VII. / >h gonna have to science the shit out of this! Mark Watncy Kraft steht auf, klopft sich das Gras vom Hosenboden und schleicht schweren Herzens zurück zum Turm. Im F-'oyer mogelt er sich hinter dem Rücken eines Rotbejackten in den Lesesaal und hört schon von Weitem den Staubsauger der dicken Mexikanerin; es ist ihm, als sauge sie ihm den letzten Rest Lebenskraft aus dem Leib, und er muss an Heike denken, die aus Angst vor Keimen - zumindest eines, das sie noch teilen - eine Hühnerbrust aus dem Umschlagpapier des Fleischers wickelt und in einem eigens zu diesem Zweck angeschafften Apparat vakuumiert; mit einem ratternden Geräusch saugt das Gerät die Luft aus dem Plastikbeutel, dicht legt sich die Folie um das Fleisch, und Kraft spürt, wie es ihm eng wird um die eigene Brust. Rasch räumt er seine Sachen zusammen und flieht aus der Kühle des Lesesaals ins Freie, wo alles wieder seinen gewohnten Gang geht. Die Latinos, die auf Knien in den Blumenbeeten das Unkraut zupfen, die Professoren, die in schwarzen Reebok Classics, sandfarbenen Chinos und weiten, karierten Buttondownhemden zu ihren Vorlesungen und Seminaren eilen und dazu ein Heer von nackten Waden, dick und dünn, behaart und seidig glänzend, muskulös und magersüchtig, Männerbeine und Frauenbeine, alle in Shorts und die meisten in die Pedale tretend; eine verabscheuungswürdige Beinparade, wie Kraft findet, zumal die meisten zu allem Überfluss auch noch ihre nackten Füße in Flipflops präsentieren, wo doch nur die allerwenigsten Füße eine solche Zurschaustellung verdienen. Was Füße betrifft, ist Kraft streng und wählerisch. Eigentlich, so ist er der Meinung, gehören sie, ob männlich oder weiblich, in sowohl solidem, wie auch elegantem und in jedem Fall gepflegtem Schuhwerk den Blicken der Mitmenschen entzogen, es sei denn, es handle sich um Babyfüße, da ist er bereit, eine Ausnahme zu machen, oder aber man befindet sich mit der Besitzerin der Füße in einer Interaktion sexueller Natur, dann, ja dann vermag sich Kraft, aber nur in den seltenen Momenten, in denen er sich ganz und gar gehen lassen kann, seltsamerweise sehr für Füße zu begeistern und mit stiller Leidenschaft und beachtlicher Ausdauer an ihnen zu lecken und zu saugen, und selbst an Heikes HaJIux knabberte er, in besseren Zeiten, gelegentlich mit einer Mischung aus Zärtlichkeit und ungezähmter Fleischeslust. Doch an beides, Mädchenfüße und Heikes Hallux, will er jetzt nicht denken, also stellt er sich vor, wie einer jener übermütig radelnden Studenten mit seinem ganz und gar ungeeigneten Schuhwerk von den Pedalen rutscht und mit den Zehen in die glitzernden Speichen gerät. Dabei verliert er die Kontrolle über seine Vorstellungskraft und imagi-niert sich ein wahres Blutbad, denn er lässt den unglücklichen Studenten mit halb abgetrennten Zehen auch noch stürzen und sich dabei die blitzend weißen Zähne ausschlagen, worauf es zu einer gewaltigen Massenkarambolage kommt, bei der Dutzende von Rädern ineinander krachen und die jungen Leiber unter Geschrei auf das heiße Pflaster stürzen, sich die makellosen Knie blutig schlagen, die strammen Schenkel aufschürfen und sich, da sind sie ganz selber 96 97 schuld, in ihren blöden Badeschlappen fürchterlich die Kr»#» chel vertreten, sodass Kraft glaubt, sogar die reißenden B.ln der schnappen hören zu können. Es darf uns also nicht verwundern, dass er kurz dar.nil mit flauem Magen etwas ratlos vor dem Angebot im ArbucM§\ Dmmg Pavilwn steht, die gegrillten Putenschenkel und -In Burritos links liegen lässt, auch beim Sushi zögert und sh Ii schließlich zaghaft am Salatbuffet bedient. Mit ein paar Blttt tern Eisbergsalat an Thousand Island Dressing, gekrönt mit vier Streifen blasser Hähnchenbrust und einer Dose I >m» Coke, sucht er im Hof des Knight Management Centers, dtm wie ihm Ivan erklärt hat, großzügigerweise von Phil Knigli*, seines Zeichens Gründer der Sportartikelfirma Nike und ehemaliger Absolvent der Stanford Business School, Dill mehreren Hundert Millionen Dollar bedacht worden i«i nach einem freien Tisch, und weil er keinen Huden k.inti, fragt er zwei junge Herren, ob er sich dazusetzen darf, Nif haben nichts dagegen und lassen sich von Kraft nicht IM ihrem Gespräch stören. Während er lustlos in seinem S.iUl stochert, die Hähnchenbrust an den Tellerrand schiebt uiltt auf seinem neuen Gadget rumwischt, kommt er nicht ihm hin, die laute Unterhaltung mitzuhören, und bald Silin« beschäftigt er sich nur noch pro forma mit seinem TclelM und lauscht dem Gesptäch. Es sei ein gutes Jahr gewesen, sagt der eine, ein großartig*! Jahr, ein fantastisches Jahn Sein Kiefer ist kantig, von ilni Größe einer Nachttischschublade, und es glänzt dann < im verschwenderische Anzahl Zähne. 1 am doing well, 1 am dnlti^ well, Wiederholl er ein ums andere Mal. Und sein Gespi.tt In partner, ein Lockenkopf im hellblauen Businesshciiid, >itll wortet: Good fbr you, bro, good for you, you deserue lt. Kfffff kommt es so vor, als meine er es ernst und freue sich tatfiNfH lieh für sein Gegenüber. Der breite Kiefer strahlt nir ........ I'nlnkiagen mit der kalifornischen Sonne um die Wette, il i Iiiiii | i|i ii/lieh verdüstert sich das glatt rasierte Gesicht. I i-I i. ■ ihn aber doch, so beklagt er, dass er nach wie vor Uli Iii in dci läge sei, seinen Erfolg präzise zu messen. Auch i In im sein freund ganz einverstanden und setzt eine I i..... '11 i ii i Unzufriedenheit auf. In der Tat, dies sei aus- r i.....In ii unbefriedigend und ein Problem, das auch ihn ■ ■ 1..... beschäftige. Kraft kann dem Fortgang des Ge- li-i i in nehmen, dass sich dieses schwerwiegende Pro-hli in ili niii',1 ganz von selbst lösen werde, wenn man in die l'ln.i Ii i ii Tlvcrdienens eintrete, denn dann lägen die ent- II In id. nihil Parameter auf der Hand und ein direkter Ver-ph ii Ii wriile ausgesprochen simpel. Aber in dieser Phase, in Bit* »•< I« gegenwärtig befänden, sei es quälend, dass einem IHM Ii M ilv.i.ih für den eigenen Erfolg zur Verfügung stände, f* winde su Ii, so sinniert der Lockenkopf und klappt dabei Uli k l'i//.i zusammen, vielleicht lohnen, dafür eine App um ii kein, darüber müsse man mal nachdenken. Für ■•in ii M.....cm hat Kraft Mühe, dem Gespräch zu folgen. Es (♦■Ii.....i riiien Algorithmus, der zu entwickeln wäre, um i"l'l.......i iei ung, Resilienzen und Parameter, um Input und • lMI|>in. um Skalen und die Reduktion von Komplexität, ••. Iii Ii glaubt verstehen zu können, dass sich das Ge-i|iMi Ii immer noch um die präzise Messung ihres Erfolges HB. ligriulwie verblüfft ihn das; selbstverständlich hat er Hill 'I ......Ahn dieser beiden jungen Männer war, auch Ii Ii i ii il.iiiken gemacht über seinen Erfolg, und wie er wohl in * i' eh '• Ii ii diesem oder jenem einzuschätzen sei, aber es 1......hnell klar geworden, dass dies eine niemals zu klä- I i Hl u.ir, denn der Erfolg kam nie ohne sein Spiegel- I du i I -. gibt immer den Erfolg, den einem die anderen HM*1"'hhI jenen, den man sich selber zurechnet, und je lli,ii .in neici mau versucht, beide zur Deckung zu bringen, 98 99 desto offensichtlicher wird es, dass man keine Ahnung hat, für wie erfolgreich einen die anderen halten; das kann man schlicht nie wissen, weil man immer mit Lüge, Niedertracht und Neid rechnen muss, und genau deswegen bleibt einem nichts anderes übrig, als sich auf sein eigenes Gefühl zu verlassen, und dieses pendelt, das hatte Kraft schon als Pubertierender begreifen müssen, stets zwischen Selbsthass und Größenwahn. Wie die beiden Schwachköpfe doch tatsächlich glauben können, dieser fundamentalen Aporie ließe sich mit einer App zu Leibe rücken. Verblendete, denkt Kraft, quantitativ Verblendete. Beide seufzen sie nun ob der Größe der Aufgabe und schütteln die Köpfe auf ihren breiten Hälsen. Zumindest, so beeilt sich der mit den vielen Zähnen zu sagen, als ob er es nicht aushält, zu lange, auch nur gedanklich, im Misserfolg zu verharren, habe er in den letzten zwei Monaten seine Produktivität erhöht, und deutet dabei auf eine Art überdimensionale Schnabeltasse, in der eine unappetitliche, grau-beige, sämige Flüssigkeit schwappt. 9261 Minuten, sagt er nach einem prüfenden Blick auf sein Telefon, habe er dank Soy-lent bereits eingespart. Eine Mitteilung, die den Lockenkopf dazu veranlasst, sein Pizzastück, von dem er gerade abbeißen wollte, auf den Teller zurückzulegen und durch die Zähne zu pfeifen; 9261 Minuten, das seien 154,35 Stunden, beziehungsweise 6,45 Tage, impresswe sei das, very impressivc. Kraft findet vor allem beeindruckend, wie der junge Mann das so schnell ausgerechnet hat. Zahlentrottel, denkt er, Idiot, Autist. Der Vielzahnige setzt mit ernster Miene seine schnabeltassige Feldflasche an, nimmt einen tiefen Zug, lässt ihn einen Moment mit vollen Backen durch die Mundhöhle gluckern, bevor er geräuschvoll schluckt. Kraft starrt ihm auf den auffallend großen Adamsapfel, der einen Sprung tut, denkt dabei an Katzen und Mäuse, mit einem schwachen Gefühl der Überlegenheit, weil er glaubt, dass die beiden Rechenknechte diese subtile literarische Anspielung sicher nicht verstehen würden. 6,43 Tage in einer Flasche, das weckt dann doch seine Neugierde. Wie hatten sie das Gebräu genannt: Soylent? Das Wort weckt eine schwache Erinnerung in ihm. Unauffällig googelt er danach, während er zuhört, wie sich der Lockenkopf für das Stück Pizza auf seinem Teller rechtfertigt. Es sei in erster Linie der Geschmack von geschmolzenem Käse, auf den er nicht verzichten könne, vielleicht liege es an seinen italienischen Wurzeln, Essen sei doch in seiner Familie immer sehr im Zentrum gestanden, und er könne sich durchaus vorstellen, dass es ihm, wäre er, so wie sein Gesprächspartner, irischer Abstammung, leichterfallen würde, auf Soylent umzusteigen. Das will der andere dann doch nicht auf sich sitzen lassen und bekräftigt, auch er verzichte nicht ganz auf recreational Jbod, einmal die Woche gehe er essen, meistens in einem sozialen Zusammenhang. Recreational food? Kraft schlackern die Ohren. Hier, jetzt hat er es gefunden. Soylent ist offenbar der Name für ein flüssiges Nahrungsmittelsubsritut, nicht einer dieser grauenhaften Diärdrinks, die Ruth für eine Weile Lrank, nachdem sie ihr zweites Kind abgestillt hatte und ihr Unglück irrtümlicherweise an ihrer Figur festzumachen versuchte, nein, Soylent ist als dauerhafter Ersatz für normales Essen gedacht, als die cleverere Alternative zu den normalen rotting ingredients, wie der Erfinder der grau-beigen Schlurze herkömmliches Essen bezeichnet. Essen, so liest Kraft auf dem Bildschirm seines Telefons, sei generell eine überschätzte und ungemein mühsame und unökonomische Tätigkeit, das Einkaufen im Supermarkt eine Plage und die Zubereitung herkömmlicher Mahlzeiten eine zeitraubende, ineffiziente Verschwendung von Ressourcen. Deswegen, so 100 101 verkündet der Erfinder, habe er beschlossen, sein Leben der Aufgabe zu widmen, Essen empirisch nachzubilden. Kraft schaudert. Das also ist die Zukunft. Nein, viel schlimmer noch, die Gegenwart: Man nehme eine menschliche Tätigkeit - in diesem Fall das Essen -, befreie sie von allen kulturellen Bedeutungen, von allen historischen Bezügen, von allem emotionalen Ballast, bis man den nackten, vermessbaren Kern vor sich hat. Diese Brühe in der Schnabeltasse ist der quantifizierbare Überrest einer über Jahrtausende gewachsenen, reichhaltigen, prägenden kulturellen Tätigkeit, aufgelöst in eine Reihe von Messwerten: Soundso viel Gramm Proteine, soundso viel Gramm Fett, nullkommanulldrei Gramm von diesem Vitamin, eineinhalb Jota von jenem Spurenelement, etceteraetcetera... Am meisten beunruhigt ihn aber die Einsicht, dass hinter diesem Prozess der Quantifizierung der Wunsch nach einer Ökonomisierung durch Rationalisierung steckt. Nichts anderes also als die Maximierung des Produkts durch die Minimierung der Kosten, in diesem Fall durch das Einsparen von Zeit. Und dies, das weiß Kraft genau, ist nichts anderes als die kapitalistische Grundopera-tion. Weshalb also geht für Kraft von dieser Flasche ein solcher Schrecken aus? Sollte sie ihm nicht vielmehr als Fanal für die Durchsetzungskraft seiner eigenen Glaubenssätze gelten? Wieder einmal ertappt er sich dabei, wie er zurückschreckt, wenn er auf eine konkrete, lebensweltliche Praxis stößt, die unleugbar ein Resultat dessen ist, was er ein Leben lang theoretisch durchdacht und argumentativ verteidigt hat; das passiert ihm in letzter Zeit immer häufiger. Zu allem Uberfluss muss er zugeben, dass der Kerl ihm gegenüber, obwohl er sich seit zwei Monaten von dieser Brühe ernährt, geradezu unverschämt gesund aussieht, wie er so breitbeinig dasitzt, mit seinem kräftigen Kiefer, und ganz ungezwungen, als sei es eine Selbstverständlichkeit, in die kalifornische Hitze furzt. Plötzlich kann er sich wieder erinnern, wo er den Namen schon einmal gehört hat. Soylent Green, das war der Titel einer Science-Ficcion-Dystopie aus den Siebzigern; eine übervölkerte Welt, Nahrungsmittelknappheit, die Bevölkerung wird von der Regierung mittels eines Proteinkekses mit dem Namen Soylent Green am Leben erhalten und mittendrin Charlton Heston, der einem düsteren Geheimnis auf der Spur ist. Kraft kann sich an die Schlussszene erinnern, wie der sterbende Heston auf einer Bahre abtransportiert wird und mit einem letzten Aulbäumen schreit: Soylent Green is made out ofpeople! Ist diese Namensgebung nur Ausdruck eines etwas seltsamen Humors, oder, so mutmaßt Kraft, scheint dem Erfinder die Idee, Nahrungsmittel aus Verstorbenen herzustellen, vielleicht gar nicht so abwegig, sondern vielmehr ausgesprochen ökonomisch? Eine Möglichkeit, die man zumindest in Betracht ziehen muss, lässt sich doch auch der Tod dem Prozess der Quantifizierung unterziehen, indem man alles Kulturelle, Historische und Emotionale herunterschält und den messbaren, leiblichen Kern freilegt. Was bleibt, ist der Brennwert des menschlichen Körpers. Kraft erinnert sich an eine Studie mit dem wunderbaren Titel The Limited Nutritional Value of Cannibalism, die er mal in einer alten Ausgabe des American Anthropologist entdeckt hatte. Die Autoren kamen zu dem Schluss, ein kunstfertig geschlachteter Mensch von 60 Kilo liefere knapp die notwendige Tagesration Proteine für sechzig gleich schwere Männer. One man, in other words, serves 60 skimpily. Excuse me, sagen die beiden jungen Männer im Chor und drehen sich ihm mit fragenden Gesichtern zu. Kraft muss einsehen, dass er den letzten Satz wohl laut ausgesprochen hat, und während ihm das Blut in den Kopf schießt, beginnt 102 [03 er, sich zu entschuldigen, er habe nur laut nachgedacht, ein Bankett, das Geburtstagsessen für einen Kollegen, welches er zu organisieren habe, und er habe sich gerade gefragt, wie viele Kellner er wohl anheuern müsse. Die beiden wenden sich ihm jetzt richtig zu, und Kraft entnimmt ihren Mienen und ihrer Haltung, dass sie sein Problem erstaunlicherweise tatsächlich interessiert und sie gerne bereit sind, es gemeinsam zu diskutieren. Sir down dinner or flying buffet?, will der Liebhaber von geschmolzenem Käse wissen. Neuer mind, sagt Kraft, da er fürchtet, der andere schlage ihm gleich vor, den Geburtstagsgästen kleine Schnabeltassen mit Soylent vorzusetzen, und er keine Lust hat, in eine kulturkritische Diskussion über ein Geburtstagsessen verwickelt zu werden, in der er vermutlich den Begriff recreational food würde verwenden müssen, von dem er fürchtet, er werde ihm wie Pilze im Munde vermodern und für Tage einen schalen Geschmack in seinem Rachen hinterlassen; ein Risiko, das sich keinesfalls einzugehen lohnt, zumal er sich den Gegenstand der Diskussion, aus der Not heraus, gerade eben erst ausgedacht hat. Doch so leicht kommt er nicht davon, und deswegen stürzt er sich in die Offensive und will von den beiden wissen, ob sie Studenten der Stanford Business School seien. Bereitwillig geben sie zu Krafts Erleichterung Auskunft. Absolventen seien sie, mittlerweile aber mit ihren Start-ups in einem mit der Universität assoziierten Inkubator untergekommen, ein unglaublich inspirierender Ort, an dem Stanfords klügste Köpfe und waghalsigste Entrepreneurs zusammenfinden und mit den wichtigsten Investoren und den weitbesten Mentoren in Kontakt gebracht werden. A lot of disruptive energy sei dort zu finden; eine Aussage, die Kraft irritiert, und ebenso irritiert ihn seine eigene Irritation, denn er ist ja nicht von gestern und weiß natürlich um die hiesige Begeisterung für den Begriff der Disruption, hat von ihm sowohl in unzäh- ligen Zeitungsartikeln und Fachbeiträgen gelesen, wie ihn auch in angeregten Seminarrunden theoretisch durchdrungen und ihm so, durch das nahtlose Einsetzen in sein Gedankengebäude, die scharfen Kanten gebrochen, aber jetzt, da er ihm SO unverhohlen mit Begeisterung und offensichtlicher Zustimmung ausgesprochen begegnet, klingt er dann doch wie eine Drohung. Leidenschaftlich beginnt der Lockenkopf, von seinem Start-up zu berichten, das gerade die erste Finanzierungsrunde erfolgreich hinter sich gebracht habe und dessen App mit dem Namen Famethrower sich bereits im fortgeschrittenen Beta-Stadium befinde. Es handle sich dabei, basically, um einen Reichweiten-Akzelerator für Live-Video-Stream-Dienste, wie Periscope, Meerkat oder Facebook-Live. Kraft muss leider gestehen, dass er diese Dienste nicht kennt und auch keine wirkliche Vorstellung von einem Live-Video-Stream hat. Nur zu gerne klären sie ihn auf, und der mit dem breiten Kiefer zeigt ihm zur Illustration eine App auf seinem iPhone mit der Darstellung einer Weltkarte, auf der rote und blaue Punkte auszumachen sind. Kraft soll nun Auskunft geben, woher er kommt, und der junge Mann zoomt zielsicher Süddeutschland an, findet auf Anhieb, ohne die Suchfunktion zu benutzen, Tübingen, das er zu Krafts Erstaunen als tbe Town of Hölderlin bezeichnet, und sein Kollege ergänzt, dass der Dichter ebendort mit Hegel und Schelling studiert und gelebt habe, und nicht zu vergessen, wirft der andere ein, habe Friedrich Miescherdort 1869 in Eiterzellen die Nukleinsäure entdeckt. Kraft ist nun etwas eingeschüchtert und gibt sich deswegen ausgesprochen interessiert. Gerade nicht so viel los in Tübingen, sagt der eine bedauernd und drückt auf einen von drei roten Punkten am Neckar. Nach ein paar Sekunden Ladezeit erscheint auf dem Bildschirm eine intime Szene. Zwei Mädchen, Kraft schätzt sie auf dreizehn oder 104 [05 vierzehn, sitzen auf einem Bett. Hingebungsvoll und zärtlich bürstet die eine die vollen dunklen Locken ihrer Freundin, die ihrerseits offensichtlich ihr Telefon vor sich hält und sich und ihre Freundin filmt. Die Mädchen sind ganz bei sich, plaudern ungezwungen im Slang junger, osteuropäischer Migrantinnen über eine Mitschülerin. Die Übertragungsqualität ist beeindruckend, Kraft fällt auf, wie abgeblättert der rote Nagellack an der Hand ist, die die Bürste immer und immer wieder durch das glänzende Haar führt. Hinter ihnen, an der Wand dieses Tübinger Mädchenzimmers, prangt der monumentale Hintern Nicki Minajs, ein Anblick, den Kraft nur zu gut kennt, muss er doch jedes Mal, wenn er das Zimmer der Zwillinge betritt, erleben, wie von den gigantischen Backen eine hypnotische Kraft ausgeht, die fast an den stechenden Blick Rumsfelds heranreicht. Selbst seinen Töchtern war es aufgefallen, dass er Mühe hatte, den Blick abzuwenden, und sie hatten die Gelegenheit ergriffen, ihn in Verlegenheit zu stür/en. Birnenspalier, hatte er gemurmelt und war aus dem Zimmer geflohen. Birnenspalier, immerzu muss er beim Anblick des rosa Bändels, der knapp unterhalb des Steißes im wuchernden Fleisch verschwindet, an das Birnenspalier im Garten seines Großvaters denken, das sich an straff gespannten Drähten an der Hauswand emporrankte. Nur ein einziges Mal hatten sie seinen Großvater im Alten Land besucht, er und seine Mutter, und während sie sich mit ihrem Vater unterhielt, einem Mann, an dessen Gesicht sich Kraft nicht erinnern kann, wurde er nach draußen geschickt, in den schattigen Garten, wo er in seinem dünnen Anorak fror und sich in den einzigen Flecken Sonne stellte, mit dem Gesicht zur Wand, die Wärme auf seinem mageren Rücken genießend. Direkt vor seinem Gesicht hatte sich die Natur dem Zäh-mungsversuch durch den Stahldraht widersetzt; in einem 106 dicken, zweigeteilten Knoten hatte sich das knorrige Birnenholz den Draht einverleibt. Ein einzelner Tropfen Harz glänzte in dem fest verschlossenen Spalt. Straff gespannt verschwand der Draht in dieser Wucherung, ganz so wie der rosa String zwischen Nicki Minajs fleischigen Hinterbacken, in denen der dehnbare Kunstfaserbändel - Kraft war sich sicher, dass er dehnbar war, denn im Geiste hatte er prüfend daran gezupft -auf alle Zeiten eingewachsen schien. Auf der Heimfahrt war seine Mutter ungewohnt froh gewesen, fast mädchenhaft und zu Albernheiten aufgelegt. In Hamburg erstand sie ihm bei Kaufhof eine wärmere Jacke, und bei Nordsee aßen sie panierten Kabeljau mit Remoulade. Birnenspalier. Birnenspalier. Kraft lässt den Begriff wie ein beruhigendes Mantra in seinem Geist zirkulieren, damit er den breiten Kieler nicht mit seinen Fäusten traktiert, zur Strafe, dass er ihn so mir nichts, dir nichts mitten in diese intime Szene geschleppt hat, in dieses Kinderzimmer, zehntausend Kilometer entfernt, in dem weder er noch die beiden jungen Männer etwas verloren haben. Ist das live?, fragt er entgeistert. Ja, absolut, es geschehe jetzt, in diesem Augenblick, am anderen Ende der Welt. Können sie uns sehen?, will Kraft wissen. Nein, das nicht, aber wir können ihnen schreiben, und mit affenartiger Geschwindigkeit tippt er Hi Girrrls, what's up? Like your hiar! Hair!!!;)!!! in sein Telefon. Kraft hört, wie es einen Sekundenbruchteil später im Mädchenzimmer in Tübingen leise pltng macht, und sieht, wie das eine Mädchen seinen Blick in die Kamera hebt und den eben in Kalifornien getippten Satz echot, die Lippen aufwirfr und einen Kuss in seine Richtung sendet. Der Liebhaber von geschmolzenem Käse reagiert, indem er ein paarmal hektisch auf den Bildschirm tippt und damit einen Reigen bunter Herzchen erzeugt, die wie Seifenblasen über den Bildschirm tanzen. 107 Und das, so fragt Kraft fassungslos, ist also Ihre Erfindung? Nein, nein, leider nicht, bedauert der junge Mann, Periscope sei die Entwicklung zweier Kommilitonen, die die App für einige Dutzend Millionen an Twitter verkauft hätten. Es gäbe eine Handvoll ähnlicher Dienste, seine App aber, Famethrower, sei eher eine Plattform, die all diese Dienste zusammenführe und das eine große Problem löse, das allen gemein sei. Sehen Sie, sagt er, unsere beiden Tübinger Mädchen haben nur fünf Zuschauer, trotz der glänzenden Locken. Isn 't that unfair? Dabei sei doch Reichweite alles, zumindest aus der Perspektive des Senders. Für die Zuschauer hingegen sei es essenziell, die relevanten Inhalte aus den Zehntausenden von Livestreams herauszufiltern, die in jedem Moment weltweit ins Netz geschickt würden. Und seine App befriedige beide Bedürfnisse. Ein komplexer Algorithmus, sozusagen das Herzstück seines Start-ups, generiere einen Relevanzwert, indem es eine Vielzahl an Parametern auswerte. Eine Gesichtserkennungssoftware, mit Zugriff auf alle großen Bilddatenbanken, sozialen Netzwerke und Kurznachrichtendienste, erkenne im Bruchteil einer Sekunde, wer im Livestream zu sehen sei. Stünde man also zufälligerweise vor [tistin Bieber bei Starbucks in der Schlange und streame sich dabei, mit Bieber im Hintergrund, so stiege der Relevanzwert sprunghaft an, da Bieber einer der prominentesten und aktivsten Nutzer sozialer Netzwerke und Kurznachrichtendienste sei, und die Nutzer von Famethrower bekämen diesen Stream als besonders sehenswert empfohlen. Allerdings sei die Software auch in der Lage, 2127 unterschiedliche menschliche und tierische Tätigkeiten zu unterscheiden und mehrere Millionen Landmarks zu erkennen. Es spiele also nicht nur eine Rolle, wer etwas tue, sondern auch wo und was. Würde Justin Bieber in der Schlange zum Beispiel Anzeichen von Trunkenheit zu erkennen geben, würde dies die Software als relevanter einstufen als ein simples Anstellen für Kaffee. Bieber throwingup, ergänzt sein Freund, would be a real boost in terms of relevance. Kraft hat gute Lust, mit den beiden über den Begriff der Relevanz zu streiten, aber er hält sich zurück und lauscht weiter den begeisterten Ausführungen. Haarebürsten finde sich ungefähr in der Mitte der Relevanzskala, gegenseitiges Haarebürsten sogar etwas darüber, das läge daran, dass Studien gezeigt härten, dass es sich beim Haarebürsten für eine erstaunliche Anzahl Männer um einen Fetisch handle. Die Software, so wird ihm in raunendem Ton verkündet, sei lernfähig. Kl, wirft der andere ein, als verleihe dieses Kürzel allem, auf das es angewendet wird, den Nimbus einer strahlenden Zukunft. Selbständig durchforsche die Software das Netz nach den neuesten Nachrichten, den wichtigsten Hashtags und den zumeist verwendeten Suchbegriffen, so sei sie in der Lage, die Relevanz von Personen, Tätigkeiten und Orten immer wieder neu zu bewerten. Zudem lerne sie auch aus dem Nurzerverhalten, denn der Zuschauer könne mit einem schnellen Doppeltippen auf den Bildschirm Farne Stars verleihen, die den Broadcast im Ranking noch höher beförderten, oder aber, bei Nichtgefallen, sogenannte Wrinkles, die, wenn genügend Zuschauer solche abfeuern, das Bild des Livestreams alt und knittrig aussehen und in der Wertung fallen ließen. Noch sei die App im Entwicklungsstadium, aber eine Beta-Version funktioniere bereits recht zufriedenstellend. Leider sei sie noch nicht in der Lage, echte Menschen von zweidimensionalen Abbildungen zu unterscheiden, sodass der Stream der beiden Tübinger Mädchen ganz an die Spitze der Charts gelänge, da die Software das Geschehen als gegenseitiges Haarebürsten minderjähriger Mädchen, kombiniert mit einem Facesitting durch Nicki Minaj, interpretieren würde. Dies seien aber die üb- 108 109 liehen Kinderkrankheiten, die man in den nächsten Wochen noch ausmerzen werde. Ob er nicht vielleicht Interesse habe, als Beta-Tester zu wirken? Und noch bevor Kraft abwehren kann, wird er aufgefordert, mit seinem eigenen Telefon einen QR-Code auf dem Bildschirm des Jünglings zu fotografieren. Kraft, dem plötzlich der Schädel schmerzt, tut, wie ihm geheißen, drückt auch brav auf aeeept und sieht dabei zu, wie sich die Beta-Version von Famethrower zusammen mit einem halben Dutzend Live-Stream-Apps auf seinem neuen iPhone installiert. Auf dem Heimweg, inmitten dieser jungen Menschen, schämt er sich für das Blucbad, das er zuvor imaginiert hat, so zart, so verletzlich erscheinen ihm plötzlich diese makellosen Körper; und so unendlich behütenswert. Er will sie alle vor allem bewahren. Mit den Händen eine schützende Schale bilden, in der er sie, wie aus dem Nest gefallene Rotkehlchen oder seinetwegen auch Purpurgimpel, in Sicherheit trägt. Woher dieser plötzliche Anfall von Zärtlichkeit? Wir tun ihm sicherlich nicht unrecht, wenn wir annehmen, dass seine Sorge eigentlich nicht den radelnden Stanford-Studentinnen und Studenten gilt, sondern vielmehr seinen Töchtern in Tübingen, deren Verletzlichkeit ihm soeben auf eine ebenso konkrete wie auch diffuse Weise demonstriert worden ist, aber weil er weiß, oder besser, sich zu wissen weigert, dass die Sorge um seine Töchter nur eine billige Regung seines Gemüts ist, solange er hier um diesen Preis kämpft, der ihn seiner väterlichen Pflichten entledigen soll - und dies auch noch durch die vulgäre Kraft des Monetären -, widmet er seine Sorge lieber diesen ihm völlig fremden Teenagern. Denken Sie jetzt nicht an Mädchenfüße! Aber lieber Kraft, möchte man ihm zurufen, siehst du denn nicht, dass genau hier sich ein Zipfel des rettenden Gedankens zeigt, an dem du nur zu ziehen brauchst? Wer soll es dir denn übel nehmen, wenn du in der Sorge um deine Töchter den Grund erkennst, weshalb es dir nicht gelingen will, die Frage nach dem Übel in gewohnt brillanter Manier zu beantworten. Du willst im Grunde genommen diesen Preis gar nicht gewinnen, weil es falsch wäre. So ist es doch, nicht wahr? Komm, Kraft, dies ist dein Strohhalm; greife danach! Nein, so leicht zieht sich Kraft nicht selbst über den Tisch. Weil er weiß, dass es so einfach nicht ist. Nie ist es einfach, nie, und nichts!, dringt es wie ein ferner Ruf zu ihm. Das hatte er früh erfahren müssen. Zum Beispiel, als von der heiteren Unbeschwertheit seiner Mutter am Tag nach dem Besuch beim Großvater nichts mehr übrig war und sie mit ihm einen Streit vom Zaun brach, über eine Nichtigkeit, vielleicht seine Schuhe, die er in der schmalen Diele hatte liegen lassen. So lange drangsalierte sie den kleinen Richard, bis er zu weinen begann, und noch länger, bis er tobte ob der Ungerechtigkeit, die ihm widerfuhr, und als er zu toben begann, nahm sie die neue Jacke und brachte sie zur Strafe zurück in den Kaufhof. Ja, da schwante ihm ein erstes Mal, dass die Dinge nie einfach waren. Nichts und nie! Und dass er mit dieser Einschätzung richtig zu liegen schien, bestätigte sich mit jeder gelesenen Zeile, als er in der Stadtbibliothek zu ergründen versuchte, weshalb da einer für seinen Vater kniete, der eigentlich gar nicht zu knien brauchte. Deswegen erscaunte es ihn nicht, dass sich auch die Sache mit der Freiheit als schwierig herausstellte. Kraft und Pdnczel argumentierten unter Aufbietung ihrer vereinten intellektuellen Kräfte für die Freiheit und stießen bei ihren Kommilitonen doch nur auf Unverständnis, was ganz einfach daran lag, dass sich alle schon sehr frei fühlten; außer Kraft und Istvän, die in ihrem Furor recht unfrei wirkten. Allerdings, das war recht offensichtlich, befanden sie sich mit ihrem Kampf in einer schwierigen Lage - in West-Berlin... an der iio in Freien Universität... zu Beginn der Achtziger. Sie waren wie die Eisschrankverkäufer in Grönland. Weshalb also, da er doch, anders als Istvän, der diese Zusammenhänge nicht zu sehen schien, verstanden hatte, entspannte er sich nicht einfach und genoss die Freiheit? Weil das nicht mehr ging. Er war ein Sehender, er hatte die Natur der Dinge in ihrer unauflöslichen Komplexität geschaut, aber sein Schauen war nicht von jener Art, welches ihm erlaubt hätte, sich in das priesterliche Gewand der Seelenfrieden versprechenden Reinheit und Eindeutigkeit zu kleiden, ganz im Gegenteil, er hatte begriffen, dass es außerhalb der Geschichte nichts gab, dass nichts und vor allem niemand eine unveränderliche Natur besaß. Er wusste, dass nichts einfach war, nie. Er war für alle Zeiten verloren. Das konnte er doch nicht einfach negieren. Das würde bedeuten, sein Wissen vorsätzlich aufzugeben, und dies war ihm ein so ganz und gar unmöglicher Akt, dass er nur von Neuem ins Elend führen musste, denn das Wissen war unter diesen Umständen das Einzige, was ihm geblieben war. Er wusste längst, dass es für ihn kein Entrinnen gab, aber er hatte früh eine Taktik entwickelt - solange man über die Dinge sprach, hatte man noch eine Chance. Solange man mit dem Beschreiben zu Gange war, solange man seine Gedanken noch entwickelte, solange man noch Argumente dafür und dawider ins Feld führte, solange man am Deduzieren blieb und sich nicht darum kümmern musste, dass die Prämissen bei näherer Betrachtung doch nicht so klar waren, so lange waren die Dinge noch nicht fertig, noch nicht zu ihrem unvermeidlichen, letztlich immer unerklärlichen und unerträglich widersprüchlichen und vagen Ende gekommen. Deswegen redete Kraft, deswegen argumentierte er unablässig, widersprach immer und suchte nach einer noch präziseren Beschreibung; deswegen war der junge Kraft - und, wir müs- sen es eingestehen, manchmal auch der alte - ein Schwafler. Solange man redete, blieben die Dinge einfach - weshalb nur schien das keiner zu begreifen, außer ihm selbst? Es war jener Exzeptionalismus, der dazu beitrug, dass sich zwischen Kraft und Pänczel in den Monaten nach dem Bonner Kanzlersturz, als sich auch noch die Enttäuschung über die verpuffte Wende einzustellen begann, eine gewisse Entfremdung bemerkbar machte. Es war einfach nicht mehr die ganz große, bedingungslose Liebe, die damals Schlüri, als fünftes Rad am Wagen, schier in den Wahnsinn und zu guter Letzt aus der Grunewaldstraße getrieben hatte. Nach wie vor standen sie Seite an Seite in ihrem gemeinsamen Kampf für Freiheit und gegen den starken Staat, für atomare Abschreckung, niedrige Steuern, Eigenverantwortung, Invesri-tionsanreize und Privatisierungen, aber sie erlegten sich eine Arbeitsteilung auf. Istvdn spezialisierte sich auf sicherheitspolitische Fragen und strategische Studien, insbesondere nuklearer Art, also auf jenen Wissenschaftszweig, den er selbst, dramatisch mit dem gesunden Auge rollend, als Stnmgrfovuin Sciences bezeichnete, ein kleiner ironischer Scherz, wie er fand, ohne zu bemerken, dass er damit seine Kommilitonen, für die er ja kein Unbekannter war, schier aus dem Gleichgewicht ihres Schreckens brachte. Istvän wurde also zu einem Vertreter jener seltsamen Spezies, die sich selbst, zur Abgrenzung gegenüber den tumben Generälen, denen spasmisch der Zeigefinger über dem Roten Knopf zuckte, als Verteidigungsintellektuelle bezeichneten, und unterstellte damit sein Denken ganz der Rationalität des Kalten Krieges, die sich in einigen wesentlichen Merkmalen von allen Rationalitäten unterschied, denen sich die Menschheit bis dato verpflichtet hatte, nämlich in erster Linie dann, dass es nun ausgesprochen vernünftig war, jederzeit mit der vollständigen und endgültigen Vernichtung der Menschheit zu rechnen, sozusagen mit dem ultimum ma-lum, und deswegen auch die Rede von der ultima ratio auf eine erschreckende Art und Weise alltäglich wurde, sodass sich die Experten auf diesem Gebiet, zu denen Istvan nun gehörte, immer wieder ins Bewusstsein rufen mussten, dass es einen fundamentalen, ja nachgerade transzendenten Unterschied gab zwischen jener ultima ratio der Könige, die Kardinal Richelieu im Dreißigjährigen Krieg als Inschrift auf die Kanonenrohre hatte gießen lassen, und der Verfügungsgewalt einer Handvoll Staats- und Parteichefs über ihre atomaren Arsenale. Aber da dieses ultimative Übel, das durch die Entscheidung eines einzelnen Menschen über die gesamte Spezies gebracht werden konnte, nun einmal da war und ausgerechnet mit Hilfe der Naturwissenschaften das Licht der Welt erblickt hatte, gab man sich überzeugt, es lasse sich mit den Erkenntnismethoden ebenjener Naturwissenschaften auch unter Kontrolle halten, weshalb man sich bemühte, das strategische Denken formal und unabhängig von Person und Kontext zu halten, sich also auf Algorithmen zu verlassen, die wie ein Set von strengen Regeln wirkten und auf eine notwendige Lösung hinausliefen; kulturelle und historische Bezüge mit all ihren Absonderlichkeiten wurden dabei möglichst außen vor gelassen, und die größten Optimisten unter den Verteidigungsintellektuellen hofften, die Regeln ließen sich mechanisch anwenden und damit die Entscheidungen den Computern überlassen. So also war Istvan überzeugt, dass es diese Rationalität war, die den Sieg über die Vernunft davontragen und damit den Frieden garantieren würde, und er traktierte seine Mit-studenten und vorzugsweise Mitstudentinnen mit der Pene-tranz eines Propheten mit seinem ihm reichlich und ausgesprochen detailliert zur Verfügung stehenden Wissen, stellte spieltheoretische Überlegungen an, schwadronierte von Erstund Zweitschlagskapazitäten, von Nash-Gleichgewicht und nuklearer Triade, wog dabei Megatonnen gegen Megatote auf und sprach leichterhand Unsagbares aus, bis der Gegenseite als letztes rettendes Argument nur noch ein gebrülltes Petting statt Pershing übrig blieb, ein Argument, das Istvan in der Regel damit konterte, dass er nicht ganz verstehe, was denn eigentlich gegen Petting UND Pershing spreche, und abgesehen davon sei er im Hett eine wahre Langstreckenrakete und bei Bedarf gerne bereit, dies unter Beweis zu stellen. Kraft, der mehrmals Zeuge solcher Szenen wurde, fürchtete jedes Mal um Istväns zweites Auge. Er selbst widmete sich ganz der Rede über die angebotsorientierte Wirtschaftspolitik und erklärte jedem, der es hören wollte - oder auch nicht -, wie das scharfe Besteck der Investitionsanreize - Deregulierungen, Privatisierungen und Steuersenkungen - am besten zu handhaben sei. Eine angelsächsische Rosskur, direkt aus Margaret Thatchers Handtasche, die sich eine Nation selbstredend nur leisten konnte, wenn man die Staatsquote tief hielt und also den Sozialstaat mit der großen Sense beschnitt. Laissez-faire, Laissez-faire... beliebte Krafr weltmännisch zu sagen und kam sich dabei recht rebellisch vor. Im Grunde seines Herzens, so sagte er sich, war er ja ein Anarchist, ein Punk, aber hygienischer und mit besserem Geschmack und guten Manieren... Blödsinn, das wusste er selbst; so einfach war es nicht, nichts, und zudem machte ihm die Reputation, ein kaltes Herz unter seiner makellos gebügelten Hemdbrust zu tragen, die er sich seiner Ansichten wegen eingehandelt hatte, zu schaffen, fand er es nun doch mittletweile nicht mehr so attraktiv, unter den vielversprechenden Studenten aufgrund seiner Verschrobenheit als der Vielversprechendste zu gelten, weil er inzwischen begriffen hatte, dass ihn das nur für eine ganz kleine Gruppe ii4 von Frauen, die ihm dann aber selbst zu verschroben waren, attraktiv erscheinen ließ, und dahingehend harte er seit der Zurückweisung durch Ruth Lambsdorff eine eitle Gefallsucht entwickelt, die ihn nun dazu veranlasste, ohne Unterlass, Reagans blutjungen Budgetdirekror als Gewährsmann nennend, von der Trickle-Down-Theorie zu schwärmen, die ja im Grunde genommen synonym zur angebotsorientierten Wirtschaftspolitik zu verstehen sei und doch beweise, dass der Wohlstand, wenn er denn mit der Gießkanne reichlich über den Leistungsträgern ausgeschüttet werde, eben auch zu den weniger Begüterten durchsickere und so im Endeffekt dafür sorge, dass es allen besser gehe, womit zugleich auch bewiesen sei, dass der Vorwurf der Kaltherzigkeit den Markt-liberalismus ganz zu Unrecht treffe, zeige dies doch, dass es sich dabei im Kern eigentlich um ein zutiefst soziales Projekt handle. Seit den Tagen Adam Smiths sei dieser famose Mechanismus bekannt, und es falle ihm schwer zu begreifen, warum so viele nicht verstehen wollten, trotz der physikalisch-schlichten Schönheit der Metapher und ihrer alltäglichen Anschaulichkeit, die sich doch jeden Morgen von Neuem unter Beweis stelle, wenn sich das Wasser aus der Brause, vom Haupthaar hinunter, dem Körper entlang seinen Weg suche und sich reichlich um die Zehen sammle. Vielleicht hätte Kraft die scheinbare Begriffsstutzigkeit seiner Gesprächspartner besser verstanden, hätte er sich dazu herabgelassen, das Werk des linksliberalen, nachfrageorientierten Ökonomen J. K. Galbraith zu lesen, der zu erzählen wusste, dass zu seiner Jugendzeit die Theorie des Trickle Uown als Pferdescheiße-Theorie bekannt war: Stopfe man genug Hafer in ein Pferd, so falle hinten irgendwann auch etwas aufs Pflaster, an dem sich die Spatzen gütlich tun könnten. Aber so etwas las Kraft nicht, und deswegen sang er in den höchsten Tönen sein Lied vom Wohlstand, der aus dem siebten Himmel der freien Märkte wie ein warmer tropischer Regen auf alle niedergehen werde, dass er alsbald an der Freien Universität unter dem Spottnamen der Regenmacher bekannt war, was wiederum, wir werden es verstehen, seiner Gefallsucht zuwiderlief; es war nicht einfach ... nichts... nein, das war es nicht. 116 117