GESCHICHTLICHE GRUNDBEGRIFFE Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland Herausgegeben von Otto Brunner f Werner Conze f Reinhart Koselleck Band 3 H-Me Klett-Cotta Krise r Jadeite"1?' II. Zur griechischen Wortverwendung. III. Die Übernahme in die National-jprichen. IV. Die Wörterbuchebene. V. Tom politischen zum geechichtsphilosophischen Begriff; das 18. Jahrhundert und die Französische Revolution. 1. Der politische Wort-nbrauch. 2. Die geschichtsphilosophische Ausweitung, a) Der westliche Vorlauf in der gp^ehichtliehen Begriffsbildung, b) Die geschichtsphilosophiscben Varianten im Deutsehen. Vti 'Krise' und Krisen: das 19. Jahrhundert. 1. 'Krise' in der Alltagserfahrung. 2. 'KriBe' ali geschiehtstheoretischer Begriff. 3. Die ökonomische Ausdifferenzierung des Begriffs. ( Ma'X Engels. VII. Ausblick. I, Einleitung Krisis' hatte in der griechischen Antike relativ klar abgrenzbare Bedeutungen im mristischen, theologischen und medizinischen Bereich. Der Begriff forderte harte iftemativen heraus: Eecht oder Unrecht, Heil oder Verdammnis, Leben oder Tod. Bér medizinische Sinn dominierte, gleichsam fakultätsgebunden, fast ungebrochen bis in die Neuzeit hinein. Seit dem 17. Jahrhundert erfolgte von hier aus, zunächst ra Westen, dann auch in Deutschland, eine metaphorische Ausweitung auf die Politik, die Psychologie, die Ökonomie und schließlich auch auf die Geschichte, i igen Ende des 18. Jahrhunderts wurde der Begriff wieder theologisch und religiös eilgefarbt, im Sinne des Jüngsten Gerichts, das in säkularer Deutung auf die re-»ölutiouaren Ereignisse angewandt wurde. Aufgrund seiner metaphorischen Vieldeutigkeit und Dehnbarkeit beginnt der Begriff zu schillern. Er dringt in die Alltagssprache ein und wird zum Schlagwort. In unserem Jahrhundert gibt es kaum einen kebensbereich, der nicht mit Hilfe dieses Ausdrucks seine entscheidungsträchtigen tkzente erhielte. Auf die Geschichte angewandt, ist'Krise'seit etwa 1780 Ausdruck einer neuen Zeiterfahrung, FaktoT und Indikator eines epochalen Umbruchs, der sich, gemessen an dar steigenden Wortverwendung, eigentlich noch verstärkt haben müßte. Aber der \usdruclf bleibt so vielschichtig und unklar wie die Emotionen, die sich an ihn hingen. 'Krise' kann sowohl, als 'chronisch' begriffen, Dauer indizieren wie einen idrzer- oder längerfristigen Übergang zum Besseren oder Schlechteren oder zum Sinz Anderen hin; 'Krisis' kann ihre Wiederkehr anmelden wie in der Ökonomie (fier zu einem existenziellen Deutungsmuster werden wie in der Psychologie oder Theologie. Die Historie partizipiert an allen Angeboten. D, Zur griechischen Wort Verwendung lJJ?efoi; entstammt dem griechischen Verb xglvm: „scheiden", „auswählen", „be-"rtcilen", „entscheiden"; medial: „sich messen", „streiten", „kämpfen". Daraus "(gab sich eine erhebliche Spannweite der Bedeutungen von 'Krisis'. Das Wort iBborte im Griechischen zu den zentralen Begriffen der Politik. Es bedeutete »Scheidung" und „Streit", aber auch „Entscheidung" im Sinne eines endgültigen Ausschlags. So verwendete Thukydides das Wort, um den schnellen Ausgang der 617 Kříse li. Griechischer Wortgebriiiiei! n Griechischer Wortgebrauch Krise Perserkriege auf vier entscheidende Sohlachten zurückzuführen1. 'Krisis' bedeute aber auch „Entscheidung" im Sinne der Urteilsündung und der Beurteilung, heute in den Bereich von 'Kritik' fällt2. Die später getrennten Sinnbereiche einer „subjektiven" Kritik und einer „objektiven" Krise wurden also im Griech .Ii», noch vom selben Wort abgedeckt. Beide Bereiche hingen begrifflich zusan i icp Vor allem als Urteil, Prozeß und Rechtsfindung, schlechthin als Gericht hatte Krii>i3 einen hohen verfassungspolitischen Bang, durch den die einzelnen Bürger und politische Gemeinschaft zusammengebunden wurden. Das „Für und Wider" wi.l.ntp also dem Wort ursprünglich inne und zwar in der Weise, daß die fällige Entsche lunu immer schon mitgedacht wurde. So verwendete Aristoteles den Ausdruck hnfj Kgian bestimmt als Rechtstitel und -setzung die Ordnung deT bürgerliche'i (le meinschaft3. Von dieser spezifisch Recht schaffenden Bedeutung gewinnt der 4o> druck politisches Gewicht. Er zielt auf Wahlentscheidungen, auf Regier Pi-beschlüsse, auf die Entscheidung über Krieg oder Frieden, über Todesstrafen und Verdammungen, auf die Abnahme von Rechenschaftsberichten, schlechthin auf § Beschlüsse der Regierungspolitik. Am notwendigsten für das Gemeinwesen si i cV-halb die xgioig über alles, was heilsam und gerecht zugleich sei4. Deshalb Iii i n-r Bürger nur sein, wer am Richteramt teil hatte (áQxV xetTwn;). 'Krisis' waT al; i ji zentraler Begriff, durch den Gerechtigkeit und Herrschaftsordnung über die jeweils richtigen Entscheidungen aufeinander abgestimmt wurden. 2) Der foTensiache Sinn von jcgims wird in der Septuaginta für das Alte Testament und im Neuen Testament voll übernommen5. Aber dem Begriff wächst eine vx„* Dimension zu. Das weltliche Gericht wird in der jüdischen Bundestradition aut1 Ir:: bezogen, der Herrscher und Richter seines Volkes zugleich ist. Im Richten 1 insofern auch ein Heilsversprechen enthalten. Darüber hinaus gewinnt der Ausdruck zentrale Bedeutung im Gefolge der apokalyptischen Erwartungen: die i>-i. i'ii Ende der Welt wird die zunächst noch verborgene, wahre Gerechtigkeit an den Tag bringen. Die Christen lebten in der Erwartung des Jüngsten Gerichtes (xg< — Judicium), wobei Stunde, Tag und Ort unbekannt blieben, die Gewißheit des J .1« sten Gerichtes aber sicher war6. Es wird sich auf alle erstrecken, auf die Fromme-1 und die Ungläubigen, auf die Lebenden und die Toten7. Das Gericht selber ; r sich als ein Prozeß hin8. Johannes geht noch über diese Gewißheit hinaus, indem er den Gläubigen verheißt, daß sie, dem Worte Gottes folgend, schon jetzt erlöst seien9. Die kommende Krisis bleibt zwar ein kosmisches Ereignis, es wird aber in der Gewißheit jener Gnade vorweggenommen, die eine Befreiung zum ewigen Leben zusichert. In dieser Spannung, daß Gottes Gericht durch Christi Verkündung :■ da ist, zugleich aber noch aussteht, wird ein Erwartungshorizont entworfen, der die 1 Thukydides, Hist. 1, 23. 2 Aristoteles, Pol. 1289b, 12. 3 Ebd. 1253 a, 35. • Ebd. 1275b, 1 ff.; 1320b, 1 ff. s Apostelgesch. 23, 3. s Matth. 10, 15; 12, 36; 25, 31 ff. ' Rom. 14, 10. 8 Matth. 25, 31 ff. « Joh. 3, IS ff.; 5, 24; 9, 39. liinniende geschichtliche Zeit theologisch qualifiziert. Die Apokalypse wird im rkuben gleichsam vorweggenommen und als gegenwärtig erfahren. Die Krisis ',li>ibt zwar als kosmisches Ereignis noch offen, wird aber im Gewissen schon .illzogen1". 3) Während die Wirkungsgeschichte des juristischen Begriffes im engeren Sinne nur jter die theologische Lehre vom Jüngsten Gerieht (= Judicium) verläuft, hat ein weiterer griechischer Wortgebrauch nicht minder den Sinnhorizont des modernen Krisenbegriffs erschlossen: die medizinische Krisenlehre, die dem „Corpus Hippo-crAÜcum" entstammt und von Galen (129—199) für rund anderthalb Jahrtausende Jjjiert worden ist11. Bei der Krisis einer Krankheit handelt es sich sowohl um den beobachtbaren Befund wie auch um das Urteil (Judicium) über den Verlauf, der an bestimmten Tagen zur Entscheidung treibt, ob der Kranke überlebt oder stirbt. Dabei kam es auf die richtige Datierung des Anfangs einer Krankheit an, um die Regelhaftigkeit des Ablaufes prognostizieren zu können. Je nachdem ob die Krise Biß völligen Gesundung führte, unterschied man später zwischen der perfekten Ense und einer imperfekten, die Rückfälle, nicht ausschloß, und die Trennung in akute und chronische Krisen führte — seit Galen — zu zeitlichen Differenzierungen -der Krankheitsverläufe12. Ber in das Lateinische übernommene Begriff ließ später seine metaphorische Ausweitung in den gesellschaftlich-politischen BeTeich zu. Es ist ein Verlaufsbegriff, der, ähnlich einem juristischen Prozeß, auf eine Entscheidung zuführt. Er indiziert jenen Zeitabschnitt, in dem die Entscheidung fällig, aber noch nicht gefallen ist. ;Zum Krisenbegriff gehört seitdem ein doppelter Bedeutungsgehalt, der auch in der politisch-sozialen Sprache erhalten blieb. Einmal hängt der objektive Befund, über dessen Ursachen wissenschaftlich gestritten wird, von den Urteilskriterien ab, mit denen der Befund diagnostiziert wird. Zum andern handelt es sich um einen Krank-iieitsbegriff, der eine wie auch immer geartete Gesundheit voraussetzt, die wieder sin erlangen ist oder die in einer bestimmbaren Frist durch den Tod überholt fDer juristische, der theologische und der medizinische Wortgebrauch von 'Krisis' renthielt also, gleichsam fakultätsgebunden, spezifische Bedeutungen, die allesamt auf verschiedene Weise in den modernen politischen und sozialen Sprachgebrauch ^überwechseln konnten. Immer handelte es sich um lebensentscheidende Alternativen, die auf die Frage antworten sollten, was gerecht oder ungerecht, heilsbringend Eoder verderbend, gesundheitsstiftend oder tödlich sein würde. 10 Friedrich Büchsel / Volkmar Heroteich, Art. Krino, Krisis, Kittel Bd. 3 (1938), •MOS.; Rudolf Bt/ltmamt, Theologie des Neuen Testaments, 7. Aufl., hg. v. Otto Merk (Tübingen 1977), 77ff.; — zu Jobannes vgl. ebd., 385ff.; dazu kritisch: Josef Blank, Cnsis. Untersuchungen zur johanneisehen Christologie und Esobatologie (Freiburg i. B. 1864). 11 Vgl. Nblly Tsouyopoülos, Art. Krise II, Hist. Wb. d. Philos., Bd. 4 (1976), 1240. 18 Théophile de Boedeu, Art. crise, Encyclopédie, t. 4 (1754), 471 ff. 13 /um medizinischen Krisenbegriff vgl. Tsouyopoülos, Art. Krise II, 1240ff.; zur Uber-tragung de» Krisenbegriffs in den psychologischen und anthropologischen Bereich seit idem Beginn des 19. Jahrhunderts U. Schonpfliío, Art. Krise III, Hist. Wb. d. Phüos., Bd 1, 1242ff. 618 619 Krise III. Übernahme in die NntioTmlsprachst, III. Die Übernahme in die Nationalsprachen Entsprechend dem lateinischen Sprachgebrauch der drei genannten Fakultäten bleibt in ihren Themenbereichen die latinisierte Form 'crisis' (neben 'Judicium') er-halten und taucht im 17. Jahrhundert gelegentlich in Titeln auf14. Die Seltenheit der Belege scheint dafür zu sprechen, daß der Ausdruck nicht zu einem zenirihn Begriff aufgerückt iat. Dazu bedurfte es erst der Übertragung in die National-sprachen. Im Französischen ist 'Krise' — noch im Akkusativ: 'crisin' — schon im 14. Jahrhundert als medizinischer Terminus nachweisbar15, im Englischen 15431* und in-, Deutschen ebenso im 16. Jahrhundert17, Obwohl die Corpus- und Organismusmetaphorik seit der Antike auf das Gemeinwesen angewendet worden ist, scheint der medizinische Krisenbegrifferst im 17. Jahrhundert auf den politischen Körper bzw. seine Organe bezogen worden zu sein. So verwendete Rudyeed 1627 im Kampf zwischen absolutistischer Krone und 'Km englischen Parlament den Ausdruck: This is the Chrysis of Parliaments; wc *hill know by this ij Parliaments life or die16. Wenig später, zur Zeit des Bürgerkrieges, war das Wort anglisiert, hatte den unmittelbaren Bezug zur medizinischen B3d(»u. tung verloren und speiste sich vielleicht auch aus dem theologischen Herkunftssinn,: 1643 schrieb Baillie: This seems to be a new period and crise of the most jrml affairs™. — Der Ausdruck setzte sich durch und wurde offenbar durch relisiivu Bedeutungsgehalte aufgeladen. 1714 veröffentlichte Richard Steele sein vhuauti-sches Pamphlet "The Crisis", das ihn seinen Parlamentssitz kostete. Der Titel der Flugschrift war geladen mit religiöser Emphase, die auf eine Entscheidung zwi'-ihoi Freiheit oder Sklaverei zielte. Steele sah in England den Vorkämpfer gegen eil c barbarische Überflutung Europas durch die Katholiken20. Auch in Frankreich wurde der Begriff—-nach Furetiere 1690—-in den politiii h i wie kurz zuvor schon in den psychologischen Bereich übertragen21. Ebenso wurden die wirtschaftlichen Schwierigkeiten zur Zeit Ludwigs XIV. Ende des 17. Jahrhunderts mit diesem Begriff erfaßt — wie bei D'Argenson 1743 auch die innenpolitische Lage22. Kurz zuvor verwendete auch Leibniz — noch in französischer Sprache — an zen~ traler Stelle den Begriff, um während des nordischen Krieges die Chancen ur.d die 14 Die Wirkungsgeschichte des theologischen Wortgebrauchs von Kglmg bleibt noch zu untersuchen. Seit der griechischen Edition des Neuen Testaments von Erasmus ist sie m vermuten und sicher nicht ohne Einfluß auf die Entstehung der modernen Geschichtsr. philosophic. 16 FEW Bd. 2/2 (1946), 1345, s. v. crisis. 18 Mubpcay vol. 2 (1888), 1178, s. v. crisis; ebd., 1180, s. v. critic. 17 Duden, Etym. (1963), 371, s. v. Krise. 18 Sra B. Rudyeed, Hist, coll., vol. 1 (1659), zit. Mukray vol. 2, 1178, s. v. crisis. " E. Batlije, Letters, vol. 2 (1841), zit. ebd., 1178, s. v. crisis. 20 Richakd Steele, The Crisis or, a Discourse Representing ..., the Just Causes of the Late Happy Revolution ... with Some Reasonable Remarks on the Danger of a Popish Succession (London 1714). 21 FuRetiebe t. 1 (1690; Ndr. 1978), a. v. crise. 22 Vgi. Bbunot t. 6/1 (1966), 44f. Krise " gefahren des aufsteigenden russischen Reiches zu diagnostizieren: Mornemta tem-porwn pretiosissima sunt in transitu rerum. Et VEurope est maintenant dans vm, etat Je ehangement et dans une crise, ou eile n'a jamais ete depuis VEmpire de Charle- ' MagneiS- Leibniz sah mit der zivilisatorischen Erschließung Rußlands eine welthistorische Wende sich abzeichnen, die nur mit der Gründung des Reiches Karls des - Großen zu vergleichen war. Der Begriff rückte in eine geschichtsphilosophische ' Dimension ein, die er im Laufe des 18. Jahrhunderts immer mehr ausfüllen sollte. - Damit hat sich der englische und französische Sprachgebrauch und die Verwendung - des Ausdrucks im deutschen Sprachraum in das innenpolitische, außenpolitische and wirtschaftliehe Feld ausgeweitet und schließlich eine geschichtliche Dimension . gewonnen, die von der medizinischen und theologischen Hintergrundsbedeutung gespeist wurde. IV. Dir Wörterbuchebene ■ Die Wörterbücher und Lexika zeigen, daß der Ausdruck 'Krise' im Deutschen — von Ausnahmen abgesehen — erst nach der Französischen Revolution und auch :: dann nur zögernd als politischer, sozialer und zuletzt ab ökonomischer Begriff verbucht worden ist. ;v 1) Einige Lexika registrieren den Ausdruck nur in seiner griechischen Verwendung: Beurteilung, Verstand, Nachsinnen. Daher critica, Wort-Deuteley, so Stieler 1695. HiBNEB, der 1739 nur auf die Krankheit Bezug nahm, erfaßte 1742 lediglich die ■■. Bedeutung, die sonst schon unter 'Kritik' abgehandelt wurde: der Mensch hat keine -crisin, das ist, er kann von einer Sache gar nicht urteilen, was aus Sperander oder Zedier abgeschrieben wurde24. v 2) Zahlreiche Lexika verzeichnen allein den medizinischen Bedeutungsstreifen: so Hühner 1731, Jablonski 1748 und 1767. De Bordeu widmet in der großen französischen Enzyklopädie 1754 der medizinischen Begriffsgeschichte eine gelehrte Abhandlung, um die Lehre der Alten mit ihrer modernen Kritik zu konfrontieren. Das gleiche gilt für die „Encyclopedie methodique" von 1792. Wenn auch weit kürzer, behandelt auch der Brockhaus von 1820 den Ausdruck nur in medizinischer : Bedeutung25. Selbst der Brockhaus von 1866 referiert nur die medizinische Lehre, wobei alle anderen Bedeutungsverweise der früheren Auflagen entfallen. 3etzt nennt man Krisis den schnellen Abfall der hohen Fiebertemperatur zur Norm und hat damit !s T.KiBMZ, Konzept eines Briefes an Schleiniz (23.9.1712), Leibniz' Rußland betreffender Briefwechsel u. Denkschr., hg. v. Wladimir Iwanowitsch Guerrier, Tl. 2 (Petersburg, Leipzig 1873), 227f.; vgl. Dieteb Geoh, Rußland und das Selbstveratändnis Europas (Neuwied 1961), 39. 21 Stieler, Zeitangs-Lust (1695), 192, s. v. crise; Hübnkb (Aufl, 1739), 570, s. v. Crisis; ebd. (Aufl, 1742), 312, s. v. CrisiB; Zedleb Bd. 6 (1733), 1653, Art. Crisis; Spekandeb (1727), 171, s. v. Crisis naturae. 26 Hübner, Handlungslex. (Aufl. 1731), 560, s. v. Crisis; Jablonski 2. Aufl., Bd. 1 (1748), 252, s. v. Crisis; ebd., 3. Aufl., Bd. 1 (1767), 345, 3. v. Crisis; De Bordeu, Art. Crise (s. Anm. 12), 471 ff.; Eue. meth., t. 5 (1792), 202ff., Art. Crise; Brockbaus 5. Aufl., Bd. 2 (1820), 870, Art. Crisis; Allg. dt. Conv. Lex., Bd. 6 (Ndr. 1840), 262, Art. Krisis. 620 621 Krise IV. WörterWhebei, IV. \fi»rterb«chebene den Kern der Sache getroffen, insofern als sieh aus dieser Änderung der FieberverhäU-nisse alle anderen Erscheinungen . . . erklären*6. 3) Viele Lexika verweisen kurz auf die anfängliche griechische Bedeutung [,r Urteilsfindung, um dann gleichwohl die medizinische Krisenlehre zentral zu referieren: so, Pomey 1715 und Speiander 1727. Bei Zedler hieß es 1733: Heut-;;Vj nennt man Crisin diejenige heilsame Wirkung der Natur, durch welche die Materie far Krankheit, welcke zuvor zu ihrer Ausführung wohl zubereitet worden, durch gehörige und gewisse emunctoria aus dem Körper geschaßt und dieser dadurch von seinen Unter gang und Krankheit befreiet wird, wobei die Alternative des Todes aivffäuigerweise ausgeblendet bleibt27. Ebenso wird der medizinische Wortgebrauch vorrangig be-handelt bei Heinse 1793 und in den verschiedenen Auflagen des Brockhaus28. 4) Die juristische und vor allem die theologische Bedeutung von 'crisis' haben algu in den allgemeinen Lexika für die Gelehrten des 18. und für die Gebildeten de< 19. Jahrhunderts keinen Niederschlag gefunden. Obwohl die Kenntnis dieser Bedeutungen bei vielen Akademikern vorausgesetzt werden muß, scheint die mediziii-sehe Verwendung der primäre Anlaß für die metaphorische Ausweitung in das Politische und das Ökonomische geboten zu haben. Adelung registriert das Wort gar nicht, und weder Rotteck/Welcker noch Bluntschli widmen dem Ausdruck einen eigenen Artikel — trotz selbstverständlicher Wortverwendung im Text29. 5) Selbst die Hinweise auf die metaphorische Ausweitung des Wortgebrauchs auf Politik und Wirtschaft oder seine Verwendung in der Umgangssprache sind vergleichsweise spärlich. Pomey führt 1715 neben Urteilung und Krankheit-Wechsel schon als dritte Redeu-tung an: L'affaire est dans sa crise — res ad triarios rediit. — Die Sack ist aufs höchste' kommen30. Die Anlehnung an das Französische verweist auf die nachhinkende Eindeutschung des Wortes im Laufe des 18. Jahrhunderts. Aber Pomey fand nur zögernd Nachfolge, während Johnson nach der medizinischen Bedeutung registriert: The foint of time at which any affair comes to the heig/tl31. Alletz, der auf Neologismen spezialisiert war, zitiert 1770 im Französischen zum ersten Mal nur die politische und militärische Bedeutung32. Erst Kuppermann bringt 1792 lakonisch alle drei Bedeutungsstreifen, die sieh inzwischen im Deutschen längst eingebürgert hatten: Krankheitswechsel, entscheidender Zeitpunkt, bedenkliehe Lage — Heinsb fügt noch Gärung hinzu33. Ähnlich Beyschlag 1806: Krankheilsweehsel, bedenkliche Lage der Umstände*1. Und im 86 Brookhaus 11. Aufl., Bd. 9 (1866), 83f., Art. Krisis. 27 Zedler Bd. 6, 1652, Art. Crisis; vgl. Pomey, Grand Dict. Royal, 5" ed., T!. 1 (1715), 240, s. v. crise; Sperander (1727), 171, s. v, Crisis naturae. 28 Heifsb Bd. 1 (1793), 63, s. v. Crisis; Brockhaus 10. Aufl., Bd. 9 (1853), 227ff., Art Krisis. M Vgl. Adelung Bd. 1 (1774); ebd., 2. Aufl., Bd. 1 (1793); Rotteck/Welcker Bd. 1 (1834); Bluntschli/Bratbr Bd. 2 (18S7) — überall fehlen die Art. ,,Krise"/„Crisis". 30 Pomey, Grand Dict. Royal, 5' ed., Tl. 1, 240, s. v. crise. — Die sprichwörtliche lateinische Wendung stammt von Livius 8, 8. 11. 31 Johnson vol, 1 (1765), s. v. crisis. 32 Alletz (1770), 93, s. v. crise. 33 Ktjppermanh (1792), 131, s. v. Crisis; Heisse Bd. 1, 63, s. v. Crisis. 34 Beyschlag 2. Aufl. (1806), s. v. Crisis. Krise i gleichen Jahr schreibt Oertel: Crisis, die Krisis — erster Beleg für die Eindeut- - - schling auch der Schreibweise — 1} Entscheidungspunkt (z. B. in der Krankheit), 2) Entscheidungszeichen 3) Entscheidungszustand ... Bedenklichheit der Um-Stande31; ähnlich Campe 181 336. Damit hat sich, soweit lexikalisch erfaßt, der medi-gjai-che Wortgebrauch in die Allgemeinsprache umgesetzt. Die Fremdwörterbücher von Heyse bestätigen das s. v. „Krisis odeT Krise" mit einigen ergänzenden De-finitionen, wobei 1873 auf die Krise ebenso im Leben der Völker und Staaten: der -■ Höhepunkt politischer Krankheit, zugleich Entscheidung und Gericht hingewiesen - wird37- Der Brockhaus notiert erstmals 1845 die Übernahme in die allgemeine brache: Im gewöhnlichen Leben nennt man Krisis den Zeitpunkt in einer einzelnen oder einer Reihe von Begebenheiten, welcher den Ausgang derselben bestimmt, dem ;. Ganzen die Wendung gibt, die es annimmt. Pierer verweist im gleichen Jahr noch ■- auf die schnelle Umwandlung eines Zustandes in einen anderen, z. B. Staatsumwähung; so: kritischer Moment, kritischer Faü3s. Aus diesen Belegen darf geschlossen werden, daß die metaphorische Ausdehnung " im deutschen Alltagssprachgebrauch nicht über die ökonomische, sondern über die politische Sprache erfolgt ist. Pierer führt 1845 die politische, aber noch nicht die . -■' ökonomische Anwendung des Ausdrucks an. Zur gleichen Zeit behandelt die fran-... zösisehe Lexikographie bereits 'crise commerciale' in einem gründlichen Artikel "■" paritätisch neben 'crise (medecine)' und 'crise politique'39. In Deutschland folgte erst 1850 Boscher mit einem Artikel im Brockhaus „Die - Gegenwart" über die „Produktionskrisen mit besonderer Rücksicht auf die letzten - - Jahrzehnde"40. Die nationalökonomische Bedeutung, die in der Fachsprache längst , "-" im Umlauf war, führte in den deutschen Lexika erst in der zweiten Jahrhundert-'-, . ■ hälfte zu eigenen Artikeln, Bluntschli analysiert unter dem Stichwort „Kredit" auch 'Krise'; Wagener war der erste Lexikograph, der 1862 den Begriff in seiner ganzen Breite, nämlich ökonomisch, politisch und sozial sowie weltgeschichtlich ab- - handelte, Pierer bringt 1859 einen knappen, 1891 einen sehr gründlichen Artikel : " über die „Handelskrisen"; ebenso verfährt Brockhaus 1884 und 1898. Erst 1931 ; wird die wirtschaftliche Bedeutung zentral unter „Krise" behandelt41. ; .- Offenbar haben erst die Revolution von 1848 und die weltwirtschaftliche Krise um ' 1857 die im ganzen mehr humanistisch gebildeten Lexikonbearbeiter zur Registratur i . eines Wortgebrauchs geführt, der sich in der ökonomischen Fachsprache und im ' atigemeinen Leben längst eingebürgert hatte42. " Oertel 2. Aufl., Bd. 1 (1806), 461, s. v. Crisis. : * CtMPE, Fremdwb., 2. Aufl. (1813; Ndr. 1970), 239, s. v. Crise, Crisis. . 51 Heyse 15. Aufl., Bd. 1 (1873), 513, s. v. Krisis oder Krise. 38 Brockhaus 9. Aufl., Bd. 8 (1845) 399, s. v. Krisis; Pieeer 2. Aufl., Bd. 16 (1845), 467, . Art. Krise. r ; 31 Enc. des gens du monde, t. 7 (1836), 257ff., Art. crise commerciale, crise (medecine), 40 Wilhelm Roscher, Art. Produktionskrisen, Brockhaus, Gegenwart, Bd. 3(1849), 721ff. " Bluntschli/Bbater Bd. 6 (1861), 51 ff., Art. Kredit; Pierer 4. Aufl., Bd. 7 (1859), "-. «46, .Art. Handelskrisis; ebd., 7. Aufl., Bd. 7 (1890). 67f., Art. Handelskrisis; Brockhaus 14. Aufl., Bd. 8 (1898), 743, Art. Handelskrisen; ebd., 15. Aufl., Bd. 10 (1931), 632, Art. Krise. :- " Vgl. Pierer 2. Aufl., Bd. 16, 467, Art, Krise, wo nur die politische Ausweitung, noch . nicht die ökonomische registriert wird. 622 623 Krise V. 1. Politischer WorIgelnin(i i l. Politischer Wortgelrauch Krise Der Ausdruck hat sich also nie zu einem klaren Begriff so weit kristallisiert, daß m trotz — oder wegen — seiner Vieldeutigkeiten als Grundbegriff der sozialen, cfcf ic. mischen oder politischen Sprache aufgefaßt worden wäre. Für diesen Befund snvi.-^ auch der äußerst knappe Hinweis im GRiMMschen „Wörterbuch" von 1872, da j wj, mit zwei Zitaten — darunter eines von Goethe: Alle Übergänge sind Krisa; urf ist eine Krise nicht Krankheit? — zufrieden gibt43. Dieser lexikalische Befund Ußt den Schluß zu, daß der Ausdruck außerhalb der fachsprachlichen Termin ili,^r eher als Schlagwort verwendet wurde. Das freilich bedeutet nicht, daß er nicht Gefühls- und Stimmungslagen wiedergegeben hätte. Sie haben sich nur einer srhir. feren Begriffsbestimmung entzogen. Gerade was lexikalisch peripher zu sein schein* konnte durchaus zum Indikator und Faktor der allgemeinen Umbruehsstim:i:iiiii; seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts werden. V. Vom politischen zum geschichtsphilosophischen Begriff; das 18. Jahrhundert und die Französische Revolution 1. Der politische Wortgebrauch Frühe Belege für eine außenpolitische und militärische Wortverwendung von 'KnV finden sich bei Friedrich dem Grossen. Als die europäischen Staaten für den österreichischen Erbfolgekrieg 1740 noch nicht bereit, aber schon dazu entschlossen waren, nutzte der König cette crise pour exeeuter ses grands projets, nämlich in Schlesien einzumarschieren". Und ähnlich sah er sich wieder dans une grande crise, als er vor der Schlacht von Hohenfriedberg vergebliche Friedensschritte unternahm45. Ähnlich definierte er — in einem Gespräch mit Catt ~— die Lage nach Kolin48. Eine derartige, auf Entscheidungsalternativen verschiedener Handlung^ träger zulaufende Situationserfassung kann seitdem auch im Deutschen als 'Krisa' bezeichnet werden. Schon beim Aufstieg Preußens im österreichischen Erbfolge krieg sprach Johann Jacob Schmauss von der jetzigen Crisi des sinkenden Gleichgewichts der europäischen Machten". Auch die Auswirkungen dieses Vorgangs finden in einem reichsrechtlich bedeutsamen Dokument ihren begrifflichen Niederschlag* Der deutsche Fürstenbund reagierte, wie es in der Präambel 1785 heißt, auf die 43 Grimm Bd. 5 (1873), 2332, s. v. Krise. 41 Friedrich d. Grosse, Histoire de mon temps (1773), Oeuvres, id. Johann David Erdmann Preues, t. 2 (Berlin 1846), 66. 45 Ders, an Heinrich Graf Podewils, 29. 3. 1745, Politische Correspondenz Friedrichs d. Großen, hg. v. Johann Gustav Droysen, Max Duncker, Heinrich v. Sybel, Bd. 4 (Berlin -. 1880), 96. 4* Ders., Gespräch mit Heinrich de Catt, 20. 6. 1758, Unterhaltungen mit Friedrich d. ■ Großen. Memoiren und Tagebücher von H. v. Catt, hg. v. Reinhold Koser (Leipzig 1884), '■'-.' 107: Mon frere partü pour Dresde et quitta Varmte; sans doute, dans le moment de crise ouje .'■' me irouvais. ■ ■ 47 Johann Jacob Schmauss, Die Historie der Balance von Europa (Leipzig 1741), Bl. 2; -»■ Gleichgewicht, Bd. 2, 960. py.y - frjsis des Reichssystems*11': Damit wurde, wie häufig seitdem, die Diagnose der Krise ; jnn! Legitimationstitel politischen Handelns. ; vi". g0 griff der zunächst auf außenpolitische oder militärische Situationen bezogene : Ausdruck in den Bereich des allgemeinen Verfassungslebens über. Schlözer be- ■ richtet in den „Staatsanzeigen" 1782 von der Anarchie in Genf, wobei er die inneren i Zerrüttungen des Stadtstaates als Crise definiert49, Wieland sieht mit der Ein- ■ fuhriing der französischen Verfassung von 1791 den Augenblick der entscheidenden '• Kris's herannahen. Es geht um Leben oder Tod; noch nie ist die Gefahr von innen und ! y ooft außen größer gewesen als jetzt5". Er verwendet den Ausdruck schon, um die i "'="-." hnreerkriegsartige Verschränkung der Innen- und Außenpolitik zu charakterisieren. ■ Ähnlich grundsätzlich, aber unter anderen Alternativen, konnte später Scharn-: Weber von der furchtbaren Staatskrise sprechen, die Hardenberg, für eine Beform, i Ii d gegen die Eevolution arbeitend, in Preußen durchkämpfen mußte, um den ! Staat zu retten51. '• ■-^'■■■Treffsicher wurden konkrete Büigerkriegssituationen als 'Krise' bezeichnet, weil sie '■ kr Loyalitäten der Bürger zerrissen. Diesen Sinn beschwörend, verwendete Graf ' -^-'"Reinhard den Ausdruck 1813 in einer Eingabe an den König von Westfalen, um : y" ihn von standrechtlichen Erschießungen abzuhalten. Andererseits konnte er den-! selben Ausdruck — politische Krise — 1819 auch für einen bloßen Kabinettswechsel ! -:'.-; in Paris verwenden53. S -/: Der politische Anwendungsbereich des Wortes war also breit gefächert. 'Krise' j ." kennzeichnete außenpolitische oder militärische Situationen, die auf einen Ent-i -"■ scheidungspunkt zutreiben, zielte auf grundsätzlichen Verfassungswandel, wobei I v. Überdauern oder Untergang einer politischen Handlungseinheit und ihres Verfas-- - sungssystems die Alternative bildete, aber auch ein bloßer Regierungswechsel konnte .-- so bezeichnet werden. Der alltägliche Wortgebrauch war theoretisch weder abgesichert noch angereichert worden, um in der politischen Sprache zum Grundbegriff aufzurücken. Er stand sowohl als Beschreibungskategorie wie als diagnostisches Kriterium für politisches oder militärisches Handeln zur Verfügung, So beschrieb Ci.Ai'SEWiTZ zur Zeit der Karlsbader Beschlüsse die revolutionären Strömungen, /- . die, wenn sie mit anderen Umständen zusammentreffen, Krisen hervorbringen können. Daß einzelne Völker solche Paroxysmen gehabt haben, wissen wir aus der Geschichte™. ■y. Oder der Freiherr vom Stein appellierte 1813 an Hardenberg, er müsse eine kraft- Jä Deutscher Fürstenbund. Vertrag zwischen den Churfürsten von Sachsen, Brandenburg und Braunschweig-Lüneburg (23. 7. 1785), abgedr. Ellinor v. Pitttkamer, Föderative Elemente im deutschen Staatsrecht seit 1648 (Göttingen, Berlin, Frankfurt 1955), 53. ij> -Vu (p. 458), wo von der crise gehandelt wird, die zur Diktatur führe, in deren Frist -ihrr Rettung oder Untergang entschieden werde. Noch getrennt verwendete Rousseau beide Begriffe, ebd. 2, 8 (p. 385), indem er Revolutionen und Bürgerkriege der Staaten aus--drücklich mit der Krankheitskrise einzelner Menschen vergleicht: beide könnt Wiedergeburt führen. • - j) Bepriffsbildung in Frankreich und England Krise uns fahrt? Now touchom i une crise qui uboutira a Vesdavage «u !ä la \ibertim. Damit formulierte Diderot eine dualistische Zwangsprognose, die mehr als nur die politische Verfassung in Frage stellte. Die Alternative ist total, sie erfaßte die ganze .-Gesellschaft. Sieben Jahre später verwendete Diderot die medizinische Metaphorik, um im Rom "von Claudius und Nero eine gleichsam apokalyptische Situation zu beschreiben, "-(romit er freilich auf das Paris von 1778 zielte. Unruhen seien die Vorläufer großer Revolutionen. Um dem Elend zu entgehen, glaube das Volk allem, was nur ein Ende - Terspreche. Freundschaften zerfallen, Feinde versöhnen sich, Visionen und Pro- -phetien schießen empor, in denen sich die kommende Katastrophe ankündigt. O'est Veffel d'un malaise semblable » cehii qui pre'cedc la crise dam la maladie: il s'flere un mouvement de Fermentation secrete au dedans de la eile; la lerreur realise .-ee qtt'elle craintm. Je nach Lage diente der Ausdruck als Indikator oder als Faktor einer auf Entschei-dun» drängenden Situation. Und beidemal gingen Argumentationsfiguren der strukturellen Wiederholbarkeit einer Krise sowie der unüberbietbaren Einmaligkeit der bevorstehenden Krise in den Wortgebrauc.h ein. Diese brisante Mehrdeutigkeit des Begriffs 'Krise' machte aus dem Wort einen geschichtlichen Grundbegriff, ohne daß Diderot — oder Rousseau — eine explizite Krisentheorie geliefert hätten. Die histo-risch-urteilende und richtende, die medizinisch-diagnostische und die theologischbeschwörende Funktion sind anteilig, jeweils verschieden dosiert, im Wortgebrauch enthalten. Es ist gerade diese Kombinationsmöglichkeit, die den Ausdruck als Begriff auszeichnet: er übernahm alte Erfahrungen und verwandelte sie metaphorisch, um neue Erwartungen freizusetzen. 'Krise' gehört seit den siebziger Jahren zur strukturellen Signatur der Neuzeit. Mit dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg erhielt unser Begriff die Dimension -eines epochalen Schwellenbegriffs, der zugleich eine welthistorische Letztentschei-i dung ankündigte. Thomas Paine wählte deshalb den Ausdruck „The Crisis" — der -'sich in der englischen Publizistik längst eingebürgert hatte — zum Titel seiner Zeitschrift41. Darin kommentierte er die Ereignisse von 1776 bis 1783, indem er ihnen den geschichtlichen Sinn einer moralisch zwingenden Herausforderung verlieh, die zwischen Tugend und Laster, zwischen natuTreohtlicher Demokratie und korrupter " Denis Diderot an Fürstin Daschkoff, 3. 4. 1771, Oeuvres compl., ed. Jean Assezat et Maurice Tourneiix, t. 20 (Paris 1877), 28. " Oers., Essai Sur les regnes de Claude et de Nero (1778), ebd., t. 3 (1875), 168f. 61 Zur Zeit der demokratischen Gärungen beschloß Junius 1769 seinen ersten Brief mit einer Passage, die den Wechsel aus der theologischen in die geschichtliche Dimension verdeutlicht: If, by the immediate interposition of Providence, it were possible for us to escape a crisis so full of terror and despair, posterity will not believe the history of Ike present times, Jukius, Including letters by the some writer ..., 21. 1. 1769, ed. John Wade, vol. 1 (London 1850), HI, — Zur Häufung der „The Crisis" genannten Pamphlete seit 1775/76 vgl. Thomas Paine, The Writings, ed. Moncure Daniel Conway, vol. 1 (New York 1902; Ndr. New York 1969), 168f., Introduction. — Als mit dem französischen Kriegseintritt eine Invasion drohte, sprach der Lord Chancellor 1779 von a crisis more alarming than this country had ever known before, zit. Herbert Bgtterfield, George III., Lord North, and the people, 1779—80 (London 1949), 47. 628 629 Krise V, 2. Geschichtsphilosophische Auaweiiah Despotie fällig sei. These are the times that try men's souls®*. Als Jünger Ri i-glaubte er mit dem Aufstieg der neuen und der Niederlage der alten Welt desse-Visionen verwirklicht. Der Abfall der Kolonien war für ihn kein bloß politisch militärisches Ergebnis — er war der Vollzug eines weltgeschichtlichen Gerichts, da-StuTZ der Tyrannei, ein Sieg über die Hölle: the greatest and completest revol•tl\,-. the world ever knew, gloriously and happily accomplished63 .So zeichnet sich semantise eine Ausweitung des Krisenbegriffs ab, die dem modernen Bedeutungswandel von 'Revolution' entspricht. Krise ist nicht mehr die Vorphase der Revolution, Sf r. I> tr, sie vollzieht sich bei Paine durch die amerikanische Revolution hindurch, die dadurch ihren Einmaligkeitscharakter gewinnt. Begriffshistorisch war das nur möglich, weil deT politische Krisenbegriff durch eine theologisch gespeiste Anreicl.erii-ir im Sinne des Jüngsten Gerichts zum geschichtephilosophischeii Epochenbegrifi r.l höht wurde. Später konnte freilich die situative und zeitlich punktuelle Bed< iUiiji von 'Krise' wieder in den Vordergrund treten. In diesem Sinn verteidigte 1791 Paine die Französische Revolution gegen B'i:'■'■/> \p einer weit größeren Crisis befinde, als es jemals seit dem Anfange seiner Policierung . sich befunden hat, und weit entfernt, daß wir ängstlichen Beobachter diese Crisis ah :■ gefährlich ansehen sollten, gibt sie uns eher tröstliche und hoffnungsvolle Aussici'.. Damit wurde der Krisenbegriff im Hoffnungssog des Fortschritts seiner altem ili.en Unentrinnbarkeit entblößt, zugunsten einer optimistischen Übergangsdeutiru ti*-diatisiert. Dieser heruntergestimmte Begriffsgehalt sollte im 19. Jahrhund.'it syr allemim Bereich der liberalen ökonomischen Theorie häufige Verwendung finden. Aber bevor 'Krise' zu einem iterativen Begriff der progressiven Geschichte wurde, gewann er auch im Deutschen zur Revolutionszeit den Sinn einer einmaligen, i pn chalen Herausforderung. So sprach Herder um 1793 von unsrer Zeit-Krise, i'.iv dw Alternative 'Revolution' oder 'Evolution' erzwinge72. Herder verwendete 'Krise' als geschichtlichen Schlüsselbegriff, dessen Alternative nicht mehr Tod oder Wiedergeburt lauten konnte, sondern in beiden Fällen eine langfristige Veränderung denknotwendig voraussetzte. Die medizinische Metapher-, verblaßt, der geschichtliche Krisenbegriff begännt sich zu verselbständigen. Ein ähnlicher Vorgang läßt sich beim jungen Görres verfolgen, der als Repiihü'iU-ner im anderen Lager stand. Zunächst nutzte er den kurzfristigen Krisenbe^ i't l»i ,0 Herber, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit {1774}, \ SW Bd. 5 (1891), 589. 71 Isaac Iselin, Philosophische Mutmaßungen über die Geschichte der Menschheit (1764' 70), 5. Aufl., Bd. 2 (Basel 1786). 380. f 72 Herder, Briefe zu Beförderung der Humanität. Anhang: zurückbehaltene und ,,abge- -schnitte™" Briefe (1792/97), SW Bd. 18 (1883), 331. — Entwicklung, Bd. 2, 206. 1 Ceschichisphilosopuische Varianten im Deutschen Krise Jfediziri. um politische, punktuelle Umschlagssituationen zu beschreiben, dann aber je]mte "T den Horizont, um aus der Krise welthistorische Alternativen abzuleiten, jjt seinem „Rothen Blatt" veröffentlichte er 1798 ein Fragment unserer neuerfunde-^ politischen Pathologie. Darin zog er eine medizinisch-politische Parallele zwischen ^jeI Stadien der Blattern und dem Revolutionsfieber und diagnostizierte zwei Tage jer Kn.-e, den 9. Thermidor (1794) und den 18. Fructidor (1797). Kurz darauf formulierte er in seinem „Rübezahl", am Vorabend des zweiten Koalitionskrieges, «»«Je Ideen über die neueste Krisis im Staatensystem Europas, und räumte ein, nicht ju wissen, wann sich die Ruhe der Zukunft einstellen werde. Sechs Jahre hindurch Ißt uns der Monarchis'm und der Republikanis'm den Anblick eines Kampfes auf Toi und Leben gegeben, der einzig in seiner Art in der Weltgeschichte sei. 42 Millionen '"Europaer seien auf das republikanische System eingeschworen, 40 Millionen neutra-Utsierl und mehr als 57 folgten dem entgegengesetzten monarchischen Prinzip. Aber — 'gleich ob es Krieg oder Frieden geben werde — die Republikaner könnten der Zu-ikauft ohne Besorgnisse entgegensehen. Für sie gebe es kein Zurück, während sich die Monarchien vom Übergang zur Republik bedroht sähen. Damit gewinnt der "Krisenbegriff die Funktion, einen welthistorisch einmaligen, aber doch progressiv «festgelegten Übergang zu beschreiben und mehr noch zu evozieren. Die von Paine und Iselin vorgezeichnete Variante setzt sich hier durch73. Zwei Jahre später verwendet Gentz den Begriff gegenläufig, um mit ihm eine langfristige Strukturveränderung zu bezeichnen, deren Ende noch nicht abzusehen sei. Dabei standen ihm Rousseau als anregender Gegner und Burke, den er übersetzt hatte, als gedanklicher Pate zur Seite. Wir glauben uns dem Ende der größten und fürchterlichsten Krisis zu nähern, welche die gesellschaftliche Verfassung von Europa seit mehreren Jahrhunderten erfuhr. So wird 'Krise' auch im Deutschen zum Epochenbegriff gedehnt, ohne ein Ende daraus ablegten zu können. Was ist ihr wahrscheinliche Resultat? Was sind unsere Erwartungen für die Zukunft?, fragt Gentz weiter, und er gesteht sich ein, daß die Krisis, in welcher das 19. Jahrhundert seinen Einzug kalt, nicht zu berechnen sei. Nur die negativen Seiten sind ihm unverkennbar. Die friedliebende Aufklärung sei mit der Revolution ein brisantes Bündnis eingegangen, das die Potenzen für den grausamsten Weltkrieg, der je eine Gesellschaft erschütterte und auseinanderriß, enorm gesteigert habe. Deshalb sei, wenn überhaupt, ohne gegensteuernde Staatskunst kein Ende der Revolutionskriege abzusehen'4. ™ Görres, Rothes Blatt (1798), Ges. Sehr., Bd. 1 (1928), 169. 164f.; ders., Rübezahl (1798), ebd., 318rT. — 1819 verwendete Görres — lange nach seiner politischen Umkehr von 1799 — den Krisenbegriff, um vor einer Revolution zu warnen. So wie die Natur den Kranken ins Delirium stürze, um die heilenden Kräfte nicht zu lähmen, so muß auch in eotehen Paroxysmus ein Volle zum Wahnsinn kommen, wenn die Krankheit wirklich zu einer kraftigen Krise gedeihen soll, ders., Teutschland und die Revolution (1819), ebd., Bd. 13 (1929). 100. Die Revolution selber durcheile dann, wie alle bisherigen Beispiele zeigten, kreialaufförmig ihre Stadien. Deshalb sei es besser, ihr durch eine freiheitlieh ständische Verfassung zuvorzukommen — eine These, die seine Vertreibung aus dem Rheinland zur folge hatte. '* Friedrich v. Gentz, Über den ewigen Frieden (1800), abgedr. Kürt v. Räumer, Ewiger Friede. Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renaissance (Freiburg, München 1!K33>. 492. 494. 632 633 Krise VI. 'Krise' und Krise,. ' Vf. 1 ■ 'Krise' in der AUtagserfahrung Krise Wie sehr 'Krisis' im Deutschen um 1800 bereits zu einem geschichtlichen Ep( , r I begriff geronnen war, zeigt seine Niehtverwendimg dort, wo die Zeitwende wei rhu spezifisch christlich oder religiös begriffen wurde. Schleiermacher kennt die je- 1 wattige Krisis nur weltlich: als die Grenze zwischen zwei verschiedenen Ordnungen .l,T Dinge, die gerade überschritten werde78. Novalis verzichtet auf den Ausdrui I J t die Christenheit selber die Vermittlerin der alten und neuen Weh sein wird auf dem f Weg zum ewigen Frieden''*. Friedrich Schlegel verwendet den Ausdruck b r-i . als eine historische Kategorie für evolutionäre Schübe der Vergangenheit. So I it'ne der Nazimalcharakter des Europäischen Völkersystems in drei, entscheidenden A trg schon drei große Evolutionen erlebt ... — im Zeitalter der Kreuzzüge, im Zeital' r Reformation und der Entdeckung von Amerika, und in unserem (dem 18.) Ji'c hundert'1"'. Aber dort, wo er als katholischer Geschichtstheologe argumentiert, spricht l er von der eigenen, der vorletzten Periode als der schlechtesten und gefährli >i i, der die Periode des Weltgerichts folge78. Oder er deutet den Untergang der jüdischen | Nation als ein partielles Weltgericht im kleinen™, während er den Krisenbegriff cnjyt \ politisch-geschichtlich faßt. So sah er zu Beginn der 20er Jahre eine neue Epoche ". |-anbrechen, die alle mit einer neuen furchtbaren Krisis und allgemeinen Erschii.' 'i»; t bedroht, weil die Revolution nicht mehr von oben oder unten käme, sondern am der | Mitte heraus™. Oder Ernst Moritz Armut, der 1807 den „Geist der Zeit" mit apokalyptischen Bildern zu deuten nicht müde wurde, bedient sich weiterhin d i deutschen Bibelsprache: Fürchterlicher Zustand, bei welchem man vor zwei Ji *» hinderten noch an den jüngsten Tag gedacht hätte! und erleben wir nicht jüngste Tagt \ genug? ... Nur eine Rettung ist da, mitzugehen durch den Feuertod, um das lebendige Leben für sich und für andere zu gewinnen". Das Wort 'jüngster Tag' teilt — mit 'Krise' — die Vergeschichtlichung, aber der deutsche Ausdruck schloß enger an ; jene religiösen Stimmungsgehalte an, die Arndt demokratisch anfachen wollte. ; VI. 'Krise' und Krisen: das 19. Jahrhundert Gott, wann wird doch die Zeit der Wellkrise vorübergehen und der Geist der Gerechtu/-keit undder Ordnung wieder allgemeiner werden! Mit diesem Ausruf eines Journ 1 M endete im November 1814 eine Eingabe an einen preußischen Oberpräsid i 'f i Die gewichtige Wortwahl ist symptomatisch82. \ 75 Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), GW 1. Abt,, Bd. 1 (1843), 437. Novalis, Die Christenheit oder Europa (1799), GW 2. Aufl., Bd. 3 (1968), 524. " Friedrich Schlegel, Uber das Studium der griechischen Poesie (1810/11), SW Bd. 1 (1979), 356; ferner die Anwendung auf das englische 17. Jahrhundert, ders., Uber Vax und dessen Nachlaß (1810), ebd., Bd. 7 (1966), 116. 78 Ders., Vorlesungen über Universalgeschichte (1805/06), ebd., Bd. 14 (1960), 252. '» Ders., Philosophie der Geschichte (1828), ebd., Bd. 9 (1971), 227. 80 Ders., Signatur des Zeitalters (1820/23), ebd., Bd. 7, 534. " Ernst Moritz Arndt, Geist der Zeit (1807), Werke, hg. v. August Leffson u. Wilhelm ' Steffens, Bd. 6 (Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart o. J.), 47. !S Arnold Mallinckrodt an Ludwig v. Vincke, 16. 11. 1814, abgedr. Haus JoacHM : Schoeps, Briefe an Ludwig v. Vincke, Westfalen. Hefte f. Gesch., Kunst u. Volkskunde 44 '_ (1966), 268. j)as Zeitalter der Revolution schien beendet, aber die Erfahrungen des anhaltenden jjmbruchs, des Übergangs und die Hoffnungen, die darauf gesetzt wurden, nahmen frsin Ende. Für diesen Befund bot sich der Begriff 'Krise' wegen all seiner Varianten jk besonders schlüssig an. Er konnte sowohl den langfristigen Wandel wie einmalige Zuspitzungen meinen, Endzeithoffnungen oder skeptische Befürchtungen 2um Ausdruck bringen. 1; 'Krise' in der Alltagserfahrung ■Wenn die Häufigkeit des Wortgebrauches ein Indikator für die Tatsächlichkeit einer Krise ist, könnte die Neuzeit seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts ein Zeitalter der Krise genannt werden. Die „Weltkrise" erfaßt alle Bereiche. So sprach Schlegel sjjjhon 1820 von der großen Krisis der tiefern deutschen Philosophie, die jetzt die «Jugend zur Tat dränge83. Oder der Brockhaus („Conversations-Lexicon der Gegenwart") bescheinigte 1839 dem „Jungen Deutschland" eine literarische Krisis'*1, Bmino Bauer 1837 der Theologie eine allgemeine Amis85. Der umfängliche Brief-sirechsel von Perthes, ein Resonanzboden der damaligen Öffentlichkeit, bezeugt vor allem die politisch-historische Variantenskala. Nach Karlsbad erwartet man ;1819, daß die deutschen Staaten sämtlich eine innere Krisis zu überstehen haben, idie zum Ministerwechsel führen müsse86. 1822 heißt es: Es wird noch mehr als eine Krisis eintreten, bevor diejenige erfolgt, die endlich ein Gefühl der Sicherheit gibt und es den einzelnen wie den Staaten erlaubt, sich des Besitzes zu freuen*7. Kurz darauf sieht jemand im Liberalismus das einzige Heilmittel der allgemeinen Krankheit, an welcher Europa daniederliegt. Die wahre Genesung trete aber erst ein, wenn die Krisis, welche durch die. hastige Arznei herbeigeführt werden wird, glücklich überstanden istss. Nach der Julirevolution wird dem kommenden deutschen Groß-gtaat eine Krisis vorausgesagt, vor der er heut» schaudern würde, wenn er sie auch nur ahnte. Heute ist nicht mehr Zeit zu dem, was noch vor zehn Jahren an der Zeit war6*. Vor allem Preußen, heißt es kurz darauf, sei herausgefordert in diesen Zeiten der Krise, welche noch lange anhalten, sich steigern und zuletzt in offenen Waffenkampf ausbrechen kann1". 1843 schreibt Perthes selber: Wir stehen an dem Vorabend großer, gewaltiger Ereignisse; die politischen Verhältnisse drängen zu einer europäischen Krisis. Die Veränderungen in den materiellen und geistigen Bedingungen treiben beschleunigt auf einen Kulminationspunkt zu. Solange es Geschichte gibt, sei das letzte Vierteljahrhundert des Friedens eine der größten und entscheidenstenEpochen*1. ■ — So deckte der Krisenbegriff die Einmaligkeit des strukturellen Wandels so gut ab wie die Einmaligkeit der jeweilig akut werdenden Entscheidungssituationen. " Schlegel, Signatur des Zeitalters, 517. " Brockhaus, CL Gegenwart, Bd. 2 (1839), 1181, Art. Junges Deutschland. 15 Bruko Bauer, Rez. v. Sehr, über Strauß' „Leben Jesu", Jbb. f. wiss. Kritik 1 (1837), 325, zjt. Höhst Stuke, Philosophie der Tat. Studien zur „Verwirklichung der Philosophie" bei den Junghegelianern und den wahren Sozialisten (Stuttgart 1963), 131. 18 Clemeks Theodor Perthes, Friedrich Perthes' Leben nach dessen schriftliehen und mundlichen Mitteilungen, 6. Aufl., Bd. 2 (Gotha 1872), 176. " Ebd., Bd. 3 (1872), 241. " Ebd., 259. " Ebd., 315. " Ebd., 343. « Ebd., 455. 634 635 Krise VI. 1. 'Krise' in der Alllagserfahrnns Es lag in der Saehlogik der Revolution, daß sich seit 1847 die situative Verwendu in des Krisenbegriffs häufte. Wir haben eine große Krisis durchlebt, schrieb BrccKERArn als Liberaler aus dem Vereinigten Landtag. Es handelte sich darum, dem Könige^ Gehorsam zu verweigern .. . oder mit unserer Überzeugung in Widerspruch zu gerat&i'i Im Mai 1848 schreibt Kapp, aus dem radikalen Lager, daß die kommende Rcpurj'ii auf die bisherigen Parlamentarier verzichten müsse: Sie verlangt neue Mei und als solche müssen wir uns stellen. Bis diese Krise eintritt, habe ich zu leherß* Und Moltke, um einen Zeugen aus dem staatstreuen Lager zu nennen, verwende 'Krisis' immer wieder, um innen- oder außenpolitische Wendepunkte im V-rLii; der Revolution zu diagnostizieren84. Alle zeitbchen Dimensionen des Krisenbegriffs verwendete Constantin Fi um den Staatsstreich Napoleons III. geschichtlich zu begründen. Die parlatnenta'--rische Vorgeschichte bestand 35 Jahre lang aus Ministerkrisen . . . und immer -Vi/..r Ministerkrisenu. Die Revolution von 1848 betrachtet er physiologisch, um ii'ra-mundane oder infernale Deutungen zu vermeiden, während sie doch nur die Krisis einer Krankheit des Nationallebens war, deren Ursachen vollkommen erkennbar sind?1. Ferner war der Staatsstreich selber das unvermeidliche Ergebnis einer ahn Im Krisis"7, und schließlich sagte Frantz in Anbetracht der fragwürdigen Figur des neuen Napoleon voraus: Frankreich wird in der Krisis verharren, bis sieh nii Scheidung vollendet, welche das Wahre zur Wirklichkeit macht, und die Lüge, o*-!' p ihr Nichts zurückweist. Dies ist die Lösung, oder es gibt überhaupt keine Lösungut Der Hintergrund dieser Dauerkrise ist für Frantz die Diskrepanz zwischen einet-: sich wandelnden Sozialstruktur und den niemals angemessenen, daher nicht legitimierbaren Herrschaftsformen. Den letztmöglichen Ausweg erblickte er in der 1 i;kl... tur, — falls sie fähig sei, die Identität mit dem Volkswillen herzustellen". Nachdem sich 'Krise' als Schlagwort eingebürgert hatte, wurde die Art seiner Ver Wendung zum Indikator der Krisenintensität und des Bewußtseins davon. Der häufige Kanzlerwechsel nach Bismarcks Sturz führte schnell zu einer Inflation des-; n Hermann v. Beckerath an seine Familie, 26. 6. 1847, abgedr. Rheinische Briefe und Akten zur Geschichte der politischen Bewegung 1830—1850, hg. v. Joseph Hansen. Bd. 2 (Bonn 1942), 288. 93 Friedrich Kapp an seinen Vater, 7. 5. 1848, abgedr. ders., Vom radikalen Frühsozialis*: mus des Vormärz zum liberalen Parteipolitiker des Bismarckreiches. Briefe 1843—1884*. hg. v. Hans-Ulrich Wehler (Frankfurt 1969), 55. 9i Helmuth v. Moltke an seine Mutter, 3. 8. 1848; ders. an seinen Bruder Adolf, 17.11. 1848; ders., an seinen Bruder Ludwig. 21. 3. 1850, Ges. Sehr. u. Denkwürdigkeiten, Bd. 4 (Berlin 1891), 122. 129. 142. *5 Consta nttn Frantz, Louis Napoleon (1852), Ndr. d. Ausg. v. 1933 (Darmstadt, 1960), 34. •• Ebd., 54. " Ebd., 16. •"• Ebd., 76. ** Mit ähnlich mehrdeutiger Verwendung des Begriffs 'Crise' forderte Romieu schon 1850-die Diktatur. Seine Prämisse lautete, daß das neunzehnte Jahrhundert nichts Dauerndes begründet sehen wird, Auguste Romieu, Der Cäsarismus oder die Notwendigkeit der Säbelberrschaft, dargetan durch geschichtliche Beispiele von den Zeiten der Cäsaren bis. auf die Gegenwart (1850), dt. nach der 2. franz. Aufl. (Weimar 1851), 7. 47. 59. 79. t '-'yj, SS. 'Krise' als geschicht&iheoretiscber Begriff Krise I j^jrucks 'Kanzlerkrise', die vordergründig gerne personenpolitiseh gedeutet forde. Aber gerade diesen Wortgebrauch nahm Maximilian Harden zum Anlaß, ; dahinter eine institutionelle Krise zu diagnostizieren: Das Raunen von einer verborgenen Kamarilla speise die gespannte Erwartung einer politischen Krisis. Der • Sprachgebrauch nennt jede Störung im Gleichgewicht der Organismen eine Krisis: Nur meine der jedem Laien bekannte medizinische Krisenbegriff eine rasche Entscheidung Iii diesem Sinne darf von einer politischen Krisis bei uns nicht gesprochen werden. Pen krankhaften Zustand unseres staatlichen Lebens empfindet jeder, und die meisten fürchten, daß er eines Tages ein schlimmes Ende nehmen wird ... wir können froh ■■'sein, wenn eine langsame Lysis uns von dem schleichenden Übet befreitlm. "■"■Die Kückbindung der Metapher an ihre medizinische Herkunft ermöglichte es, die f anhaltende Krise — als Lysis ebenfalls medizinisch umschrieben — von der ereignisbezogenen Krise abzuheben. Die auf diese Weise unterscheidbaren Befunde werden in unserem Jahrhundert freilich weiterhin mit demselben mehrdeutigen - Schlagwort bezeichnet. Die emotionalen Obertöne verzehren jede theoretische Stnngenz. Gleichwohl gab es immer wieder Ansätze, 'Krise' in einem geschichts-■ theoretisch geklärten Kontext eindeutiger zu verwenden. 2. 'Krise' als geschichtstheoretischer Begriff :. Während die geschiehtsphilosophischen Systeme des deutschen Idealismus den Krisenbegriff nur peripher nutzten — der die Wirklichkeit hervortreibende Geist war jeder akuten Krise überlegen — erhielt der Begriff in der junghegelianischen Erbfolge zentrale Bedeutung. Die zur Praxis und zur Tat drängende Philosophie sucht jene Freiheit zu verwirklichen, deren Fehlen von der Kritik registriert wird. Die mit der Wirklichkeit zerfallende Kritik drängt auf eine Entscheidung, die, von der Geschichte als 'Krise' begriffen, bereits vorgegeben und vorbereitet wird101. Unsere Zeit ist nun vorzugsweise kritisch, und die Krisis ... nichts Geringeres, als das Bestreben, ... die Schale der ganzen Vergangenheit zu durchbrechen und abzuwerfen, ein Zeichen, das sich bereits ein neuer Inhalt gebildet hat, wie Rüge formulierte1D2. Die Kritik treibt die Krise voran, indem sie deren geschichtliche Richtung durchschaut. In Bruno Bauers Worten: Die Geschichte ... wird die Freiheit, die uns die Theorie gegeben hat, zur Macht erheben, die der Weit eine neue Gestalt gibt ... I Die Geschichte wird für die Krisis und ihren Ausgang sorgen103. Vom rechten Urteil I über die Geschichte hängt es ab, ob die zur Entscheidung drängenden Probleme I 100 Maximilian Harben, Kamarilla, Die Zukunft (1896), zit. Jürgen W. Schäeer, h . Kanzlerbild und Kanzlermythos in der Zeit des ,,Neuen Curses" (Paderborn 1973), 46; I dort auch eine semantische Analyse des Wortgebrauchs. — Bismarck an Kaiser Franz I -. Joseph, 26. 3. 1890, FA Bd. 14/2 (1933), 999: Angesichts der Crisen, die im Innern uns \.-. bevorzustehen scheinen, sei er nicht freiwillig zurückgetreten. I 101 Vgl. Stuke, Philosophie der Tat, passim; Kurt Röttoers, Kritik und Praxis (Berlin, [ N"(»v York 1975), 165£f. I 10J Arnold Rüge, Die Zeit und die Zeitschrift (1842), zit. Röttgers, Kritik und Praxis, I 238. I 10a B. Bauer, Die gute Sache der Freiheit und meine eigene Angelegenheit (1842), zit. I Stuke, Philosophie der Tat, 174. 636 637 Krise VI. 2. 'Krise' ala geschicbtstheoretisclier itf^ryr in Staat, Kirche und Gesellschaft auch praktisch aufgelöst werden können. So hl-ihfl 'Krise' ein geschichtsphiloaophischer Reftexionsbegriif, der auf eine bewußte VUJ| Streckung kritisch aufweisbarer Tendenzen angelegt ist. In den Worten von Mevissen, einem Unternehmer, der Marx protegierte v.'nl i| .„ Junghegelianern nahestand: Die Anerkennung des Vorhandenseins eines in .<■•■{„ Gründen noch nicht, oder erst ungenügend, erkannten organischen Gebreekens Vorbote einer geschichtlichen Krise, und heute, wie zu allen ähnlichen histt Epochen, ist der Grund der Krise einzig in der Inkongruenz der Bildung des Ju/Irin,.. derts mit der Sitte, den Lebensformen und Zuständen desselben zu suchen. Ob die AVst'i eine äußere, durch revolutionäre Umwälzungen sieh vollziehende sein wird, oder ob dt' Geist der Menschheit mächtig genug geworden, um durch die Macht der Erl i,i:t;.,\ von innen heraus die Zustände jreitätig umzugestalten — das sei die Alternative. J>jj. halb suchte Mevissen die Vorrechte des Besitzes abzubauen und — vergeblich — durch einen „Allgemeinen Hülfs- und Bildungsverein" die ausgeschlossene M ih-nfíi des Proletariates in die Gesellschaft zu integrieren, Freiheit mit Gleichheit zu vermitteln104. Genau diese Diagnose teilte Lohenz von Stein, als er 1850, wohl zum letztm. Mal, versuchte, unter den Prämissen des deutschen Idealismus die Geschichte r.v.-i:'-immanent zu interpretieren. Vom Standpunkt der gesellschaftlichen Bewegw.q c.n; zeige die europäische Geschichte zwei große Epochen: im Altertum herrscl ie ib.; Unfreiheit der Arbeit neben der Freiheit des Besitzes; die Zeit des germanischen Königtums sei durch den wechselhaften Kampf zwischen freier Arbeit und freiem, Besitz gekennzeichnet. Unsere Gegenwart ist nichts anderes, als das letzte Stadium dieses Kampfes. Durch ganz Europa geht das Gefühl, daß dieser Zustand nicht dauern kann, nicht dauern wird. Gewaltige, furchtbare Bewegungen bereiten sich vor; niemand ' wagt es zu sagen, wohin sie führen werden. Und niemand hat in der Tat das Recht, dazu, als einzelner der Zukunft ihr Losungswort zu geben. Deshalb zieht sich Stein auf eine dritte Position zurück und formuliert eine herausfordernde Alternativprognose. Entweder gelingt es, die Sonderinteressen von Kapital und Arbeit aufzuopfern, ihre gegenseitige Bedingtheit institutionell abzusichern, so daß der Staat nicht mehr der Handlanger der Besitzinteressen bleibe, — oder Europa falle in die Barbarei zurück und sei verloren. Die Revolution von 1848, in der sich die Souveränität der industriellen Gesellschaft ankündige, sei nur ein Akt jener gewaltigen Krisis1®5. Der Krisenbegriff wird wie bei Saint-Simon aus der ganzen Geschichte abgeleitet und kennzeichnet längerfristig die allen Revolutionen des Jahrhunderts zugrunde-: liegende Ubergangsphase zur Industriegesellschaft. Gleichwohl prognostiziert Stein1' nur zwei Möglichkeiten: Untergang oder gerechte Gesellschaftsorganisation. Eine : eschatologische Komponente lebt in seiner Drei-Epochenlehre fort. 104 Gustav v. Mevissen, Über den allgemeinen Hülfs. und Bildungsverein (1845), abgedr. J. Hanseh, G. v. Mevissen, Bd. 2: Abhandlungen, Denkschriften, Reden und Briefe (Berlin 1906), 129f. 105 Lorenz v. Steht, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage (1850), Ndr. hg. v. Gottfried Salomon, Bd. 3 (München 1921; Ndr. Darmstadt:: 1959), 208ff. 638 Vi 2* 'Krise* als geschichtstheoretischer Begriff KrUe IJeutlii'h abgeschwächt ist diese Komponente bei Droysen, als er 1854 — während ■fcs Krimkrieges — zur Charakteristik der europäischen Krisis eine welthistorische fi..samtanalyse vorlegte. Es handele sich nicht nur um Krieg und Verfassungstreu, in denen sich die Kräfte messen. Wir stehen in einer jener großen Krisen, ■welche von einer Weltepoche zu einer neuen hinüberleiten, ähnlieh der der Kreuzzüge, ""■ ^ ge,r Reformationszeil, mit der Amerika in den Horizont der Geschichte trat106. \'le Bereiche seien von der Krise erfaßt. Die Macht verselbständige sich, in der K onkurrenzwirtschaft sei alles fungibel geworden, die Wissenschaft folge materia-li tischen Prinzipien, gegen die eine vom Nihilismus bedrohte Religion nicht aufkomme107. Das Völkerrecht werde revolutioniert, und in der Mächtekonstellation habe nur Rußland eine Stellung, die über den Moment (der gegenwärtigen Krisis) h musdauern wird10s. Am Horizont zeichne sich ein Weltstaatensystem ab, in dem - außer Rußland das englische Reich und Kordamerika, später auch China, und eine noch nicht bekannte europäische Macht konkurrieren werden. Im Unterschied zu Stein legt sich Droysen auf keine Zukunftsalternative fest: Die Krise führt vielmehr ii. eine offene Zukunft, deren unabsehbare Künftigkeiten von Droysen prognostisch ,'s irchgespielt werden109. Aus noch größerer Distanz legte Jacob Burckhardt um 1870 eine Synopse der weltgeschichtlichen Krisen vor110. Statt in einer diachronen Gesamtschau dem 19. Jahrhundert seine Einzigartigkeit zuzuweisen, betont Burckhardt durch eine ' Typologisierung von Krisenverläufen zunächst deren Gleichartigkeit und Ähnlich-■ keit. Angeregt durch Thukydides und die medizinische Metaphorik vielfältig nutzend, zielt er auf eine Pathologie kritischer Prozesse, die er historisch-anthropologisch begründet111. Auch wenn Burckhardt den Krieg überhaupt als Völkerkrisis kennt, leitet er die meisten seiner Beispiele aus den beschleunigt verlaufenden revolutionären Prozessen ab118. Für diese bietet er eine Lehre regelhafter Phasen vom Anfang bis zum Ende, das in Restauration oder Despotie ausmündet. Auch die Verfassungskreislauflehre stand dabei Pate. Aber über diese traditionelleren, psychologisch stark angereicherten Elemente stülpt sich eine Krisentheorie, deren Ausfaltungen sich nicht an die diachronen Verlaufsfiguren revolutionärer Abläufe halten. Sie sind als ein neuer Entwicklungsknoten zu betrachten. Krisen sind vielschichtiger, verwickelter, auch wenn sie sich sprunghaft und plötzlich äußern. Die echten Krisen sind überhaupt selten113. So war selbst die Englische Revolution für Burckhardt keine wahre Krisis, weil sich die sozialen Verhältnisse nicht tiefgreifend verändert hätten, oder die deutsehe 1M Johann Gustav Droysen, Zur Charakteristik der europäischen Krisis (1854), Polit. Sehr., hg. v. Felix Gilbert (München, Berlin 1933), 328. 1(" Ebd., 341; vgl. ebd., 323ff. 108 Ebd., 332. "* Ebd., 330. 110 Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen. Über geschichtliches Studium (um 1870), GW Bd. 4 (Basel, Stuttgart 1970). 111 Theodor Schieder, Die historischen Krisen im Geschichtadenken Jacob Burckhardta (1950), in: ders., Begegnungen mit der Geschichte (Göttingen 1962), 129ff. 112 Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, 117. 111 Ebd., 138. 122. 639 Krise VL 2. 'Krise' als geschicbtstheorelischer Betriff VI, 3' Ökonomiache Ausdifferenzieruug Krise Reformation eine durch den Bauernkrieg abgekappte Krisis. Selbst die Französi*,; Revolution nahm einen gemilderten Verlauf. Das römische erste Jahrhundert bra. ]r< so wenig die eigentliche, große, gründliche Krisis wie der peloponnesische Kri»- , Dagegen lebte die attische Demokratie im Grunde in einer beständigen Kris, ?,i ! beständigem Terrorismus. Die Mehrzahl der Beispiele zeugt von abgeschm ' , Krisen, zu denen er auch den Bruderkrieg von 1866 rechnet. Die Krisis wurde va \ ' Österreich hineingeschoben11*. So ist die Krise zwar eine Dauermöglichkeit der Geschichte, die Wirklichkeit .inj birgt zahllose Überraschungsmomente in sich, die jede Typologie relatkii';-Religiöse, geistige, wirtschaftliche und politische Kräfte können sich verschi.rz-n Wenn zwei Krisen sich kreuzen — etwa eine nationale und eine religiöse —, so 'r ä, momentan die stärkere sich durch die schwächere hindurch. Ks gibt gescheiterte Krisen \ so sehr wie die gemachte Scheinkriselu. Eine wahre und wirklich große Krii ■■ *.vr jedenfalls nur die Völkerwanderung, und diese Krisis gleicht keiner andern uns näher \ bekannten und ist einzig in ihrer Art. Sie führte zu Transformationen, zu rassi-.-h -n Mischungen, vor allem aber zur Bildung einer geschichtlich machtvollen ( rij kirche116. i; Nut mit dieser langfristigen Krise läßt sich die des 19. Jahrhunderts vergleichen— ', weniger wegen ihrer Ähnhehkeit, als gerade wegen ihrer Einzigartigkeit, in die natürlich zahlreiche Faktoren der sich gleichbleibenden, immer auf VerändTiing drängenden menschlichen Natur eingehen. Alle Kriege des Jahrhunderts seien nur • Teile dieser Krise, in die sich Demokratie und Erwerbssinn, Machtsucht und lektueller Utopismus hineinsteigern. Aber die Hauptknsis stehe noch bevor, "--rn Technik, Völkerkriege und soziale Revolutionen sich zusammenballen. Der //•.■.;,(. entscheid kann nur aus dem Innern der Menschheit kommen111 (womit die alte W 1t gerichtsmetapher vollends zur anthropologisch-historischen Kategorie geworden ist). I Burckhardts semantische Einzugsgebiete waren besonders variabel, um die Viel- ! schichtigkeit struktureller Veränderungen und ihre explosiven Aggregatbildurgen umschreiben zu können. 'Krise' wurde zu einem transpersonalen Deutungaim i-r höchsten Ranges, in dem lange und kurze Fristen sich überschneiden, das -t Rettung und Reinigung, Elend und Verbrechen in sich verbarg. Und trotz seiner -erstaunlichen Prognosen über die kommenden Katastrophen hielt er sich in meinem ' Urteil zurück: Freilich übersieht man von einer ganz großen Krisis die wahren (d.h. --die relativ wahren) Folgen in ihrer Gesamtsumme (das sogenannte Gut und Bülte, d. h. j. das jür den jedesmaligen Betrachter Wünschbare oder Nichtwünschbare, denn duniber kommt man doch nie hinaus) erst nach Abfluß des Zeitraums, der zu der Große der t Krisis proportional ist'ls. So blieb der bedeutendste Krisenanalytiker vorsichtiger; | als alle seine Vorgänger. 1888 fragte sich Burckhardts, von ihm auf Distanz gehaltener Antipode: „Warum i ich ein Schicksal bin". In Nietzsches Antwort bündeln sich diagnostisch und pro- ? 114 Ebd., 120. 139. 147. 115 Ebd., 129. 122. 146. I 118 Ebd., 122. >" Ebd., 150. 118 Ebd., 132f. vbkativ alle Stränge seiner Philosophie, die die Krise des europäischen Geistes schließlich in seiner Person auf ihren Begriff zu britigen suchte: Es wird sich einmal n meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen — an eine Krisis, ifa es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissens-Koüision, an eine Entscheidung, heraufbeschworen gegen alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, geheiligt worden war. Ich tritt kein Mensch, ich bin Dynamit ... Aber meine Wahrheit ist furchtbar: denn •nan hieß bisher die Lüge Wahrheit. — Umwertung aller Werte: das ist meine Formel l'ir einen Akt höchster Selbstbesinnung der Menschheit, der in mir Fleisch und Genie worden ist. Nach der Entlarvung der Jahrtausende währenden Lebenslügen in inoralischer, metaphysischer oder christlicher Verpackung würde die Politik in einem Geisterkrieg aufgehen, der alle MacfUgebilde der alten Gesellschaft in dü Luft sprenge, und es werde Kriege geben, wie es noch keine auf Erden gegeben hat11*. 3, Die ökonomische Ausdifferenzierung des Begriffs Sicher wäre unser Begriff zu keinem Schlagwort geworden, hätte er nicht einen Bedeutungsgehalt hinzugewonnen, der eine Erfahrung abdeckte, die immer mehr zum Alltag gehörte: die Wirtschaftskrisen. Zunächst durch die Kriegsfolgen bedingt und in Deutschland hauptsächlich auf agrarische Überschüsse wie 1825 oder Mißernten wie 1847 zurückführbar, rückten die Krisen zunehmend, endgültig seit 1857, in einen weltweiten Zusammenhang, der durch das kapitalistische System hervorgerufen worden war. Die Verwendung des Krisenbegriffs entspricht diesem Verlauf. Während 'crisis' im Englischen schon im 18. Jahrhundert als ökonomischer Ausdruck geläufig war, scheint er sich im Deutschen erst im 19. Jahrhundert auf diesen Bereich ausgedehnt zu haben. Obwohl die Metaphorik des Staatskörpers und seines Kreislaufes und die des Gleichgewichts, etwa zwischen Angebot und Nachfrage, die Sprache auch der deutschen Merkantilisten profiliert hatte, sind die darauf beziehbaren Bedeutungen einer Krise — als Krankheit oder als Gleichgewichtsstörung — erst im 19. Jahrhundert genutzt worden, Geläufige Umschreibungen für sich verschärfende Notstände wie 'Rückfall', 'Kalamität', 'Konvulsion', 'Störung' wurden zunächst weiterverwendet, besonders lange Und häufig 'Stockung'. Aus England berichten 1825 Korrespondenten, daß eine Knsis drohe, daß sie da sei, und im folgenden Jahr wird der Ausdruck für die Auswirkungen in Deutschland, für Bankrotte und ihre Folgen ebenso üblich. Die Krisis, in die der Hatidelsstand in Frankfurt geraten sei, ist furchtbar™. Der Ausdruck bürgerte sich ein, wie auch der Briefwechsel von Perthes zeigt. Er sah in England eine Geldkrisis, die er — vom Börsenpöbel sprechend —, ebenso in moralischen und sozialen Kategorien beurteilte wie in wirtschaftlichen121. Dieser Stil blieb allgemein verbreitet. Niebühr rückte die Krise gleich in die historische Perspektive: Die Geschichte des Handels und der Geldgeschäfte gehört seit 150 Jahren ebensogut wie 111 Nietzsche, Eccehorao. Wie man wird, was man ist (1888), Werke, Bd. 2 (1966), 1152f. 120 Nachweise bei Jürgen Kuczykski, Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Tl. 1, Bd. 11: Studien zur Geschichte der zyklischen Uberproduktionskrisen in Deutschland 1825—1866 (Berlin 1961), 40ff. 43rT. 1,1 Perthes, Perthes' Leben (s. Ann). 86), Bd. 3, 285. 640 641 Krise Vf. 3. Ökonomische Ausdüferenzü die Geschichte der Epidemien zur Weltgeschichte. Vor 1721 (auf die damaligen MpeJ^. lationskrisen in England und Frankreich anspielend) hat man keine allgemeinen Handelskrisen gekannt; sie werden nun immer häufiger, und es mag einem vor Augen werden, wenn man an die Zukunft denkt111. Je nachdem, wo sich die Symptome der Krise am frühesten und deutlichsten :iiiljcr. ten, wechselten die Komposita. Von 'Handelskrise' und 'Geldkrise' und ibrc:i Vu-rianten ist in der ersten Jahrhunderthälfte besonders gern die Bede, wobei — etwa in den Berichten der Handelskammern — der verschiedene Grad der Betroffenheit zum Ausdruck kommt123. Soweit die Ursachen diskutiert werden, in Zeitungs- oder Kammerberichten, überwiegt die moralisch stark eingefärbte Deskription. Spekulation, Habgier, Kreditüberziehung, mangelnde Kaufkraft, Erfindungen und Installation von Maschinen, Zollgesetze und Steuern, Notenpolitik und vieles andere '■' werden verschieden gewichtet und zugeordnet124. Erst 1849 verfaßte Roscher einen breitenwirksamen Aufsatz, in dem er die Bezeichnung Geld- oder Handelskrisen für unpassend erklärte. Der Name Prodv\lirm«-krisen sei vorzuziehen, weil er das Wesen der Krankheit bezeichnet. Roscher • 1-^kiL-tierte die Theorien der westeuropäischen Nationalökonomen und optierte dabei, mit historischen Vorbehalten, für die These der Überproduktion, die u.a. von Sismondi gegen Say und die beiden Mills vertreten wurde. Das Zurückbleiben der Konsumtion und Vorauseilen des Angebots, so daß die in zu großer Menge erzeugte Ware keine Abnehmer findet, kennzeichne die Krise. Er unterscheidet speziate Produktionskrisen einzelner Branchen von den allgemeinen Krisen, die den ganzen Warenmarkt erfassen, „general glut", wie die Engländer sich ausdrucken. Theoretisch nicht gerade anspruchsvoll vollzog Roscher doch den Anschluß an die westliche Theorie, der wachsenden weltwirtschaftlichen Verflechtung angemessen, die auf eine Produktivitätssteigerung zurückgeführt wurde. Im übrigen debattierte er konventionell die Pathologie der Krankheit und ihre Therapie, wobei den staatlichen Vorbeugungsmaßnahmen und begleitenden Hilfestellungen das größte Gewicht zugemessen wurde, wogegen seine vorgeführten Fälle vorzüglich aus der angelsächsischen und amerikanischen Wirtschaft stammten125. Daß die Krisen der ersten Jahrhunderthälfte — und darüber hinaus — ans dem Westen importiert worden sind, aus den USA, England und auch Frankreich, gehört zu den Beobachtungen seit 1825. So berichtet für 1837 die Kölner Handelskammer: Da unsere Provinz in den letzten zwei Jahrzehnten in bedeutende, mittel- und unmittelbare Verbindungen mit Nordamerika getreten ist, so konnte diese Krisis ihre unheilvollen Rückwirkungen auf den Handel und die Fabriken unseres Landes nicht ver-: Ebenso festigt sich die Gewißheit ihrer Wiederkehr. Rother, Leiter der preußischen Seehandlung, spricht 1837 von der allgemeinen periodisch wiederkehrenden Bedräng- 122 Barthold Georg Niebuhb, zit. ebd., 287. 123 Belege bei Ktjczynski, Lage der Arbeiter, Tl. 1, Bd. 11, 43ff. lM Ebd., 42. 47 für 1825; ebd., 66 für 1836; ebd., 91 für 1848; ebd., 132ff. für 185«. 125 Roscher, Art. Produktionskrisen (s. Anm. 40), 727f. 740. läs Jahresbericht der Handelskammer Köln (1837), zit. Ktjczynski, Lage der Arbeiter, Tl. 1, Bd. 11, 69; vgl. ebd., 42. 100. 110. 132. Vf- 3- Ökonomist!« Ansdifferenzierung Krise ftu (ohne unser Wort zu verwenden)12', Harkort 1844 von jenen Krisen der Markt-jjfoerßllungen, ... die stets in kürzeren Perioden wiederkehren™. Auch das Gefühl der Unvermeidbarkeit breitet sich aus: Eine Handelskrise zu verhindern, gibt es fain Mittel12"- Selbstverständlich gehörten die technischen Innovationen zum ökonomischen Krisenbefund. Wie Henrik Steffens notierte: Es gibt wohl keine Krise ier neuem Zeit, die gewaltsamer hervortritt als die immer zunehmende Einführung der ftsinbahnen130. geit den vierziger Jahren durchzieht der wirtschaftlich eingefärbte Krisenbegriff alle gesellsehaftskritischen Schriften, die damals — aus allen politischen und sozialen • lagern kommend — den Markt überfluteten131. 'Krise' war geeignet, die verfassungsrechtlichen oder klassenbedingten, die von der Industrie, Technik und der kapitalistischen Marktwirtschaft hervorgerufenen Notlagen insgesamt als Symptome einer Krankheit oder Gleichgewichtsstörung unter einen Begriff zu bringen. Deshalb konnte Roscher 1854 rückblickend die Allgemeinformel prägen: es handele sich um Krisen, wo der veränderte Inhalt auch eine veränderte Form zu bilden versucht. Solche Krisen heißen Reformen, wenn sie auf dem friedlichen Wege des positiven Rechts vollzogen werden; bei widerrechtlicher Durchführung Revolutionen13*. So rückte auch im nationalökonomischen Kontext 'Krise' zum geschichtlichen Oberbegriff auf, um die Herausforderungen des Jahrhunderts zu benennen. Die Dominanz der Ökonomie trat vollends zutage in der Krise nach 1856, die im Goldrausch und ihm folgender Spekulation einen ihrer Anlässe hatte. Man hat allenthalben der Ursache dieser Krisis nachgespürt, man hat sie überall und nirgends wie ein Konsul aus den USA nach Berlin berichtete. Jedenfalls handele sich um eine Weltkrisis133. Die Internationalität nicht nur der handelspolitischen Verflechtungen, sondern auch der kapitalistischen Produktionsbedingungen gehörte zu ihrer Neuartigkeit. Die Krise von 1857, schrieb Michablis, unterscheidet sieh von 187 Memorandum des Leiters des königlichen Seehandlungsinstituts Christian Rother (3- 4. 1837), zit. ebd., 7, Anm. !!* Friedrich Harkort, Bemerkungen über die Hindernisse der Civilisation und Eman-cipation der unteren Klassen (Elberfeld 1844), 23f.; vgl. J. Ktjczynski, Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Tl. 1, Bd. 9: Bürgerliche und halbfeudale Literatur aus den Jahren 1840 bis 1847 zur Lage der Arbeiter. Eine Chrestomathie (Berlin 1960), 127. 188 Karl Qtjentin, Ein Wort zur Zeit der Arbeiterkoalitionen (1840), zit. Ktjczynski, Lage der Arbeiter, Tl. 1, Bd. 9, 185. Henrik Stettens, Was ich erlebte. Aus der Erinnerung niedergeschrieben (1844), zit. Manfred Riedel, Vom Biedermeier zum Maschinenzeitalter, Aich, f. Kulturgesch. 43 (1961), 103. 131 Vgl. Ktjczynski, Lage der Arbeiter, Tl. 1, Bd. 9, 47. 90. 94, 127. 16011. 185. m W. Roscher, System der Volkswirtschaft, Bd. 1: Die Grundlagen der Nationalökonomie (Stuttgart, Tübingen 1854), 36; vgl. J. Kuczynski, Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Tl. 1, Bd. 10: Die Geschichte der Lage der Arbeiter m Deutschland von 1789 bis zur Gegenwart (Berlin 1960), 36. 113 Konsul Adae aus den USA an das Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten (26. 3. 1856), zit. J. Ktjczynski, Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Tl. 2, Bd. 31: Die Geschichte der Lage der Arbeiter in England, in den Vereinigten Staaten von Amerika und in Frankreich (Berlin 1968), 30. 642 643 Krise VI. 3. Ökonomische AnsdilTerensiermj;- -|V ^ yj i. M"1* nn^ Engel» Krise allen ihren Vorgängerinnen dadurch, daß sie ganz allgemein auftrat, währt».» & früheren nur einzelne Nationen betrafen und auf die übrigen lediglich sei > ',■ rc k.t stärkere Rückwirkungen übten. Zugleich aber war die Krisis ... überall, wo sie vh trat, das Resultat selbständiger Ursachen. Der gemeinsame Zug, ihr welthistorischer"" Zusammenhang, ließe sich nur in der Historie iler Weltwirtschaft finden111. Im folgenden Jahr erschien eine erste „Geschichte der Handelskrisen" von Mvj Wirth, eine noch ziemlich naive Zusammenstellung der empirisch beobachtbaren"" Faktoren, unter Betonung der hervorragenden Rolle, die dem Kreditwesen d,l>. zukomme135. 1895 folgte, auf erhöhtem Reflexionsniveau die „Geschichte der nationalökonomischen Krisentheorien" von Bugen von Bergmann136. Verglichen mit dem politischen und geschichtlichen Sprachgebrauch gewann der-ökonomische Krisenbegriff zweifellos eine theoretisch größere Stringenz. Dabü u: hörte es zur inzwischen angesammelten Erfahrung, daß alle Krisen — trotz altem; -Elend und aller Verzweiflung, die sie hervorriefen und jeweils steigerten - . lm Durchgangsphasen waren, die wiederum gesehichtsphilosophisch eingeordnet m,:. den. Deshalb wirkten auch die ökonomischen Krisentheorien wieder in die UI1mi.:. lichkeit zurück, und darin unterscheiden sich nicht die liberalen oder sozialistischen Deutungen. So wurde für die liberalen Optimisten jede Krise zu einer Sprosse auf der unter des Fortschritts. Die Wirtschaftskrisen erfüllten eine Mission, wie Julius Wo- :■ ,itr ausdrückte. Sie sind nicht bloß wiederkehrende Musterungen und. treffen periodisch -zwischen den besser und minder gut zur Führung der Geschäfte Veranlagten um1 4.u. gestatteten die Auswahl, sondern sie stellen gleichzeitig die Produktionsbedinguma ■• ,u; eine andere Basis. Es sind Veranstaltungen, von denen man fast sagen könnte, v ■• Voltaire von Gott getan hat, daß man sie einführen müßte, wenn man sie nicht bereite hätte ... um ihres kraftsteigernden Effektes willen137. Lexis teilte 1898 die Auffassung, daß durch das Uberangebot an Waren fast überall und ununterbroch- rt ,t Kampf ums Dasein herrscht, doch könne der daraus folgende chronische Ausseid-, dungsprozeß nicht als eine Krisis angesehen werden13'. Wie auch immer die Kriscr. sozialdarwinistisch gewichtet wurden, sie wurden als Durchgangsphasen des Fortschritts gedeutet. Darin stimmten ihnen die sozialistischen Interpreten zu, auch': wenn die Misere ihrer Alltagserfahxung den Erwartungshorizont mit mehr esi lu:u-logischen Komponenten anreicherte. Davon zeugt die Begriffsverwendung von Marx und Engels, die zwischen revolutionärer Hoffnung und ökonomischer Atialy; - !iin-und herpendelt. $ Marx und Engels l&fGELS führte 1844 in seinen „Umrissen zu einer Kritik der Nationalökonomie" die ■yklisch sich steigernden Krisen auf die überzählige Produktionskraft zurück, daß - Ute Leute vor lauter Oberfluß verhungern, und er knüpfte daran die Erwartung, daß "=ie endlich eine soziale Revolution herbeiführen, wie sie sich die Schulweisheit der Monomen nicht träumen läßt13s. 'Krisis' wird seitdem im Wortgebrauch von Makx iid Engels, von Ausnahmen abgesehen, zu einer primär nationalökonomischen - jjjtegorie, die die Zeitspanne des Umschlags in einer zyklischen Bewegung der " "Wirtschaft bezeichnet, deren Verlaufskurven sich aller bisherigen Einsicht entziehen. " Werden freilich die Regelhaftigkeiten in ihrer geschichtlichen Bedingtheit durchschaut, steigt die Chance, daß sich das kapitalistische System überhole und daß ihm, in einer kritischen Phase, ein revolutionäres Ende bereitet werde. Insofern bleibt die ökonomische Kategorie eingelassen in die politisch-historische Gesamtanalyse von Marx und Engels. So heißt es im „Kommunistischen Manifest": Seit Dezennien st die Geschichte der Industrie und des Handels nur die Geschichte der Empörung der •Modernen Produktivkräfte gegen die modernen Produktionsverhältnisse, gegen die Eigentumsverhältnisse, welche die Lebensbedingungen der Bourgeoisie und ihrer Herrschaft 4nd • ■ In den Krisen bricht eine gesellschaftliche Epidemie aus, welche allen früheren Epochen als ein Widersinn erschienen wäre — die Epidemie der Oberproduktion ... Wodurch überwindet die Bourgeoisie die Krisen? Einerseits durch die erzwungene ■■ Vernichtung einer Masse von Produktivkräften; andererseits durch die Eroberung "neuer Märkte und die gründlichere Ausbeutung alter Märkte. Wodurch also? Dadurch, ■ daß sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vor-'..zuheugen, vermindert. An die ökonomische Deutung knüpft sich die Aussicht einer endlich absehbaren Selbstaufhebung des kapitalistischen Systems. Aber zugleich sei dazu die politische Aktion jener todbringenden Klasse erforderlich, die sich die Bourgeoisie selbst erzeugt habe, des Proletariats140. ' In den politischen und gesellschaftlichen Zusammenhang gerückt, erhöhte die Aus- ■ sieht auf einen ökonomischen Zusammenbruch, auf den Wellkrach — oder wie auch immer MaTX und Engels ihn umschrieben141 — die Gewißheit einer Revolution: Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer neuen Krisis. Sie ist aber auch . ebenso sicher wie diese1'1. Aus politischen, nicht ökonomischen Gründen blieb " 'Krisis' immer positiv besetzt. Wie Engels 1857 jubelte: Die Krisis wird mir körperlich ebenso wohltun wie ein Seebadli3. 134 Otto Michaelis, Die Handeiskrisis von 1857 (1S58/S9), Volkswirtschaftliche R Ebd., Bd. 3, 269. lsä Ehgels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft. „Anti-Dühring" (1878), MEW Bd. 20 (1962), 264. 646 647 Krise vn. Vili Ausblick Krise streitet das Schumpeter, weshalb er in seiner Analyse der Konjunkturzyklen JP)B Ausdruck Krise keinerlei technische Bedeutung beilegt, sondern nur den Begnffth Prosperität und Depression1^. Seit dem Ersten Weltkrieg, der großen Weltwirtschaftskrise und dem Zweiten TVnlt. krieg mehren sich kulturkritische Schriften158 und globale Weltdeutungen, die unte» den Titel der Krise gestellt werden. 1918 verfaßte Paul Valéry drei Essais uber die Krise des Geistes: La crise militaire est peut-élre jinie. La crise écononiijue etf visible dans taute sa force; mais la crise intellecluelle, plus subtile, et qui, par sa nitur, méme, prend les apparences les plus trompeuses (puisqu'elle se passe dans le royaurr* méme de la dissimulation), celte crise laisse difßeilement saisir son vérilable p^ jj sa phase1™. Ortega y Gasset suchte durch eine Paralleh'sierung zum erstcu vorchristlichen Jahrhundert und zur Renaissance die Krise unseres Jahrhunde-ti zu, deuten, die durch Selbstentfremdung, Zynismus, falschen Heroismus, schwankvr.da Überzeugungen, Halbbildung und Rebarbarisierung gekennzeichnet sei. Das Ende des modernen Menschen sei mit dem Aufstand der Massen erreicht160. Hu 7i\ri\ betonte dagegen den Weg in eine offene Zukunft. Er hegte die Überzeugung, diBdie Krisis, die wir erleben, wie immer es damit bestellt sei, eine Phase in einem for'.tümi-tenden und nicht umkehrbaren Prozeß sein müsse ... Das ist das Neue, noch nie früher Dagewesetie an unserm Krisenbewußtsein161. Husserl hat die Thematik philosophiegeschichtlich ausgeweitet und die „Krisis der europäischen Wissenschaften" als Ausdruck der immer mehr zutage tretenden Krisis des europäischen Menschentums begriffen. Das griechische Telos, der Offenbarung der Vernunft zu folgen, sei durch die Subjekt-Objekt-Spaltung seit Descartes immer mehr aus dem Blick geraten. Es sei eine Aufgabe der Phänomenologie, den Riß zwischen einer tatsachenstichti-gen Wissenschaft und der Lebenswelt wieder zu überbrücken162. Der geschichtsphilosophische Rahmen, den unser Begriff bereits im vorigen Jahrhundert ausgespannt hatte, wird durch derartige Versuche — unbeschadet ihrer analytischen Qualität — freilich nicht überschritten. 'Krisis' bezeugt weiterhin eine anhaltende Neuheit unserer Epoche, die als Übergang gedeutet wird. Eine andere Variante zeichnet sich in der negativen Theologie ab, die der Hereinnahme des Weltgerichts in die Weltgeschichte verpflichtet bleibt. Krise wird zu einer weltimmanenten Dauerkrise, wie Richard Rothe schon 1837 formulierte: Joseph A. Schumpeter, Konjunkturzyklen. Eine theoretische, historische und statistische Analyse des kapitalistischen Prozesses (1939), hg. v. Klaus Dockhorn, Bd. I (Göttingen 1961), 11; ders., Business Cycles. A Theoretical, Historical, and Statistical Analysis of the Capitalist Process, vol. 3 (New York, London 1939), 5: We shall not give any technical meaning to the term crisis but only to prosperity and depression. Jas Vg| z b Ehrenfried Muthesius, Ursprünge des modernen Krisenbewußtseins (München 1963). 151 Paul Valery, La crise de l'esprit (1918), Variete, t. 1 (Paris 1924), 15. 1.0 Jose Oetbha y Gasset, Das Wesen geschichtlicher Krisen, dt. v. Fritz Schalk (Stuttgart, Berlin 1943); zuerst 1942 u. d. T. „La eaquema de las crisis y otros essayoa." 1.1 Johan Hctzinqa, Im Schatten von Morgen. Eine Diagnose des kulturellen Leidens unserer Zeit (1935), dt. v. Werner Kaegi, 3. Aufl. (Bern, Leipzig 1936), 18. 132 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (1935/36), hg. v. Walter Biemel, 2. Aufl. (Den Haag 1962), 10. n . ganze christliche Geschichte überhaupt (ist) Eine große kontinuierliche Krisis «•eres Geschlechts, die er freilich noch progressiv begreift163. Karl Barth entblößt i, .e Krisis aller teleologischen Obertöne, um sie existenziell auszulegen: Gott ist fr aller Gegenständlichkeit entbehrende Ursprung der Krisis aller Gegenständlichkeit, l Richter, das Nicht-Sein der Welt. Die sog. 'Heilsgeschichte' aber ist nur die fortlaufende Krisis aller Geschichte, nicht eine Geschichte in oder neben der Geschichte1*1. ■k, iiiis' hat seine endzeitliche und seine übergangszeitliehe Bedeutung eingebüßt — „le wird zu einer stiukturalen Kategorie der (christlich begriffenen) Geschichte lechthin. Die Eschatologie wird geschichtlich vereinnahmt. En allen Human- und Sozialwissenschaften taucht 'Krise' als Schlüsselbegriff auf; natürlich in der Historie, um Epochen165 oder Strukturen damit zu kennzeichnen166. Pie Politikwissenschaft sucht den Begriff zu operationalisieren und etwa gegen 'Konflikt' abzugrenzen16'. Von der Medizin aus erfolgt die Ausweitung in die Psychologie und Anthropologie168 sowie in die Ethnologie und Kultursoziologie165. In den Medien ist seit einiger Zeit eine Inflation des Wortgebrauchs zu registrieren. ■Zugunsten bündiger Schlagzeilen sind mehr als zweihundert Komposita gebildet worden, in denen 'Krise' als Grundwort ('Minikrise', 'Selbstwertkrise') oder als Bestimmungswort ('KrisenstümpeT', 'Krisenkiller') fungiert, abgesehen von adjektivischen Komposita wie 'krisengeschüttelt'170. 'Krise' ist sowohl anschlußfähig wie anschlußbedürftig, sinnpräzisierend aber auch sinnsuchend. Diese Ambivalenz kennzeichnet den ganzen Wortgebrauch. 'Krise' wird austauschbar mit 'Unruhe', 'Konflikt', 'Revolution', so wie das Wort, relativ vage, aufgerührte Stimmungs- oder Problemlagen umschreiben kann. „Unscharfen sind eher willkommen, halten sie doch die inhaltliche Aussage für eventuelle Alternativ-Interpretationen auf bequeme Weise offen"171. Die alte Kraft des Begriffs, unüberholbare, harte und nicht austauschbare Alternativen zu setzen, hat sich in die Ungewißheit beliebiger Alternativen verflüchtigt. So mag denn dieser Wortgebrauch selber als ein Symptom 1,3 Richard Rothe, Die Anfänge der christlichen Kirche und ihre Verfassung (1837), zit. L'kter Meinhold, Geschichte der kirchlichen Historiographie, Bd. 2 (München, Freiburg 1967), 221. Karl Barth, Der Römerhrief (191S), 9. Ndr. d. 5. Aufl. (1926; Zollikon-Zürich 1954), 57. 32. _- Zur katholischen Verwendung vgl. Harald Wagner, Krise als Problem katholischer Institutionalität, in: Traditio-Krisis-Renovatio, Fschr. Winfried Zeller, hg. v. Bernd Jaspert u. Rudolf Mohr (Marburg 1976), 463ff. 1,5 Paul Hazard, La crise de la conscience europeenne 1680—1715 (Paris 1935). 1M Christian Meier, Res publica amissa (Wiesbaden 1966), 201 ff., wo das erste vorchristliche Jahrhundert in Rom als „Krise ohne Alternative" interpretiert wird. 1,7 Herrschaft und Krise. Beiträge zur politikwissenschaftlichen Krisenforschung, hg. v. Martin Janicke (Opladen 1973). Schonpflug, Art. Krise III (s. Anm. 13), 1242ff. 169 Matthias Laubscher, Krise und Evolution. Eine kulturwissenschaftliche Theorie zum Begriff 'Krisenkult', in: Gottesvorstellung und Gesellschafteentwicklung, hg. v. Peter Eicher (München 1979), 131ff. "n Renate Bebermeyer, ,,Krise"-Komposita — verbale Leitfossilien unserer Tage, Muttersprache. Zs. z. Pflege u. Erforschung d. dt. Sprache 90 (1980), 189ff. 171 Ebd.. 189. 648 649 Krise VH. Austum einer geschichtlichen „Krise" gedeutet werden, die sich einer exakten Bestimiuu, <> entzieht. Um so mehr sind die Wissenschaften herausgefordert, den Begriff iiuszi. messen, bevoT er terminologisch verwendet wird. Literatur Andre Bejin / Edgar Morin, La notion de crise, Centre d'etudes transdisciplinaires. Sociologie, anthropologic, semiologie. Communications, t. 25 (1976) j Friedrich Buohsel/ Volkmar Herntmch, Art. Krino, Krisis, Kittel Bd. 3 (1938), 920ff.; Reinhari Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt (Fmhurg, München 1959; Ndr. Frankfurt 1973); Nelly Tsouyofoulos, Art. Krise II, Hist. Wb. d. Philos., Bd. 4 (1976), 1240ff.; Gerhard Masur, Art. Crisis in History, Dictionary of the History of Ideas. Studies of Selected Pivotal Ideas, ed. Philip H. Wiener, vol, 1 (New York 1973), 589ff. Reinhart Koselleck Kritik t Einleitung. II. Geschichtliche Entwicklung des Begriffs. 1. Antiker Ursprung. 2. Auf-nähme des Begriffs im 15. und 16. Jahrhundert, a) 'Kritik' im Bereich der Philologie, Iii Logik- c) Ästhetik. 3. Kombinationen und Berührungen der Varianten des Kritik- .--;■;:.■ ijfgriffs im 17. und 18. Jahrhundert. 4. Kritik oder Revolution: die Alternative des deutschen Idealismus. 5. Kritik im Spannungsfeld von Theorie und Praxis im Hegelianis- - -." mus, 6. Terminologisierung des Kritikbegriffs als Tendenz der Lexika und Wörterbücher des 19. Jahrhunderts. III. Ausblick: Die soziale Generalisierung der Verwendung des Kntikbegriffs im 20. Jahrhundert. I. Einleitung .-" Der Begriff der Kritik, der sich wortgeschiehtlieh aus dem griechischen Adjektiv " xQaixoq herleitet, wurde schon in der Antike im Sinne kunstmäßiger (philologischer) .- Tcxtbeurteihmg und in der Logik im Zusammenhang der Topik-Tradition verwendet. Während der Begriff im Mittelalter fehlt, wird die antike Verwendungsweise im 15. und 16, Jahrhundert wieder aufgenommen, und zwar relativ unabhängig voneinander in Philologie, Logik und Ästhetik. Ab dem 17. Jahrhundert ist eine Verwendung über diese Disziplingrenzen hinweg zu beobachten, die in einem ziemlich allgemeinen Begriff von 'Kritik' im wissenschaftlichen Sprachgebrauch mündet. Die Generalisierung bestand erstens in einer Generalisierung des Anwendungabereichs bis hin zu einer Kritik, der sich alles unterwerfen muß (Kant)1, zweitens in einer Generalisierung der Punktionen bis hin zur Punktion allgemeiner Aufklärung, drittens in einer Generalisierung des für Kritik zuständigen Subjekts bis hin zur Vernunft selber. Diese Generalisierungsentwicklung kulminiert in der Philosophie Immanuel Kants; seine theoretische Philosophie ist in einem Maße radikal, das die .-;:.: ihr korrespondierende praktische Philosophie nicht einzuholen vermag. So verhinderte gerade die schulbildende Wirkung der Kantischen Philosophie die Politisierung des Begriffs im Zeitalter der Revolution; 'Kritik' wurde zum wissenschafts-iminanent zu definierenden Kennzeichen deutscher Vernunft, die sich dadurch im Gegensatz zur Gewalt der Französischen Revolution wissen wollte. Erst im Hegelianismus ab 1830 bezeichnet der Begriff das Problem des Übergangs radikaler Theorie in verändernde Praxis, wofür die Begriffe 'praktische Kritik', 'objektive Kritik' und 'Kritik der Waffen' geprägt werden. Erst seither wird der Kritikbegriff nun auch so allgemein, daß er noch die tagespolitische Stellungnahme umfassen kann; die soziale Generalisierung zu einem in allen Bevölkerungsschichten verwendbaren Begriff setzt sich allerdings erst im 20. Jahrhundert durch. II. Geschichtliche Entwicklung des Begriffs 1. Antiker Ursprung Das Wort 'Kritik' hat seinen Ursprung im griechischen Adjektiv nqnmii zum Vcrbum xQivw. „scheiden", „trennen"; „entscheiden", „urteilen"; „anklagen", „streiten" und gehört zur indogermanischen Wortsippe* (s)ker-: „scheiden"; 1 Kastt, Kritik der reinen Vernunft (1781), AA Bd. 4 (1903; Ndr, 1968), 9, Anm. 650 651