Brod, Max * 27. 5. 1884 Prag, † 20. 12. 1968 Tel Aviv; Grabstätte: ebd., Alter Friedhof in der Trumpeldor Street. - Romancier u. Kulturphilosoph. Der Sohn einer seit 300 Jahren in Prag ansässigen jüd. Mittelstandsfamilie verlebte seine Kinder- u. Jugendjahre im Schatten einer schweren Kyphose, deren Überwindung entscheidend auf die Charakterentwicklung B. s einwirkte; die Überzeugung, daß es des Menschen Aufgabe sei, Leid u. Unglück zu bekämpfen, wurzelt in dieser frühen Erfahrung. B. besuchte die Piaristen-Volksschule, dann das Stefan-Gymnasium, studierte an der dt. Universität in Prag Jura u. promovierte 1907. 1907-1924 war B. bei der Postdirektion in Prag beamtet, seit 1924 Kulturreferent im Ministerratspräsidium der CSR, 1929-1939 Literaturu. Musikkritiker des »Prager-Tagblatts«, Mitbegründer des jüd. Nationalrats in der CSR, dann als dessen Vizepräsident bes. um die Errichtung hebräischer Schulen bemüht. In der Nacht zum 15. 3. 1939 verließ B. mit seiner Frau Prag u. »betrachtete von da ab (sein) weiteres Leben als reines Geschenk«. Seit 1939 lebte B. in Israel. Er wurde Dramaturg der »Habimah« in Tel Aviv u. war als Musik- u. Theaterkritiker tätig. Die dichterischen Anfänge B.s wurden maßgebend von Schopenhauer beeinflußt; diese Periode des »Indifferentismus« (1906/07), in der zwei Novellenbände entstanden, war mit Schloß Nornepygge (Bln. 1908), dem wahrscheinlich ersten expressionistischen Roman, beendet. Der von B. später abgelehnte Roman bedeutete für Kurt Hiller u. seinen Kreis »stärkstes, wesentlichstes, heiliges Erlebnis« u. begründete B.s Namen in der literar. deutschsprachigen Welt. Martin Bubers Vorträge im Prag der Jahre 1909/10 u. die Begegnung mit ihm führten B. zu tieferem Verständnis des Judentums u. zu seiner Entscheidung für den Zionismus. Das Kennenlernen ostjüd. Flüchtlinge u. das Studium jüd. Schriften bestärkten sein jüd. Volks- u. Identitätsbewußtsein, das auch Anlaß verschiedener Kontroversen, z.B. mit Franz Werfel, wurde. Die Bedeutung der Tat im Judentum u. die daraus resultierende ethische Verpflichtung des Menschen bildet fortan den Kern von B.s Werk; das Streben nach »Verwirklichung« als ethisches Postulat, das die Durchsetzung eines ethischen Effekts in der Realität bedeutet, bestimmt das Darstellungsziel seiner Lyrik, Prosa u. Dramen der folgenden Schaffensepochen; es bleibt auch das Movens der unermüdl. Tätigkeit B.s als Entdecker u. Förderer neuer Talente; um nur die drei bedeutendsten zu nennen: Werfel, den er durch Vorlesung seiner Lyrik 1911 in Berlin bekannt machte, Jaroslav Hašek, den er bereits 1921 als Humoristen »allergrößten Formats« pries u. dessen Abenteuer des braven Soldaten Schwejk im Weltkriege er übersetzte, dramatisierte u. zu Weltruhm brachte, u. Leoš Janacek, den er durch seine Libretti-Übertragungen u. begeisterte Kritik für das Ausland entdeckte. Die als sittl. Prinzip erfaßte verwirklichende Tat, in der für B. der immanente Sinn des menschl. Lebens liegt, wird zum ersten Mal in der Überwindung selbstbezogener Triebe in Tycho Brahes Weg zu Gott (Lpz. 1915) dichterisch gestaltet; dieser Roman, mit dem B. berühmt wurde, eröffnete den Zyklus der histor. Romane, der mit Johannes Reuchlin und sein Kampf (Stgt. 1966) abgeschlossen wurde. Jeder der sechs Romane ist im wesentlichen die Schilderung eines Kampfes um die Wahrheit, in der sich die ethische Entscheidung des Protagonisten spiegelt. In dem Bekenntnisbuch Heidentum Christentum Judentum (Lpz. 1921), das B.s Bedeutung als Neuerwecker jüd. Gedankenguts offenbart, legte B. seine religionsphilosophische Auffassung dar, die er in seinen belletrist. u. histor. Romanen u. Essays abstrahierte u. erweiterte, an der er bis zu den beiden letzten kulturpolit. Werken Diesseits und Jenseits (Winterthur 1947/48) u. Das Unverlierbare (Stgt. 1968) festhielt: In der Beherrschung oder Überwindung des kausalen Zusammenhangs zwischen Sünde u. Tat liege die Bewährungsprobe des Menschen, die er mit Hilfe des Willens bestehen könne. Die Frage nach der Notwendigkeit u. dem Zweck der Sünde in der Weltschöpfung wird in dem histor. Roman Reubeni, Fürst der Juden (Lpz. 1925) erhoben, gestaltet als Versuch Reubenis, sich der Sünde als Mittel zur Erreichung eines edlen Zwecks zu bedienen. In seinem Bekenntnisbuch von 1921 erläutert er auch die These vom »edlen u. unedlen Unglück«: das erstere, unabwendbare Unglück entstamme der Endlichkeit des Menschen, das unedle hingegen sei menschl. Ursprungs u. ihm abzuhelfen ein Teil der Bestimmung des Menschen. Ausschlaggebend für diese Unterscheidung ist der Diesseitsbegriff in der jüd. Religion, u. verbunden damit sind die drei Ebenen des Willens; die Konzeption der »Wahlfreiheit« - auf der zweiten Ebene -, die Spannweite dieser Willensfreiheit u. die Pflicht des Menschen, die Willenskraft zum Guten für sich u. die Welt zu lenken, war das nie beendete Diskussionsthema zwischen B. u. Kafka. B. lernte Kafka 1902 kennen; nach der ersten Vorlesung unter vier Augen erkannte B. die überragende literar. Begabung des Freundes; die seelische u. geistige Unterstützung, die Kafka aus der Anerkennung u. dem Lob B.s erwuchs, ist kaum zu überschätzen. Kafka wußte, daß B.s Freundschaft, »die er für mich fühlt, im Menschlichsten, noch weit unter dem Beginn der Literatur, ihre Wurzeln hat [...]« (Brief an Felice Bauer, 14./15. 2. 1913). u. er gibt zu, »daß ich zu Maxens Arbeiten nicht anders stehe als er zu den meinen [...]«. Bei B.s Kafka-Interpretation ist einzubeziehen, daß sie auf der nahen Kenntnis der Person Kafkas, auf dem Mienenspiel u. dem Tonfall Kafkas bei seinen Vorlesungen u. Bemerkungen zu dem Geschriebenen gründet. »Ich schreibe anders als ich rede, ich rede anders als ich denke [...]«, sagt Kafka (Brief an seine Schwester Ottla, 10. 7. 1914). B. kannte den schreibenden, redenden u., soweit dies möglich war, den denkenden Kafka u. erfaßte dessen Werk als die Spiegelung einer mit höchster Sensibilität erfühlten vielschichtigen Wirklichkeit, in der sein Anteil an der für die »Anderen« geltenden Hoffnung durch seine Willensschwäche u. sein Versagen, seinen»Verpflichtungen« gerecht zu werden, zusammengeschrumpft ist. So verstand B. auch die letztwillige Verfügung Kafkas an ihn, alle seine Manuskripte zu verbrennen, als eine der schwierigen Entscheidungsforderungen, die in Kafkas Werk u. Leben von zentraler Bedeutung waren: unbeirrt von äußeren Umständen das »Richtige« zu tun, widersetzte er sich der testamentarischen Verfügung des Freundes Das ambivalente Nebeneinander von Konzeptionen, das Ungleichwertige seiner Werke u. das Dualistische mancher Beweisführungen B.s erweisen sich aus dem Gesamtwerk als didaktische Klärungsverfahren einer kompromißlosen Zielstrebigkeit um das Erreichen der sittl. Wahrheit, die zu verdeutlichen B. als eine ihm auferlegte Pflicht bestrebt war. & WEITERE WERKE: Tod den Toten. Bln. 1906 (N.n). - Experimente. Bln. 1907 (N.n). - Ein tschech. Dienstmädchen. Bln. 1909 (R.). - Tgb. in Versen. Bln. 1910 (L.). - Jüdinnen. Bln. 1911 (R.). - Arnold Beer. Bln. 1912 (R.). – Anschauung u. Begriff (zus. mit Felix Weltsch). Lpz. 1913 (Ess.s). - Über die Schönheit häßl. Bilder. Lpz. 1913 (Ess.s). - Die erste Stunde nach dem Tod. Lpz. 1916 (N.). - Eine Königin Ester. Lpz. 1918 (D.). - Das große Wagnis. Lpz. 1918 (R.). - Sozialismus im Zionismus. Wien 1920 (Ess.s). - Im Kampf um das Judentum. Wien 1920 (Ess.s). - Sternenhimmel. Lpz. 1923 (Ess.s). - Zionismus als Weltanschauung (zus. mit Felix Weltsch). Mährisch-Ostrau 1925 (Ess.s). - Stefan Rott, oder das Jahr der Entscheidung. Wien 1931 (R.). - Die Frau, die nicht enttäuscht. Amsterd. 1933 (R.). - Heinrich Heine. Amsterd. 1934 (Biogr.). - Rassentheorie u. Judentum. Wien 1936 (Ess.). - Franz Kafka. Prag 1937 (Biogr.). - Das Diesseitswunder. Tel Aviv 1939 (Ess.). - Galilei in Gefangenschaft. Winterthur 1948 (R.). - Unambo. Zürich 1949 (R.). - Der Meister. Bln. 1951 (R.). - Briefw. mit Janacek. Prag 1953. - Armer Cicero. Zürich 1955 (R.). - Streitbares Leben. Mchn. 1960 (Autobiogr.). - Der Prager Kreis. Stgt. 1966 (Autobiogr.). - Gesang einer Giftschlange. Mchn. 1966 (L.). - Über Franz Kafka. Ffm. 1966. - Übersetzungen aus dem Tschechischen: Der Volkskönig. Von Anton Dvorak. Lpz. 1914. - Glorius, der Wunderkomödiant. Von Vilem Werner. Wien 1932. - Herausgeber: Arcadia, ein Jb. der Dichtkunst. Lpz. 1913. - Herausgeber der Werke Franz Kafkas: Der Prozeß. Nachw. v. M. B. Bln. 1925. - Das Schloß. Nachw. v. M. B. Mchn. 1926. - Amerika. Nachw. v. M. B. Mchn. 1927. - Beim Bau der Chines. Mauer. Ungedr. Erzählungen u. Prosa aus dem Nachl. Hg. M. B. u. Hans Joachim Schoeps. Bln. 1931. - Ges. Schr.en. Hg. M. B. u. Heinz Politzer. 6 Bde., Bln. (Bde. 5 u. 6, Prag) 1935-37. - Ein Brief an den Vater. In: Der Monat 1, 1948/49. & LITERATUR: Felix Weltsch (Hg.): Dichter, Denker, Helfer. M. B. zum 50. Geburtstag. Mährisch-Ostrau 1934. - Ernst F. Taussig (Hg.): Ein Kampf um Wahrheit. M. B. zum 65. Geburtstag. Tel Aviv 1949. - Hugo Gold (Hg.): M. B. Ein Gedenkbuch. 1884-1968. Tel Aviv 1969. - Bernd Wilhelm Wessling: M. B. Ein Portrait. Stgt. 1969. - Margarita Pazi: M. B., Werk u. Persönlichkeit. Bonn 1970. - Yehuda Walter Cohen: M. B. Die Musik Israels. Kassel 1976. - Margarita Pazi (Hg.): M. B., 1884-1984, Untersuchungen zu M. B.s literar. u. philosoph. Schr.en. New York 1987. Margarita Pazi