Lessing, Gotthold Ephraim, * 22. 1. 1729 Kamenz/Sachsen[1], † 15. 2. 1781 Braunschweig; Prägende Kindheitserfahrung war das protestantische Pfarrhaus in seiner notorischen Form (orthodox, gelehrt, streitbar, patriarchalisch, sozial, kinderreich). Die Eltern, Justine Salome, geb. Feller, u. Johann Gottfried Lessing, entstammten beide verzweigten sächs. Pfarrers- u. Juristenfamilien. Von den zwölf Kindern war L. das dritte; fünf starben in jugendl. Alter. Der Vater, seit 1734 Pastor primarius der Stadt, war neben dem Pfarramt als Gelehrter tätig u. verfaßte zahlreiche erbauliche[2], histor. u. apologetische Schriften im Geist eines kämpferischen Luthertums. L., der ihm auch in Zeiten der Entfremdung die Hochachtung nicht versagte, dürfte ihm neben dem leicht erregbaren Temperament allerdings auch ein lebenslanges Väter- u. Patriarchentrauma verdankt haben (vgl. seine theolog. Abrechnung mit dem Hamburger Hauptpastor Goeze gleich nach dem Tod des Vaters). 1780 fügte sich auch das liegengebliebene Fragment eines geschichtsphilosophischen Versuchs, die in 100 Paragraphen gegliederte Erziehung des Menschengeschlechts (anonym Bln.), zu einem Ganzen. L. nahm im großen Streit des 18. Jh. zwischen Vernunft u. Offenbarung, oder genauer: zwischen bibelkritischer Aufklärung und schriftgläubiger Kirche, eine vermittelnde Position ein. Er glaubte an eine zeitlose Funktion des religiösen Gefühls, nicht aber des Kirchendogmas. Die Wahrheit der Verkündigung des Alten u. Neuen Testaments konnte er nur als eine historische sehen u. deutete sie in einem kühnen geschichtstheolog. Entwurf (Die Erziehung des Menschengeschlechts) als göttlichen Stufenplan zur Vernunft- u. Toleranzerziehung des Menschen. Ähnlich beurteilte er die Reformation Luthers – als Station des Fortschritts auf dem Weg zum Vernunftevangelium der Zukunft. So gesehen war das Christentum für ihn geradezu auf aufklärerische Kritik angewiesen. Aus diesem Grund bemühte er sich immer wieder um die Rehabilitation von Häretikern (Rettungen. Berengarius Turonensis[3])u. veröffentlichte 1774 ff. die sog. Fragmente eines Ungenannten: Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verherer Gottes. Hermann Samuel Reimarus deutete er die Auferstehungsberichte des Neuen Testaments als zweckgerichtete »Lüge« der Jünger Jesu. Johannes der Evangelist, nach kirchl. Tradition der Verfasser des Johannesevangeliums, der Offenbarung des Johannes und der Johannesbriefe; wirkte (vermutlich nach 70) in Ephesus; von der kirchl. Tradition mit dem Apostel Johannes identifiziert. Sein Evangelium ist jedoch erst um 100 nC. entstanden. Über die Auferstehungsgeschichte, welche Jesus als einen die jüdische Messias-Erwartung raffiniert ausschlachtenden politischen Abenteurer darstellt, dessen Jünger später den Leichnam aus dem Grab stehlen, um so den Auferstehungsmythos in die Welt zu setzten. Lessing Gegensätze des Heraisgebers weisen den Angriff auf das Christentum zurück, sprechen sich jedoch gegen die Unfehlbarkeit der Bibel aus. Jede Überzeugung scheint Lessing widerlegbar und so hält er auch seine Überzeugungen für vorläufig, für Hypothesen. Diejenigen, die glaubten, in Besitz der Wahrheit zu sein, hat er in seinen Schriften bekämpft: je bündiger[4] mir der eine das Christentum erweisen wollte, desto zweifelhafterr ward ich. Je mutwilliger und triumphierneder mir es der andere ganz zu Boden treten wollte, desto geneigter fühlte ich mich, es wingstens in meinem Herzen aufrechtzuerhalten. (G. E. Lessings Bibliolatrie[5], aus dem Nachlass 1779) Duplik: Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgenden Mensch ist oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er aufgewandt hat, hinter[6] die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen aus. […] Der Besitz macht ruhig, träge, stolz. Die Erschütterung seiner biblischen Stüzten sollte das Christentum dazu führen, den Buchstaben vom Geist, d. h. die Bibel von der Religion zu unterscheiden. Es war eine scharfsinnige, ihm selbst aber eher fernstehende deistische[7] Bibelkritik, die den großen Toleranzstreit mit Goeze heraufbeschwor. Daß er noch im Alter ein Bekenntnis zum Spinozismus[8] abgelegt haben soll, wie Jacobi behauptete, ist wenig wahrscheinlich, wohl aber, daß er sich Spinoza selbst u. einigen seiner Grundüberzeugungen nahe fühlte. 1770, Wolffenbüttel[9], in dem Streit ging es dann mehr darum, inwieweit man so einen Streit vor den Augen des ganzen christlichen Publicii austragen sollte, inwieweit dadurch dadurch der Abscheu[10] gegen eine Rebellion in ihren Herzen ausgelöschet werde.. Die Erziehung des Menschengeschlechts § 53 Ein beßrer Pädagog muß kommen, und dem Kinde das erschöpfte Elementarbuch aus den Händen reißen. - Christus kam. § 77 Und warum sollten wir nicht auch durch eine Religion, mit deren historischen Wahrheit, wenn man will, es so mißlich aussieht, gleichwohl auf nähere und bessere Begriffe vom göttlichen Wesen, von unsrer Natur, von unsern Verhältnissen zu Gott, geleitet werden können, auf welche die menschliche Vernunft von selbst nimmermehr gekommen wäre? § 78 Es ist nicht wahr, daß Spekulationen über diese Dinge jemals Unheil gestiftet, und der bürgerlichen Gesellschaft nachteilig geworden. - Nicht den Spekulationen: dem Unsinne, der Tyrannei, diesen Spekulationen zu steuern; Menschen, die ihre eigenen hatten, nicht ihre eigenen zu gönnen, ist dieser Vorwurf zu machen. § 79 Vielmehr sind dergleichen Spekulationen - mögen sie im Einzeln doch ausfallen, wie sie wollen - unstreitig die schicklichsten Übungen des menschlichen Verstandes überhaupt, so lange das menschliche Herz überhaupt, höchstens nur vermögend ist, die Tugend wegen ihrer ewigen glückseligen Folgen zu lieben. § 80 Denn bei dieser Eigennützigkeit des menschlichen Herzens, auch den Verstand nur allein an dem üben wollen, was unsere körperlichen Bedürfnisse betrifft, würde ihn mehr stumpfen, als wetzen heißen. Er will schlechterdings an geistigen Gegenständen geübt sein, wenn er zu seiner völligen Aufklärung gelangen, und diejenige Reinigkeit des Herzens hervorbringen soll, die uns, die Tugend um ihrer selbst willen[11] zu lieben, fähig macht. § 81 § 83 Die schmeichelnden Aussichten, die man dem Jünglinge eröffnet; die Ehre, der Wohlstand, die man ihm vorspiegelt: was sind sie mehr, als Mittel, ihn zum Manne zu erziehen, der auch dann, wenn diese Aussichten der Ehre und des Wohlstandes wegfallen, seine Pflicht zu tun vermögend sei. § 86 Sie wird gewiß kommen, die Zeit eines neuen ewigen Evangeliums, die uns selbst in den Elementarbüchern des Neuen Bundes versprochen wird. § 100 Oder, weil so zu viel Zeit für mich verloren gehen würde? - Verloren? - Und was habe ich denn zu versäumen? Ist nicht die ganze Ewigkeit mein? ________________________________ [1] Kreisstadt in Sachsen, in der Oberlausitz, an der Schwarzen Elster, nördlich von der Autobahn Dresden-Bautzen, 16ÿ800 Ew.; Lessingmuseum; Um 1200 gegr., trat 1346 dem Sechsstädtebund bei und entwickelte sich zu einer Weberstadt. [2] povznášejí, útěšný, poučný: z. B. Kierkegaard schrieb erbauliche Reden, auch seine Schrift Entweder-Oder enthält ein Unterkapitel „Das Erbauliche des Gedankens, daß wir vor Gott immer unrecht haben“. Ist es tröstlich oder ironisch gemeint? [3] wurde wegen seiner symbol. Eucharistielehre (nur symbol. Präsenz Christi in Brot und Wein) auf mehreren Synoden verurteilt. [4] überzeugend, schlüssig: ein -er Schluss; etw. b. beweisen. Závazný, pádný. [5] Idolatrie: Bildverehrung, -anbetung, Götzendienst. [6] endlich kam sie d. (ugs.; fand sie heraus), was er vorhatte. [7] dass Gott nach der Schöpfung keinen Einfluss mehr auf die Welt, die ohne ihn wie eine Maschine allein weiterlaufe, nehme und zu ihr auch nicht in Offenbarungen spreche. Damit steht der D. im Gegensatz zum Theismus. Kennzeichnend für den D. ist die Vorstellung einer natürl. Religion, d.ÿh., er ging davon aus, dass allein aus der Natur und der im Menschen von Natur aus angelegten Moral Gott erkannt werden könne, unabhängig von Kirchen und organisierten Religionsgemeinschaften.ÿ In Dtl. wirkte er auf die Bibelkritik (H.ÿS. Reimarus, G.ÿE. Lessing, J.ÿS. Semler). Kant verfasste ein Werk über die »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« (1793). [8] von T.ÿHobbes und R.ÿDescartes beeinflusst, entwickelte er in seiner etwa seit 1662 entstandenen »Ethik« (erschienen 1677) eine pantheist. Metaphysik und Anthropologie nach geometr. Beweisverfahren. Danach ist Gott die einzige, unteilbare, unendl. Substanz (Substanzmonismus) mit unendlich vielen Attributen, von denen nur Denken und Ausdehnung erkennbar sind. Gott und die Natur sind ein und dasselbe (Pantheismus). Alle endl. Erscheinungen (Dinge und Ideen) sind Modi (Daseinsweisen) der einen Substanz, da alles, was ist, aus ihr notwendig folgt. [9] Krst. in Ndsachs., im nördl. Harzvorland, an der Oker, 53ÿ600 Ew. nur wenige Kilometer südlich von Braunschweig. Herzog-August-Bibliothek (an ihr waren Braunschweig-Wolfenbüttel und Lessing tätig) mit der Forschungsstätte zur Buchgesch. und für europ. Kulturgeschichte, Lessinghaus (Museum). nach 1283 von den Welfen zur Residenz ausgebaut (Sitz versch. Linien Braunschweigs, ab 1432 des Herzogtums, ab 1495 des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel); bis 1753/54 Residenz. Der Reg.sitz wurde 1753 von Wolfenbüttel nach der Stadt Braunschweig verlegt. [10] der Abscheu über, gegen etw. [11] die Autonomie, die zu reiner Zugendhandlung fähig macht. Vgl. die Ringparabel: Die wahre Religion vermagvor Gott und Menschen angenehm zu machen