgelegt. So habe der Bauernkrieg dazu geführt, daß die teutschen Bauern als die eigentlichen Knechte derer Teutschen freie Leute geworden seien. Sur diesen Weg wird der Einfluß der christlichen Religion • hoch veranschlagt, obwohl noch heute viele Spuren der Knechtschaft zu finden :■ir seien283. Die rechtlich-pragmatische Darstellung der Relation von Herrschaft und Knechtschaft wird also kritisch in Grenzen verwiesen, die sowohl christlich wie naturrechtlich aus der grundsätzlichen Gleichheit aller Menschen abgeleitet werden. Krünitz zeichnet sich durch eine sorgfältige Bestandsaufnahme der ständischm Alltagssprache und ihrer Bedeutungen aus, wobei er alle Stufen registriert, auf 6>ii-1) Wächter, Glossarium, t. 1, 718, s. v. Herr. 301 Johann Friedrich Heyn atz, Handbuch zu richtiger Verfertigung und Beurteilung aller Arten von schriftlichen Aufsätzen ..., Bd. 2 (Berlin 1773), 598ff. 605. 675; S. ,T. Schrökh, Anweisung zum kaufmännischen Briefwechsel, 3. Aufl. (Frankfurt, Leipzig 1781), 33ff. 60. HO. 156. 302 J. H. G. v. Justi, Anweisung zu einer guten deutschen Schreibart . .., 2. Aufl. (Leipzig 1769), 183ff. 208. 803 Zedler Bd. 12, 1783, Art. Herr. 304 Schrökh, Anweisung, 42. 305 Krünitz Bd. 23, 76f., Art. Herr. 308 Adelung Bd, 2 (1775), 1127, Art. Herr. Stande sowohl von Geringem, als von Personen ihres Standes und von Vornehmem zu bekommen pflegen, wenn man sie anredet, oder auch mit Achtung erwähnet. Diese Wendung läßt die ständische Gliederung bestehen, aber die Anredeform auch von oben nach unten gebrauchen. Noch Campe, Heyse und Heinsius halten im 19. Jahrhundert an dieser Formulierung fest. Freilich geht Heinsius 1819 bereits weiter, als er feststellt: In der weitesten, Bedeutung nennt man Herr jede erwachsene Person männlichen Geschlechts, wenn sie nicht ganz gering ist, ohne Rücksicht auf Stand, Rang, Ansehen, Alter usw.30''. Pierer registriert 1843, daß seit 60—70 Jahren jeder, nur irgend gebildete Mann Anspruch auf die Anrede habe — womit die altständische durch eine neuständische Definition ersetzt wurde — aber er findet die Anrede bereits ausgedehnt auf jeden angesehenen Handwerker30*. Ersch/Gruber veränderten die Formel „Person von einigem Stande" in Person von nicht . .. geringem Stande. ■ Die Ne"ativumschreibung zeugt vom steigenden Verallgemeinerungsdruck309. Fieber, in seiner Auflage von 1877310, hält sinnigerweise jeden anständigen Menschen für fähig, mit 'Herr' angeredet zu werden. Der Brockhaus (1898) kommt zürn Schluß: Herr ist die allgemein übliche Anrede für jede männliche Person3". Damit ist der Ausdruck seiner alten ständischen Bedeutung restlos entblößt. Aus der Funktionsbestimmung ist ein bloßer Titel geworden, der nunmehr, als Anrede demokratisiert, zur Umgangssprache des Alltags gehörte. Freilich fällt dies in eine Zeit, da sich zunehmend mehr Menschen der außerständischen Gesellschaftsschichten klassenbewußt als 'Genosse' anreden. Im Spannungsfeld zwischen Stand und Klasse ließ sich der 'Herr' nicht vollständig demokratisieren. Erst im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde 'Herr' soweit neutralisiert, daß die altständische Relation — etwa in der Briefunterschrift des 'gehorsamsten Dieners' — nicht mehr mitgesetzt oder mitgedacht wird313. Reinhart Koselleck 307 Heinsius, Wh., Bd. 2 (1819), 765, 8. v. Herr, aos piKRKK 2. Aufl., Bd. 14 (1843), 126, Art. Herr. 308 Ersch/Gruber 2. Sect., Bd. 7 (1830), 8, Art. Herr. 310 Pieker 6. Aufl., Bd. 10 (1877), 223, Art. Herr. 311 Brockhaus 14. Aufl., Bd. 9, 87, Art. Herr. 313 Während die ständische Aufweichung des Ausdrucks 'Herr' offenbar auch über die Eindeutschung des französischen 'Monsieur' im 18. Jahrhundert erfolgt war, hat die entsprechende weibliche Anrede 'Madame' länger gebraucht, aus dem deutschen Sprachgehrauch verdrängt zu werden. Louise Otto-(Peters) hat 1849 gegen diese noch weit verbreitete Anrede polemisiert, weil wir deutsche Frauen sind und als solche die französische Anrede verwerfen müssen und somit einen Standesunterschied zu vernichten (sie!), der durch dtes Wort, sich erhalten hat, Frauen-Zeitung, 5. 5. 1849, Nr. 3 (dank freundlichem Hinweis von Ulrich Engelhardt). Mit 'Madame' werde ein Privileg des sogenannten dritten Standes aufrechterhalten, während die Anrede 'Frau' sich auf den sogenannten vierten Stand beschränke. Nach der sehr anders verlaufenden Geschichte von 'Weib', 'Frau' und 'Dame' erfolgte rein semantisch die Egalisierung der Anrede nunmehr von unten nach eben. Vgl. dagegen Adeltjno (s. Anm. 306) u. Krünitz (s. Anm. 305). 62 63 Herrschaft IV. 'Herrschaft' im Zeitalter der Revolution lr. 'Herrschaft' im Zeitalter der Revolution Herrschaft IV. Der Herrschaftsbegriff im Zeitalter der Revolutionen: Grundzüge seiner Geschichte In aller Klarheit hat Edmund Burke seit 1790 die Revolution in Frankreich nla das historisch einzigartige Beispiel einer totalen Revolution (complete revolut,ion} i erkannt. Alle bisherigen Revolutionen seien nur gegen die jeweils Herrschei.dcn gerichtet gewesen oder hätten allenfalls eine Änderung der Herrschaftsform er strebt. Das mit dem Sturm auf die Bastille eingeleitete Geschehen hingegen sei nicht a revolution in government, sondern eine Zerstörung und Auflösung der ganzen * Gesellschaft313. Dem Ausgriff dieser Revolution neuen Typs auf die gesamte Sozialstruktur entspricht die geographische Ausbreitungstendenz: in der Französischen / Revolution erkennt Burke eine große Krise der gesamten Welt — in der Termii j logie einer späteren Zeit, der die von Burke antizipierte Kontinuität der Revolutionen zur historischen Erfahrung geworden ist — die erste Phase einer Weltrev:i!u-tion. Den gemeinsamen Grund für die politisch-sozialen und die geographischer Expansionstendenzen der Französischen Revolution sieht Burke in dem von der Gleichheitsidee inspirierten Angriff auf das Prinzip 'Herrschaft', wie es in Altem pa verstanden worden ist: als Inbegriff wechselseitiger, aber ungleicher Rechte und Pflichten, das damit umgekehrt, im Lichte der Dämmerung, welches die Konturen um so schärfer hervortreten läßt, als dominierendes Strukturprinzip der alteuro-päisehen Ordnung erfaßt wird. — Als Prinzip und Pathos der neuen, revolutionären Ordnung hingegen gilt Parteigängern wie Gegnern der Revolution, was Thomas Paine in Nachfolge Jean-Jacques Rousseaus formuliert und Burke als charakteristisch zitiert: Every Citizen is a member of sovereignty, and, as such, can acknowu./■,• no personal subjection311. Die Aufhebung persönlicher Herrschaft ist indes nur Teil eines komplexen Vorgang!, den die neuere Wissenschaftssprache und die Terminologie politischer Publizistik -die eine oft so diffus und unkritisch wie die andere — mit der These zusammenfassend zu beschreiben suchen, daß Herrschaft in der modernen Welt der G'nß-bürokratien und Superstrukturen „abstrakt" geworden sei. Geschichte und dirnen- '-sionale Analyse des Herrschaftsbegriffs im Zeitalter der Revolutionen von 1789 bis % auf unsere TageMassen hinter jener geläufigen Rede mindestens folgende Vorgange \ und Tendenzen unterscheiden315: 1. Grundlegend ist die Depersonalisierung von Herrschaft auf der Subjektseite. Tri Gegenzug zur Aufhebung persönlicher Herrschaftsrechte erheben Kollektive, d. 1-diejenigen, die sich, ohne auf Widerspruch zu stoßen, mit solchen KoUsktm-ii identifizieren können, den Anspruch auf das Monopol der Herrschaft über Mensel fi Sie proklamieren die Herrschaft des Volkes, einer Klasse, einer Partei, bona fide ausgegeben oder ideologisch kaschiert als Herrschaft der Gesetze, deterministisch -' modifiziert zur Herrschaft der Gesetzlichkeit: 'Herrschaft' wird zu einer semiperso- .-nalen Kategorie. ( 313 Edmtjnd Burke, An Appeal from the New to the Old Whigs (1791), Works, vol. ;1 (London 1855), 16. 71; vgl. dazu mit weiteren Belegen Dietrich Hiloer, Edmund B :r i" und seine Kritik der Französischen Revolution (Stuttgart 1960), 5ff. 311 Burke, Appeal, 71. 316 Zum folgenden vgl. D. Hilger, Begriffsgeschichte und Semiotik, in; Historische Semantik und Begriffsgeschichte, hg. v. R. Koselleck (Stuttgart 1979), 121£F. , ^jf der Objektseite von Herrschaft setzt sich definitiv die Freiheit des Menschen lls Person durch. Abhängigkeiten werden nur noch partikular, je in bestimmter Position und Rolle, anerkannt: 'Herrschaft' wird zu einer rollenspezifisch segmentierten Kategorie. 3 Infol™ sozioökonomischer Strukturumbrüche — kommerzielle und, vor allem, industrielle Revolution — verliert Herrschaft ihre agrargesellschaftliche Basis. Die Entfeudalisierung von Herrschaft wird bis zur vollständigen Deterritorialisierung fóŕtgéfiilirt. Bodeneigentum ist nur noch kontingente Herrschaftsbasis mit schwindender historischer Bedeutung: aus seinen agrargesellschaftlichen Bezügen gelöst, wird der Terminus 'Herrschaft' frei verfügbar — auch für die Zwecke universaler Diskriminierung. 4. Fortschreitende Aufklärung wirft grundsätzlich und allgemein, unabhängig von iigrargeiellschaftlichen Voraussetzungen, die Frage nach der materiellen Basis von Herrschaft auf: 'Herrschaft' wird radikal ökonomisiert. 5. Unter veränderten sozioökonomischen Bedingungen tritt neben das ideell-naturrechtliche Illegitimitätsverdikt gegen Herrschaft das materiell-ökonomische („Ausbeutung"). Dieses vermag in generalisierter, von der Agrargesellschaft abstrahierter Fassung die naturrechtliche Legitimation (durch Konsens oder Kontrakt) zu unterlaufen. Manifeste Legitimation wird zwar für unabdingbar erklärt, letzthin aber für irrelevant für das latente Wesen von Herrschaft gehalten. Der Be- 1 griff unterliegt, auch in dezidiert antipositivistischer Argumentation, dem positivistischen Trennungsdenken mit seinen Unterscheidungen von Macht und Recht, Basis und Überbau usf.: 'rechtmäßig' ist nicht mehr analytisches Prädikat von 'Herrschaft'. 6; Im Zusammenhang mit der einseitigen Depersonalisierung steht der zunehmende Schwund an Sinnenhaftigkeit; auch insoweit wird 'Herrschaft' abstrakt. 7. Als Reaktionsphänomen auf Depersonalisierung und Entsinnlichung treten, : trennbar-verbunden in beiden Dimensionen, Versuche zur Rekonkretisierung mit unterschiedlicher historischer Potenz auf. Der jüngste und folgenschwerste ist der Faschismus mit seinen sinnenfälligen Integrationstechniken und seinem ideologischen Anspruch, 'Herrschaft' durch 'Führerprinzip' zu ersetzen. 8. Voraussetzung dieser Substitution ist eine Psychologisierung des Begriffsfeldes: 'Herr« hafť bzw. 'Führung' (als Korrelate zu 'Masse' oder 'Volk') werden Termini für psychische Bedürfnisse; auf dem Umweg über Psychologie und Anthropologie wird 'Herrschaft' in gewissem Sinne erneut ontologisiert. 3. Solche Tendenzen stehen im Gegensatz zur vorangegangenen, sie überdauernden Neufassung des Begriffs auf dem sozialgeschichtlich vorgegebenen hohen Abstrak-tionsmveau unter strenger Beschränkung auf das gegenwärtig konkret Faßbare: ausschließlich durch die Koinzidenz von Befehl und Gehorsam bestimmt, wird 'Herrso iiaft' als soziologischer Universalbegriff neutralisiert. .10. In der wissenschaftlichen Terminologie, trotz seiner historischen Problematik, weithin rezipiert, steht der neutralisierte Herrschaftsbegriff im jüngsten, asymmetrischen Spannungsfeld von Herrsehaftsapologetik und Herrschaftskritik. In ihm scheint 'Herrschaft', mehr denn je abstrakt gebraucht, zur Chiffre für die condition humaine in der modernen Welt zu werden. 64 65 Herrschaft V. 1. Große Revolution: fundamentalderttokratische Herrschaft ?;W: V. Der Herrschaftshegriff an der Schwelle der Großen Revolution I. Fundamentaldemokratische Herrschaft und kommissarische Regierung So verschieden. Tag und Nacht sind, so schwierig ist es, sie in den ÜbergangsstuT.drn voneinander zu unterscheiden. Statt von historischen Zäsuren zu sprechen, su'J!» man, nach einer Anregung Hans Fkeyers, das den Übergängen eher angem.es-.injj Bild der „Sehwelle" benutzen318. Eine Epochenschwelle in der Geschichte dci Herrschaftsbegriffs bildet Rousseaus politische Philosophie. In ihr konvergien n und kulminieren Tendenzen, die sich im neueren Naturrecht seit Hobbes anbahnen: '„ individualistischer Voluntarismus und demokratischer Absolutismus, die Fiktion personaler, im Wortsinne: maskenhafter Gleichheit und, in deren Konsequenz, die Trennung von Herrschaft und Regierung. Radikaler als seine Vorgänger, die neben '■}/ dem Gesellschaftsvertrag noch den Herrschaftsvertrag postulieren, bricht Rou; t- in mit der traditionellen Auffassung von 'Herrschaft' als wechselseitiger Treui w--pflichtung. Sie wird abgelöst durch die Konzeption der fundamentalen Demoki". ih. einer Herrschaft ohne Herren. Daß in dieser nach traditionellen Kriterien herrschaftsfreien 'Herrschaft' Wort und Begriff weit auseinandertreten, macht den Reiz, aber auch die Schwierigkeit einer :" V Explikation des Rousseauschen Herrschaftsbegriffs aus. Er ist aus einer termino- " logisch noch nicht festgelegten Sprache zu entbinden, daher nur im Blick auf die größeren Zusammenhänge der politischen Philosophie Rousseaus zu gewir.ueii. Einmal mehr wird sich dabei erweisen, daß die Differenz zwischen Wort und umgriff, ohnehin konstitutiv für die Begriffsgeschichte, um so bedeutsamer wird, je H mehr die sprachlichen Quellen eine Ubergangslage spiegeln317. In ihr zeigt sich i-'n Überhang von Tradition in der Sprache, der als Indikator eines historischen Wandels angesehen werden darf, in dem politische und soziale Strukturen den übi r-kommenen sprachlichen Mitteln und Möglichkeiten gleichsam entwachsen. a) 'Herrschaft'und'Gleichheit'. Grundlage des von Rousseau konzipierten, du:-h die Revolution konstitutionalisierten Herrschaftsbegriffs ist jene Idee, die 1L t schaft in hierarchischen Gefügen gerade nicht zu tragen vermag: die Idee der Qleii h heit, im Zeitalter kontinuierlicher Revolution immer wieder als Ferment bestellender Ordnungen erkannt, die treibende Kraft einer früher unbekannten sozi den Dynamik und bis heute von unwiderstehlicher expansiver Potenz in eben d-m Maße, in dem sie vom Augenschein widerlegt wird. Denn es ist gerade das Scheitern an Beobachtungsdaten und Erfahrungswissen, das Rousseaus Gleichheitsidee unrm- .7 greifbar macht. Als latente egalite morale hat sie die Anerkennung der manüW-ui inegalite physique, des Inbegriffs der unübersehbaren Unterschiede zwischen djn Menschen, zur Voraussetzung316. 816 Hans Fkeyer, Schwelle der Zeiten. Beiträge zur Soziologie der Kultur {Stattgart 1965). 317 Wie auch sonst in diesem Lexikon kann 'Begriff' die Bedeutung eines Wortes oder ein Wort von historisch bemerkenswerter Bedeutung bezeichnen. als Rot/sseau, Du contrat social; ou, prineipes du droit politique I, 9 (1762), Oeuvres compl., t. 3, 367. b)A«ton<»>»- ""d Absolutismus Herrschaft Moralische Gleichheit und politisches Gemeinwesen sind nach Rousseau (der auch • oweit dem neueren Naturrecht und dessen technologischen Kategorien: der Ablesung von Fraxis durch Poiesis, verpflichtet ist) Produkte von Menschen, die in - . ßjjjuigat einmal bestehender Einmütigkeit den Gesellschaftsvertrag schließen319. "Öürch ihn wird auch ein neuer Typ von Herrschaft geschaffen. Rousseaus „Contrat social" von 1762 ist nicht das Grundbuch des Anarchismus geworden, sondern das der radikalen Demokratie. Doch bezeichnet Rousseau diese neuartige Herrschaftsform weder als Demokratie noch als Herrschaft überhaupt. Er vermeidet insoweit den der 'inegalite physique' zugeordneten Terminus 'domination', benutzt andererseits aber 'demoeratie' durchaus noch in traditioneller, d.h. restriktiver, wenn nicht auch pejorativer Bedeutung. Daß es dennoch, unter welcher Bezeichnung auch immer, um so etwas wie Herrschaft geht, ist schon deswegen zu vermuten, weil Rousseau zwar die radikale Disjunktion von „maitre" und „esclave" für unverein-bar mit dem politischen Status erklärt, dabei aber eine Reihe einfacher, nichtTadi-kaler Unterscheidungen einführt, mit denen die dichotomische Formalstruktur von Herrschaft auch im politischen Verband festgehalten wird. Daß es sich andererseits um eine Herrschaft neuer Art handelt, geht daraus hervor, daß zugleich und widerspruchsfrei mit der Dichotomie der formalen Herrschaftspositionen die personale Identität von Herrschenden und Beherrschten behauptet wird. Der theoretische Kunstgriff, der die Positionen auseinanderzuhalten gestattet und zugleich das Identitätspostulat fundiert, ist die Projektion der dichotomischen Struktur von Herrschaft in die Brust eines jeden einzelnen: Iis ... s'appellent en particulier Citoyens comme partieipans ä l'auiorite sou-oeraine, et Sujets comme soumis aux loix de Vllliit*20. Herrschaft, ihrer Natur nach eine zwischenmenschliche, am Vorabend der Revolution auch schon eine inter-personale Beziehung, wird in eine intra-personale umgedeutet321. Daß dies für Rousseau die einzige Möglichkeit zu sein scheint, 'Herrschaft' mit 'Gleichheit' für vereinbar zu erklären, läßt Rückschlüsse auf die Rigorosität des Rousseauschen Herrschaftsbegriffs zu. Als „Sujet" ist jeder einzelne einer umfassenden, tendenziell „totalen" Herrschaft unterworfen. b) Autonomie und Absolutismus. Mit der Internalisierung von Herrschaft soll der "Zweck des Zusammenschlusses, die Erhaltung vorpolitischeT Autonomie im politischen Status, erreicht werden: chacun s'unissant d tous n'obeisse pourtant qu'ä lui-meme et teste aussi libre qu'auparavant. Dieses Autonomiekonzept schließt jede persönliche Herrschaft, als notwendig zwischenmenschliche Beziehung, aus. Die Existenz auch nur eines Herren („maitie") wäre unvereinbar mit dem Bestand des politischen Ganzen — tertium non datur; aber es schließt keineswegs den Gehorsam aus: les sujets ... n'obeissent ä personne, bedeutet, positiv gewendet, Vobeissance ä la loi3is. Mit ailer Entschiedenheit betont Rousseau den keinem einzelnen von allen ■ 3" Ebd. !, 5 (p. 359). "» Ebd. I, 6 (p. 362). . 3äl Auch der Knecht gilt, wie der Herr, bereits im Deutachland des frühen 18. Jahrhunderts als Person, freilich noch unter den Bedingungen der Ungleichheit: er behält ... alle Rechte, die ihm als Menschen zukommen; daß aber beide einander auch an der Gewalt gleich sein : sollten, ist eben nicht nötig. Zedier Bd. 15, 1066f., Art. Knecht. Zur 'Person' als sozial durchgreifender Kategorie s. u. Abschn, V. 2. b. 322 Rousseau, Contrat social 1, 6; 1, 8 (p. 360f. 365); vgl. ebd. 2, 1 (p. 369). 66 67 Herrschaft V. 1. Große Revolution: fundamenlaldemokratische Herrschaft trenniing von 'Herrschaft' und 'Regierung' Herrschaft einzelnen, nicht ala „Citoyens", wohl aber als „Sujets", geschuldeten Gehorsam. % Der „Contrat social" steht — auch insoweit — in der Tradition des monarchischer, Absolutismus, der die Gleichheit der Untertanen und den einheitlichen Untertanen-verband intendiert hat; l'ide'e de ne former qu'une seule ciasse de ciloyens, die, nach "/ einem Wort Mirabeaus, die Tätigkeit der Regierungsgewalt so sehr erleichtert325. \ Bedingung der Möglichkeit einer theoretisch widerspruchsfreien Verbindung von / Autonomie und Absolutismus ist ein Partizipationsmodell von praktisch sich selbst ;-aufhebender Radikalität. Es soll durch die Teilnahme jedes einzelnen als Bürget an der Willensbildung der Gesamtheit die Identität von Selbstgehorsam und (■?. setzesgehorsam und damit die Identität von Herrschenden und Beherrschten gewährleisten, hat aber eine theoretische Steigerung von Herrschaft über alle Mögl i Ii keiten des fürstlichen Absolutismus hinaus zur Folge: auch insofern wird Herrschaft -= internalisiert, als der Wille der Mehrheit auch der Minderheit als deren eigentlicher ' Wille unterstellt wird, weil nur um den Preis der Fiktion, daß die Minderheit bei ' ihrer Willensäußerung einem Irrtum über das, was sie eigentlich gewollt habe, an- ' heim gefallen sei, die Einheit des Ganzen erhalten werden kann924. Autonomie und Absolutismus sind, als Konsequenzen des Gesellschaftsvertraae», in dessen einziger Klausel angelegt: der vorbehaltlosen Selbstentäußerung jedes einzelnen mit allen seinen Rechten zugunsten des Ganzen. Durch diese ahenation totale — eine Antizipation der „Selbstentfremdung" bei Hegel und Marx, spateren Marxisten und vielen nicht allein in dieser Kategorie dem Denken von Marx verpflichteten Nichtmarxisten — wird das Volk als monolithische Einheit (le peuple als corps moral et collectif, . . . moi commun, .. . personne publique, ... corps ■')-tique) geschaffen und, uno actn, auch die ausschließliche Herrschaft des Volkes konstituiert325. Für sie übernimmt Rousseau den absolutistischen, von Bodin (in bewußter Abkehr von der konkreten alteuropäischen Wortbedeutung autonomer Herrschaft im Gefüge von Herrschaften) umdefinierten Terminus 'souverainetö'. Als souverainete du peuple ist er in die jakobinische Verfassung von 1793 aufgenommen * und damit in das positive Staatsrecht eingeführt worden326. c) Die Trennung von 'Herrschaft' und 'Regierung'. Identitätsphilosophie und -dichotomisches Denken, deren Synthese in der Verinnerlichung absoluter Herrschaft sichtbar wird, bestimmen auch Rousseaus Auffassung von der Stellung und Funk- .f tion von Legislative und Exekutive. Daß diese Institutionen vom Volk als dem ausschließlichen Herrschaftssubjekt unterschieden werden, entspricht der formalen 323 Alexis de Tocqueville, L'ancien regime et la Revolution (1856), Oeuvres comp!., ed. Madame de Tocqueville, t. 4 (Paris 1866), II. — Tocqueville zitiert diese Wort« mit lebhafter Zustimmung und der Bemerkung: C'ötait comprendre la Mdvolution en hnmme capabk de la conduire, ebd. .-.s. 321 Rousseau, Contrat social 4, 2 (p. 439ff.). 325 Ebd. 1, 6 (p. 360ff.). 323 Noch die Verfassung von 1791 (Tit. 3, Art. I) nennt als Subjekt der Souveränität • la nation im Unterschied zum Volk als empirischer, also auch teilbarer Größe. Erst nach der der Verfassung von 1793 vorangestellten „Deklaration des droits de Thomme et du : citoyen" (Art. 25) und dem „Acte constitutione!" (Art. 7) ist le peuple in seiner Einheit Subjekt der unteilbaren Souveränität; vgl. Les constitutions et les principales lois politi- : -: ques de la France depuis 1789, ed. Georges Beklia, 7* ed. (Paris 1952), 6. 64f. .? Dichotomie von Herrschaft: als würde diese sieh in und entgegen jener Identität von Herrschenden und Beherrschten a tergo doch durchsetzen, aus der letzthin sowohl der Rückgriff auf das feudale Institut des imperativen Mandats — les deputes Au peuple ne sonl donc ni ne peuvent etre ses representans, ils ne sont que ses commis-saire* — a's auch die Negation jeder autonomen Regierungsgewalt gegenüber dem Volk abgeleitet wird; in Rousseaus naturrechtlich-vertragstheoretischer Argumentation Vöde qui institue le qouvernement n'est point un contract. Dabei nivelliert Rousseau nicht nur die Stellung der Abgeordneten und die der Regierungsmitglieder; er kombiniert selektiv — terminologisch wie der Sache nach — auch Elemente der vorabsolutistischen Amtsverwaltung mit denen der absolutistischen £ornmissariatsverwaltung: beide, Angehörige der Exekutive wie Mitglieder der JJe"i'iljtive> sind simples officiers du Souverain und als solche nichts anderes als Volkskommissare327. Immer wieder aber schlägt auch bei Rousseau eine Tendenz zur Repersonaüsienmg Von Herrschaft auch auf deren Subjektseite durch, so in der These un peuple se säumet a des chefs wie in der Gegenüberstellung von un peuple et so» chef (Singular and positiv akzentuiert im Gegensatz zu un makre et des esclaves!) oder in der Austauschbarkeit von Prince ou Magistrat; und sie nimmt geradezu charismatische Züge an in der schlechthin systemwidrig eingeführten Person des Legislateur: ä tous te'gards un homme extraordinaire dans l'Etat, Stimme einer raison sublime qui s'elive au dcssus de la portee des hommes vulgaire&3ia — ein personales Subjekt der Herrschaftsgewalt vor und über der Verfassung, ein personifizierter „pouvoir consti-tliaiit". Die Unterscheidung von 'Souverän' und 'Regierung' gestattet es Rousseau, an der überkommenen quantitativen Differenzierung von Monarchie, Aristokratie und Demokratie festzuhalten; die Identifikation von Herrschenden und Beherrschten aber gibt der traditionellen Einteilung den neuen Sinn einer Unterscheidung bloßer Regiorungsformen (formes de gouvernement) auf der Basis einer einzigen, allen drei Regierungsformen gemeinsamen Herrschaftsform. Noch nicht bei Hobbes, aber auch nicht erst seit Kant gilt: taut gouvernement legitime est re'publicain, mit der zwingenden Konsequenz: alors la monarchie elle-meme est r&piibliqueW. Hobbes hingegen hatte 'Souverän1 und 'Regierung' noch nicht gesondert. Bei ihm war die Souveränität in statu nascendi durch das versammelte Volk entweder an eine Person oder an ein aristokratisches Gremium oder an die Versammlung aller übertragen worden, so daß sich die klassische Trias der Herrschaftsformen unmittelbar aus dem Souvcränitätsprinzip ergeben hatte. Aber schon bei Hobbes bestand kein Unterschied mehr in der Souveränität als solcher, sondern nur noch in ihren Trägern. Doch erst bei Rousseau und der von ihm inspirierten Verfassungstheorie und Verfassungspolitik seit der Französischen Revolution kommt der weltgeschichtliche Versehleifungs- und Nivellierungsprozeß zum Abschluß, an dessen Ausgangspunkt 357 Rousseau, Contrat social 3, 15; 3,18; 3, 1 (p. 429f. 434. 396). Zur Unterscheidung von 'officiers' und 'commissaires' vgl. etwa Gastoh Zeller, Les institutions de la France au XVP siede (Paris 1948), 129ff. 328 Rousseau, Contrat social 3,1; 1, 5; 2, 7 (p. 396. 359. 382ff.). 328 Ebd. 3, 2; 2, 6 (p. 400. 380, mit Anm.). 68 69 Herrschaft V. 2. Republikarttsmus und moralisches Gesetj uj Iikunisiira8' ""4 'Despotismus' Herrschaft die Lehre von Aristoteles gestanden hatte, daß Herrschaftsformen ihrer Grundart; nach (ekSei) verschieden seien330, und dessen Ende durch die einfache Unterscheidung bloßer Regierungsformen infolge der Anerkennung nur noch einer einzigen legitimen Herrschaftsform markiert wird. Nicht auf die Demokratie als Herrschaftsform, sondern allein auf die demokratische Regierungsform bezieht sich Rousseaus berühmtes Urteil, daß es im strengen Begriffssinne eine wahre Demokratie nie gegeben habe und auch nicht geben w-t ie. denn: ü est contre Vordre naturel que le grand nombre gouverne et que le peilt ioit gouverne331. Damit bestätigt der Autor, der dem Prinzip der Volkssouveränität .lic historisch wirksamste Fassung gegeben hat, unter dem von ihm neu definierten Begriff 'Demokratie' eine alte Erkenntnis politischer Philosophie. 2. Republikanismus, Privatherrsehaft und moralisches Gesetz Naturrecht und Vertragstheorie stehen auch bei Kant, der Rousseaus Ansatz übernimmt, in einem Spannungsverhältnis sowohl zur politischen Realität wie zur Realität privater Herrschaft. Die Spannung wird noch dadurch vergrößert, d..fi Kant, anders als Rousseau, den ursprünglichen Vertrag ausdrücklich zu einer bloßen Idee erklärt332. Der Unterschied gewinnt sein volles Gewicht aus Kants Trans-' zendentalphilosophie: Aus der Distanz zur Realität kann der Vertrag zur regi.Luven Idee von Praxis werden, ohne den Blick auf die Schrunde und Abgründe in i|-t Welt der Geschichte zu verstellen oder die Wirklichkeit überkommener Herrschafts-strukturen in einem trivialen Sinne zu idealisieren. Aus der Inkongruenz von Idee und Realität entwirft Kant das progressive Prinzip des Republikanism, Mit ihm nimmt er die Fortbildung des spatabsolutistiscb.cn Gesetzesstaates zum liberalen Rechtsstaat bestimmend vorweg. Dieselbe Inkongruenz läßt ihn aber auch die überkommenen Strukturen privater Herrschaft grundsätzlich anerkennen. Insofern besteht zwischen Kants politischer Philosophie und seiner Privatrechtstheorie ein Widerspruch. Doch wird dieser überwölbt und entschärft durch Kants Lehre vom kategorischen Imperativ: sie bildet den Schlußstein in Kants zwiespältiger Herrschaftstheorie. a) 'Republikanismus' und 'Despotismus'. Unter den Bezeichnungen Autokratie, Aristokratie und Demokratie oder Fürstengewalt, Adelsgewalt und Volksgewalt unterscheidet Kant die Formen eines Staats (civitas) in durchaus traditioneller Weise nach der Form der Beherrschung (forma imperii). Einteilungsgrund ist nicht wie bei Rousseau, die Form der kommissarisch eingesetzten Regierung, sondern, wie ' bei Hobbes, der Vnterschied der Personen welche die oberste Staatsgewalt innehaben. Weit übeT Rousseau hinaus geht Kant jedoch, wenn er, unter dem Rousseauschen ■: Terminus Form der Regierung (forma regimims), den ganz neuen Begriff der Regierungsart des Volkes durch sein Oberhaupt, er mag sein, welcher er wolle, einfuhrt 330 Aristoteles, Politik 1252a 9f. 331 Rousseau, Contrat social 3, 4 (p. 404). 332 Kant, Zum ewigen Frieden (1795), AA Bd. 8 (1912; Ndr. 1968), 344; dere., Metaphysik der Sitten, AA Bd. 6, 340, § 52. Vgl dazu Manfred Riedel, Die Aporie von Herrschaft und Vertrag in Kants Idee des Sozialvertrags, Philos. Perspektiven 2 (1970), 213ff. nd diesen Begriff zunächst bestimmt durch die Art, wie der Staat von seiner Macht-Ukommenheit Gebrauch macht: diese sei entweder republikanisch oder despotisch. \xa acharf gebündelten Licht dieser neuen Alternative erweist sich der Rückgriff uf eine von Rousseau bereits überholte Tradition als subtiles Moment ihrer Über-■ffindun"" die überkommenen Herrschaftsformen werden als historische Vorgegebenheiten nicht in Frage gestellt, jedoch in ihrer gegenwärtigen, zumal aber in ihrer künftigen Bedeutung entschieden relativiert — und dies wiederum um so mehr, als Kant sich dessen sicher ist, daß an der Regierungsart dem Volk ohne alle Vergleichung mehr gelegen sei als an der Staatsform (womit der Philosoph, dem die berühmteste Definition von Aufklärung: als „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit", zu verdanken ist, auch auf das Urteil des Volkes über den Vorzug der von ihm eingeführten neuen politischen Klassifikation gegenüber der alten vertraut). Die modale Bestimmung des Gegensatzes von republikanisch und despotisch nach der Art des Machtgebrauchs oder der Regierungsart wird durch eine strukturelle fundiert: Als Republikanism bezeichnet Kant das Staatsprinzip der Absonderung der ausführenden Gewalt (der Regierung) von der gesetzgebenden, als Despotism dagegen das der eigenmächtigen Vollziehung des Staats von Gesetzen, die er selbst gegeben hafii3- Damit kombiniert Kant zwei Grundorientierungen politischer Philosophie und Praxis: steht hinter der modalen Bestimmung die Traditionslinie von jranfeid-humanitas, der Tugendlehren und Fürstenspiegel einschließlich ihrer Gegenbilder, die unter dem Topos der Hofkritik bekannt und einflußreich geworden sind314, so folgt die strukturelle Definition den im wesentlichen jüngeren Bestrebungen, durch Teilung und Balancierung der Gewalten, durch Etablierung von Gegenmacht dem Machtmißbrauch zu steuern. Mit der Einführung der neuen, modal-strukturellen Dichotomie verliert die traditionelle quantitative Einteilung der Herrschaftsformen den Schein der Neutralität: Für Kant ist ein monarchischer Staat der Möglichkeit nach republikanisch, ein demokratischer jedoch mit Notwendigkeit despotisch335. Wenn Sohlegel dagegen erklärt: Der Republikanismus ist notwendig demokratisch, und das unerwiesene Paradoxon, daß der Demokratismus notwendig despotisch sei, kann nicht richtig sein336, so verkennt oder, nach Ausweis der Formulierung, verfälscht er die Tatsache, daß 'Republikanismus' und 'Demokratie' bei Kant nicht nur verschiedene Begriffe, sondern als Begriffe verschieden sind. Denn in einem dritten, analytisch von der modalen und der strukturellen Definition abzuhebenden Schritt dynamisiert Kant mit Hilfe der Kategorien 'Möglichkeit' und 'Notwendigkeit' (hinter denen die Modalitätstheorie der „Kritik der reinen Vernunft" steht) die neue Klassifikation der Regierungsformen: diese werden in die Dimension der Zeit und damit eigentlich erst in die als Bewegung begriffene Geschichte gestellt. Weil Monarchie und Aristokratie der Möglichkeit nach bereits republikanisch sind, können sie es auch tatsäch- 333 Kant, Zum ewigen Frieden, 352 f. 334 Vgl. Claus Uhxiu, Hofkritik im England des Mittelalters und der Renaissance. Studien zu einem Gemeinplatz der europäischen Moralistik (Berlin, New York 1973). 335 Kant, Zum ewigen Frieden, 352. 336 Friedrich Schleoel, Versuch über den Begriff des Republikanismus, veranlaßt durch die Kantische Schrift zum ewigen Frieden (1796), SW Bd. 7 (1966), 17. 70 71 Herrschaft V. 2. Repuhlikanismus und moralisches Gesetz 'Hnnsberrschaft' und 'Personenrecht' Herrschaft lieh werden; die Demokratie hingegen hält Kant aus strukturellen Gründen für -f notwendig despotisch, also nicht einmal für potentiell republikanisch. Für sie sei n unmöglich, anders als durch gewaltsame Revolution, zu dieser einzigen vollkommen rechtlichen Verfassung zu gelangen33''. 'Republikanismus' und 'Despotismus' sind demnach als Begriffe zwiegesichtig: sie ; werden von Kant, je nach dem Zusammenhang, statisch oder dynamisch verwen- -'. det338, zunächst, entgegen ihrer Wortgestalt, als Zustandsbegriffe eingefühlt und ; danach als Bewegungsbegriffe gebraucht, ohne dabei ihre Status-Bedeutung ganz zu verleugnen. Als Zustandsbegriffe sind sie noch der Frage alteuropäischen Vit-fassungsdenkens nach dem optimalen Status der res publica innerhalb eines vorge-gebenen, quasinaturalen Schemas verbunden; als Bewegungsbegriffe weisen sie in den offenen Horizont künftiger Geschichte,- dienen sie dem entwerfenden oder verwerfenden Vorgriff auf einen künftigen Verfassungszustand und erklären dii --i n zum Ziel bzw. Ergebnis eines je nach den strukturellen Voraussetzungen für müg-lieh odeT für notwendig gehaltenen historischen Wandels, der als solcher, in Anti- "j zipation des Ziels, unter den ZielbegrifT subsumiert wird, Bewegungsbegriffe bringen das Ziel der Geschichte in die Geschichte selbst ein — dies aber, wie die Symmetrie t von 'Republikanismus' und 'Despotismus', von intendiertem Ziel und perhoivc zierter Folge, von Erwartung und Befürchtung erkennen läßt, um den Preis h ■■r... rischer Teleologie. Auch in diesem Zusammenhang ist an Kants Vernunftkritik 71; erinnern: Wer die Antinomien der reinen Vernunft — unter ihnen die Antinomie tt von Kausalgesetzlichkeit und Freiheit — durch Gegenüberstellung jeweils nr argumentativ bewiesener Thesen und Antithesen aufgedeckt hat, der ist auch in seiner politischen Philosophie nicht als Determinist, und sei es im Sinne eines Fortschrittsdeterminismus, zu interpretieren. Gleichwohl wird man schon im Nachvollzug der berühmten Wende Kants von der theoretischen zur praktischen Philosophie behaupten dürfen, daß Kant, wie immer er die Zukunftschancen der „Herr- . s Schaftsformen" beurteilt hat, die „Regierungsform" des „Republikanism" als pr.i-xisleitendes Ziel aller Verfassungspolitik verstanden wissen wollte. b) 'Hausherrschaft' und 'Personenrecht'. Weit weniger liberal und progressiv, d 1-für um so realistischer ist Kants Begriff der Rausherr schaff'. Daß er dieses Gru: d-phänomen von Herrschaft unter dem widerspruchsverdächtigen Titel von dem ruf dingliche Art persönlichen Recht abhandelt340, läßt zwar von vornherein auf 1 11 " dilatorische Rechtskonstruktion in einer historisch noch unentschiedenen Ül r gangslage schließen, verrät unmittelbar aber nur, daß Kant, im Gegensatz zu Rousseau, an der Rechtmäßigkeit privater Herrschaft nicht rüttelt. So hält er in der alten Bezeichnung der häuslichen Oesellschaft als einer hausherrlichen (societas f *" Kant, Zum ewigen Frieden, 353. tl 338 Terminologisch hier in Anlehnung an die in der Wirtschaftstheorie übliche, auf Ragnar 2 Frisch zurückgehende Unterscheidung zwischen 'statisch' und 'dynamisch' in bezug auf die Analyse und 'stationär' bzw. 'nichtstationär' bezüglich der Gegenstände der Analyse; : ^ vgl. Erich Schneider, Art. Statik und Dynamik, Hwb. d. SozWiss., Bd. 10 (1959), 23ff.; über die Weiterentwicklung der dynamischen Analyse zur Prozeßtheorie Helmut Arndt, Kapitalismus — Sozialismus. Konzentration und Konkurrens (Tübingen 1976), 5ff. ss 334 Kant, Metaphysik der Sitten, 283, § 30. 340 Ebd., 276, § 22. herilis) fest und beschreibt sie demgemäß als eine ungleiche Gesellschaft (des Gebietenden oder der Herrschaft, und der Gehorchenden, d. i. der Dienerschaft) — benutzt also 'Herrschaft' (wie es der heutige Sprachgebrauch noch mit dem komplementären Ausdruck'Dienerschaft'hält) nicht, um eine soziale Beziehung zu bezeichnen, sondern als Bezeichnung für Menschen, die in dieser Beziehung die bestimmende Position innehaben. Und wenn Kant darlegt, daß Ungleichheit und Unfreiheit in eben dem Verhältnis, das sie charakterisieren, auch ihre Grenzen finden, so geht er nicht übeT das hinaus, was dem aufgeklärten Denken des 18. Jahrhunderts zum Gemeinplatz geworden ist: die naturrechtliche Erosion der Hausherrschaft durch die Rechtsfigur des Vertrages, die zwar Abhängigkeit begründet, aber auch dem Abhängigen noch eine Person zu sein gestattet341. Was also Herren und Gesinde gemeinsam ist, eben ihr Status als Personen, erlaubt durchaus eine klare Abgrenzung des ausschließlich durch Vertrag gestifteten Ge-sindezwangsdienstes vom — nach Kant — vertragslosen Zustand des Leibeigenen (servas in sensu stricto)3", ist aber eben deswegen ex deflnitione nicht geeignet zur Unterscheidung von Herren und Gesinde als Personen. Daß Kant dennoch den Personenstatus auch dafür zu bemühen scheint, läßt einmal mehr auf die Zeitge-Bundenheit seines Begriffs von 'privater Herrschaft' schließen. So nimmt er Zuflucht zu jenem neuerdings gewagten Rectitsbegriffe, eben dem Begriff von einem auf dingliche Art -persönlichen Recht, dessen ebenso langatmige wie subtile logische Vorbereitung und materielle Rechtfertigung schon durch ihre Gewaltsamkeit gegen die Sprache eine höchst artifizielle, zwischen Personenrecht und Sachenrecht schwebende Rechtskonstruktion verraten: Es sei das Recht des Menschen, eine Person außer sich als das Seine zu haben, aber nicht als das Seine . . , des Eigentums, sondern »]'''K>n Kiausem w'e ausschließlich vertragliche Basis, nur partielle Einschränkung von Freiheit und Gleichheit, nur Gebrauch, nicht Verbrauch des Gebindes usf., nicht zu vereinbaren, weil dort Menschen als Mittel für die Zwecke anderer gebraucht werden. Was die „Metaphysik der Sitten" ausdrücklich für rechtens erachtet349, schließt die „Kritik der praktischen Vernunft" mit aller Entschiedenheit aus: In der ganzen Schöpfung kann alles, was man will, und worüber man etwas vermag, auch bloß als Mittel gebraucht werden; nur der Mensch .. . ist Zweck an sich selbst350 Der Widerspruch ist schwerlich wegzudisputieren; vielmehr gilt es, ihn anzueikenncn und sich ihm zu stellen. 'Der kategorische Imperativ impliziert mit seinem Begründungszusammenhang, in dem die Instrumentalisierung von Menschen durch Menschen ausgeschlossen wird, s'die Einschränkung von Herrschaft auf das funktional unerläßliche, historisch je ^mögliche Mindestmaß; und da auch fortschreitende Minimisiemng von Herrschaft in ihren verschiedenen Dimensionen jenen Widerspruch nicht definitiv aufheben 5 kann, bleibt Herrschaft grundsätzlich der Kritik nach einem für sie unerreichbaren s Maßstab ausgesetzt. — Die liberale Emanzipationsgesetzgebung des ausgehenden 18. und des frühen 19. Jahrhunderts hat sich von Kants Bestimmung des Menschen :als „Zweck an sich selbst" leiten lassen. Eben dabei ist aber auch zu Tage getreten und von Maux auf den Begriff gebracht worden, daß Emanzipation damals (wie i mit Marx gesagt werden kann) praktisch noch nicht erreicht worden war; doch muß ■ (gegen Marx) auch bezweifelt werden, daß Emanzipation je definitiv zu vollbringen ist. sofern sie sich unter das moralische Gesetz des kategorischen Imperativs stellt. .Auf dem im spaten 18. Jahrhundert erreichten Niveau der Geschichte (um abermals eine Formulierung von Marx aufzunehmen) bedeutet dieses Kriterium, daß die Person als solche nicht herrschaftlichem Zugriff unterliegt, daß 'Herrschaft' nur noch ; als rollenspezifisch segmentierte Kategorie anerkannt werden kann351. Über dieses /Niveau ist die Geschichte seither nicht hinausgelangt, und es ist auch nicht abzusehen, ob und wie sie es je hinter sich lassen kann. Ehil , 81 83,3 llauptstück. ;■■** Vgl. ders.. Metaphysik der Sitten, 367f., Anh. 1 u. 2. 3M Ders., Kritik der praktischen Vernunft, 87, 3. Hauptstück. 351 Maex, Zur Kritik der Hegelachen Rechtsphilosophie. Einleitung (1844), MEW Bd. 1 ', (1956), 386. 380. — Insofern bringt bereits die Lehre vom kategorischen Imperativ jene : eindeutige Klarstellung, die Kant in der Rechtslehre der „Metaphysik der Sitten" wieder vermissen läßt. 74 75 Herrschaft VI. Ökononüsierung des HerrschaftsbegrifU , vj, 1. Herrschaft in der „kotdmerziellen Gesellschaft" Herrschaft Keines Wortes bedarf es in politischer Hinsicht, daß der Despotismus vor dem kate- ; gorischen Imperativ nicht bestehen kann. Interessanter, auch schwieriger ist die Fra- ■ ge nach dem Verhältnis von kategorischem Imperativ und Republikanismns. Daß auch diese einzig vollkommen rechtliche Verfassung3*1 mit Gewaltenteilung und Re-präsentativsystem, daß sogar eine Kants konstitutionelle Vorstellungswelt übertref.; fende Verfassung der Freiheit nicht die Einhaltung des moralischen Gesetzes im poli-tischen Leben verbürgt, daß sie dafür, wenn mit Kant ein solcher Zusammenhang r postuliert werden kann, allenfalls die Bedingung der Möglichkeit bietet: dies gehört seit dem Untergang der Republik von Weimar mit ihrer weltweit als vorbildlich anerkannten freiheitlichen Verfassung zu den leidvollen Erfahrungen einer gerade in ihrer mundialen Expansion vollends desillusionierten konstitutionellen Bewegung353. Darf indessen überhaupt ein solcher Zusammenhang zwischen politischer Verfassung und moralischem Gesetz angenommen werden? Auch diese Frage kann hier nur aufgeworfen werden. Sie zu bejahen, würde bedeuten, daß nur unter einer bestimmten Verfassung der kategorische Imperativ im politischen Leben befolgt wer-, den kann, hieße beispielsweise, die historische Staatsidee Preußens, das Selbstverständnis seiner Beamten und seiner Soldaten, zentral in Zweifel zu ziehen. Die Frage weist auf die Problematik des „Formalismus in der Ethik", gegen den im 20. Jahrhundert eine Gegenbewegung zur Besinnung auf inhaltliche Normen, auf eine „materiále Wertethik'1 (Max Scheler, Nicolai Hartmann), geführt hat. — Daß der kategorische Imperativ, wie immer es um ihn selbst nach begründetem philosophischem Urteil bestellt sein mag, in seiner Wirkungsgeschichte problematisch ist, sei abschließend an einem äußersten Beispiel demonstriert, bei dem das Mißverständnis so groß, so offenkundig ist, daß es den philosophischen Streit um den kategorischen Imperativ nicht tangieren kann, um so mehr aber die Aufmerksamkeit des Historikers auf sich ziehen muß: So absurd es ist, so ist es doch Tatsache, daß Adolf Eichmann vor seinen Richtern in Jerusalem sich auf Kants Pfliclitethik glaubte berufen zu können und „zu jedermanns Überraschung" (die der bemerkenswerteste Berieht über diesen Prozeß festgehalten hat) den kategorischen Imperativ ziemlich genau wiedergeben konnte354. Gewiß eine absolut widersinnige Apologie. Doch ist nicht nur in diesem Fall von dem überaus anspruchsvollen Begriff eines Imperativs ohne äußeren imperans in der Dimension des Herrschaftssubjektes nut die Leerstelle geblieben, die von skrupellosen Machthabern okkupiert werden konn-r te. Auch deswegen gehört der kategorische Imperativ in eine Geschichte des Herrschaftsbegriffs. VI. Die Ökonornisierung des Herrschaftsbegriffs Hat im 18. Jahrhundert David Hume mit der These, that, as force is always or> ihe side of the governed, ihe governors have nothing to support them bul opimon355, die alte Einsicht, daß Herrschaft auf Zustimmung beruht, den gebildeten Schichten ins 362 Kant, Zum ewigen Frieden, AA Bd. 8, 353. 363 Vgl. Kahl Loewenstein, Verfassungslehre (Tübingen 1959). 35* Hann ah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bosen (München 1964), 174. 366 David Hume, Of the First Principles of Government (1757), Political Essays, ed. Charles W. Hendel (New York 1953), 24. Bewußtsein gerufen und damit eine öffentliche Meinung zur Grundlage von Herr-chaft erklärt, so hat Marx im 19. Jahrhundert die Frage nach der ökonomischen Herrschaftsbasis zu einer Thematik von revolutionärer Brisanz für die gesamte Gesellschaft gemacht. Beide Perspektiven ergänzen sich wechselseitig. Im Fort-: „ v()n der opinion-These Humes zum Materialismus von Marx spiegeln sich Fortschritt und Fragwürdigkeit der Emanzipation. Resümiert Hume das Wissen der Herrschenden um ihre ursprüngliche Machtlosigkeit, so öffnet Marx den Herr-gchaftsunterworfenen die Augen für ihr sekundäres, aber verfestigtes Machtdefizit. Bedarf Herrschaftekritik, um wirksam zu werden, in Konsequenz der Meinung Hume*. lediglich der Aufkündigung des Gehorsams durch die relativ kleine intermediäre Transmissionsgruppe, die dem Willen des einen bei den vielen Geltung verschafft, so verfolgt der Ersatz der Waffe der Kritik durch die Kritik der Waffen nach Marx die wiederum im Bewußtsein antizipierte Aufhebung der ökonomischen Herrscbaftsbasis353. Ein Phänomen sui generis in der Ökonomisierung nicht von Herrschaft als solcher, sondern des in sprachlichen Zeugnissen faßbaren Begriffs 'Herrschaft' ist der Herrschaftsbegriff der „kommerziellen Gesellschaft". Diese hat ihren auch für Deutschtand bedeutendsten Theoretiker in Adam Smith gefunden357. I, Herrschaft in der „kommerziellen Gesellschaft" Fortschreitende Arbeitsteilung und zunehmende Entfaltung des Tauschverkehrs bestimmen nach Adam Smith die Entwicklung des Menschen als soziales Wesen wie auch den sozialen Wandel von der frühesten Gesellschaftsstufe, in der es weder Arbeitsteilung noch Tausch, weder einen Souverän noch ein Gemeinwesen gegeben habe358, bis zur „kommerziellen Gesellschaft", in der das auf Tausch angewiesene und angelegte Wesen des Menschen seine Erfüllung findet: Every man thus lives by eichanging, or becomes in some measure a merchant, and the society itself grows to be what is properly called a commereial Society353. Aber auch in dieser Gesellschaft sei die authority of fortune noch sehr groß. Diese von Smith beanstandete und beklagte Tatsache kollidiert mit seinen Vorstellungen von einer „guten Herrschaft" (good gorernment)3m. Die große Zäsur in der sozialen Entwicklung, oder besser auch hier: die große Zeitenschwelle liegt nach Smith in der Auflösung der Feudalgesellschaft, a revolution of the greatest importance3'1, ausgelöst und vorangetrieben durch die strukturbestimmenden Wirtschaftszweige der bürgerlichen Welt: Commerce and manujacture ss* Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, 385. 3" Uber die Rezeption von Smith in Deutschland umfassend Marie-Elisabeth Vopeliüs, Die flltliberalen Ökonomen und die Reforrazeit (Stuttgart 1968). 355 Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations 1, 2, 5 (1776). Works and Correspondence, vol. 2/1, ed. R.H. Campbell, A. S. Skinner. W. B. Todd (Oiford 1976), 30. !5' Ebd. 1, 4, 1 (p. 37). 3M Ebd. 5, 1, 6, 7. Works, vol. 2/2 (1976), 712; ebd. 3, 4, 4 (p. 414). Ebd. 3, 4, 17 (p. 422). 76 77 Herrschaft VI. 2. Herrschaft der Bourgeoisie und Diktatur des Proletariats1 gradually introduced order and good government, and urith them the liberty and secun/y of individuals3*2. Aus diesen Worten und ihrem Kontext sprechen bürgerliches ' Selbstbewußtsein und bürgerliche Geschichtsauffassung: die Hochschätzung der durch Arbeit geschaffenen Werte gegenüber dem arbeitslosen Einkommen von Rentenbeziehern, aber auch das Unverständnis für rechtmäßige Gewaltanwendung durch und gegen autonome Herrschaftssubjekte in der Feudalgesellschaft, die nivellierende Deutung jeder Abhängigkeit als Sklaverei, vor allem aber — und auch das ist charakteristisch für das frühe bürgerlich-liberale Denken — die Annahme eines Wirkungszusammenhanges zwischen zunehmendem Tauschverkehr und schwindender Bedeutung des Eigentums als Herrschaftsbasis mit der Folge, daß Herrschaft auch noch in zwei weiteren Dimensionen reduziert wird, die analytisch als Objektbereich und Funktionsbereich von Herrschaft unterschieden werden können — nach dem Beispiel der „Inquiry": in der zivilisierten Gesellschaft habe der Eigentümer eines großen Vermögens wenigen weniger zu befehlen als ein Tartarenkhan, von dem mehr Menschen in einer größeren Anzahl von Beziehungen abhängig gewesen sind363. An die Stelle der auch von Adam Smith nur noch asymmetrisch gesehenen Herrschaftsverhältnisse der Feudalgesellschaft ist die symmetrische Relation wechselseitiger Ergänzung in allseitiger Tauschgesellschaft getreten. : Deren latente Asymmetrie aufzudecken, blieb im wesentlichen der konservativen, zumal aber der sozialistischen Sozialkritik des 19. Jahrhunderts vorbehalten. Doch auch Adam Smith, dem die Dimensionen der sozialen Frage des Fabrikindustrialiä-mus noch verhüllt geblieben sind, hat aus dem Beobachtungshorizont von Manufakturbetrieben den Regierungen bereits soziale Aufgaben im Sinne der Sozialpolitik des Industriezeitalters zugewiesen angesichts j enes Zustandes, into which the labour-ing poor, that is, the great body of the people, must necessarily fall, unless government takes some pain to prevent it36*. Die Erfüllung solcher Aufgaben gehört zu den wenigen bei Smith faßbaren positiven Kriterien eines „good government". 2, Herrschaft der Bourgeoisie und Diktatur des Proletariats Die Lösung sozialer Zeitfragen nicht mehr einer Regierung zu überlassen, sondern sie zur Sache der Gesamtheit zu machen, ohne sie der Gesamtheit als äußere Verpflichtung aufzuerlegen: dies hat die Deklaration der Interessen der „labouring poor", d. h. unbestreitbar partikularer Interessen, auch wenn sie die Interessen der weit überwiegenden Mehrheit sind, zu Interessen der Gesamtheit zur Voraussetzung. Eine solche Identifikation erfordert, soll sie nicht bloß voluntaristisch erfolgen, eine Geschichtsphilosophie, nach der die Interessen der Mehrheitim Fortgang der Geschichte zu Interessen der Gesamtheit werden, und zwar notwendig, aber nicht notwendig automatisch, sondern durch eingreifendes Handeln (Praxis). Eine solche Lehre, im Ergebnis festgelegt, im Ablauf frei, entsprechend der HEGELschen Vermischung von Naturnotwendigkeit und Willkür3'5, hat Karl Marx in Aufnahme 362 Ebd. 3, 4, 4 (p. 414). 3« Ebd. 5, 1, b, 7 (p. 712). 394 Ebd. 5, 1, f, SO (p. 782). . ■ ■ 385 Hegel, Philosophie des Rechts, SW Bd. 7, 262, § 182. a) Herrschaft der Arbeil Herrschaft und Enischmelzung von Elementen der liberalen und englischen Ökonomie, des frühen französischen Sozialismus und der Hegeischen Geschichtsdialektik entwickelt "anz abgesehen von allem älteren, insbesondere allem klassischen und ■ ..j:sc},.(hristlichen Traditionsgut. Im Zusammenhang der Trias von Geschichts-philosopl-ie, Ökonomie und Soziologie wird auch der Begriff 'Herrschaft' dialektisch entfaltet. a) Herrschaft der Arbeit im dialektischen Selbstnntersehied. Hatte in der Auseinandersetzung mit Liberalismus und Demokratie sogar Cakl Ludwig von Hallee in seiner „Restauration der Staats-Wissenschaft" die klassische Argumentation für die soziale Natur des Menschen wenigstens partiell ökonomisiert, indem er den Ursprung aller Herrschaft nach einem allgemeinen Naturgesetz zu erklären suchte durch e*ne höhere Macht, natürliche Überlegenheit an irgendeinem nützlichen Vermögen auf der einen Seite und auf der anderen ein Bedürfnis an Nahrung und Pflege, an Schutz, an Belehrung und Leitung, welches jener höheren Macht entspricht und durch sie befriedigt wird3M, so historisiert Marx das fragliche Naturgesetz, indem er es in den Bereich des historisch-gesellschaftlich Naturwüchsigen verweist: Marx übernimmt diesen von Heinrich Leo eingeführten, dort positiv akzentuierten Neo-logH-mu^36', verwendet ihn aber mit kritischem Wertgehalt, d.h. in der dialektischen Antithetik doch insofern positiv, als mit ihm jeweils Ausgangspositionen umschrie-|!e„ werden, die, wenn nicht vor und außerhalb der geschichtlichen Bewegung, so -''doch, wie die deutschen Zustände im Vormärz, unter dem Niveau der Geschichte liegen und damit ihre dialektische Negation provozieren368. 2ur noch gegenwärtigen Vergangenheit gehört im damaligen Deutsehland nach Mär*t auch der vormdustrielle Pauperismus, die naturwüchsig entstandene . . . Armut, i von der ct das Proletariat, die künstlich produzierte Armut, scharf abhebt369. Dieser 1 (für jede historisch angemessene Einschätzung des Proletariats, nicht nur für dessen : Selbstverständm's im marxistischen Sinne grundlegenden) Unterscheidung ent-Spricht die Gegenüberstellung von unmittelbarer, naturwüchsiger Herrschaft und der Herrschaft der Arbeit3™. Die „Herrschaft der Arbeit" wiederum entfaltet sich in ■der Dialektik des Selbstunterschiedes in sich und ihr Gegenteil: Als historische Alternative zur naturwüchsigen Herrschaft bedeutet „Herrschaft der Arbeit" zunächst speziell die der akkumulierten Arbeit, des Kapitals371, als deren Negation jene „Herrst haft der Arbeit" auftreten wird, die zu errichten es nach Marx in den mei-i sten Landern des Kontinents eines Appells an die Gewalt, den Hebel unserer Revolutionen, bedarf3'2. 368 Caul Ludwig v. Hallee, Restauration der Staats-Wissensehaft, 2. Aufl., Bd. 1 (Winterthur 1820; Ndr. Aalen 1964), 356. 357. .. 367 Zur Wortgeschichte von 'naturwüchsig' vgl. den Hinweis von Georg v. Below, Die : deutsche Geschichtsschreibung von den Befreiungskriegen bis zu unseren Tagen, Geschichte und Kulturgeschichte (Leipzig 1916), 22. :: 3,3 Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1 (1867), MEW Bd. 23 (1962), 15 87; dere., Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, MEW Bd. 1, 380. asc Ders., Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, 390. Ders./Engels, Deutsche Ideologie, MEW Bd. 3, 65. K1 Ebd. 373 Maex, Rede über den Haager Kongreß (1872), MEW Bd. 18 (1962), 160. 78 79 Herrschaft VI. 2. Herrschaft der Bourgeoisie und Diktatur des Proletariat) - f: Die „Herrschaft der Arbeit" in diesem zweiten Sinne: als Herrschaft der unmitteU baren Produzenten, ist das Telos der dialektischen Geschichte von Herrschaft, ohne i jedoch das Ende der Geschichte überhaupt zu bedeuten; im Gegenteil, es markiert nur das Ende der „Vorgeschichte" des Menschen, nach deren Ablauf die eigentlich menschliche Geschichte erst beginnen soll. Kommt in diesem Telos das Wesen des '-J. „Herrschaft der Arbeit" voll zur Existenz, so bildet es insofern aber auch dag "t> Prius jener abzulösenden „Herrschaft der Arbeit" in Gestalt einer „Herrschaft il*. Kapitals", als das Kapital selbst in ökonomisch-genetischer Analyse als akkunvj. ■ lierte Arbeit erfaßt wird: Die Arbeitswertlehre ist der ökonomische Ausdruck < nin genuin bürgerlichen Philosophie der Arbeit von universalem Anspruch, die im An- *" schluß an Hegel sogar den Menschen als Resultat seiner eigenen Arbeit begreift371 In jenem Fortschritt, den schon die Verdrängung der „unmittelbaren, naturwüi h Ilgen Herrschaft" durch die „Herrschaft des Kapitals" bedeutet, wird mit der Na'ni-wüchsigkeit auch die Unmittelbarkeit aufgehoben. Denn das Kapital ist .. . keine i persönliche, es ist eine gesellschaftliche Macht31i. Aber auch ein ökonomisch noch so -vermitteltes Herrschaftsverhältnis bleibt in letzter Hinsicht ein Verhältnis zwisi 'it. Menschen, und zwar zwischen Eigentümern von Produktionsmitteln und Eiu'-t tumslosen: Im ersten Fall, beim naturwüchsigen Produhionsinstrument . . . kann i; die Herrschaft des Eigentümers über die Nichteigentümer auf persönlichen Verhält- i. nissen, auf einer Art von Gemeinwesen beruhen, im zweiten Falle muß sie in eir<>m Dritten, dem Geld, eine dingliche Gestalt angenommen haben315. Marx erkennt, nach ; der Heraufkunft der Geldwirtsehaft, die hereinbrechende industrielle Bewegun iJ" als die entscheidende Phase im Prozeß der Entpersonalisierung von Herrsch ift. meint aber zugleich, daß dieser Prozeß nur die Erscheinungsformen betrifft r.'il hält daher um so mehr für geboten, hinter den manifesten ökonomischen Beziehungen die latenten sozialen freizulegen. So macht Marx auch und gerade in der am weitesten fortgeschrittenen Unterm 1 mungsform seiner Zeit, dem kapitalistischen Großbetrieb, noch ein Herrschafts- und .-Knechtschaftsverhältnis aus, das, wie alle derartigen Beziehungen zuvor, bestimmt werde durch die spezifisch ökonomische Form, in der unbezahlte Mehrarbeit aus i'-'ä unmittelbaren Produzenten ausgepumpt wird . .. und seinerseits bestimmend auf zurückwirkt. Mehr noch: in diesem unmittelbaren Verhältnis der Eigentümer der Pro-duktionsbedingungen zu den unmittelbaren Produzenten entschlüsselt sich ihm das innerste Geheimnis, die verborgene Grundlage der ganzen gesellschaftliehen Konstruktion und daher auch der politischen Form des Souveränüäts- und Abhängigkeitsverhni'-nisses, kurz, der jedesmaligen spezifischen Staatsform3''''. 573 Ders., Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), MEW Erg.Bd. 1 (1968), 574. Zu den Auseinandersetzungen über die Arbeitswertlehre vgl, Karl KüirxE, Ökonomie und v* Marxismus, Bd. 1: Zur Renaissance dea Marxschen Systems (Neuwied, Berlin 1972), 84f. 88 ff. 124 ff. 3,4 Marx/Engels, Manifest der Kommunistischen Partei (1848), MEW Bd. 4 (1959), 478. \ 3.6 Dies., Deutsche Ideologie, 65. a"1 Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, 390. 3.7 Ders., Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 3 (1894), MEW Bd. 25 (19091. 799 f. "f letzte Herrschaft von Menschen über Menschen Herrschaft hf Die letzte Herrschaft von Menschen über Menschen. Die durch die Produktions-ver"äh11's"e bedingte Klassenstruktur der Gesellschaft ist ihrerseits die Bedingung dafür daß die Herrschaft der Eigentümer von Produktionsmitteln, trotz prinzi-■pllcr Anarchie der Produktion insgesamt378, zur Herrschaft über die gesamte Gesellschaft hat werden können. Politische Herrschaft ist daher grundsätzlich Ulagsenherrsehaft, in welcher historischen Form auch immer die „Herrschaft der Arbeit" auftreten mag. Auf die ökonomische und politische Herrschaft der Bour-■geoisklasse3''3, die vorletzte Erscheinung von Herrschaft in der „Vorgeschichte" des Menschen, wird als letzte Herrschaft die des Proletariats folgen. Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benutzen, der Bourgeoisie nach und nach oiks Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staats, j, k des als herrschende Klasse organisierten Proletariats, zu zentralisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren38". Das Ziel dieser letzten Herrschaft in aller durch die Existenz von Herrschaft definierten Geschichte ist die Aufhebung von Herrschaft überhaupt. Eine Herrschaft aber deren Zweck die definitive Abschaffung von Herrschaft ist, wird noch weniger als jene Erscheinung von Herrschaft, die sie beseitigen will, nach dem traditionalen Muster eines wechselseitigen Treue- und Verpflicbtungsverhältnisses angelegt sein; vielmehr wird sie die negativen Züge bisheriger Herrschaft, die Marx, gemäß der ÖköTiomisierung des Herrschaftsbegriffs, im Begriff 'Ausbeutung' zusammenfaßt, gegenüber den ehemals Herrschenden in einer letzten Steigerung aufweisen, also die „Exploitation der Exploiteure" durch deren völlige Enteignung von allen Produktionsmitteln durchführen. Aber nicht nur die Rigorosität der revolutionären Gegenherrschaft der Arbeiterklasse wird mit dem von Marx seit 1852 gebrauchten Terminus Diktatur des Proletariats umschrieben581, sondern auch eine bestimmte Wendung des naturrechtlichen Problems der Herrschaft der Gesamtheit über die Summe der Mitglieder des Gemeinwesens. Rousseau bat dieses Problem unter der Voraussetzung der Identität Tön Herrschenden und Beherrschten durch die Trennung von 'Herrschaft' und 'Regierung' gelöst und damit dem notwendig minoritären Charakter von Herrschaft unter dem Titel einer bloß kommissarischen Regierung Rechnung getragen. Anders Marx: indem er an Stelle der Gesamtheit des Volkes die proletarische Klasse zum Herrschaftssubjekt erklärt, der gegenüber ein konkretes Objekt von Herrschaft in fQestalt der Gegenklasse, der bisher herrschenden Bourgeoisie, identifizierbar bleibt, entfällt jenes Problem zwaT in Anbetracht des antagonistischen Verhältnisses zwischen den Klassen, kehrt aber als Binnenproblematik der neuen herrschenden Klasse wieder. Die „Diktatur des Proletariats" tritt mithin nur dem Klassenfeind als 378 .Diese Anarchie der Produktion spiegelt steh in der vollständigsten Anarchie, die unter den Kapitalisten herrscht, ebd., 888. Vgl. Engels, Die Entwicklung des Sozialäsmus von der Atopie zur Wissenschaft (1880), MEW Bd. 19 (1969), 224. 871 MiRx/ders., Kommunistisches Manifest, 467. aM Ebd., 481. 381 Marx an Joseph Weydemeyer, 5. 3. 1852, MEW Bd. 28 (1963), 508; vgl. Maximilien Rubel, Marx-Chronik. Daten zu Leben und Werk (München 1968), 40f. Karl Marx. Chronik seines Lebens in Einzeldaten, hg. v. Marx-Engels-Lenin-Institut (Moskau 1934;' Kdr. Glashütten/Ta. 1971), 120. 80 81 Herrschaft VI. 2. Herrschaft der Bourgeoisie und Diktatur des Proletariat, „enhwe Gesellschaft und wahre Demokratie Herrschaft Herrschaft gegenüber; in bezug auf die eigene, nunmehr herrschende Klasse hand»lt sie jedoch, jedenfalls dem Begriff nach, in dem römische Reminiszenzen anklingen" als kommissarische Regierung. ' - Das Herrschaftsinstrument, dessen sich auch diese herrschende Klasse bedient" wird — zum letzten Mal — der Staat sein, wenngleich schon der Staat der ÜberganuJ.'-ge3ellschaft, der keines der qualifizierenden Attribute aus dem vielschichtige^. Traditionskomplex von der Polis bis zum landesfürstlichen Obrigkeitsstaat und' dessen Wohlfahrtspolizei mehr erkennen läßt; vielmehr fallen die positiven Bcstim. mungen des Staates gerade in der gegenüber der Tradition abermals erhöhten Form \ die ihnen Hegel verliehen hat, in der Lehre von Marx der künftigen klassenlosen Gesellschaft zu. Diese ist für Marx, was der Staat für Hegel gewesen: die Wirklichkeit der sittlichen Idee, d. h. aber unabdingbar zugleich die Wirklichkeit der konkreten-Freiheit3s%. c) Klassenlose Gesellschaft und wahre Demokratie. Bekanntlich war M/.kk, wenn nicht auch aus anderen Gründen, so zumindest wegen der prinzipiellen Negativität der Dialektik, außerordentlich zurückhaltend in der positiven Beschreibung d»i klassenlosen Gesellschaft383. Fest steht indessen nach dem Zusammenhang mh, Herrschaft und Klassenstruktur, daß die klassenlose Gesellschaft eine herrschafts- -freie Gesellschaft sein sollte: Das Proletariat werde die Herrschaft aller Klasse> wi den Klassen selbst und damit seine eigene Herrschaft als Klasse aufheben3"1. Denn auf dem dann erreichten Höhegrad der Entwicklung der Produktion, so Elmaus, werde die Aneignung der Produktionsmittel und Produkte und damit der poUlir-chcn Herrschaft ein Hindernis der Entwicklung geworden sein385. Unter dem Aspekt der Herrschaftsfreiheit erscheint die klassenlose Gesellschaft als das sozioökonomische Äquivalent des späteren Makx für die Demokratie der F-iili-schriften. Als dialektische Negation der liberalen Trennung von Staat und Gi .—II-schaft, definiert durch die Identität von materiellem und formellem Prinzip, ökiue-mischem Inhalt und politischer Form, als die wahre Einheit des Allgemeinen und Besonderen, steht der Begriff nicht mehr für eine politische Verfassung in irgendci-rin spezifischen, auch restriktiven Sinne, wie er nach Marx noch der politischen E>'i''t.-i-pation des Liberalismus, der Reduktion des Menschen, einerseits ... au/ das egoistische " unabhängige Individuum, andererseits auf den Staatsbürger, anhaftet; gemeint ist vielmehr der Zustand, in dem die menschliche Emanzipation vollbracht sein wer!?: die konkrete Isonomie, die mit der Aufhebung des ökonomisch bestimmten Klassen-antagonisrnus wie der Klassen selbst universal gewordene Polis386. Inspiriert von der vor allem durch Hegel in die Geschichte projizierten teleologischen Metaphysik ■' der aristotelischen Tradition, erklärt Marx, in Umkehrung der traditionellen Re- 882 Hboel, Philosophie des Rechts, 328. 337, §§ 257. 260. 383 Eine Zusammenstellung einschlägiger Äußerungen von Marx bei Ralf Dahrendorf; Marx in Perspektive. Die Idee des Gerechten im Denken von Karl Marx (Hannover o. J.}, 167ff. 384 Marx/Engels, Deutsche Ideologie, 70; dies., Kommunistisches Manifest, 482. 285 Engels, Entwicklung des Sozialismus, 22S. 888 Marx, Zur Kritik des Hegeischen Staatsrechts (1843), MEW Bd. I, 231; d<»rs., Zi:r Judenfrage (1844), ebd., 370. ffcreiiitionen. die Demokratie, herkömmlich eine Spezies von Verfassung und Wertschaft neben anderen, zur Terfassungsgattung, zum Wesen aller Staatsverfassung, von der Geschichte aufgelösten Rätsel aller Verfassungen. An ihr sind alle Staats-fnnen zu messen, auf sie sind alle anderen hin angelegt, weil alle Staatsformen ihrer Wahrheit die Demokratie haben und daher eben, soweit sie nicht die Demokratie sind, unwahr i Indes'«) hat Marx nicht übersehen, daß auch nach der Aufhebung der ganzen allen ^esell^haflsform und der Herrschaft überhaupt3** Funktionen zu erfüllen sind, die den Herrsehaftsfunktionen entsprechen. Das dreifache Problem, Bezeichnungen zu finden die so neutral sind, daß sie die Diskriminierung von Herrschaft nicht auf sich äehen dabei den radikalen, in den ökonomischen Fundamenten begründeten Unterschied nicht nivellieren, aber doch über den Anspruch auf Gehorsam keinen Zweifel aufkommen lassen, dieses Problembündel versucht Marx durch Umschreibungen wie Oberaufsicht und Leitung, kommandierender Wille, Direktor und dergl. zu lösen, Die gewählte Terminologie ist denn auch so unspezifisch, daß sie auf alle gesellschaftlich kombinierten Produktionsprozesse, unabhängig von der Verfassung der Gesellschaft, anwendbar ist389. Gerade in ihrer Neutralität verrät die neue Begrifflichkeit aber auch das heute mehr denn je selbst im sozialistischen Lager diskutierte Problem, wie die Erfahrung der Fremdbestimmung durch einen „kommandierenden Willen" im Sozialismus von der Erfahrung von Herrschaft im Kapitalismus unterschieden werden kann. 3, Von der Fabrikherrschaft anim Regime der Manager In der Frühzeit des in Deutschland verspätet und zögernd genug einsetzenden „gewerblich-industriellen Ausbaus"390 konnten die hierarchischen Betriebsstrukturen schon wegen der Übersichtlichkeit und Unmittelbarkeit der innerbetrieblichen Beziehungen noch als konkrete Herrschaftsverhältnisse verstanden werden: So arbeiteten die Fabrikanten, d. h. diejenigen, die nach Verding oder nach Zeit bezahlt, in einem Fabrikhause systematisch beschäftigt werden, Christian Jakob Kraus zufolge, unter einem Regierer oder Fabrikherrn3*1. Insofern hatten Fabriken im neuen Sinne und Manufakturbetriebe noch die gleiche Verfassung, als in einem dem Betriebsleiter gehörigen Gebäude ... die Arbeiter in großer Zahl vereint waren392, hier wie *" Oers., Kritik des Hegeischen Staatsrechts, 2309". 358 Ders./ekoels, Deutsehe Ideologie, 34. 389 Marx, Kapital, Bd. 3, 397. :-3,0 Begriff und These des gewerblich-industriellen Ausbaus bei Hans Linde, Das Königreich Hannover an der Schwelle des IndustriezeitalterB, Neues Arch. f. Niedersachsen 24 (1951). 381 Christian Jacob Kraus, Staatswirthschaft, hg. v. Hans v. Auerswald, Bd. 5 (Königs-i berg 1811), 189. "! Die übliche Charakteristik der Manufaktur bei Lujo Brentano, Eine Geschichte der wirtschaftlichen Entwicklung Englands, Bd. 2: Die Zeit des Merkantilismus (Jena 1927), 65; ebenfalls bekannt und vielfach zu belegen die These, daß der Arbeitsvertrag ein Herr-schajtsvertrag sei, ebd., Bd. 3/1: Die Zeit der Befreiung und Neuorganisation (1928), 309. 82 83 Herrschaft VI. 3. Fabrikherrschaft und Regime der Manage , ^ 3 t'abrAhmschaft und Regime der Manager Herrschaft da also die Identität von Eigentum und Kontrolle noch gegeben war. Überdies legt^ die fortbestehende agrargesell3chaftliche Umgebung des vorindustriellen wie rkj. frühindustriellen zentralisierten Großbetriebes die Orientierung an der HerrschafW-struktur des „ganzen Hauses" nahe. Daß dieses Modell seine unproblematische Selbstevidenz verloren, daß es sich immer weniger als hilfreich für die Lösung von Problemen fabrikindustrieller Beziehungen erwiesen hat, geht nicht allein aus den einander ablösenden Experimenten rrat anderen, ihrerseits gesamtgesellschaftlich bedingten Verfassungsformen und Organj-sationsstrukturen („konstitutionelle Fabrik", „Arbeiterbrigadeu", „Führerprmzip'-„Betriebsgefolgschaft" usw.) hervor393; schon das emphatische Selbstverständnis von „Fabrikherren", wie es der Herr-im-Hanse-Standpunkt demonstrativ zum Aus« druck gebracht hat, verrät, daß Umfang und Durchgriff, wenn nicht überhaupt die"; Legitimität, solcher Herrschaft radikal in Frage gestellt worden sind. Dabei hat gerade die säkulare Tendenz zur Diskriminierung von Herrschaft es auch der Gegenseite ermöglicht, die noch am konkreten Phänomen von „Haus und Herrschaft" orientierte Deutung formal aufzugreifen und den Fabrikbetrieb gleichfalls, jedoch in denunziatorischer Absicht, als Herrschaftsordnung zu deklarieren und eine Ordnung ohne Herrschaft als Ziel der sozialistischen Revolution zu proklamieren. Mit dieser: Wendung ins Pejorative wird die formale, dichotomiscbe Struktur und die Unmittel-'; barkeit des Herrschaftsverhältnisses nur um so schärfer betont. Je entschiedener die Basisperspektive, die Perspektive der Massen und der Direktheit in jeder Hinsicht, geltend gemacht wird, desto konsequenter die Personalisierung der Klassen-' herrschaft im einzelnen Unternehmer: Unten, wo der einzelne Unternehmer seinen Lohnsklaven gegenübersteht, unten, wo sämtliche ausführenden Organe der politi.-' Klassenherrschaft gegenüber den Objekten dieser Herrschaft, den Massen, stehen, dort müssen wir Schritt um Schritt den Herrschenden ihre Germitmittel entreißen und in unsere Hände bringen (Rosa Luxemburg394). Doch können auch so späte Zeugnisse wie das von Rosa Luxemburg nicht dariibor hinwegtäuschen, daß der Strukturwandel des Kapitalismus den formal übereinstimmenden, aber entgegengesetzt motivierten Deutungen innerbetrieblicher Beziehungen ab konkreter, unmittelbarer Herrschaftsverhältnisse weitgehend den B' .ie:i entzogen hatte. Denn bedingt durch steigenden Kapitalbedarf und notwendige Differenzierung unternehmerischer Funktionen, war inzwischen jene Trennung von Eigentum und Kontrolle eingetreten, die Makx als den doppelten Prozeß der Verwandlung des wirklich fungierenden Kapitalisten in einen bloßen Dirigenten, Verwalter fremden Kapitals, und in einen bloßen Kapitaleigentümer, einen Geldkapitalisten, diagnostiziert hatte: Nicht die industriellen Kapitalisten, sondern die industriellen managers seien „die Seele unseres Industriesystems"mi. Mit der Entstehung einer absentee ownership (Thorstein Veblen39*) auf der einen Seite und'- _ -ncs ger Manager (James Burnham397) auf der anderen war in der indu-n Verfassungsgeschichte die Phase unmittelbarer Fabrikherrschaft für den zu- eisenden Typ des großen Fabriketablissements zum Abschluß gekommen. Strukturwandel des Kapitalismus hat Betrieb und Unternehmen nicht zu herr-^aftsffeifn Sphären werden lassen; wenn aber nunmehr auf Grund jener von Marx "% besonderer Prägnanz erfaßten Trennung von Eigentum und Kontrolle beide, vt tümer wie Kontrolleure, gemeinhin als Herrschende apostrophiert werden, wird dabei stillschweigend jeweils eine neue, von der anderen divergierende Definition von 'Herrschaft' vorausgesetzt: Ist die Herrschaft abwesender Eigentümer nicht mehr jener faoe-to-face-relatton vergleichbar, wie sie weit über den Untergang Jet adelig-bäuerlichen Herrschaftswelt hinaus zwischen dem „Gutsherrn" und seinen Leuten", dem „Fabrikherrn" und „seinen Arbeitern" bestanden hat, so abstrahiert die Rede von einer Herrschaft der Kontrolleure von der ökonomischen Basis dio doch durch die Ökonomisierung des Herrschaftsbegriffs erst allgemein bewußt geworden ist. Dieser Begriffswandel spiegelt sich in der Tatsache, daß man, symmetri'w Ii zur Kritik der Herrschaft anonymer Geldkapitalisten, auch Berechtigung und Anmaßung in der Managerherrschaft einer Prüfung unterzog, und dabei wurde die ökonomische Risikofreiheit eigentumsloser Verwalter zum Kriterium der HIegitimit.it ihrer Herrschaft398. Beide Problemstellungen entsprechen der modernen Umkehrung der Beweislast: daß Herrschaft sich als legitim prinzipiell ausweisen muß und nicht schon auf Grund ihrer Faktizität die Vermutung der Legitimität für sich hat, gehört seit Aufklärung und Revolution zu den gemeinsamen Grundüber-zeugungen aller politischen Richtungen. :iUrn hinter iler manifesten Polykratie von Eigentümern und Kontrolleuren doch ■ eine latente Monokratie auszumachen (oder dem kapitalistischen System als „Monopolkapitalismus" eine solche zu unterstellen — was zu entscheiden nicht Sache der BcgnUVgeschichte sein kann), um also in den Erscheinungen kapitalistischer Wirtschaft das veränderte Wesen des Kapitalismus zu erkennen, bedarf es auch einer -Reduktion des Herrschaftsbegriffs. Wie weit sie sinnvollerweise durchgeführt wer-' den kann, ohne in Widerspruch zur Absicht der Herrschaftskritik zu geraten, hat unter dem Eindruck der autokratisch organisierten, monopolistisch verfestigten Herr-schaftsschichtung der Wirtschaft Eduard Heimann, einer der bedeutendsten der von Marx inspirierten Nichtmarxtsten unter den deutschen Ökonomen dieses Jahr-Bunderts, in seiner Theorie der Sozialpolitik, einer Politik der Systemtransformation mit systemkonformen Mitteln, gezeigt: Heimanns prägnante These; Kapitalismus ist . Kapitalherrschaft, .. . Sozialpolitik ist Abbau von Herrschaft zugunsten der ' Beherrschten™ nennt als einziges Herrschaftssubjekt abstrakt das Kapital und stellt diesem, ohne parallele Depersonalisierung auf der Objektseite, die Beherrschten gegenüber, weil anders Sozialpolitik nicht mehr als praktische Herrschaftskritik hätte deklariert werden können. 383 ~* Fabrik, Fabrikant, Bd. 2, 252. 3.4 Rosa Lt/xembüso, Unser Programm und die politische Situation. Rede auf dem Gründungsparteitag der KPB (30. 12. 1918—1. 1. 1919), GW, hg. v. Günther Radc-zun u. a., Bd. 4 (Berlin 1974), 312. 3.5 Makx, Kapital, Bd. 3, 400, unter Berufung auf Andrew Ure. Vgl. ebd., 39.5ff. 393 Thorstein Vehlen, Absentee Ownership and Business Enterprise in Recent Times.:: The Case of America (1923), 2nd ed. (London 1924). 5,7 James Burnham, Das Regime der Manager (Stuttgart 1948); engl. u. d. T.: The Managerial Revolution (1941), 8,9 Helmut Schelsky, Berechtigung und Anmaßung in der Managerherrschaft (1950), in: ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit. Ges. Aufa. (Düsseldorf, Köln 1985), 17. m EnviARU Heimann, Soziale Theorie des Kapitalismus. Theorie der Sozialpolitik (Tübingen 1929), 33. 118. 84 85 Herrschaft VTJ. 1. Auflösung der Identität von Sinnenhaftem und Si anhaften) ^ yjf \ Auflösung der Identität von Sinneuhaftem und Sinnhaftem Herrschaft Denn daß die Beherrschten, in der Sprache Rosa Luxemburgs: die „Objekte" der '■' Herrschaft, identifizierbar bleiben, nicht aber die Herrschenden, gehört zu den r.ari-dozen Bedingungen der Möglichkeit effizienter Herrschaftskritik in der modernen Welt. Als semipersonale Kategorie, mit einer Leerstelle auf der Subjektseite, iliu schon aus logischen und sprachlichen Gründen nach Besetzung verlangt, erfüllt der --Herrschaftsbegriff eine ambivalente Funktion: er gestattet es, an Stelle konkreter Personen, die ja schon die Logik des Marxschen Systems nach dem Vorbild der klassischen Ökonomie jedem moralischen Vorwurf entzogen hatte (weil auch die „Ausbeuter" unter dem Zwang der zyklisch-krisenhaft sich entfaltenden „kapiU liatischen Produktionsweise" handeln), das Kapital oder den Kapitalismus als Wirt- :-Schaftssystem, die sozioökonomischen Verhältnisse oder, in letzter Abstraktheit, d n Bestehende schlechthin zu diskriminieren. Zugleich aber fordert der einseitig depersonalisierte Herrschaftsbegriff gleichsam von sich aus dazu auf, hinter dem " Schleier ökonomischer Beziehungen die sozialen und in diesen die Menschen auszu- -machen, jedenfalls solange in der Sprachgemeinschaft das Wissen nicht verloren- ; gegangen ist und von den Imperativen des Sprachgefühls wachgehalten wird, daß 'Herrschaft' ein mindestens in zwei Dimensionen personaler Begriff ist. VII. Herrschaft und Genossenschaft In Reaktion auf die Ökonomisierung des Herrschaftsbegriffs hat der Historiker Fritz Wolters daran erinnert, daß Herrschaft und Dienst nicht nur Begriffe i , l, um Verhältnisse wirtschaftlicher Pakte zu bezeichnen, sondern lebendiges Hand-In lebendiger Menschen, so daß die einen erhaben sind, die anderen willig oder unwillig sich neigen109. Mit einem elitär-dichotomischen Menschenbild kommen diese Worte -: einem Bedürfnis nach Rekonkretisierung von Herrschaft entgegen, das sich in zweifacher Weise, als Verlangen nach Repersonalisierung und, trennbar-verbun L u, nach Versinnlichung von Herrschaft, äußert. — Ist im 19. Jahrhundert die Geschichte von Herrschaft als fortschreitender mehrdimensionaler Abstraktionsprozeß erfahren und geschrieben worden, so haben im 20. Jahrhundert praktische -Versuche zur Rekonkretisierung von Herrschaft in Formen stattgefunden, die in die säkulare Apokalypse führen sollten. 1. Verfassangsgeschichte als Auflösung der Identität des Sinnenhaften und des Sinnhaften Während Georg Beseler noch ganz unhistorisch aus der allgemeinen Natur des Menschen zu deduzieren sucht, daß sich die Menge von dem Höchsten und Allgemeinsten nicht fortwährend beherrschen lasse, daß sie vielmehr das, woran ihr Leben in Freude und Leid gebunden ist, in unmittelbarer Nähe erfassen möchte401, verortet i Otto von Gierke im Rückblick auf die germanisch-deutsche Rechtsauffasäung io« Fritz Wolters, Uber die theoretische Begründung des Absolutismus im 17. Jahrhundert, in: Grundrisse und Bausteine zur Staats- und zur Geschichtelehre, Fschr. Gustav Schmoller, hg. v. K. Breysig, F. Wolters, B. Valentin, F. Andreae (Berlin 1908), 201. 401 Georg Beseler, Volksrecht und Juristenrecht (Leipzig 1843), 159. (Jje sinnenhafte Präsenz von Herrschaft ganz in der Geschichte: Alle seine Herrschaftsrechte habe der Herr in seiner konkreten menschlichen Erscheinung, . .. nickt als Repräsentant eines unsichtbaren idealen Rechtssubjekts101. Das Entsprechende gilt nach Gierke auch für die Genossenschaften, die ohnehin als die komplementären Erscheinungen zu den herrschaftlichen Strukturen angesehen wurden und zusammen mit diesen seit Justus Moser das große Thema der deutschen verfassungs-geäoWchtlichen Forschung des 19. Jahrhunderts bildeten403. Die sinnenfalHge Präsenz der Herrschaft wie der Genossengesamtheit, die ihre Rechte als Versammlung in sinnlich-lebendiger Einheil geübt habe, schließt sekundäre Re-präsentation des an sich nicht Präsenten — gemäß der ontologischen Prämisse liberaler Staatslehre — ebenso aus wie die aus dem naturrechtlichen Denken stammende, sozialistische Annahme, daß abstrakte Kollektive wie die Klassen Rechts- und Herrschafts-iubjekte sein könnten, und zwar unabhängig davon, ob die ahistorisch-positivisti-sche oder die historisch-bestimmte Bedeutung des Terminus 'Klasse' impliziert ist404- Was Gierke ausführlich als abnehmende Sinnenfälligkeit von Herrschaft und Genossenschaft beschreibt und zur Periodisierang der Verfassungsgeschichte mitheranzieht, was er als steigende Abstraktion interpretiert, eTWeist sich als eine in der Sozialstruktur von oben nach unten fortschreitende Auflösung der Identität des Sinnhaften mit dem Sinnenhaften. Dieser Vorgang darf durchaus schon als Symptom des „Trennungsdenkens" gedeutet werden, dessen Durchbrach und volle Entfaltung unter dem Einfluß der cartesianischen Bewußtseinsphilosophie mit ihrer Unterscheidung von res extensa und res cogitans die neuere verfassungsgeschichtliche Forschung (Otto Brunner u. a., terminologisch in Anknüpfung an "Ernst Rudolf Huber) als eine der Signaturen der Moderne erkannt hat. Für Gierke wird die Trennung des Sinnhaften vom Sinnenhaften in Herrschaftsverbänden vor allem mit der Entstehung der Landeshoheit und der Zurückdrängung des ihr entgegenstehenden ständischen Landesgemeinwesens faßbar: von der Individualpersönlichkeit ■ des Landesherrn habe sich der Staat als das unsterbliche Subjekt der in der Landeshoheit zusammengefaßten Rechte und Pflichten gelöst; der Staat sei als unsichtbare An'taltsperson begriffen worden, der Landesherr hingegen sei die sichtbare Ver- in Otto v. Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 2: Geschichte des deutschen Körperschaftsbegriffs (Berlin 1873; Ndr. Darmstadt 1954), 43. :■405 Vgl. Ernst-Wolegano Böckenförde, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert. Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder (Berlin 1961). Gierke, Genossenschaftsrecht, Bd. 2, 42. — Die These von Georg Waitz, daß das ; deutsche Volk keine Herrschaft bevorrechtigter Klassen gekannt habe, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 1 (1844), 3. Ann. (1880-, Ndr. Darmstadt 1953), 49, ist in ihrer be-griffliehen Fassung ebenso ungeschichtlich wie die Interpretation der Geschichte aller bisherigen Oesellschaft als der Geschichte von Klassenkämpfen, Marx/Engels, Kommunistisches Manifest, MEW Bd. 4, 462. Doch bietet der Marxsche Klassenbegriff insofern ein begriffsgeschichtliches — und allein deswegen auch hier angezogenes — Schulbeispiel, als in seiner viel diskutierten Mehrdeutigkeit die oben erwähnte grundsätzliche Zweideutigkeit auszumachen ist. Daß, allgemein, zwei so unterschiedliche Verwendungsweisen desselben Terminus sinnvoll, gegebenenfalls sogar notwendig sind, hat begriffsgeschichtlich bewußte Historiographie wiederholt mit guten Gründen dargelegt. Der gegen sie erhobene Vorwurf des Neo-Historismus kann sie daher nicht treffen. 86 87 Herrschaft VII. 1. Auflösung der Identität von Sinnenhaftent und Sinnhnftem j Dialektik von Herrschaft und Genossenschaft Herrschaft körperung der unsichtbaren Staatseinheit und deshalb zugleich das staatsrechtlich zur ausschließlichen Trägerschafl der Landeshoheit berufene Staatsorgan gewesen405. " So unhistorisch dieses Staatsverständnis, wie es sich in der von Wilhelm Eduard Albrecht übernommenen Begrifflichkeit dokumentiert408, auch gewesen sein mag,, die doppelte Orientierung an herrschaftlichen und genossenschaftlichen Strukturen" hat Gierke vor jeder etatistischen Verengung des verfassungsgeschichtlichen Blickfeldes bewahrt und seine Aufmerksamkeit auch auf „Erscheinungen des N|.-L»-absolutistischen im Absolutismus", auf die noch lange sich haltenden Residuen „örtlicher Souveränität" (Gerhard Oestreich407) gelenkt. Gerade in diesem Bereich hat Gierke strukturell bedingte Verzögerungen in der Entsinnlichung von Herrschaft entdeckt: die Vorstellungen, welche alles politische Recht an sichihire Herrn oder sichtbare Gesamtheiten knüpften, sind auf dem Lande erst spät und Uľ,v,\\. kommen den abstrakten Begriffen obrigkeitlicher oder gemeinheitlicher Gewalt ge-wichen10^. Doch war Gierke, bei aller Faszination durch das germanisch-deutsche Genossenschaftswesen, fern von einer romantischen Sicht der Vergangenheit (und die Neo-Romantiker des 20. Jahrhunderts sind denn auch bald autoritativ darauf aufmerksam gemacht worden, daß sie sich auf Gierke nicht berufen können). Überzeugt, daß der Weg der Geschichte zu immer höheren Stufen führe, beurteilb- er vergangene Sinnenfälligkeit von Herrschaft durchaus negativ als Mangel an Ah-straktion, und die dabei gemeinten Verhältnisse trugen für Gierke mit der begrifflu í, a Unvollkommenheit zugleich faktische Mängel an sich, deren Überwindung er iU Fortschritt bewertete408. Dieser Zusammenhang von 'Negation' (in verschiedenen Bedeutungen des Begr.lTa) und 'Fortschritt' sowie die durchgehende Annahme, daß die Triebkräfte der Geschichte jeweils von den nicht-dominierenden Gegebenheiten ausgehen, lassen Gierkes Aufgeschlossenheit mindestens für zwei damals miteinander konkurrierende ; Denkformen erkennen: für eine gewisse entwicklungsgeschichtliche Konzeption, die Geschichte als Aufhebung privativer Negationen interpretiert, und für die neuere, ihren eigenen Begriff der 'Negation' implizierende Dialektik — beide in je besní: lerer Weise noch der Tradition aristotelischer Metaphysik verpflichtet, beide aber auch als Wende traditioneller Ontológie in die Geschichte sowohl Zeugnis wie M ,{aß Führerschaft sich ebenso gut mit Genossenschaft wie mit Herrschaft verbilden könne, in Widerspruch zu Oppenheimers eigenen definitorischen Bemühungen das Wort doch einseitig festzulegen, etwa wenn er die Bedeutung von genossen-n-ttüfüicher Führerschaft aus dem Gegensatz zu herrschaftlicher Leitung bestimmt. Mbett in diesem Sinne ist er auch verstanden worden436. Daß die Versuche, 'Führung' und 'Führerschaft' ins dichotomisch-dualistische Schema von 'Herrschaft' und 'Genossenschaft' einzufügen, die Logik des zweigliedrigen Trennungsdenkens sprengen, geht in aller Deutlichkeit aus Hintzes brillanter Auseinandersetzung mit Oppenheimer und dessen radikal herrschaftsfeindlicher soziologischer Staatsidee hervor. Dabei konzediert Hintze durchaus, daß Führerschaft begrifflich etwas anderes ist als Herrschaß, bestreitet aber die Möglichkeit der Zuordnung zu 'Genossenschaft'; vielmehr hält er Führung für ein Ur-■phdnomen, ohne welches die ursprüngliche Menschenhorde so wenig denkbar ist wie die tierische Herde. Damit wird Führung, unbeschadet nachträglicher Einordnung ■in den nach Hintzes Ansicht typischen, historisch unendlich oft wiederkehrenden Entwicklungsgang vom Führertwm zur Herrschaft11'', primär als Erscheinung sui generis anerkannt. Eben diese Meinung, die hier zur begriffsgeschichtlichen Illustration an einem über jeden Verdacht faschistischen Denkens erhabenen Historiker belegt worden ist, sollte zum Kernbestand der Ideologie des Nationalsozialismus gehören. Ebenfalls schon vor und mit der Heraufkunft des Nationalsozialismus hat das „Zeitalter des kleinen Mannes" die Veralltäglichung des Charismas mit sich gebracht: So sieht Vieekandt eine blinde Hingabe, ... die eine völlige Unmöglichkeit des Widerstandes in sich schließt, nicht allein hervorgerufen durch die genialen Fiihrerpersönlichkeiten der Weltgeschichte; sie sei in kleinerem Maßstab täglich um uns herum zu beobachten***. 'Herrschaft', einer der zentralen Begriffe der alteuro-päischen Welt, schien definitiv abgelöst zu sein durch 'Führung': mit ihm glaubte man das durchgehende Strukturprinzip sozialer Ordnung entdeckt zu haben. 433 Alfrei> Vieäkanut, Gesellsehaftfilehre. Hauptprobleme der philosophischen Soziologie (Stuttgart 1923), 68. 93. 431 Kranz Oppenheimer, System der Soziologie, Bd. 1/1: Allgemeine Soziologie. Grundlegung (Jena 1922), 369. 43t Vgl. Albert Menne, Einführung in die Logik (Bern, München 1966), 16ff. U1 Oppenheim er, System der Soziologie, Bd. 1/1, 369. 374. 415 0. Hintze, Soziologische und geschichtliche Staatsauffassung. Zu Franz Oppen-heimers System der Soziologie (1929), in: ders., Soziologie u. Geschichte, 270. 275. 269. 139 Vierkandt, Gesellschaftslehre, 69. 94 95 Herrschaft VIII. Substitution von 'Herrschaft' durch 'Führung* ;rä guj,Biiiiition von 'Herrschaft' durch 'Führung' Herrschaft Die zeittypische Generaliaierung von 'Führung' zur Bezeichnung einer Funktion die in allen gesellschaftlichen Gruppen auftritt (Theodor Geiger'139), machte terminologische Spezifikationen erforderlich, von denen die bemerkenswerteste die des ' 'Massenführers' gewesen sein dürfte: sie nennt die neue Voraussetzung von Führung;- ■-widerstreitet aber eben damit der These, daß Führung ein eigenständiges soziales ' Phänomen — ein „Urphänomen" im Sinne Hintzes — sei. Denn der Massenfuhrer ist nicht Führer in irgendeinem herkömmlichen Sinne. Des Massenführers wt*rr<: lichste Funktion ist die, durch deren erste Betätigung er zugleich Führer wird.- die' adäquate Formulierung der Massenstimmung in ihrer aktuellen Nuance . . . Er Je-stimmt nicht die Haltung der Masse, sondern er ist Führer kraft seiner potenzierten Massenhaltung; er ist Exponent der Masse. Dem Nihilismus der Masse ohne Führung' — nach der Definition Theodor Geigers: ein von der destruktiv-revolutionär bewegten. Vielheit getragener sozialer Verband*10 — entspricht die Nichtigkeit des Führers ohne Massenanhang. Der Nationalsozialismus hat die von den Modedisziplinen der Psychologie und Soziologie der Masse vertretenen Lehrmeinungen geschickt zu verwerten gewußt, dabei freilich die Abhängigkeitsverhältnisse in ihr Gegenteil gekehrt; nicht die Massen galten ihm als Ursprung der Spontaneität und Zentrum der Entscheidung,, v sondern ,,der Führer". Die Unterscheidung von 'Masse' und 'Führung' wurde durch die Gegenüberstellung von 'Führer' und 'Volk' abgelöst: die neue Wortfolge entsprach den politisch durchgesetzten Prioritäten441. Zu den stillschweigend übernommenen und raffiniert praktizierten Erkenntnissen aus Psychologie und Soziologie, die sich vorab auf eine breite AUtagserfahrnng stützen konnten, gehörte die Erfüllung von Bedürfnissen nach sinnlicher Konkret- : heit. Freilich verstehen sieh alle politisch-sozialen Massenbewegungen des 20. Jahrhunderts — keineswegs nur der Faschismus in seinen unterschiedlichen nationalen ■ Ausformungen — vorzüglich darauf, Farben und Klänge, Symbole und Rhythmen als Integrationsfaktoren einzusetzen442. Solche Versinnlichung hat vielerlei Wirkungen. Sie fördert (worauf es hier allein ankommt) einerseits die emotionale Identifikation mit dem Führer, insonderheit unter den Bedingungen sozialer Homo- " Theodor Geiger, Art. Führung, Handwörterbuch der Soziologie (1931), hg. v. A. Vierkandt, 2. Aufl. (Stuttgart 1959), 137. 440 Th. Geiger, Die Masse und ihre Aktion. Ein Beitrag zur Soziologie der Revolutionen (Berlin 1926), 149. 37. 441 Was Psychologie und Soziologie der Masse entdeckt hatten oder glaubten entdeckt zu haben, wollte man sich zunutze machen, ohne es für die eigene demagogische Praxis gelten zu lassen. Symptomatisch für dieses Dilemma ist der nachstehende Passus: Massen sowohl wie Volk brauchen Führung ... Die Führung der Masse ist stimmungsbedingt ... DrsIiaV) hat der Massenführer keinen eigenen Willen, kein Ziel, keine Lebensdauer . .. Der wirkliche ■ Führer kommt aus dem Volk und ist mit diesem natürlich verbunden. Er ist der instinktsichere Vollzieher des bewußten oder oft auch unbewußten Volkswittens, Otto Gohdes. Der neue deutsehe Mensch, in: Der Schulungsbrief, hg. v. Hauptschulungsamt d. NSDAP u. d. DAF, 7. Folge (Sept. 1934), 8. 442 Diese Praxis hat Smend aus dem noch begrenzten Erfahrungshorizont der zws.iv/iger Jahre in seine „Integrationslehre" einbezogen; Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), Staatsrechtliche Abh. u. andere Aufs. (Berlin 1955), 119ff.: vgl. 1 ders., Art. Integrationalehre, Hwb. d. SozWiss., Bd. 5 (1956), 299ff. Tt bzw hoher sozialer Mobilität (der Führer, der selbst aus „kleinen Verhält-• n" stammt, der „ein einfacher Arbeiter", „ein Frontsoldat" gewesen ist — einer wie Du und ich"); andererseits vermag Versinnlichung, zumal wenn sie sich Í6T Mittel und Möglichkeiten moderner Technik zu bedienen versteht, den Führer der Masse herauszuheben, die Einsamkeit des einen gegenüber allen anderen augenfällig zu machen. Durch solcherart identifizierende Distanzierung wird Führung iär ^le Geführten zu einem bipolaren Erlebnis, wie es in religiös sensibleren Zeiten das Heilige in seiner doppelten Qualität als Tremendum und Faszinans für breiteste Schichten gewesen ist143. Die Präsentation des Führers erfüllt zugleich teils bestehende und wissenschaftlich diagnostizierte, teils aber auch propagandistisch angesonnene oder erhöhte Bedürfnisse nach Autorität. 'FühreTprinzip', 'Personenkult' und andere, durch ihre demokratische Umgebung minder verdächtige Begriffe und Erscheinungen sind Re-aktionsphänomene auf den tief angelegten Abstraktionsprozeß, dem Herrschaft in mehrfacher Hinsicht ausgesetzt ist. Sie können ihn vorübergehend eskamotieren, aber weder aufhalten noch gar rückgängig machen. Vergeblich war gegenüber der praktisch-revolutionären Entdeckung und ideologischen Stilisierung von 'Führung' zum Zentralbegriff der neuen „Weltanschauung" der Versuch des Konservatismus, Begriff und Phänomen der Herrschaft aufzuwerten, auch wenn der Konservatismus sich dabei zeitgemäß, d. h. auch seinerseits revolutionär, gegeben hat144; aussichtslos war zumal das Unterfangen, auf Grund dei Diagnose, daß der Tatbestand der Auflösung und grundsätzlichen Verneinung der hemütafüichen Faktoren . . . der zentrale der gegenwärtigen Staatskrise sei, den autoritären Staat als Alternative zum totalen Staat zu beschwören445. — Wie sehr Hans Frkyur recht behalten sollte, als er den Begriff der Herrschaft ...den besttabuierten Begriff des gegenwärtigen Denkens genannt hat446, haben die folgenden Jahre bewiesen, in denen das Führerprinzip durchgesetzt und dessen Rückbezug auf das Pritizio Herrschaft autoritativ abgeschnitten worden ist. So hat man die allenthalben propagierte These von der historischen Eigenart und Unvergleichlichkeit < solcher nationalsozialistischer Grundbegriffe wie Gemeinschaft, Führer, Volksgemeinschaft verhältnismäßig früh in zwar nicht respektloser, aber eben historisch distan-■ zierender Auseinandersetzung mit Gierkes Begriffswelt zu begründen gesucht und : dabei in aller nur wünschenswerten Klarheit erkannt und dargelegt, daß Gierkes = Terminologie unser neues staatsrechtliches Denken nicht auszudrücken vermag und uns nur hindernd im Wege steht1". Mit dieser Einsicht, die sich wie eine Bestätigung 445 Küdolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein : Verhältnis »im Rationalen (1917), 26./28. Aufl. (München 1947), 13. 39. 444 Vgl. AflMIN Möhler. Die konservative Revolution. Ein Handbuch (1950), 2. Aufl. (Darmstadt 1972). 445 Hhinz Otto Ziegler, Autoritärer oder totaler Staat (Tübingen 1932), 27. : 441 II. Freyer, Herrschaft und Planung. Zwei Grundbegriffe der politischen Ethik (Hamburg 1933), 23. 447 Reinhard Höhn, Otto von Gierkes Staatslehre und unsere Zeit. Zugleich eine Aus-: emandersetzung mit dem Rechtssystem des 19. Jahrhunderts (Hamburg 1936), 76. 13f. Bemerkenswert für die Geschichte begriffsgeschichtlicher Forschung die Erkenntnis, daß mit der Substanz der Lehre Gierkes auch deren terminologische Fassung ganz dem 19. 96 97 Herrschaft des traditionellen Verständnisses von 'Herrschaft' liest, war der Begriff aus der " herrschenden Ideologie tendenziell ausgegrenzt, politisch neutralisiert und d.1 ' Li erneut freigegeben für die Zwecke wissenschaftlicher Forschung. In diesem Freirnum hat die Wiederentdeckung herrschaftlicher Strukturen in der germanisch-deutschen / Verfassungsgeschichte durch Historiker wie Otto Brunner, Heinrick Dani.-\ bauer und Walter Schlesinger stattgefunden418. Die Gegenposition, die e. dabei zu überwinden galt, war nicht das neue, wissenschaftlich uninteressante % „Führerprinzip", sondern der alte, inzwischen ebenfalls der Ideologisierung anho-n-gefallene „Genossenschaftsgedanke"449. Vorausgegangen aber war eine wii-j>-! schaftliche Neutralisierang des Herrschaftsbegriffs von anhaltender transnationaler Ausstrahlungskraft. Sie ist im wesentlichen das Verdienst eines Mannes: Max Weber IX. Ausblick Max Webers verstreute Beiträge zur Herrschaftssoziologie und zur Soziologie >Vi Bürokratie haben weltweit die größte Beachtung gefunden und die nachhaltig" b r. Wirkungen ausgelöst. Daß Weber drei reine Typen legitimer Herrschaft untersi m i-det450, gehört zum akademischen Proseminarpensum wie zur eisernen Ration von ='.■ Prüfungskandidaten; daß das Epitheton 'legitim' nicht analytisches Prädikat \ . i 'Herrschaft' ist, scheint hingegen kaum der Beachtung wert zu sein. Zu fremd ist -7 modernem Denken geworden, was vorrevolutionärem selbstverständlich gew< -111 daß, wenn man . . . von der Herrschafft überhaupt redet, . .. man hierunter die 1 unmäßige Herrschafft versteht45". Die Unterscheidung von rechtmäßiger und unn'hi-mäßiger Herrschafft war zwar geläufig; sie gehörte zu den Argumentationstopoi — sedes argumentorum — klassischer Herrschaftskritik bis zu den Tyrannislehren im Jahrhundert angehört. — Übereinstimmend im Ergebnis, aber aus entgegengesetMt-n Gründen haben auch Gegner und Verfolgte des Nazi-Regimes die Verwendung des Wnr-c« 'Herrschaft' in diesem Falle als unangebracht und irreführend verurteilt (so z. B. Siegfri d Landshut im Gespräch mit dem Verfasser angesichts einschlägiger Titel in den fünf, u r Jahren). Der heute übliche Sprachgebrauch ist freilich ein anderer. 448 Diese Zusammenhänge sind, wenn ich recht sehe, noch nicht hinreichend beai 1 ".et worden — durchaus im Unterschied zu den Impulsen, welche die verfassungegesehichl 1 iche Forschung aus der zeitbedingten Historisierung und Relativierung des liberalen Sil 'i und Verfassungsbegriffs mit dem Untergang der Republik von Weimar empfangen hat. Vgl. die treffende Notiz von Böckewförde, Verfassungsgeschichtliche Forschung 1« Anm. 403), 17 — im Unterschied auch zur früh beobachteten Einbettung in eine M-ait und Gesellschaft übergreifende Volksgeachichte; in diesem Sinne Heinrich Mmt'i, Land und Herrschaft. Bemerkungen zu dem gleichnamigen Buch Otto Brunners (1941), n: Herrschaft und Staat im Mittelalter, hg. v. Hellmut Kämpf (Darmstadt 1956), 20IT-, bes. 63 ff. 441 An die bis in die vierziger Jahre bestehenden Vorbehalte und Widerstände gegen ■■».<■ herrschaftsorientierte Verfassungsgeschächte erinnert Heinrich Damenbauer in der Vorbemerkung zum Wiederabdruck seiner Abhandlung: Adel, Burg und Herrschaft 1 A den Germanen. Grundlagen der deutschen Verfassungsentwickiung (1941), in: Ka'iiit, Herrschaft und Staat, 66. *" Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (s. Anm. 255), 124 u. paasim. 4,1 Zedler Bd. 12, 1800, Art. Herrschaft. Herrschaft der Schwelle des Zeitalters der Revolutionen; sie ist auch lexikalisch registriert werden452. Doch seheint ein Herrschaftsverhältnis bis zum Beweis des Gegenteils als rechtens gegolten zu haben. Modernes Denken tendiert, in verallgemeinernder Wendung auf Herrschaft überhaupt bezogen, zur entgegengesetzten Annahme, daß Herrschaft in ihrem Ursprung, wenn nicht auch in ihrem Fortbestand unrechtmäßig sei, und läßt den Beweis des Gegenteils, unter Umkehrung der Beweislast, jeweils nur für den konkreten Fall zu. Auf Grund ihrer spezifischen Legitimitätsgeltung unterscheidet Max Weber die rationale Herrschaft (und als deren reinsten Typus .. . diejenige mittelst bureau-■ kratischen Verwaltungsstabs) von der traditionalen Herrschaft und der charismatischen Herrschaft^3. Diesen drei reinen Typen und ihren Misch- und Übergangsformen liegt ein identischer Herrschaftsbegriff zugrunde, bei dessen Definition Weber zweck-mäßigerweise von modernen und also bekannten Verhältnissen ausgeht, dessen Abstraktionshöhe daher den historischen Abstraktionsprozeß von Herrschaft selbst reflektiert454: Während Macht — nicht minder abstrakt definiert — nach Weber jede Chance bedeuten soll, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, woraus folge, daß der Begriff „Macht'' .. . soziologisch amorph sei, soll Herrschaft .. . die Chance heißen, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden*^. Vor allem zwei Verfahrensweisen sichern diesen Termini (wie allen, die nach demselben, für Max WebeT charakteristischen Schema definiert sind) breite Verwendbarkeit, allerdings mit der Einschränkung, daß sie gegebenenfalls das jeweils historisch Wesentliche in seiner Eigenart verfehlen: Erstens — formal — die Orientierung am positivistischen Nominalismus, die voluntaristische, jedoch nicht willkürliche, sondern von Zweckmäßigkeitserwägungen unter dem Primat der Aktualität geleitete Festsetzung der Bedeutung des Terminus, mit der durch das konstitutive Begriffsmerkmal 'Chance' eröffneten Möglichkeit der Qualifikation, dem Ideal präziser Begriffsbildung468; zweitens — material — ein an manifesten Erscheinungen orientiertes Verfahren (das als ein phänomenologisches oder quasiphänomenologisches oder auch behavioristisches zu bezeichnen, nur in die Irre führen würde), der Aufweis dessen, was sich an Machtbeziehungen bzw. Herrschaftsverhältnissen an sich selbst zeigt, und dies ist eben, folgen wir Weber, bei Macht die Durchsetzung des „eigenen Willens", bei Herrschaft die Befolgung der „Befehle". Nicht in die Definition aufgenommen wird hingegen, was nur erschlossen, nur theoretisierend gewonnen werden könnte, was nur der Introspektion zugänglich wäre, insbesondere also — im Falle von Herrschaft — die Motive der Fügsamkeil. Maßgeblich für den Tatbestand einer Herrschaft ist nur .. . das aktuelle Vorhandensein eines erfolgreich anderen Befehlenden^1. 48s Ebd., 1800f. *" Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, I24ff. «• Ebd., 122. JM Diese Ausgangsdefinitionen der Herrschaftasoziologie, ebd., 28. lis Vgl Karl W. Deutsch, Diskussionsbeitrag über „Max Weber und die Machtpolitik", m: Verh. d. 15. dt. Soziologentages. Max Weber und die Soziologie heute, hg. v. Otto Stammer (Tübingen 1965), 142. 137 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 122. 29. Vgl. auch James Bryce, Obedience, in: dera., Studies in Hisbory and Jurisprudence, vol. 2 (Oxford 1901), 1 ff. IX. Ausblick "i ]X, Ausblick 98 99 Herrschaft IX. Ausblick -? Herrschaft Die Grenzen der historischen Aussagefähigkeit des entscheidend durch Gehorsams. \ leistung definierten Herrschaftsbegriffs sind in der Gegenüberstellung von Gehör» -s sam und Treue als Konstituenten von Herrschaft zu erkennen458. Wenn ausschlag- ': gebend für Herrschaftsbeziehungen die Treue ist, zumal eine wechselseitig geschul- ! dete Treue, deren Verletzung durch den Herrn das Recht zum Widerstand gibt, ao §• kann solcherart Herrschaft mit Webers Herrschaftsbegriff offensichtlich nicht in ihrem Wesensgehalt erfaßt werden, obgleich auch sie logisch unter ihn subsumiert % werden kann. Denn Treue schließt Gehorsam ja keineswegs aus; vielmehr gibt es ; Gehorsam aus Treue. Wer aber aus Treue gehorcht, handelt eben nicht lediglich um ~'_ des formalen Gehorsamsverhältnisses halber*™. Wird so etwas wie Treue als konstitu. f tiv in die Definition einbezogen, der Begriff mithin nicht mehr auf der Ebene der '. Erscheinungen, sondern auf der der Begründungs- und Motivationszusammenhänge J definiert, so verliert er mit seinem formalen Charakter auch seine Neutralität. Die ausschließliche Orientierung an Befehl und Gehorsam, die entschiedene Aus- -' grenzung aller — positiv oder negativ — qualifizierenden Momente aus dem Rcgriff '■ 'Herrschaft' führen in der breiten Rezeption, die Webers Herrschaftssoziologie ge- . funden hat, zu paradoxen Konsequenzen. Denn gerade der, der sich an Webers ; Verständnis von 'Herrschaft' hält, verliert, auch wenn er das Gehorchen als noch so ärgerlich, ja, als unzumutbar empfinden mag, per definitionem jede Möglichkeit der Diskriminierung von 'Herrschaft', sofern er unter dem Begriff mehr oder etwas ° anderes versteht als das formale Verhältnis von Befehl und Gehorsam. Was voa ' der Definition nicht erfaßt wird, von ihr auch gerade nicht erfaßt werden soll, wis also ex definitione nicht für jede Herrschaft zutrifft, kann zwar durchaus zum ; Gegenstand der Kritik gemacht werden, nur kann diese, bei Gefahr des Wider- ; spruchs, nicht mehr als Kritik von Herrschaft schlechthin ausgegeben weid°n eben dies aber ist der Fall bei moderner, in aller Regel generalisierender Heirschafts-kritik. Anders gewendet, Weber verweist das gesamte Repertoire von Gründen und Argumenten generalisierender Herrschaftskritik in den Bereich des historisch Kontingenten und legt dem Kritiker die doppelte Beweislast auf, 1. daß der Grund Iii konkreten Fall tatsächlich gegeben sei und 2. daß eine Verallgemeinerung ber . h-tigt wäre. Das eine wird oft genug möglieh sein, kann dann aber nicht aus eini-u allgemeinen Obersatz deduziert werden; das andere wäre mit der bekannten Pri ■! Je irtatik induktiver Schlüsse behaftet. Auch könnte sich auf Max Weber nicht beru "ea. wer, gleichsam in Umkehrung der Veralltäglichung des Charismas zum tagtagli1 hen Räsonnieren gegen die Herrschenden, „Die-da-oben" usf., die eigene Ansieht über den Wert und Unwert des Befehls zum Maßstab seiner Einwände machen wollte41'0 Die von Weber prinzipiell geforderte Werturteilsfreiheit der Wissenschaft neu' rali-siert auch den Herrschaftsbegriff, Ob und inwieweit die Neutralisierung die Substitution von 'Herrschaft' durch ?k 'Führung' gefördert hat, in welchem Umfang Max Weber in anderer Weise — dnr.'i 168 Dazu die prägnante Formulierung in bezug auf das differenziert gezeichnete, fränkis; V Königtum: Dem König schuldete man nicht Gehorsam, sondern Treue, Schlesinger, Entstehung der Landesherrschaft (s. Anm. 15), 120; im gleichen Sinne schon Wauz, Ver- . fassungsgeschiehte (s. Anm. 404), Ed. 1, 47. 469 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 123. "° Ebd. seiite" Typus 'charismatische Herrschaft', durch die Anerkennung des Plebiszitären aIs notwendig68 Moment in modernen Massendemokratien usf. — der Verdrängung von 'Herrschaft' durch 'Führung' Vorschub geleistet hat: dergleichen Fragen müsseh ü'er offenbleiben481. In der Geschichte des Herrschaftsbegriffs ist der Primat von 'Führung' ohnehin nur ein Zwischenspiel, kaum mehr als eine Episode, die in der Terminologie der Sozialwissenschaften des westlichen Auslands, bedingt durch den großen Exodus deutscher Gelehrter, deutlichere Spuren hinterlassen hat als bei uns. Inzwischen ist zwar auch hier der Bann der Assoziationen gebrochen, sind an 'Fuhruim' die Male der jüngsten Geschichte verblaßt; aber auch seitdem die Sprache ihre l nbefangenheit im Gebrauch dieses Wortes wiedergewonnen hat, steht, wenn nicht ganz konkrete Fragen in wohldefinierten Zusammenhängen (wie etwa die der Bctnebsführung", der „Führung eines Kraftfahrzeuges" u. dergl.) gemeint sind, in der liegriffssprache der Wissensehaft und, wenn nicht alles täuscht, auch in alltäglicher Rede 'Herrschaft' wieder im Vordergrund. So sind seit Max Weber zwei große, den Einbruch von 'Führung' überdauernde Linien in der Zeitgeschichte des Herrschaftsbegriffs zu unterscheiden. Sie kreuzen sich bisweilen, fallen auch zusammen, sind aber selbst dann analytisch auseinanderzuhalten: Die eine, streng wissenschaftliche, ist in der Nachfolge Webers um Wahrung der Neutralität bemüht; sie bewegt sich auf der historisch vorgezeichneten Höhe der Abstraktion und tendiert dazu, 'Herrschaft' zu einer Grundkategorie des Sozialen, folglich der Existenz des Menschen überhaupt, zu erklären. Die andere, deren Wissenschaftlichkeit je nach Selbsteinschätzung oder fremdem Urteil behauptet oder bestritten wird, ist bestimmt von der Frontstellung und den Nach-kriegskonjunkturen von Herrsehaftsapologetik und Herrschaftskritik. Keine der iheiilen Selten kann sich mit Fug auf Max W'eber berufen: er hat den Herrschaftsbegriff. durch Ausklammerung sowohl positiv als auch negativ qualifizierender Momente, symmetrisch nach „rechts" und nach „links" neutralisiert. Doch wenn auch in der Apologie so gewichtige Argumente wie die Unverzichtbarkeit haltgebender Institutionen vorgetragen werden462, die Szene wird beherrscht von einer mehr denn je dezidierten, radikalen Herrschaftskritik. Größer denn je ist aber auch die Uneinigkeit, was 'Herrschaft' meint und bedeutet463, wer die Herrschenden sind 481 Sie führen in den Problemkreis, welche Bedeutung das Werk Max Webers für die :Heraufkunffc des Faschismus in Deutschland gehabt haben könnte. Dazu die seinerzeit iheftig diskutierte Untersuchung von Woltoano J. Mommsen, Max Weber und die deutwhe Politik 1890—1920, 2. Aufl. (Tübingen 1974), 442ff., bes. 416ff. 4,2 Vgl., mit anthropologischer Fundierung, Arnolo Gehlen. Der Mensch. Seine Natur und Stellung in der Welt (1940), 10. Aufl. (Frankfurt 1974); dera., Urmensch und Spät-kultur (1956), 2. Aufl. (Frankfurt, Bonn 1964), 33ff.; über die Entlastungsfunktion der Institutionen vgl. ders., Mensch und Institution (1960), in: ders., Anthropologische Forschung (Reinbek b. Hamburg 1961), 69ff. "s Auch Autoren, die ihre Verpflichtung gegenüber Marx stets besonders betont haben, sind in dieser Frage nicht eines Sinnes: Gegenüber dem wiederholten Versuch Hofmanns, Herrschaft auf institutionell gesicherte Nutznießung eines Teils der Oesellschaft gegenüber einem anderen zu reduzieren (in der wissenschaftlichen Absicht, der babylonischen Sprachverwirrung zu steuern, die um den Herrschaftsbegriff entstanden ist, und in der politischen Intention, den Stalinismus von der allgemeinen Diskriminierung von Herrschaft auszunehmen, ohne dieses System der ins Unmaß gesteigerten Machtanwendung im mindesten zu 100 101 Herrschaft IX« Anshlfcl^l und wer die Beherrschten464, auf welcher Basis Herrschaft beruht und wc |. Qfl Mittel sie sich bedienen kann — um nur einige der aus dimensionaler Analyse g& / wonuenen, weiterführenden Fragen zu formulieren. Der Terminus ist so unscharf geworden, daß unschwer als 'Herrschaft' in Fortsetzung traditioneller Diskrirjiiirie. rung bezeichnet werden kann, was mit 'Herrschaft' im traditionellen Sinn km», mehr als eb en diese Bezeichnung gemein hat. So scheint das Wort eine der weniger*'"^'' Konstanten in der Geschichte des Herrschaftsbegriffs zu sein. In seiner abstra'.t-i Verwendung ist es zur Chiffre für die condition humaine in der modernen "W geworden. Dietrich Hilger Hierarchie I Einleitung. II- Hierarchie im religiösen Bereich. 1. Grundlegung bei Pseudo-Dionysios ^teopagita- 2. Kirchliche Bedeutung, a) Universalistische Auffassung im Mittelalter. M Ämterordiiung innerhalb der Kirche, e) Luther, d) Kanonisches Recht. 3. Lexikalische Bestimmung - Kirchenregiment. 4. Negative Bestiromung: katholische Kirche und päpstliche Heirs'-Haft. 5. Religionssoziologische Ausweitung. III. Hierarchie im weltlichen '■'Bereich I '/'"r Übertragung des Hierarchiebegriffes auf den weltlichen Bereich. 2. Frühe Belege der Übertragung, a) Frankreich, b) Deutschland. 3. Hegel. 4. Corres und Gutzkow. 6. Der f.ibeialisnnr . IV. Ausblick. Literatur Klaus Schreiner, „Grundherrschaft". Entstehung und Bedeutungswandel eim-i ire. Schichtswissenschaft liehen Ordnungs- und Erklärungsbegriffs, in: Die Grundhcrrsthaff während des späten Mittelalters in Deutschland, hg. v. Habs Patze (Stuttgait 1981); Kahl Kroeschell, Haus und Herrschaft im frühen deutschen Recht. Ein methodischer Versuch (Göttingen 1968); Otto Brunner, Land und Herrschaft (1939), 5. Aufl. (Darm! Stadt 1965); Horst Günther, Freiheit, Herrschaft und Geschichte. Seraantik der Irisl«. risqh-politisehen Welt {Frankfurt 1979). exkulpieren), halten Abendroth und dessen Schule daran fest, daß es neben dem libcultr und dem faschistischen auch das sozialstaatliche und das kommunistische Modell öffentlicher ■ Herrschaft gebe, Werner Hofmann, Was ist Stalinismns (1957), in: ders., Stoliniamus und Antikommunismus. Zur Soziologie des Ost-West-Konflikts (Frankfurt 1970), 13; dm-.. Grundelemente der Wirtachaftsgesellsehaft (Reinbek b. Hamburg 1969), 30; Rkinii ii:u Kühnl, Das liberale Modell öffentlicher Herrschaft, in: Einführung in die politisi f.e Wissenschaft, hg. v. Wolfoang Abendroth u. Kurt Lenk (Bern, München 1968). ST ff.; Hans Manfred Bock, Das faschistische Modell öffentlicher Herrschaft, ebd., 11 Inf.; jörg Kammler, Das sozialstaatliche Modell öffentlicher Herrschaft, ebd., 86ff.; Hivvn Drechsler, Da« kommunistische Modell öffentlicher Herrschaft, ebd., 136ff. 4,4 Vgl. die These, daß die. Arbeiterklasse zu einer der herrschenden Klassen der Oegemmrt^ geworden sei — wohl gemerkt: in der Gesellschaft der BRD, Golo Mann, Deutsche HC-schichte des 19. und 20. Jahrhunderts (Frankfurt 1958), 934. I. Einleitung In alle modernen Sprachen eingegangen, ist 'Hierarchie' von griech. hgagxia abgeleitet Etvmologisch handelt es sich um eine Verbindung von ieoóc, „heilig", und tfaf»'. „herrschen", „befehlen". Seinem Wortsinn nach ist Hierarchie eine Ordnunu heiligen Ursprungs und Zieles {tegá ápxv = heilige Herrschaft, heiliger Ursprung), dem klassischen Griechen jedoch fremd1 und auch im Neuen Testament nicht 7u finden2, ist 'Hierarchie' seit Pseudo-Dionysios Areopagita (Ende des 5. Jahrhunderts) Ausdruck für die von Gott der Kirche gegebene Ordnung. Im modernen Sprachgebrauch bezeichnet 'Hierarchie'jede Rangstufe im sozialen Bereich und insbesondere jedes Verhältnis der Ober- und Unterordnung im öffentlichen DicnstJ. Diese Ausweitung des Wortes 'Hierarchie' vom kirchlichen auf den weltlichen Bereich ist. in dieser Allgemeinheit nicht alt: noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts wird eine derartige Anwendung des Wortes 'Hierarchie' als sehr weitgehend : empfunden. Hierarchie gehört zu denjenigen Wörtern, derer sich, besonders in der neueren Zeit, die Menge bedient, um irgend etwas ihr Mißfälliges, Widriges tu bezeichnen, ohne daß sie sieh darum bekümmerte oder auch nur bekümmern wollte, was die betreffenden Wörter eigentlich bedeuten, ja auch nur darum, woran das ihr Mißfällige eigentlich bestehe (Hermann Wageneb 1862)4. Ce mol vcut dire, au sens étymologiquc, gouver-nement wir/, gouvernement de Véglise, mais l'usagc a singulierement étendu la signi-featian du mot. Oh entend aujourd'ltui par hierarchie une supei•■position, une Subordination de personnes les unes aur- nutres. En vue ďun objet quelconque, qui est en général im wnice. public. En général, mak ■pas tovjenm. Car la hierarchie est le fait de/o.ií le mimde cl se rrncontre en toule chosc (Dui-ont-Whitk 1874)5. ? '.Vgl. die Wörterbücher zur griechischen Sprache, etwa Hermann Menge/Otto Gvjth-MHO, Gnci liisch-tleutsihcs und dcutscli-grii-ihisilies Wort er bueb, 2. Aufl. (Bcrlin-Schöne-Sierg l'il'l). 340; Lumieli./Scqtt 3rd od. (1940; Ndr. 1958), 820; Hjalmar Erisk, Grie-cMailu-, Ktymologisches Wörterbuch, Bd. 1 (Heidelberg 1960), 711. Moser GtwiKss, Art.. Hierarchie 1. Biblisch, LTliK 2. Aufl., Bd. 5 (1960), 322. *KlAi's MdEKsixmr. Art. Hierarchie III. Kirolieiirechtlich, ebd.. 323; Brockhaüs Id. Ami . IM. fi (I9ÍH). 437; Das Große Doiion-Lcxikou, »I. 4 (Mannheim 1966). 220. *Wauimii l!d. 9(1862), 416. ' Dm o\ i U'iiitio, zit. Block, nnuvcll« ed., t. 2 (1874), 20. 102 103