lbö Geschichte der Autobiographie Im Mittelpunkt des zweiten Teils steht die Studienzeit in Leipzig und Straßburg. Der junge Goethe, der auf Wunsch seines Vaters Jura studiert, obwohl ihn Kunst und Literatur viel stärker anziehen, fängt nun selbst an zu dichten und ausgehend von bzw. im Hinblick auf die eigene Produktion wird im siebten Buch ein Überblick über die Entwicklung der deutschen Literatur gegeben. Dieses siebte Buch des zweiten Teils von Dichtung und Wahrheit ist wiederholt als die erste deutsche Literaturgeschichte bezeichnet worden. Allerdings ist auch hier zu sehen, dass dieses Buch Funktion und Bedeutung in seiner Eigenschaft erst »als dichterische Vergegenwärtigung der Grundlagen seiner [Goethes] eigenen literarischen Produktion« (Witte 1978, S. 387) gewinnt. Auch im zweiten Teil gibt es eine Liebesgeschichte; Goethe stellt im Modus einer romanhaft gehaltenen Erzählung das sog. Sesenheim-Erlebnis dar, die Beziehung zu der elsässer Pfarrerstochter Friederike Brion, eine Geschichte, die im dritten Teil von Dichtung und Wahrheit ihre Fortsetzung findet. Der dritte Teil berichtet von der Trennung von Friederike und Goethes Aufnahme seiner Tätigkeit am Reichskammergericht in Wetzlar, einer neuen Liebe, derjenigen zu Charlotte Buff, den ersten dichterischen Erfolgen. Außerdem werden weitere Bildungseinflüsse sowie Fragen der Religion verhandelt. Daneben finden sich Porträts bemerkenswerter Zeitgenossen, mit denen Goethe in intellektuellem Austausch stand, z. B. Lenz, Klinger, Lavater u.a. In der Vorrede zum vierten Teil, die offensichtlich nach der langen Zeit zwischen der Abfassung des dritten und der Ausarbeitung des vierten Teils notwendig geworden war, spricht der Autobiograph gleichsam als Redaktor seiner selbst, der sein autobiographisches Material ordnen und strukturieren muss und seinen Lesern verspricht, die »Haupträden« des bisher Dargestellten »nach und nach wieder aufzunehmen« (S. 727). Das autobiographische Ich ist, könnte man pointiert formulieren, dem Autobiographen historisch geworden. Das vierte Buch teilt weitere Bildungseinflüsse mit (u.a. die für Goethe wichtige Bekanntschaft mit der Philosophie des Ba-ruch Spinoza), wartet einmal mehr mit der Geschichte einer Liebe, derjenigen zu Lili Schönemann, auf, zeichnet weitete Porträts, etwa das Heinrich Jung-Stiliings, dessen Jugendgeschichte Goethe wie erwähnt (vgl. Kap. III.4) zum Druck befördert hatte. Daneben werden eine ganze Reihe weiterer Themen aus Politik, Gesellschaft, Kunst und Philosophie behandelt. Auf diese Weise soll das Programm, Individuum und (geistige) Umwelt in einer Wechselbeziehung darzustellen, eingelöst werden. Auffallend ist nichtsdestoweniger, dass die Darstellung zunehmend abschnitthafter wird; Goethe schaltet Gedichte aus der eigenen Produktion, aber auch andere Ma- 19. Jahrhundert_Ibit terialien ein, etwa die von Lavater angefertigten physiognomischen Beschreibungen der Brüder Stolberg. Das dem Egmont entnommene symbolische Schiusszitat, das »die Sonnenpferde der Zeit mit unsers Schicksals leichtem Wagen« (S. 852) durchgehen lässt, erscheint vor diesem Hintergrund und in Erinnerung an die symbolische Geburt am Anfang von Dichtung und Wahrheit als künstlerischer Handgriff, um die unüberschaubar gewordene Vielfalt abschließend in ein Sinnbild von (im wahrsten Sinne des Wortes) »höheren »Wahrheit« zu überführen (über Dichtung und Wahrheit als kombinatorische Konstellation aus einer den Text bestimmenden Hetcrogenität und einer durch die Textpraxis selbst marginalisierten Einheitsmaxime vgl. v. Graevenitz 1989, S. 25ff.). Zweifellos hat Goethes autobiographische Selbstdarstellung für das 19. Jahrhundert (und bis ins 20. Jahrhundert hinein) eine maßgebliche Vorbildfunktion. Allerdings gab es nicht nur Selbstbiographien, die sich an Goethe orientierten, sondern auch solche, die von einer kritischen, teilweise parodistischen Auseinandersetzung mit dem durch den beginnenden Goethe-Kult zum Dichterfürsten werdenden >Klassiker< gekennzeichnet sind. Zu nennen ist etwa Jean Pauls (1763-1825) Selberlebensbeschreibung, die 1826 postum erschien. Die Geburt des autobiographischen alter ego wird hier folgendermaßen beschrieben: »Es war im Jahr 1763, wo der Hubertsburger Friede zur Welt kam und gegenwärtiger Professor der Geschichte von sich; - und zwar in dem Monate, wo mit ihm noch die gelbe und graue Bachstelze, das Rotkehlchen, der Kranich, der Rohrammer und mehre Schnepfen und Sumpfvögel anlangten, nämlich im März; — und zwar an dem Monattage, wo, falls Blüten auf seine Wiege zu streuen waren, gerade dazu das Scharbock- oder Löffelkraut und die Zitterpappel in Blüte traten, desgleichen der Ackerehrenpreis oder Hühnerbißdarm, nämlich am 21 teil März; -und zwar in der frühesten frischesten Tagzeit, nämlich am Morgen um 1 1/2 Uhr; was aber alles krönt, war, daß der Anfang seines Lebens zugleich der des damaligen Lenzes war.« (Jean Paul, Selberlebensbeschreibung, S. 1039) Dem lässt sich ein vermutlich 1831/32 entstandenes Noveüenfrag-ment von Joseph von Eichendorff (1788-1857) zur Seite stellen, in dem es heißt: »Die Konstellation war überaus günstig. Jupiter und Venus blinkten freundlich auf die weißen Dächer, der Mond stand im Zeichen der Jungfrau und mußte jeden Augenblick kulminieren. [.,.] da wurde ich in der Stube neben dem Tafelzimmer geboren. Mein Vater, da er einen Kinderschrei hörte, blickte erschrocken nach dem Himmel: der Mond