9 Es muß 1940 gewesen sein, ich war acht oder neun Jahre alt, im Kino um die Ecke wurde »Schneewittchen« gespielt. Der berühmte Walt Disney-Film läuft noch heute alle Jubeljahre mal in Amerikas großen Kinos, und wenn er auf dem Programm steht, ist es ein Volksfest für kleine wie für erwachsene Disneyfans. Ich bin seit meinem ersten Micky-Maus-Film, den ich noch vor dem Anschluß mit dem Kindermädel in einer Nachmittagsvorstellung innigst genoß, sehr gern ins Kino gegangen, und so wollte ich auch diesen Film unbedingt sehen, durfte aber als Jüdin leider nicht hinein. Darüber klagte und schimpfte ich abwechselnd, bis meine Mutter vorschlug, daß ich doch einfach gehen sollte und basta. Es war Sonntag, wir waren in der Nachbarschaft bekannt, hier ins Kino zu gehen, war eine Herausforderung. Meine Mutter war der Überzeugung, daß niemand sich darum kümmern würde, ob ein Kind mehr oder weniger im Saal säße, und gab mir zu verstehen, daß ich mich einerseits zu wichtig nehme, andererseits beschämend feig sei. Das konnte ich nicht auf mir sitzen lassen, zog also drauflos, wählte die teuerste Platzkategorie, eine Loge, um nicht aufzufallen, und kam gerade dadurch neben die neunzehnjährige Bäckers- 46 im liter von nebenan und ihre kleinen Geschwister zu sitzen, eine begeisterte Nazifamilie. Ich hab diese Vorstellung ausgeschwitzt und hab nie vorher oder nachher so wenig von einem Film mitbekommen. Ich saß auf Kohlen, vollauf mit der Frage beschäftigt, ob die Bäckerstochter wirklich böse zu mir hinschielte, oder ob es mir doch nur so vorkäme. Die Niederträchtigkeiten von Schneewittchens Stiefmutter verschwammen mir auf der Leinwand zu einem vorgekauten Brei unechter Schlechtigkeit, während ich und keine Prinzessin im wahren, triefenden Fettnäpfchen saß, umzingelt. Warum bin ich nicht aufgestanden und weggegangen? Vielleicht, um mich meiner Mutter nicht zu stellen oder weil ich meinte, gerade durchs Aufstehen und Weggehen Aufmerksamkeit zu erregen, vielleicht nur, weil man nicht aus dem Kino geht, bevor der Film aus ist, oder am wahrscheinlichsten, weil ich vor Angst nicht denken konnte. Ich weiß ja nicht einmal, warum wir alle nicht rechtzeitig aus Wien weg sind, und vielleicht gibt es eine Familienverwandtschaft zwischen dieser Frage und meinem Kinoproblem. Als es im Saal hell wurde, wollte ich die anderen vorgehen lassen, aber meine Feindin stand und wartete. Ihre kleinen Geschwister wurden ungeduldig, die Große sagte »Nein, seid's stad« und sah mich streng an. Die Falle war, wie gefürchtet, zugeschnappt. Es war der reine Terror. Die Bäckerstochter zog noch ihre Handschuhe an^ pflanzte sich endlich vor mir auf, und das Ungewitter entludsMw^ Sie redete fest und selbstgerecht, im Vollgefühl ihrer arischen Herkunft, wie es sich für ein BDM-Mädel schickte, und noch dazu in ihrem feinsten Hochdeutsch: »Weißt du, daß deinesgleichen hier nichts zu suchen hat? Juden ist der Eintritt ins Kino gesetzlich untersagt. Draußen steht's beim Eingang an der Kasse. Hast du das gesehen?« Was blieb mir übrig, als die rhetorische Frage zu bejahen? Das Märchen vom Schneewittchen läßt sich auf die Frage reduzieren, wer im Königsschloß etwas zu suchen hat und wer nicht. Die Bäckerstochter und ich folgten der vom Film 47 vorgegebenen Formel. Sie, im eigenen Hause, den Spiegel ihrer rassischen Reinheit vor Augen, ich, auch an diesem Ort beheimatet, aber ohne Erlaubnis, und in diesem Augenblick ausgestoßen, erniedrigt und preisgegeben. Ich hatte mich unter Vorspiegelungen falscher Tatsachen hier eingeschlichen, den Nazivers bestätigend: »Und der Jud hat den Brauch, / Und es bringt ihm was ein, / Schmeißt man vorne ihn raus, / Kehrt er hinten wieder rein.« Wenn ich auch das Gesetz, das ich verletzt hatte, für ungerecht hielt, so war ich doch beschämt, ertappt worden zu sein. Denn die Scham entsteht einfach dadurch, daß man einer verbotenen Tat überführt wird, und hat oft mit schlechtem Gewissen gar nichts zu tun. Wäre ich nicht erwischt worden, so wäre ich auf meine Waghalsigkeit stolz gewesen. So aber war es umgekehrt: Man sieht sich im Spiegel boshafter Augen, und man entgeht dem Bild nicht, denn die Verzerrung fällt zurück auf die eigenen Augen, bis man ihr glaubt und sich selbst für verunstaltet hält. Das hat W B. Yeats, Irlands größter Lyriker, in Versen geschrieben, und hätte ich die Zeilen über den »mir-ror of malicious eyes« nicht erst zehn Jahre später auswendig gelernt, so wäre mir vielleicht wohler gewesen. Es ging dann doch schneller vorbei als erwartet, für mich immer noch lang genug. Der Vertreterin unanfechtbarer Gesetzlichkeiten fiel nicht mehr viel ein. Wenn ich mich noch ein einziges Mal unterstehen tat, hierher zu kommen, so würde sie mich anzeigen, ich hätt ja noch ein Glück, daß sie's nicht gleich täte. Ich stand mit weit aufgerissenen Augen, einigermaßen erfolgreich meine Tränen schluckend. Die Platzanweiserin, die zugehört hatte, denn wir waren die letzten im Saal, half mir nachher in den Mantel, drückte mir meine Geldbörse, die ich sonst liegen gelassen hätte, in die Hand und sagte ein paar beruhigende Worte. Ich nickte, unfähig zur Gegenrede, dankbar für den Zuspruch, eine Art Almosen. Es war noch hell, ich lief ein wenig durch die Straßen, wie betäubt. Ich hatte an diesem Nachmittag für meine Person, in meinem Bereich und ganz unmittelbar erfahren, wie es 48 mit uns und den Nazis stand. Daß der Schrecken in diesem Fall nicht ganz gerechtfertigt war, änderte nichts an der Tatsache, daß ich es nun wußte. Ich hatte das Gefühl gehabt, in tödlicher Gefahr zu schweben, und dieses Gefühl verließ mich nicht mehr, bis es sich bewahrheitete. Ohne es richtig durchdenken zu müssen, war ich von jetzt an den Erwachsenen voraus. Ich kam weinend und wütend nach Hause, empört über meine Mutter und fand diesmal ausnahmsweise Unterstützung bei Tante Rosa. Meine Mutter zuckte die Achseln. »Wem fällt so was schon ein? Ein Kind bei einem Märchenfilm zu belästigen.« Und zu mir: »Reg dich nicht auf über die blöde Schikse. Es gibt Ärgeres.« Aber das war es ja gerade. War das nicht schon das Arge? Ich war ja fast angezeigt worden. Wo fing das Ärgere an? Wie sollte ich denn wissen, was ernst war und was nicht? Meine Mutter hatte gut reden, sie wußte vermutlich, wo man ertrinkt und wo man sich noch gerade über Wasser hält. Ich aber kannte mich nicht aus und wollte die Welt erklärt haben. Was war das Ärgste, konnte es letzten Endes etwas anderes als der Tod sein? Kein Mensch informierte einen. Warum nahm man meine Erfahrungen nicht ernst, warum war man nicht deutlicher? Daß meine Erwachsenen selbst nicht ein noch aus wußten und daß ich schneller lernte als sie, begriff ich natürlich nicht, oder war erst im Begriffes zu begreifen. Ich gewann den Eindruck, daß von meiner Mutter hauptsächlich schlechte Ratschläge zu erwarten seien. Dieser Eindruck war falsch. Wie andere Menschen erteilt meine Mutter abwechselnd schlechte und gute Ratschläge. Manchmal steckt Verfolgungswahn, manchmal Vernunft und exakte Information, manchmal Wohlwollen, manchmal Mißgunst dahinter, meistens jedoch ein undifferenzierter Instinkt, Gemisch aus unausgewogenen Lebenserfahrungen aller Art, eine trübe, brodelnde Suppe von Gedanken und Gefühlen. Mein mangelndes Vertrauen zu ihr, das mit diesem mißlungenen Kinobesuch anfing, hätte mich zwei, drei Jahre später, als sie wieder einmal recht hatte, fast das Leben gekostet. 49 IO Die Erinnerung spült zurück. Die meisten von uns, die den Judenstern getragen haben, meinen, sie hätten ihn schon viel früher tragen müssen. Auch ich irre mich da, muß nachschlagen. Das kommt daher, daß die Ausgrenzung von Juden eben schon vor September 1941 im vollen Gang war. Ich kann nicht sagen, daß ich ihn ungern getragen habe, den Judenstern. Unter den Umständen schien er angebracht. Wenn schon, denn schon. Wir mußten die Dinger kaufen, und zwar bei der Jüdischen Kultusgemeinde, die das Geld natürlich nicht behalten durfte, sondern den Handel für das Reich vermittelte. Die Nazis haben sich für alles bezahlen lassen, und dieser kommerzielle Zynismus steht in enger Verbindung mit den Untugenden, die sie den Juden nachsagten. Wo ein unsauberer Profit zu machen war, und sei er auch noch so kleinlich, wie die 10 Pfennige pro Judenstern, haben die Nazis einkassiert. Meine Mutter schätzte, zehn Stück würden reichen, kam damit nach Hause und hat sie vor meinen neugierigen Augen angenäht, an die Kleidungsstücke, die man auf der Straße trägt, Mäntel, Jacken. Schnell hat sie die gelben Flecken angeheftet, mit dem verächtlichen Gesichtsausdruck, den ich bewunderte und mir zu eigen machen wollte, wenn er gegen unsere Feinde gerichtet war, und der mich zur Verzweiflung trieb, wenn er sich auf meine Freunde oder die Dinge, die ich schön fand, wie den Schillerschen Blankvers, bezog. Man war nicht sicher, wie die Bevölkerung auf die neue Verordnung reagieren würde, und so verließen wir am ersten Tag zusammen das Haus. Uberall trafen wir Leute, die auch den Stern trugen. Ein neues Straßenbild. Eine Jüdin sagte schnell im Vorbeigehen zu meiner Mutter: »Er paßt zu Ihrer Bluse.« Ich fand das mutig und witzig, meine Mutter war weniger beeindruckt. Einmal, als wir schon den Judenstern trugen, aber noch 50 die öffentlichen Verkehrsmittel, wenn auch nicht die Sitzplätze, benutzen durften, tappte jemand in der Stadtbahn im Tunnel nach meiner Hand. Mein erster Gedanke war, ein Mann, der mich belästigen will, mein zweiter, ein Taschendieb. Ich hielt also meine Tasche fest. Aber nein, dieser Mann drückte mir etwas in die Hand, ein Geschenk. Offensichtlich wollte er so sein Mitleid mit mir bekunden, dem Kind mit dem Judenstern. Ich verstand das sofort. Juden zu beschenken, war aber verboten, darum hatte er s im Tunnel getan. In der Zeitung hatte ich erst neulich eine Bildserie mit Versen, ä la Wilhelm Busch, über eine Judenfreundin, und daher Volksfeindin, gelesen. Für Rebekka Rosenstengel, Bei der sie in Schulden steckt, Schafft Frau Knöterich, dieser »Engel«, Schokolade und Konfekt. Ich kann, wie gesagt, nichtVimhin, mir alles Gereimte zu merken. Das Geschenk war 4ine Orange. Als der Zug aus dem Tunnel herausfuhr, hatte ich sie schon in die Tasche gesteckt und sah dankbar zu dem Fremden auf, wie er wohlwollend auf mich herunterschaute. Meine Gefühle waren aber gemischt, wie beim Zuckerl vom Weihnachtsbaum, und ich gefiel mir nicht in dieser Rolle. Ich wollte mich als oppositionell statt als Opfer sehen, daher nicht getröstet werden. Kleine geheime Kundgebungen wie diese halfen ja nicht, standen in keinem Verhältnis zu dem, was geschah, halfen nicht einmal mir in der fortschreitenden Verarmung und Beschränkung meines Lebens. Es war eine sentimentale Geste, in der der Spender sich in seinen guten Absichten bespiegelte, für mich nicht einmal so brauchbar wie die tröstenden Worte der Platzanweiserin beim Schneewittchen-Film. Doch ich hätte ihn ja in Verlegenheit und wahrscheinlich in größere Schwierigkeiten gebracht, wenn ich sein Almosen in der vollen Straßenbahn abgelehnt hätte, wenn ich es ihm zurückgegeben hätte, etwa mit den Worten: »Du 5i machst es dir leicht. Auf deine Orange pfeif ich.« Eine undenkbare Reaktion. So ungefähr erklärte ich den Vorfall meiner Mutter, als ich mit der unerwünschten Gabe und der dazugehörigen Geschichte nach Hause kam. Sie aber war radikaler als ich: »Was fällt dir ein, Geschenke von Fremden auf der Straßenbahn anzunehmen? Wir sind keine Bettler. Kriegst du nicht genug zu essen?« Aber es war doch ein Dilemma, oder? Keines, das ich mit ihr besprechen konnte. Ich stieß nur auf den mir bekannten, starren, an mir vorbei ins Leere gerichteten Blick, der bedeutete, daß sie einen freien Auslauf für ihre aufgestaute Angst und Wut gefunden hatte. Ich stand ratlos vor dieser moralischen Ausweglosigkeit, wo man nichts richtig machen konnte. Hätte ich gerade diesen Menschen, der es ja gut gemeint hatte, gefährden sollen? Andererseits: Hatte ich nicht auch meinen Spaß gehabt bei dem Abenteuer einer kleinen Verschwörung zwischen mir und einem Fremden, eine Szene, in der ich die mir zugeteilte Rolle des dankbaren Judenkindes doch mit einer gewissen Überzeugung gespielt hatte? 52 14 eine ersten zwei Wohnungen waren helle Wohnungen. Als ir aus Hietzing wegmußten, sind wir nacheinander in zwei ndere gezogen, dunkle Wohnungen, die wir mit ein oder wei anderen jüdischen Familien teilten. Meine Mutter und ch bewohnten zusammen ein kleines Zimmer, das nur von inem Lichthof her erhellt war. Die Wiener Architekten üssen diese Zimmer mit geradezu sadistischer Beharrlich-eit in die Häuser hineingebaut haben. Es gehört doch eine gewisse Planmäßigkeit dazu, das Tageslicht trotz vorhandener Fenster derart auszuschließen. Es gab Wanzen. Man dreht das Licht ab und stellt sich vor, daß die Wanzen jetzt aus den Matratzen herauskriechen. Dann wird man gebissen, dreht das Licht an und jammert laut, weil dieses widerliche Ungeziefer tatsächlich im Bett herumläuft. Ich hatte tagelang so ein Jucken am Kopf. Als meine Mutter endlich auf mich hörte und meine Haare eines Abends besichtigte, stellte sie entsetzt fest, daß ich Läuse hatte. Kopfläuse natürlich, die anderen Sorten waren ihr noch unbekannt. Aber auch der Umgang mit Kopfläusen hatte nicht zum Pensum ihres Prager Mädchenlyzeums gehört. Eine Hausgenossin riet zu einer Petroleumkur. Das war mir nicht geheuer, ich bettelte: »Können wir nicht bis morgen warten?« Aber die beiden Frauen hatten schon Benzin gefunden, nötigten mich, den Kopf mit den langen Haaren über eine Waschschüssel zu beugen, und machten sich eifrig daran, mir die stinkende Flüssigkeit darüber zu gießen. Dann banden sie mir ein Handtuch fest um den Kopf und schickten mich schlafen. 61 Ich hab diese Nacht überhaupt nicht geschlafen. Mein Kopf brannte wie Feuer. Da ich das Zimmer mit meiner Mutter teilte, ließ ich auch sie nicht zur Ruhe kommen. Trotz aller Klagen war sie nicht dazu zu bringen, mir das Handtuch abzunehmen oder es mich abnehmen zu lassen. Ich möge gefälligst nicht so wehleidig sein, und sie brauche ihren Schlaf, weil sie am nächsten Tag arbeiten müsse. Am nächsten Tag, als ich endlich Luft an meinen gequälten Kopf lassen durfte, waren die Läuse zwar weg, aber die Kopfhaut auch. Ich wurde kahl geschoren und bekam Salbe auf die wunde Haut gestrichen. Es dauerte Wochen, bevor diese Brandwunden ganz geheilt waren. (Ich hab beim Friseur nie unter einer Trockenhaube sitzen können. Bevor es den Handfön gab, bin ich mit nassem Kopf hinausgelaufen.) Die heimliche, oder vielmehr die unheimliche Frage war aber: Warum hatte sie auf mein Gejammer in der Nacht nicht reagiert? Sie spielte zerknirscht und unwissend, und der Arzt glaubte ihr, aber ich glaubte ihr nicht. Es war doch nicht möglich, daß sie nicht gemerkt hatte, was für üble Stunden das für mich gewesen waren. Ich begann zu zweifeln, ob die Grausamkeiten der Erwachsenen zufällig seien. Oder zum Besten der Kinder, wie sie behaupteten. Es ist dieselbe Frage, die sich bei der Betrachtung von Zivilisationen stellt, bei denen man den Teufel oder Dämonen austreibt, indem man den Kindern, die die bösen Geister beherbergen, auf den Leib rückt. Meine Mutter wurde abergläubisch, hatte eine Kartenauf-schlägerin, die ihr die Zukunft voraussagte, wie sie früher eine Schneiderin gehabt hatte, die ihr die Kleider nach Maß nähte, und redete von einem Wunderrabbiner, von dem sie abstammen wollte und der die Familie in der Not oft beschützt hatte. Sie beschwor mich, nie einen Goj zu heiraten, denn alle Gojim schlagen ihre Frauen. Das Pauschalurteil reizte zum Widerspruch. Alle, frage ich zweifelnd, sogar Goethe hat seine Frau geschlagen ? Meine Mutter, verblüfft, bejaht nach kurzer Überlegung. Auch Goethe wird das getan haben, er war ein Goj wie die anderen. 62 Das Unheil war aus heiterem Himmel über sie hereingebrochen, auch wenn man nachher die Vorzeichen mit Gusto an allen zehn Fingern herzählte. Politik war ein unweibliches Interessengebiet gewesen, und im Prager Mädchenlyzeum wird man daher kaum gründliches und kritisches Zeitunglesen gelernt haben, ebensowenig wie die Behandlung von verlausten Kinderköpfen. Antisemiten verkehrten nicht mit Juden, sonst wären sie ja keine Antisemiten gewesen, so daß es auch in ihrer gesellschaftlichen Erfahrung keine Anhaltspunkte gegeben hat. Man meinte, man lebe ja nicht in Polen, dem traditionellen Land der Pogrome. Vor dem Anschluß gab es Dinge, die hautnäher waren als die Politik, z. B. Zwistigkeiten innerhalb der Familie, Erbschaftsangelegenheiten und die leidigen Geschichten mit dem ersten Mann. Außerdem hatte sie, die Sportlerin in der Familie, eine kleine Turnschule eröffnet, wo sie ein wenig Gymnastik betrieb, für gewesene höhere Töchter, die den ersten Hausfrauenspeck ansetzten. Nach dem Anschluß gab es nur noch die Politik. Einmal bin ich mit ihr zur jüdischen Gemeinde gegangen, wo ein junger Mann uns gefragt hat, ob sie mich nicht mit einem Kindertransport nach Palästina schicken wolle. Es sei gerade noch Zeit, die letzte Chance. Sehr zu raten. Mir klopfte das Herz, denn ich wäre liebend gern weggefahren, auch wenn es ein Verrat an ihr gewesen wäre. Aber sie hat mich nicht gefragt und nicht einmal angeschaut, sondern sagte, »Nein. Man trennt kein Kind von der Mutter.« Auf dem Heimweg kämpfte ich mit meiner Enttäuschung, die ich ihr ja nicht ausdrücken konnte, ohne sie zu verletzen. Ich glaube, das hab ich ihr nie verziehen. Der andere Mensch, der ich geworden war, wenn ich nur ein Wort hätte mitreden können, wenn sie mich nicht einfach als ihr Eigentum behandelt hätte. Aber sie besaß auch so erbarmungswürdig wenig. Als ich mich in ihrem damaligen Alter von meinen Kindern trennte, gingen sie ins College, nicht ins KZ, und ich hatte Beruf und Freunde, ein weites Land und ein freies Leben. Sie war 63 damals so fertig mit den Nerven, daß sie einen Tick entwik-kelte, ein nervöses Zucken am Bein. Mir war dieses Zucken sympathisch, weil es zu meiner Mutter gehörte. Sie spintisierte, wie sie noch mehr verlieren könnte, und dachte dabei nicht an Mord, sondern, wie es sich für Frauen ihrer Generation gehörte, an Untreue. Sie war eifersüchtig auf meinen Vater, wohl nicht ganz ohne Grund. Sie hatte ihn schon vorher einiger »Seitensprünge« verdächtigt, und nun war er in Frankreich. Leute, die ihn im Sammellager Drancy kannten, haben ihr geschrieben, er sei bis zum Ende hilfsbereit und humorvoll gewesen. Es gab oder gibt aber auch eine Familienlegende, daß mein Vater in Frankreich eine Freundin hatte, daß beide vor der bevorstehenden Verhaftung gewarnt worden waren und nicht schnell genug aus der Wohnung gekommen sind, weil die Freundin noch ihre Hüte einpak-ken wollte. Möglich ist alles. Aber es klingt nach Werfel. Daß sie mir jedoch von ihrer Eifersucht berichtete, mir sozusagen ihr Herz über meinen Vater ausschüttete, war sinnlos. Ich schob ihre Vertraulichkeiten von mir, als eine unappetitliche Intimität. Im Grunde interessierte mich eben nur eine Art von Klatsch, nämlich wohin unsere prekäre Beziehung zur arischen Umwelt führen sollte. Meine Mutter, Jahrzehnte später: »Der Papa hat mir so einen liebevollen Brief aus Drancy geschrieben. Den hab ich bis Auschwitz gehabt, da hab ich ihn verloren.« Sie sagt »verloren«, als sei es aus Unachtsamkeit geschehen und so, als hätte sie irgendwas von dort mitnehmen können, als hätten die nicht noch alle Körperöffnungen durchspürt, damit der Jud nur ja nichts hat, was das Reich brauchen könnt. Und sie sagt's, als hätte sie ihre Eifersucht von damals vergessen, das hat sie wohl auch. Ich war im Weg, aber vielleicht auch manchmal ein willkommenes Objekt zum Abreagieren. Im Weg und unnütz und faul und doch das einzige, was ihr geblieben war. Innerhalb von drei oder vier Jahren war sie entwurzelt worden, ihr Leben war zusammengeschrumpft, und sie war vereinsamt. Der Mann auf der Flucht, der Sohn in Prag, die Schwester 64 mit Familie in Ungarn, der Freundes- und Verwandtenkreis ausgewandert, nach Amerika, Palästina, England, oder verschickt nach Theresienstadt und »nach Polen«, wie man sagte. Und sie stand da mit ihrer Reichsfluchtsteuer, die sie nicht zahlen konnte. Dann kam die Nachricht, daß mein Bruder mit seinem Vater von Prag aus nach Theresienstadt verschleppt worden war. Meine Mutter erhielt einige Postkarten von ihm. Die Aussicht, ihn wiederzusehen, nahm ihr die Furcht vor der Deportation. Ich wurde krank, »septische Masern«. Vielleicht war's rheumatisches Fieber, das wurde behauptet. Ich dämmerte wochenlang vor mich hin, in dem finsteren kleinen Loch, wo wir hausten, dann im Spital, in einem großen Saal, wo mir die anderen Kinder ein Greuel waren, und hatte es gründlich satt weiterzumachen. Ich war schrullig, exzentrisch, asozial geworden. Es gab nichts mehr, worauf man sich freuen konnte. Am Ende konstatierten die Ärzte einen Herzfehler. Meine Mutter ließ durchblicken, ich würde keine Kinder haben können. Höchstes Glück der Frau, das sie voll genossen, dem aber ihr armes, krankes Pupperl entsagen müsse. Ich begann mir selbst absonderlich vorzukommen. Warum waren wir noch da? Ich hab's damals gefragt, ich frag es noch heute. Wenn andere so fragen, dann sag ich, die Frage ist blöd, schaut doch nicht immer auf die Exulanten, die Glück oder Geld oder beides hatten, denkt doch an die Hunderttausende deutsche und österreichische Juden, die umgekommen sind, wir waren eben unter denen, die in den Strudel gerieten. Aber sie frag ich, »Warum? Du bist doch sonst tüchtig, warum warst dus damals nicht?« »Die Reichsfluchtsteuer«, sagt sie. (Und vielleicht dein Wahnsinn, deine angesammelten Neurosen? Und die Nazis obendrein, die haben dich so fertig gemacht, daß dir nichts mehr eingefallen ist zu unserer Rettung?) »Und ich konnte doch den Schorschi nicht in Prag lassen.« »Und warum bist du nicht hingefahren und hast ihn geholt?« »Das war gefährlich, da hätte ich dich zurücklassen müssen.« Die Schlange, die sich in den Schwanz beißt: ein Teufelskreis. 65 Und irgendwann wurde es aussichtslos. Sie hielt sich dann, solange sie konnte, in Wien. Sie bekam eine Stelle im jüdischen Krankenhaus als Hilfsschwester und Krankengymnastin. Sie ging früh morgens fort, ich schlief mich aus, las im Bett, ging dann zum Spital hinüber, wo ich zu essen bekam und wo es eine schöne warme Dusche gab, und verbrachte den Rest des Tages lesend und einsam im Spitalgarten. Wir sind aus Wien so ziemlich mit den letzten Juden verschickt worden, mit dem »Spitaltransport«, im September 1942. Heute habe ich keine Freunde, keine Verwandten mehr in Österreich, höchstens daß sich hie und da ein Kollege oder ein entfernter Bekannter dort aufhält. Nur die Literatur dieses Landes, von Adalbert Stifter bis Thomas Bernhard, redet mich intimer an als andere Bücher, nämlich im bequemen Tonfall einer vertraut hinterfotzigen Kindersprache. 66