164 Geschichte der Autobiographie 19. Jahrhundert 165 haftigkeit solcher biographischen Versuche einigen Zweifel liege. Diesem zu begegnen, bekannte ich mich zu einer Art von Fiktion, gewissermaßen ohne Not, durch einen gewissen Widerspruchs-Geist getrieben, denn es war mein ernstestes Bestreben das eigentliche Grundwahre, das, insofern ich es einsah, in meinem Leben obgewaltet hatte, möglichst darzustellen und auszudrücken. Wenn aber ein solches in späteren Jahren nicht möglich ist, ohne die Rückertnnerung und also die Einbildungskraft wirken zu lassen, und man also immer in den Fall kommt gewissermaßen das dichterische Vermögen auszuüben, so ist es Idar daß man mehr die Resultate und, wie wir uns das Vergangene jetzt denken, als die Einzelheiten, wie sie sich damals ereigneten, aufstellen und hervorheben werde. Bringt ja selbst die gemeinste Chronik notwendig etwas von dem Geiste der Zeit mit, in der sie geschrieben wurde.« Die oben genannte »höhere Wahrheit« erscheint hier als >das Grund-wahre*, zu dessen Rekonstruktion sich Erinnerung und Einbildungskraft zum dichterischen Vermögen vereinigen. Mit dem sicli im letzten Satz der zitierten Passage artikulierenden historistischen Interesse verbindet sich - und auch dies wird für die Zukunft des Autobiographischen im 19. Jahrhundert wichtig - eine erhöhte Aufmerksamkeit auf den konstruktiven Prozess der Erinnerung, der freilich auch bereits bei Moritz und Rousseau thematisiert worden war. Dichtung und Wahrheit besteht aus vier Teilen. Der erste Teil erschien 1811, der zweite 1812 und Teil drei im Jahr 1814. Der vierte Teil hat eine längere Entstehungsgeschichte: 1816 konzipiere, wurde er erst 1831 ausgeführt und schließlich nach Goethes Tod 1833 von Eckermann herausgegeben. Dichtimg und Wahrheit ist also ein Alterswerk; als der erste Teil erschien, war sein Autor 62 Jahre alt. Geschildert werden lediglich die ersten 26 Jahre von Goethes Leben bis zu seiner Übersiedlung nach Weimar im Jahr 1775. Doch ist Dichtung und Wahrheit nicht Goethes einzige autobiographische Schrift. Bereits 1816 und 1817 waren der erste und der zweite Teil der von 1786 bis 1788 unternommenen Italienischen Reise (vgl. dazu Chris-ten 1999, S. 112-153; Kuhn 1997/98), ebenfalls unter dem Obertitel Aus meinem Leben, erschienen. Vollständig publiziert wurde die Italienische Reise allerdings erst 1829 in den Bänden 27 bis 29 der Ausgabe letzter Hand. Zu nennen sind weiter die Campagne in Frankreich 1792 und die Belagerung von Mainz, die beide 1822 unter dem Titel Aus meinem Leben. Von Goethe. Zweiter Abtheilung Fünfier Theil veröffentlicht wurden; erst in der Ausgabe letzter Hand wurden sie mit eigenen Titeln versehen. Hinzunehmen kann man die Briefe aus der Schweiz, deren erster Teil eine Novelle in Briefform ist und ein Erlebnis Werthers vor seiner Begegnung mit Lotte beschreibt; die Erzählung blieb unvollender und erschien als Fragment 1808 in der ersten Cottaschen Werkausgabe. Die zweite Abteilung besteht aus einem Bericht über Goethes Schweizer Reise von 1779, der 1796 in den Hören erschien und im Wesentlichen auf Originalbriefe Goethes zurückgeht. Goethes autobiographisches Projekt ist also umfassend und steht in einem engen Bezug zu seinem literarischen Werk, von dem er bezeichnenderweise in Dichtung und Wahrheit schreibt, es stelle »Bruchstücke einer großen Konfession« (Goethe, Dichtung und Wahrheit, S. 310) dar. Das Erscheinen der ersten Gesamtausgabe seiner Werke führte Goethe, eigenem Bekunden zufolge, das Zufällige, Uneinheitliche und Fragmentarische seines Werks vor Augen, und ganz ähnlich heißt es in dem fiktiven »Brief eines Freundes«, der am Anfang von Dichtung und Wahrheit wiedergegeben wird und Goethe die Möglichkeit der Selbstrechtfertigung für die Abfassung setner Autobiographic gibt, die weite zeitliche Erstreckung und das Unzusammenhängende seiner Schriften hätten in den Freunden des Autors den Wunsch nach einer Zusammenhang stiftenden Darstellung der hinter den Schriften stehenden »Lebens- und Gemütszustände« (Goethe, Dichtung und Wahrheit, S. 12) hervorgerufen. Der Topos von den Freunden, denen zuliebe der Autobiograph sein Leben niedergeschrieben habe, findet sich beispielsweise auch in Johann Gottfried Seumes (1763-1810) fragmentarischer Autobiographie Mein Leben (geschrieben 1809/10, veröffentlicht 1813), die, ungleich weniger ambitioniert als Goethes Selbstdarstellung, sich mit einem im Wesentlichen auf das Faktische beschränkenden Lebensabriss begnügt. Goethe legt dem fiktiven Freund gleich einen Schlüsselbegriff, den der >Bildung<, in den Mund: Die Freunde wünschen sich, so heißt es im Text, an der Lebensbeschreibung ihres Autors ebenso sehr zu bilden wie sie sich bereits »früher mir und an dem Künstler gebildet« hätten. Der Bildungsgedanke, der sich aufgrund der für den sog. >Bildungsroman< als prototypisch erachteten Wilhelm Meister-Rom&nc in der Literaturwissenschaft mit dem Namen Goethe verbindet, durchzieht zusammen mit dem gleichfalls zentralen Konzept der Entwicklung auch Dichtung und Wahrheit. Die Konzepte von Bildung und Entwicklung (vgl, u.a. Satonski 1982) sind entclcchisch verfasst, d.h. das zu bildende Individuum entwickelt sich auf ein bestimmtes Ziel hin, das es bereits in sich trägt. Das Modell spiegelt sich in den oft zitierten Zeilen von Goethes Bestimmung des Autobiographischen: »Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und m zeigen, in wiefern ihm das Ganze widerstrebt, in wiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Mcnschenaiisicht daraus gebildet, und wie er sie,