160 Geschichte der Autobiographie 19. Jahrhundert 161 sehen Phantasien mit, die Befriedigung etwa, die er bei der Vorstellung empfinder, zu »Füßen einer herrischen Geliebten zu liegen, ihren Befehlen zu gehorchen, sie um Verzeihung bitten zu müssen« (S. 21), eine Szene, die sich im Verlauf seiner Geschichte denn auch realisiert. Zu den >Bekenntnissen< im eigentlichen Sinne gehört beispielsweise auch das Eingeständnis, während seiner Zeit als Lakai in Turin einmal einer jungen Dienerin einen Diebstahl angehängt zu haben, den er selbst begangen hat und für den sie mit dem Verlust ihrer Stelle büßen musste. Rousseaus selbstbewusst vorgetragene Überzeugung, ein einzigartiger Charakter zu sein, schließt eine differenzierte und kritische Selbstcharakteristik keineswegs aus. Ganz ira Gegenteil: Gerade seine Fehicr und Schwächen, die Abgründigkeiten seiner Persönlich-keitsstruktur scheinen für ihn selbst die Unverwechselbarkeit seines Wesens zu begründen. So diagnostiziert er sich eine Langsamkeit des Denkens, die sich mit einer Lebhaftigkeit des Gefühls verbinde; sein Geist und sein Herz, so formuliert er, scheinen nicht demselben Wesen anzugehören. Alis dieser Zwiespältigkeit resultieren Schwierigkeiten bei der Arbeit des Schreibens; sie ist aber auch der Grund für Probleme im gesellschaftlichen Umgang. Es fehle ihm die Fähigkeit zur geistreichen Konversation, nur schreibenderweise gelinge es ihm, sich mitzuteilen und seinem Scharfsinn Ausdruck zu verleihen. Auf diese Weise entstehe ein falsches Bild von ihm, werde er auch von klugen Leuten für einen Dummkopf gehalten, der er mitnichten sei. Diese Nichtübereinstimmung von Außen- und Innenwahrnehmung wird zu einem das autobiographische Ich überaus beunruhigenden Tatbestand und damic zu einem zentralen Motiv seines Schreibens. So sehr die autobiographische Schrift zum Kompensationsmedium für das Unvermögen wird, im mündlichen Umgang seine Wahrheit zu offenbaren, so unmissverständlich gibt Rousseau zu verstehen, dass sich die Eigentümlichkeit seines Charakters jeder Beschreibung entziehe. Eben hier eröffnet sich die für Rousseaus Unternehmen der Selbstrepräsentation fundamentale systematische Crux: das kritische Verhältnis von Wahrheit und Repräsentation. Die repräsentierende Sprache, so virtuos er sie handhabt, ist seinem eigenen Bekunden nach nicht in der Lage, die verwirrende Komplexirät seiner Gefühle darzustellen, gleichwohl ist es aber nur diese so unzureichende Sprache, die von der Existenz seiner inneren Gefühlswelt überhaupt Kunde zu geben vermag. So kreist Rousseaus Schrift um jenen immer entzogenen Punkt, an dem Außen- und Innenwahrnehmung, Repräsentation und Repräsentiertes idealiter zusammenfallen könnten (vgl. Vance, Ch. 1973). Eine Ergänzung zu den Confessions stellen die 1782 erschienenen Rcveries du promeneur solitaire {Träumereien eines einsamen Spaziergängers) dar, die als >para-autobiographisch< bezeichnet worden sind (vgl. Lecarme/Lecarme-Tabone 1997, S. 155). Auf zehn >Spaziergän-gen< wird in der Form des Selbstgesprächs eine Vielzahl von Themen angesprochen, die sich vor allem mit moralischen, gesellschaftlichen und psychologischen Fragen befassen. Der >promeneur< Rousseau sieht sich als von der Gesellschaft Zurückgestoßenen, der zu Traum und >sentiment< Zuflucht nimmt — ganz anders übrigens als die Memoirs of tbe Life and Writings ofBenjamin Franklin (frz. Erstausgabe 1791), dessen Autor als einer der Führer der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung und Gouverneur von Pennsylvania versuchte, den künftigen Generationen Amerikas in seiner Autobiographie ein wirklichkcitszugcwandtes Vorbild sowie aufklärerisch-puritanische Lebensmaximen vor Augen zu stellen. 5. 19. Jahrhundert: Ich-Geschichte/n Ein neues Konzept des Autobiographischen, das gleichwohl seine Traditionsbezüge erkennen lässt, ist am Anfang des neuen Jahrhunderts mit Johann Wolfgang von Goethes (1749-1832) Dichtung und Wahrheit eröffnet. Uber Goethes Autobiographie hat Wilhelm Dil-they in den Fortsetzungsentwürfen zu seinem 1910 erschienenen hermeneutischen Grundlagenwerk Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geistesivissenschafien (vgl. Kap. II.l) geschrieben: »In Dichtung und Wahrheit verhält sich ein Mensch universalhistorrsch zu seiner eigenen Existenz. Er sieht sich durchaus im Zusammenhang mit der literarischen Bewegung seiner Epoche. Er hat das ruhige, stolze Gefühl seiner Stellung in derselben. So ist dem Greis, der zurückschaut, jeder Moment seiner Existenz in doppeltem Sinn bedeutend: als genossene Lebensfülle und als in den Zusammenhang des Lebens hineinwirkende Kraft. Er fühlt jede Gegenwart, die in Leipzig, in Straßburg, in Frankfurt als erfüllt und bestimmt von Vergangenem, als sich ausstrek-kend zur Gestaltung der Zukunft - das heißt aber als Entwicklung.« (Dilthcy 1981, S. 245) Dieses Bild des in stolzer Gelassenheit und unantastbarer Souveränität auf sein Leben zurückblickenden klassischen Greises hat lange Zeit die Rezeption von Dichtung und Wahrheit bestimmt und das Buch seinerseits zum Klassiker der Autobiographie werden lassen. Bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein erschien Dich-