c- HISTORISCHES JAHRBUCHIm Auftrag der Gärres-Gesellschaft herausgegeben von JOHANN ES SPÖRL 91. JAHRGANG 197 1 VERLAG KARL ALBER MÜNCHEN! FREIBURG 72/q'_" GEDANKEN ZU DEN KÖNIGSABSETZUNGEN IM $PÄTMITTELALTER VON KARL SCHNITH DasMittelalter hat die Ihm aus der Antike und dem Germanentum überkommene Frage nach der Absetzbarkeit von Herrschern in recht unterschiedlicher Weise beantwortet. Einerseits wirkteder Anspruch des Römischen Rechts, demzufolge der theokratische Monarch keinem irdischen Urteil unterworfen sein sollte, in wechselnder Fassung und Einkleidung weiter'. So erklärte etwa im 11. Jahrhundert der deutsche König Heinrich IV., er könne als Gesalbter nur von Gott gerichtet und nicht abgesetzt werden, außer er falle - quod absit - vom Glauben ab2 ; der mit dem ius Romanum vertraute Bischof Otto von Freising bezeichnete zu Anfang der Regierung Friedrich Barbarossas die Könige schlechthin als constituti supra leges";und wiederum ein knappes Jahrhundert später berief sich Kaiser Friedrich Il. in Abwehr päpstlicher übergriffe auf die spätantik-justinianische Theorie, der imperator sei von allen Gesetzen gelösr'. Andererseits lebte auch die Tradiciondes germanischen Sraatsdenkens, das von einer wechselseitigen Bindung zwischen Herr und Untergebenem ausgegangen war und die Wendung gegen einen ungeeigneten oder das Recht verletzenden Fürsten zugelassen hatte", offen oder verdeckt durch die Jahrhunderte fort. Das Frühmittelalter bot eine lange Reihe von historischen Präzedenzfällen für die Entsetzung oder gar Tötung von Herrschern - es 1 Vgl. W. U 11m ann, A History of Political Thought: The Middle Ages (1965) bes. 35. Bekanntlich wurde seit dem 6. Jahrhundert auch postuliert, der Papst sei unrichtbar. Zu dem Rechtssatz .Prima sedes a nemine iudicatur" s. H. Z i m mer m ann, Papstabsetzungen des Mittelalters (1968) passim. • Epist. 12 (an Hildebrand), ed. C. Erd m ann: Die Briefe Heinrichs IV. (1937) 16. Eine entsprechende Häresieklausel schränkte um diese Zeit auch bereits den Satz von der Unrichtbarkeit des Papstes ein. • Chronica, ed. A. Hof me ist e r (1912) 1. • J.-L.-A. H u i I1 a r d - B r ~ h 0 11e s (Hrsg.), Historia diplomatica Friderici Secundi VI, 1 (1860) 335. Ober die Geltung theokratischer Vorstellungen in England und Frankreich s. W. U 11m ann, Principles of Government and Politics in the Middle Ages (1961) 117 tf. 6 Vgl. F. K ern, Gottesgnadentum und Widerstandsrecht im früheren Mittelalter (19542); J. S P Ö r1, Gedanken um Widerstandsrecht und Tyrannenmord im Mittelalter, in: Widerstandsrecht und Grenzen der Staatsgewalt (1956) 15 f. 310 Karl Sdmith sei nur an die Thronkämpfe im Westgotenreich oder an die Ablösung des letzten merovingischen Frankenkönigs durch den Karolinger Pippin im Jahre 751 erinnert. Damals sprach sich der um einen Entscheid gebetene Papst Zacharias fürdie Verlassung des machtlosen Childerich Ill. aus. Spätestens von diesem Zeitpunkt an war die kirchliche Praxis und Lehre zu einer prinzipiellen Auseinandersetzung mit dem Problem der Fürstendeposition gezwungen - einer Auseinandersetzung, die schließlich dem juristischen Bau der hochmittelalterlichen Papstkirche zugutekam. Im Zeitalter des Investiturstreits griff Papst Gregor VII. auf das Weistum des Zacharias zurück und erklärte, dieser habe den Merovinger abgesetzt non tarn pro suis iniquitatibus quam pro eo quod tante potestati erat inutilis". Gregor VII. fühlte sich im übrigen berechtigt, Könige von ihrer Funktion zu entbinden, wenn sie durch bestimmte Vergehen den Konnex mit dem Heiligen Stuhl eingebüßt hatten. Der 1075 entstandene Dictatus Papae enthält bekanntlich den lapidarenSatz: Quod illi liceat lmperatores deponeret , Freilich mußte der kühne Vorstoß Gregors VII. von der Kanonistik des 12./13. Jahrhunderts nachträglich erst "aufgearbeitet" werden. Diese nahm die schwerwiegende Frageder Herrscherdeposition etwas zögernd in Angriff und drang zunächst nicht zu einer einheitlichen Auffassung durch". Gratian wollte, wie das Decretum erkennen läßt, offenbar eine eventuelle Fürstenabsetzung durch den Papst von einer vorausgegangenen Exkommunikation abhängig machen. Manche Dekretisten erkannten dem Papst ein indirektes Depositionsrecht zu, das heißt, die dem Bann folgende Eideslösung sollte im weltlichen Bereich entsprechende Konsequenzen zeitigen. Andere knüpften unmittelbar an die Position Gregors VII. an und behaupteten eine direkte Absetzungsbefugnis des Papstes. Auch die Haltung der "Untertanen" wurde bei der kanonistischen Diskussion nicht völlig außer acht gelassen. So forderte Huguccio von Pisa, der Lehrer Papst Innozenz' Hf., für den Fall einer Königsdeposition das Zusammenwirken der betroffenen weltlichen Vasallen mit dem Papst. Doch die Kanonisten des früheren und mittleren 13. Jahrhunderts untermauerten - teilweise in Bezugnahme auf den nun neu gefaßten Begriff der Häresiedie schon vorhandenen Ansätze zu einem direkten päpstlichen Depositionsrecht, bildeten dieses voll aus und sicherten es ab. Schwere Ver• Brief an Hermann von Metz, als Dekretale "Alius item" eingegangen in das Decretum Gratiani: C. 15 q, 6 c. 3. 7 MG Ep. sel. 11, 1 Nr. 55a. Vgl. V. Dom eie r, Die Päpste als Richter über die deutschen Könige (1897) und vor allem O. Hag e n e der, Das päpstliche Recht der Fürstenabsetzung: AHP 1 (1963) 53 ff. S Hierzu und zum Folgenden Hag e n e der 59 ff. und Fr. K e m p f, La deposizione di Federico 11 alia luce della dottrina canonistica: ASRSP 90 (1967) bes. 12 ff. (mit weiterer Literatur). Gedanken zu den Königsabsetzungen im Spätmittelalter 3 I I fehlungen eines Herrschers sollten seine Absetzung durch den Papst rechtfertigen. Papst Innozenz IV., der selbst Lehrer des kanonischen Rechts in Bologna gewesen war, nutzte die ihm durch die Kirchenrechtswissenschaft gebotene Chance für seine antistaufische Machtpolitik. Er setzte die kanonistische Theorie in die Praxis um, als er 1245 auf dem Konzil zu Lyon ratione haeresiae aliorumque graoium delictorum Kaiser Friedrich 11. seiner Würden enthob. Der in Lyon gefällte Urteilsspruch Ad apostolice dignitatisO wurde als verpflichtende Richtschnur für den Fall künftiger Herrscherdepositionen, die jedenfalls in Deutschland nur durch den Papst vorgenommen werden sollten, betrachtet und fand nach einigen Jahrzehnten auszugsweise Aufnahme in den Liber Sextus Papst Bonifaz' VIII. (11 Tit. XIV Cap. 11). Daneben wirkten auch die von Innozenz IV. in seinem Dekretalenkommentar (Apparatus) gegebenen Erläuterungen zu dem Modus der Herrscherabsetzung, welche die Reihung der erforderlichen Anklagepunkte nach dem viergliedrigen Schema perjuria - pacto rum /ractiones - sacrilegia - suspitiones beretice pravitatis vorsahen, weiter. Es stellt sich jedoch die Frage, in welchem Maß der Akt von Lyon tatsächlich bei den Herrscherabsetzungen des Spätmittelalters als bindendes Modell angesehen und nachgeahmt wurde, und des weiteren ist zu klären, wann die Ausstrahlungskraft des Vorbildes nachließ und dieses durch neue Anschauungsweisen zurückgedrängt wurde. Im Folgenden sei versucht, diesen Problemen anhand einiger ausgewählter Deposieionsvorgänge aus den Jahren 1298, 1326/27, 1399 und 1400 näherzukommen, wobei das Hauptgewicht auf die Vorgänge bei der Absetzurig des deutschen Königs Wenzel von Luxemburg (1378-1400/19) gelegt wird. Die Forschung hat seit längerem erkannt, daß der Akt von Lyon sehr stark auf die Handlungsweise des Erzbischofs Gerhard von Mainz einwirkte, als dieser 1298 die Initiative zur Absetzurig des glücklosen deutschen Königs Adolf von Nassau ergriff. Die im Dom zu Mainz'" vorgenommene Deposition Adolfs basierte auf einer Reihe von Anklagepunkten, die zwar durch Zeugenbefragung zustandegekommen sein sollen, sich aber - wie V. Domeier nachwies'! - streng an das von Innozenz IV. entworfene viergliedrige Schema hielten. Der Erzbischof • MG Ep. pont. 11 Nr. 124. - Unfähigkeit und Nathlässigkeit allein sollten nicht zur Absetzung eines Herrschers ausreichen. Innozenz IV. verhinderte die Deposition des solcher Schwächen geziehenen Königs Sandie 11. VOn Portugal und stimmte lediglich der Einsetzung eines Koadjutors zu: ..Grandi", Lib. Sext. I, 8,2. 10 Vielleidie fand ein Akt im Dom, ein anderer im Tiergarten statt. Vg!. J. We i z sä c: k er, Der Pfalzgraf als Richter über den König, in: Abh. d. Kg!. Ges. d. Wiss. zu Göttingen (1886) 20. U V. Dom eie r, Zur Absetzung Adolfs von Nassau (Diss. Berlin 1889) 34. Depositionsurkunde: MG Const. III Nr. 589. 312. Karl SdlOith von Mainz zog eine Befugnis an sich, die nach Auffassung der Kanonisten nur dem Heiligen Stuhl zustehen sollte, und geriet darüber in eine Auseinandersetzung mit Papst Bonifaz VIII. Gerhard von Mainz berief sich wohl auf ein Notrecht, das ihm angesichts einer Ausnahmesituation zustehe", Er verkündigte eine vonden Kurfürsten gefällte Sentenz, welche Adolf von Nassau wegen offenkundiger Vergehen für "untauglich und unnütz" (insufficiens et inutilis) erklärte und deshalb der Herrschaft beraubte", Das Verfahren sollte offenbar möglichst genau den von der Kanonistik verlangten Rechtserfordernissen entsprechen. Auf einer ganz anderen Grundlage ruhte das knapp drei Jahrzehnte später gegen den englischen König Edward 11. durchgeführte Absetzungsverfahren. Dieser war 1326 in die Hand einer Adelsfronde geraten und sollte nach Meinung des überwiegenden Teils seiner Großen die Herrschaft verlieren. Man warf ihm unter anderem Unfähigkeit, Grausamkeit und Verletzungen seines Krönungseides vor. Es kam jedoch nicht zu einem nach kanonistischen Normen geführten Prozeß. Stattdessen wurde im Rahmen einer parlamentsähnlichen Versammlung eine aus Vertretern der verschiedenen Stände von den Bischöfen und Grafen bis zu den Bürgern bestehende Kommission gebildet, und diese Repräsentanten des "Landes" - touz les banes gentz du Roialme graindres et mayndres, riches et poures - zwangen den gefangenen Edward Il., im Interesse seines bereits zum König gewählten Sohnes Edward "freiwillig" abzudanken. Das Verfahren endete Anfang 1327 damit, daß Edward 11. auf den Thron verzichtete, um der angedrohtenAufkündigung von Treue undGehorsam durch die Vasallen zuvorzukommen. Der Vorgang glich einer Absetzung, wurde jedoch in die Rechtsform einer Resignation gekleidet's, Dies bedeutet nun allerdings nicht, daß man in England die Überlegungen der Kanonistik zum Problemder Königsabsetzung grundsätzlich und ständig mißachtete. Als 1399 Richard 11., der letzte König aus dem Hause Anjou, durch seinen Vetter Heinrich von Lancaster gefangengenommen und im Tower zu London inhaftiert wurde, trat - ähnlich wie 1326/27 - eine Versammlung der status des Landes zusammen, um über das Schicksal des Gestürzten zu beraten. Die Verhandlungen, welche im September 1399 zu Westminster stattfanden, endeten mit der Abdankung Richards 11. und - zusätzlich - mit seiner rechtsförmlZ Dom eie r , Zur Absetzung 26. 13 Vg!. H. G run d m ann. in: Ge b h a r d t - G run d m ann. Handbudt der deutsdien Gesdtidtte 18 (1970) 497. 14 Vg!. die bei B. W ilk ins 0 n , Constitutional History of Medieval England II (1952) 170 if. zusammengestellten Quellenrexre. Dazu meine Arbeit: Staatsordnung und Politik in England zu Anfang des 14. Jahrhunderts: Hist. Jahrb. 88 (1968) 51. S. jetzt audt E. Pet e r 5, The Shadow King (1970) 237 if. Gedanken zu den Königsabsetzungen im Spätmittelalter 3 I 3 lichen Deposition. Dabei wurde, wie der als Sachverständiger an dem Vorgang beteiligte Jurist Adam von Usk ausdrücklich bezeugt, die Anwendung des Kapitels Ad Apostollce, Extra. de re judicata, in Sex to als notwendig erachtet", Obwohl Richard n. zur Resignation bereit war, sollte er pro majori securitate abgesetzt werden, und zwar cleri et populi auctoritate. Der Hinweis Adams von Usk auf die Heranziehung des Liber Sextus läßt sich, wie kürzlich G. E. Caspary zeigte, durch einen Vergleich zwischen Ad apostolice dignitatis und dem 1399 über Richard n. gefällten Urteil bestätigen. Beide Texte weisen beträchtliche Übereinstimmungen aufls• Die Sentenz von Westminster kam nach Darstellung der offiziösen englischen Überlieferung'? auf folgendem Wege zustande: Der gefangengesetzte KönigRichard 11. wurde durch eine Kommission dazu bewogen, seine Regierungsunfähigkeit zu bekennen und "freiwillig" abzudanken. Sodann gab der Erzbischof von York der in Westminster vor dem vakanten Königsthron zusammengetretenen Versammlung der status die Entscheidung Ridiards bekannt. Die Anwesenden akzeptierten den Rücktritt des Königs und nahmen zahlreiche, als notorisch betrachtete Anklagepunkte zur Kenntnis, die öffentlich verlesen wurden und als Grundlage für die Deposition dienen sollten. Im Anschluß hieran erklärten die status, die genannten causae reichten zur Absetzung Richards n. aus. Daraufhin trat eine Gerichtskommission vor dem Thronsitz zusammen und formulierte die Depositionssentenz. Der Bischof von St. Asaph verkündigte im Namen der Kommission das Urteil. Die Mitglieder des Tribunals sagten als Prokuratoren der status dem zurückgetretenen und abgesetzten Richard n. die Treue auf. Dann erhob sich Heinrich von Lancaster und beanspruchte das Regnum. Er bestieg als König Heinrich IV. den englischen Thron und begründete die Dynastie Lancaster. Es bedarf wohl kaum eines weiteren Beweises, daß das Gesamtverfahren von Westminster 1399 einerseits an die Vorgänge anknüpfte, die zur Abdankung Edwards n. geführt hatten, und andererseits Anlehnung an den Akt von Lyon 1245 respektive an die Bulle Ad apostolice dignitatis suchte. Eine rechtsförmliche Königsdeposition setzte nach Überzeugung der Beteiligten den Rückgriff auf die Sentenz InnoIS Adam of Us k, Chronicon, ed. E. M. T horn p son (1904) 29 f. 11 G. E. Caspary, The Deposition of Richard II and the Canon Law, in: Proceedings of the Second International Congress of Medieval Canon Law (1965) 189ff. 17 Rotuli Parliamentorum III (1767) 422. Der dort gebotene Text ist teilweise wiederabgedruckt bei E. C. L 0 d ge - G. A. T h 0 r n ton (Hrsg.), English Constitutional Documents 1307 - 1485 (1935) Nr. 21 und bei S. B. Ch rim e s - A. L. Br 0 w n (Hrsg.), Select Documents of English Constitutional History 1307-1485 (1961) 184ff.; englische Übersetzung bei B. Wilkinson 11 309ff. Karl Schnith zenz' IV. gegen Friedrich n. voraus. Doch läßt sich eine zunehmende Distanz gegenüber dem innozentianischen Modell nicht verkennen. Die Gerichtskommission von Westminster bemühte sich - anders als Gerhard von Mainz 1298 - keineswegs, die vorgebrachten Anklagepunkte den Vorwürfen anzupassen, die in Lyon gegen den Staufer erhoben worden waren. Richard n. wurde nicht etwa des Sakrilegs oder der Häresie bezichtigt,sondern der Verletzung seines Krönungseides, Die Anklagen entstammtender englischen Realität, und das heißt: sie gründeten unter anderem auf Tatbeständen, die nach Auffassung Innozenz' IV. überhaupt keine Vergehen dargestellt hätten. Einer der Vorwürfe gegen Richard n. bezog sich sogar darauf, er habe unerlaubte, dem englischen Herkommen widersprechende Kontakte zu der römischen Kurie unterhalten", Das Verfahren gegen AdoIf VOll Nassau beruhte also weitgehend, das gegen Edward n. kaum und das gegen Richard n. teilweise auf dem Vorbild des Prozesses von Lyon. Wie aber steht es in dieser Hinsicht mit dem im Jahre 1400 von Erzbischof Johann 11. von Mainz und mehreren seiner Mitkurfürsten gegen den König Wenzel durchgeführten Verfahren? Man sagt, es habe den Verschworenen an einer klaren rechtlichen Grundlage für das geplante Vorgehen gefehlt, so daß sie - allerdings ohne Erfolg - Anlehnung bei der Autorität des Papstes suditen'", Doch ist weiter zu fragen: Haben die Gegner \Venzels, als Papst Bonifaz IX. ihnen seine Unterstützung versagte, ihr Handeln an Ad apostolice dignitatis orientiert und damit den schon von Erzbischof Gerhard von Mainz betretenen Weg fortgesetzt, oder schlugensie eine andere Richtung ein? Nahmen sie sich etwa - wie vermutet worden ist - einen bestimmten historischen Präzedenzfall aus dem Spätmittelalter zum Vorbild, oder entwickelten sie eine ganz neue Verfahrensweise? Das allmähliche Anwachsen einer vornehmlich in den Rheinlanden verankerten Oppositionsbewegung gegen Wenzel ist wiederholt dargestellt worden, und der äußere Ablauf des Depositionsverfahrens liegt relativ klar zutage", Im groben Umriß ergibt sich folgendes Bild: Schon kurze Zeit nach dem Regierungsantritt des in Prag residierenden Luxemburgers wurde im Reich der Wunsch nach einem kung in 18 Vg!. die Liste der Anklagen bei C h rim e s - B row n, Select Documents 187 ff. Uber die an dem Krönungseid entwickelten Rechtsnormen für das Königsamt s. allgemein L. B u iss 0 n , Potestas und Caritas (1958) 270 ff., bes. für England 299 ff. ID So F. Ba e t h gen, in: Ge b h a r d t - G run d m ann 1° 625. 10 Die politisch-diplomatischen Zusammenhänge wurden namentlich geklärt durch Th. LI n d ne r , Geschichte des deutschen Reiches unter König Wenzel 11 (1880) und E. S t h a mer, Erzbischof Johann 11. von Mainz und die Absetzung König Wenzels (1909). Populär: H. Ri e der, Wenzel (1970). Gedanken zu den Königsabsetzungen im Spätmittelalter 3I 5 dutsche lande lebendig", Die Unzufriedenheit mit Wenzel fand unter anderem dadurch weitere Nahrung, daß die Fürsten der westlichen Kernlande die inzwischen eingebürgerte Institution des Reichsvikariates für ihre Interessen nützen wollten, während Wenzel darin ein Vehikel zur Durchsetzung seiner Hausmachtpolitik sah!!. Seit den Jahren 1387/88 gewannen die auf eine" Veränderung" (viranderunge) an der Reidisspitze zielenden Pläne einiger Kurfürsten deutlichere Konturen. Im Dezember 1397 war es dann endlich so weit, daß die rheinische Opposition - ihrem Selbstverständnis nach die kor/ursten schlechthin - dem König eine Anzahl von pointierten Klagen und Forderurigen vorlegte", welche namentlich seine Untätigkeit in der Kirchenpolitik angesichts des schon zwei Jahrzehnte währenden Papstschismas, den Verlust von Reichsrechten in Italien und im deutschfranzösischen Grenzbereich, die Ausstellung von Blanketten durch Wenzel, den allgemeinen Unfrieden im Reich, Gerichts- und Zollfragen, die Tötung von Unschuldigen - geistlich und ander personen= am böhmischen Hof und außerdem oil ander gebrechen betrafen", In der Folge verstärkte sich der hier erst ansatzweise enthaltene Vorwurf, Wenzel bleibe ununterbrochen dem Reiche fern und vernachlässige so überhaupt seine Regentenpflichten. Mit dem Kurfürstentag zu Boppard im April 1399 setzte eine Reihe nicht durch den König, sondern durch die Mehrheit der Kurfürsten einberufener Versammlungen ein. Auf einem Mainzer Tag im September 1399 wurde erstmals unverhohlen über die Neuwahl eines römischen Königs gesprochen. Erzbischof Johann Il, von Mainz und Ruprecht Ill. von der Pfalz suchten gemeinsam mit Erzbischof Friedrich von Köln, der zu Boppard mit ihnen ein engeres Bündnis geschlossen hatte, die anderen nichtluxemburgischen Kurfürsten - Werner von Trier und Rudolf von Sachsen - sowie die übrigen Fürsten und namentlich auch die Reichsstädte für ein gemeinsames Vorgehen zu gewinnen. Die Fronde gegen Wenzel formierte sich zu abschließender Aktion. Eine Fürstenversammlung zu Frankfurt im Januar/Februar 1400 warb durch eine Gesandtschaft nach Rorn um die Zustimmung Papst Bonifaz' IX., der sich indes zurückhielt und sogar in einem Schreiben den Böhmenkönig seiner "väterlichen Zärtlichkeit" bis in den Tod versicherte. Im Mai 11 J. Ja n s 5 e n (Hrsg.), Frankfurts Reichscorrespondenz (1863) Nr. 37. H W. Wen d e h 0 r s t , Das Reichsvikariat nach der Goldenen Bulle von 1356 (Diss. Ms. Göttingen 1951) 32 ff. Zu dem politischen Hintergrund s, auch H. An ger m eie r , Königtum und Landfriede im deutschen Spätmittelalter (1966) 266ff. IS Deutsche Reichstagsakten (RTA) III Nr. 9. U Die Berechtigung dieser Gravamina ist vielfach diskutiert worden; hier sei nur darauf hingewiesen, daß manche Beschuldigungen sich durch Gesandtenberichte erhärten lassen; vg!. z. B. RTA 11 Nr. 277 und 278. Karl Sdinith 1400 beriet die Opposition zu Frankfurt von neuem über die "Oberhauptsfrage" und ordnete Boten an König Karl VI. von Frankreich ab. Einige Teilnehmer - unter ihnen Kurfürst Rudolf von Sachsen _ verließen den Tag vorzeitig und hielten fortan Abstand zu der rheinischen Gruppe. Am 4. Juni 1400 luden Mainz, Köln, Trier und Pfalz den König auf den It. August nach Oberlahnstein, die egnanten gebrechen abezulegen zu rechtfertigen und aueh zu beßern und daz riebe widerzubrengen, als der heiligen kirchen dem heiligen Romischen riebe und der gemeinen kristenheit des ein große notdurft ist. und kernent ir nit of die [urgeschriben stat und tag ... so musten wir ... darzu gedenken tun und bestellen, daz daz heilige reiche nutzlieber und redelieher gehanthabet wurde; und soolden darumb solieher eide, als wir uwr personen getan han, genzlieh ledig und uch furbaz nit me 'Verbunden sin ... 25. Als Wenzel nicht erschien, schritten die vier Kurfürsten nach zehntägiger Wartezeit am 20. August 1400 zu seiner Absetzung. Erzbischof Johann 11. von Mainz bestieg einen bei Oberlahnstein am Ostufer des Rheins - im Angesicht des gegenüberliegen_ den Königsstuhls von Rhense - errichteten Urteilssitz, verkündigte öffentlich im Namen der Kurfürsten die Deposition Wenzels, gab die Lösung der Vasallen von den Wenzel um des heiligen Reiches willen geleisteten Treueiden bekannt und forderte sie auf, dem Luxemburger nicht mehr als römischem König zu gehorchen. Wahrscheinlich wurden vorher - oder vielleicht im Anschluß an den Spruch - verschiedene Anklagepunkte 'durch einen Notar den anwesenden Fürsten, Herren und Städteboten verlesen", Jedenfalls sind mehrere "Protokolle" der Absetzung erhalten geblieben,die offenbar von Augen- und Ohrenzeugen des Vorgangs niedergeschrieben wurden", Der Inhalt dieser Schriftstücke decktsich teilweise mitden schon 1397 formulierten Vorwürfen gegen Wenzel. Nach der Bekanntmachung der Deposition wurde eine deutschsprachige Absetzungsurkunde aufgesetzt, die auch in einer alten lateinischen Übersetzung vorliegt", Sie faßt in der Narratio die gegen Wenzel erhobenen Anklagen in verkürzter Form zusammen und hält fest, daß nach Überzeugung der Beteiligten König Wenzel keine Sorge mehr für Kirche, Christenheit und Reich tragen wolle, weshalb die Kurfürsten in langen Beratungen übereingekom_ men seien, ihn abzusetzen; darauf folgt die durch den Erzbischof Von Mainz vorher verlesene Depositionssentenz. Die Urkunde wurde 15 RTA III Nr. 146. " Die Zahl der Teilnehmer war gering. Vg!. zu der Verlesung Li nd n e r 11 522 ff. 11 RTA III Nr. 212-215; dazu zwei spätere - erweiterte - Zusammenstellungen Trithemius', Nr. 216 und 217. 18 RTA III Nr. 204 und 205; vgl. unten Anm. SO. I Gedanken zu den Königsabsetzungen im Spätmittelalter 317 durch sieben Notariatsunterfertigungen bekräftigt. Am 21. August begaben sich die Kurfürsten über den Rhein nach Rhense und wählten mit vier Stimmen einen aus ihrer Mitte, Ruprecht Ill. von der Pfalz, zum neuen König. Wenzel vertrat demgegenüber konsequent den theokratischen Standpunkt und betrachtete die Handlungsweise seiner. Gegner als arduam nooitatem et /actionem execrabilem a seculis inauditam, als crimen lese regie majestatis et sacrilegium, schlechthin als rebellio'", Er versuchte aber, als sein erster Zorn verraucht war, mit Ruprecht zu einem übereinkommen zu gelangen; dieser sollte die Königswürde behalten, Wenzel durch den Kaisertitel entschädigt werden. Der Pfälzer ging allerdings auf diesen Lösungsvorschlag nicht ein. Papst Bonifaz IX. zeigte sich anfangs höchst unwillig und erklärte, die Absetzung eines Königs stehe grundsätzlich nur ihm zu, ~ab sich später jedoch mit der Fiktion zufrieden, die Kurfürsten hätten m seinem Auftrag und gestützt auf seine auctoritas gehandelt", Er fand sich schließlich unter dieser Voraussetzung bereit, König Ruprecht zu approbieren. Obwohl der hiermit skizzierte Gesamtverlauf als quellenmäßig gesichert gelten darf, gehen die Ansichten über die Motive der bei der Deposition Beteiligten und die Rechtmäßigkeit ihrer Handlungsweise weit auseinander. Vor mehr als einem Jahrhundert wollte F. Löher31 die Absetzung Wenzels auf Grund der deutschen Rechtstradition besonders der Spiegel-Literatur - als durchaus zulässig erweisen, stieß jedoch auf den entschiedenen Widerspruch von J. Weizsäckerl • Dieser vertrat seinerseits - ebenfalls vom deutschen Reichsrecht ausgehend den Standpunkt, die Sache habe trotz einer auffallenden Ähnlichkeit mit dem einstigen Prozeß gegen Adolf von Nassau "gerichtlos" angefangen und geendet und nur "in der Mitte ihrer Entwicklung die Aequatorlinie eines Gerichtsverfahrens" passiert; es habe sich um eine Umkehrung des üblichen Königswahlverfahrens gehandelt, und die beteiligten Kurfürsten seien sich der Rechtlosigkeit ihres Vorgehens bewußt gewesen'", Th. Lindner bezweifelte, daß ein abschließendes und allseitig annehmbares Urteil möglich sei". E. Sthamer sah in der nach seiner Meinung juristisch "auf schwachen Füßen" stehenden Entthronung Wenzels eine Folge der "grenzenlosen Herrschsucht" Johanns 11. von Mainz und sprach von einem Staatsstreiche, Die jüngere " RTA III Nr. 240, 297 f. (an Karl VI. von Frankreich). 10 Vgl. RTA IV Nr. 104 und 392. •1 Das Rechtsverfahren bei König Wenzels Absetzung, in: Münchner Hist. Jahrb. (1865) 3 if. 11 Der Pfalzgraf als Richter 45. 11 Ebdt. 53, 57, 62. u LindnerII431. IS S t h a mer 60 if. 318 Karl Sdmith Forschung ist über diesen unbefriedigenden Stand der Dinge nicht mehr wesentlich hinausgekommen, zumal sie sich in der Regel nur beiläufig mit der Entthronung Wenzels befaßte. A. Gerlich hob die Ahnlichkeit des Vorgangs von 1400 mit dem Akt von 1298 hervor, bezeichnete die vorgebrachten juristischen Argumente als "Bemäntelun_ gen kurfürstlicher Machtpolitik" und nahm Einflüsse aus dem Bereich des geistlichen Rechts als "wohl auf jeden Fall vorhanden" an31• L. Buisson las aus den Anklagen gegen Wenzel "die Verletzung cler drei Pflichten des Krönungseides" heraus, fand die Begründung hierfür jedoch eher in den "Protokollen" als in der Absetzungsurkunde selbst. Im Anschluß hieran stellte H. Hoffmann zur Diskussion, ob vielleicht das Unveräußerlichkeitsprinzip herhalten mußte, um die Deposition zu rechtfertigen", F. M. Bartoj erwog eine Mitwirkung Heinrichs IV. von Lancaster beim Sturze Wenzels, und W. Hanisch wollte nicht ausschließen, daß Gesandte des englischen Königs den Kurfürsten "dienlich waren" 38. Zweifellos erhoben die rheinischen Kurfürsten den Anspruch, in vollem Einklang mit dem geltenden Recht gehandelt zu haben. Dies geht nicht nur aus der Absetzungsurkunde selbst hervor, sondern ebenso aus späteren Auskünften, welche etzliche wise gelerte grope pha/fen in dem rechten - wohl kurpfälzische Räte39 - den Reichsstädten gaben: sie meinent daß sie daz clerlicher wisen wullen in bebestliebem und keiserlichem rechte, wo man daz beschriben finde40• Also ein Hinweis auf das kanonische Recht und wohl auf das ius Romanum oder vielleicht auch auf die Goldene Bulle Kaiser Karls IV. Leider erfahren wir indes nicht, welche Texte die kurfürstlichen Juristen im einzelnen zugrundelegen wollten. Soweit das bebestliche recht angesprochen ist, liegt es nahe, an Ad apostolice dignitatis zu denken. In der Tat ist auch nicht zu leugnen, daß die Absetzungsurkunde VOn Oberlahnstein an derselben gedanklichen Tradition teilhat wie die Sentenz Innozenz' IV. Doch lassen sich nur wenige wörtliche übereinstimmungen zwischen den Urteilen von 1245 und 1400 feststellen4!, •• A. Ger lie h , Habsburg-Luxemburg- Wittelsbach im Kampf um die deutsche Königskrone (1960) 343 f. 87 B u iss 0 n 317 fr.; H. Hof E m ann, Die Unveräußerlichkeit der Kronrechte im Mittelalter: DA 20 (1964) 417. 38 F. M. Bar t 0 §, Cechy v dobe Husovä (1947) 175 E.; W. Ha n is c h , König Wenzel von Böhmen, Teil 1I, in: Ostbairische Grenzmarken 12 (1970) 5 fr., bes. 27. 88 So H. H e imp e l , Stadtadel und Gelehrsamkeit, in: Adel und Kirche _ Festschrift G. TeIlenbach (1968) 424. Die Absetzungsurkunde nennt als Berater unter anderem zwei Kanonisten und einen Legisten, 40 RTA IV Nr. 120. 41 MG Ep. pont. 1I Nr. 124: •••• amplius tolerate, cogimur urgente nos conscientia ... quattuor gravissima, que nulla possunt celari tergiversatione, commisit . .. deliberatione prehabita diligenti, cum Iesu Christi vices... teneamus... se Gedanken zu den Königsabsetzungen im Spätmittelalter 3 19 und die Anklagen gegen Wenzel entsprachen weder inhaltlich noch formal dem innozentianischen Schema. Die Gegner Wenzels haben sich offenbar nicht oder nur in geringem Maß bemüht, dem Wortlaut von Ad apostolice dignitatis zu folgen. Und auch die Absetzungssentenz gegen Adolf von Nassau hat - sofern sie überhaupt in Oberlahnstein vorlag - den Text des Wenzelsurteils höchstens an einigen Stellen geprägt", Will man den kurfürstlichen Juristen nicht mangelnde Kenntnis der kanonistischen Tradition unterstellen, so bleibt nur die Annahme, daß sie - anders als ihre Vorgänger 1298 - keines engen Anschlusses an das Modell von Lyon und den Liber Sextus zu bedürfen glaubten. Dies muß allerdings nicht bedeuten, daß die Gegner Wenzels überhaupt keinem Präzedenzfall folgten. Lehnten sie sich etwa an das 1399 in Westminster praktizierte Verfa.hren an? Ein solcher Zusammenhang würde in die politische Landschaft Europas an der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert durchaus passen. Schon seit den achtziger Jahren lassen sich enge Beziehungen zwischen der deutschen und der englischen Königspolitik nachweisen. Es sei nur daran erinnert, daß König Richard Il. auf Wunsch und durch Vermittlung Papst Urbans VI. die Prinzessin Anna von Böhmen, eine Schwester Wenzels, geheiratet hatte43• Des weiteren fällt es auch nicht schwer, Verbindungen zwischen dem englischen Hof und der rheinischen Fürstengruppe aufzudecken. Köln und Pfalz etwa hatten sich seit 1394 an Verhandlungen über eine deutsche Thronkandidatur des ehrgeizigen Richard n. beteiligt44• Ruprecht Ill. von der Pfalz war - wie schon sein Vater - in ein Abhängigkeitsverhältnis zu der englischen Krone getreten und hatte Pensionszahlungen angenommen. Nach dem Sturz Richards Il. beeilte sich sein Nachfolger Heinrich IV., Kontakte zu den deutschen Fürsten herzustellen. Er ordnete Gesandte zu den Versammlungender antiluxemburgischen Partei ab46 • Und im Jahre 1401 kam es sogar zu imperio et regnis omnique bonore ac dignitate reddidit tarn indignum. " abiectum omnique bonore ac dignitate privatum .•• iuramento fidelitatis ... absolventes •.••• Die kursiv gesetzten Passagen begegnen auch in RTA III Nr. 205 oder klingen dort wenigstens an. n Im wesentlichen ergeben sich folgende (kursiv gesetzte) übereinstimmungen: ••• sedet ••• pro trihunali iusticia ••. iniquitates amplius tollerare, cogimur .•• quedam g~avissim.a, que nu_lla possunt tergiuersaclone ~ela~i,. commisi.t •.•. que tergiversaCtone aliqua celari non potest... notoTle... mutlz,s... dehberaclOne prehabita ••• tarn indignum .• iuramento fidelitatis ••• absolventes •••• (MG Const. III Nr. 589). 41 M. Mc K is a c k, The Fourteenth Century (1959) 146. 44 Hierüber F. Ba e t h gen, in: Ge b h a r d t - G run d m ann ID 625. S. auch J. J. N. Pal mer, English Foreign Policy 1388-99, in: The Reign of Richard Il (1971) 75t£. " Vg!. z. B. RTA III Nr. 138. 320 Karl Sdinith einem Ehebündnis zwischen den Häusern Lancaster und Wittelsbach als der älteste Sohn König Ruprechts eine Tochter des englische~ Königs heiratete", Angesichts dieser Querverbindungen wird man es nicht für unwahrscheinlich halten, daß der gegen Richard 11. gefällte Spruch an den rheinischen Höfen bekannt wurde, zumal die auf Hochtouren arbeitende Propaganda Heinrichs IV. sich bemühte, eine dem Haus Lancaster genehme Version von der Abdankung und darauffolgenden Absetzung Richards 11. weithin zu verbreiten", Hinsichtlich des Verfahrensablaufes lassen sich - wie aus der obigen Beschreibung hervorgeht" - auffallende Parallelen zwischen den Akten von Westminster und Oberlahnstein feststellen. Beide Prozesse gründeten auf der Notorietät der Anklagepunkte, wurden vor der sedes regia durchgeführt, wiesen eine recht ähnliche Stufenfolge auf und bedienten sich der Mitwirkung öffentlicher Notare. Bei einem Vergleich der heiden Urteilstexte ergeben sich zwar nur wenige wörtliche Übereinstimmuj-; gen, und diese erstrecken sich kaum auf individuell-charakteristische Wendungen49 ; doch ist zu bedenken, daß es sich ja bei der lateinischen Fassung des Wenzelsurteils um die übersetzung eines deutschen Originaltextes handelt", Wurde der Spruch von Westminster überhaupt herangezogen, so müssen seine Spuren zunächst in der deutschen Redaktion des Wenzelsurteils erscheinen. Und diese läßt tatsächlich in der Gedankenführung streckenweise eine frappierende ähnlichkeit mit der Sentenz gegen Richard 11. erkennen. Hierzu nur einige Hinweise: Das Urteil von Westminster bezeichnet Richard zunächst als insufficientem penitus et inutilem ad regimen et gubernacionem regnorum et dominii. Diese abwertende Charakterisierung wird kurz darauf in etwas veränderter Form nochmals aufgenommen: esse inutilem, inhabilem, insufficientem penitus, et indignum; ac propter premissa et forum pretexts, ab omni dignitate et honore regiis ..• merito deponendum pronunciamus •.. et .•• deponimus per nostram diffinitivam " W. Hol t z m ann, Die englische Heirat Pfalzgraf Ludwigs Ill.: ZGO NP 43 (1929) 3. 47 Dazu M. V. C I ark e - V. H. G a I bra i t h. The Deposition of Richard n: BJRL 14 (1930) 125 ff.; auch B. W ilk ins 0 n , The Deposition of Richard 11 and the Accession of Henry IV, jetzt in: E. B. Fry d e - E. Mill er, Historical Studies of the English Parliament I (1970) 329 ff. 48 Oben 312 f., 316 f. 'I C h ri m e s - B row n , Select Documents 190 f.: "... nos... PTO tribunal; sedentes ••• que adeo ••• notoria, manifesta ••• quod nulla •.• possunt tergiversa_ tione celari ..• inutilem... "ice, nomine .•• inutilem... lndignum .•• ab omni dignitate et honore ..• deponimus ..• in biis scriptis ..• fidelitatem .•••• Die kursiv gesetzten Passagen berühren sich mit der Urkunde RTA III Nr. 205. 10 Vgl, die Stellungnahme Weizsäd!;ers RTA Ill, 260. Die lateinische Fassung ist unter dem Titel •Translacio sentencie deposicionis ••• facta non solum ad sensUm sed eciam ad literam ..•• überliefert. Gedanken zu den Königsabsetzungen im Spätmittelalter 321 sentenciam in hiis scriptis", In entsprechender Weise kennzeichnet die Sentenz von Oberlahnstein zunächst Wenzel als eynen uorsumer entgleder und unwirdigen des heiligen richs und nimmt diese negative Qualifizierung dann nochmals auf mit den Worten: wir ... abethun und abeseczen mit dißem unserme erteil, daz wir thun und geben in dißer schrifft, den vorgenanten hern Wenczelaw als eynen unnuczen versumelichen unachtbaren entgleder und unwerdigen hanthaber des heiligen Romischen richs von demselben Romischen riche und von alle der wirde eren und herlichkeid ... 62. Die Parallelität setzt sich in den folgenden Abschnitten der beiden Texte forr". Gewiß mögen manche übereinstimmungen sich daraus erklären lassen, daß beide Sentenzen an dem weithin einheitlichen Fundus der spätmittelalterlichen Kanzleisprache teilhaben. Doch steht der Akt von Oberlahnstein jedenfalls im äußeren Ablauf und auch hinsichtlich des gefundenen Urteils dem Verfahren gegen Richard n. näher als dem gegen Adolf von Nassau. Man wird deshalb ernsthaft die Möglichkeit in Betracht ziehen müssen, daß die Gegner Wenzels eine gewisse Anlehnung bei dem Akt von Westminstersuchten, als der Papst sich ihnen versagte. Dies würde zugleich bedeuten, daß die in der Bulle Ad apostolice dignitatis enthaltene Grundform der Herrscherabsetzung auf dem Umweg über Westminster das Verfahren gegen Wenzel beeinflußte. Aber hatte die rheinische Opposition überhaupt eine Anlehnung an den Papst oder an bestimmte Präzedenzfälle nötig? Es scheint doch, daß die kurfürstlichen Juristen zwar bereit waren, Elemente der kanonistischen Tradition zu berücksichtigen, sie aber in einen eigenständigen Neubau einfügten. Dabei ist nicht einmal sicher, ob die Rebellen von Anfang an eine rechtsförmliche Deposition Wenzels beabsichtigten. Die Quellen wissen bis weit in das Jahr 1400 hinein nur von dem Vorhaben einer viranderunge zu berichten oder davon, die Kurfürsten wollten daz riche bestellen, nicht jedoch von einern bevorstehenden Absetzungsprozeß54. Die Reichsstädte waren noch im Juli 1400 darüber in Zweifel, ob Wenzel erkant [= gerichtlich verurteilt] odir sust entseczit werden oder nur einen virwesir odir pleger erhalten solle", Erst im folgenden Monat spiegeln die Quellen den Depositionsplan ganz deutlich wider. Es mag sein, daß die Kurfürsten aus taktischen 11 C h rim e s - B row n , Select Documents 190 f. 51 RTA III Nr. 204, 257 f. III Wenn es etwa in dem Text aus Westminster (C h rim e s - B row n 191) heißt: "ne quisquam ipsorum de cetero prefato Ricardo, tanquam regi vel domino •.• pareat quomodolibet vel intendat", sagt der deutsche Text, der hier fast einer übersetzung gleicht (258): "daz sy dem egenanten hern Wenczelaw furbaßer als eyme Romischen konige nit me gehorsam noch wartende sin in eyniche wijß ••••• 54 Vgl. RTA III Nr, 141, 142 und 148. . 55 RTA III Nr. 168. 21 Hist. Jahrbuch 91 Karl Sdmith Gründen ihr eigentliches Vorhaben bis zum letzten Moment verschleierten. Doch ist auch zu erwägen, ob nicht zunächst lediglich an eine Verlassung Wenzels und anschließende Neuwahl gedacht war, also an ein Verfahren ähnlich dem, durch welches König Edward 11.