… wo es rein ist, und es niemand sieht, einen Purzelbaum wagen. Zur Denk- und Schreibweise Lichtenbergs in seinen Sudelbüchern. Ich habe das Thema Lichtenberg und seine Aphorismen und Philosophie ausgewählt, weil Lichtenberg ein wundersamer Mensch war, der ungewöhnliche Gedanken hatte, und seine Sudelbücher nicht nur einen Gedankenschatz darstellen, auf den er zurückgriff, wenn er einen Beitrag für sein „Göttinger Taschen Calender“ schreiben sollte, sondern auch für heutige Leser, wenn Sie einen Einblick in die Mentalität des ausgehenden 18. Jh. suchen. Meine Wahl wurde auch von den übersichtlichen und inspirativen Homepage der Lichtenberg-Gesellschaft beeinflusst. Für die eigenartige Mischung von Lichtenbergs Neigungen zu Satire (Polemik gegen Lavaters Physiognomik) und Selbstironie einerseits und sein breit aufgefächertes naturwissenschaftliches Wissen sind die Umstände seiner Herkunft und seines Bildungsweges ausschlaggebend. Er war das achtzehnte Kind eines General-superintendenten. Infolge einer rachitischen Erkrankung in seiner Kindheit war er bucklig. Er besuchte das Gymnasium in Darmstadt und studierte von 176ß-1766 Mathematik und Naturwissenschaften in Göttingen. Er wurde außerordentlicher Professor der Experimentalphysik. Er litt körperlich und deshalb zog er sich in den letzten Jahren seines Lebens ganz zurück. Lichtenbergs Witz, der weit Auseinanderliegendes zusammenbringt oder Bekanntes durch eine Verschiebung des Blickwinkels in ein vollkommen neues Licht rückt, wurde z. B. von Friedrich Hebbel, Kant, Goethe, Kierkegaard, Schopenhauer und Nietzsche hocht geschätzt. In Frankreich galt Lichtenberg als Vorgänger der Romantik mit surrealistischen Zügen. Seine Gedankensplitter gab 1902-1908 Albert Leiztmann heraus, der sie bei Lichtenbergs Enkeln gefunden hatte. Er publizierte sie unter dem Titel „Aphorismen“ Diese Bücher enthalten ca 5500 Anmerkungen, aber die ganze Zahl wird auf 6500 bis 7000 geschätzt. Aber nur einem Dritel der Anmerkungen gebührt wirklich der Name Aphorismus. Lichtenberg nannte seine Texte Sudelbücher, Klitterbücher oder Schmierbücher – das sind also die Anmerkungen, die er nicht publizieren wollte. Es ist ein Gemisch von Gedanken, Überlegungen, Bemerkungen, Erinnerungen, Wörterspielen. Briefe, Zitate usw. Sie enthalten Gesellschaft und Privatleben, Wissenschaften, Literatur, Kunst, Philosophie und haben den Umfang von einem Wort bis zu mehreren Seiten. Die täglichen Anmerkungen schrieb er 35 Jahre bis zu seinem Tod im Jahr 1799. Die gegenwärtigen Autoren konnten seine Texte nicht begreifen. Sie sahen die Unfertigkeit und das Faktum, dass Lichtenberg nicht an die Auflage gedacht hat. Ich möchte jetzt Lichtenbergs Denkweise erwähnen. Ich habe den Begriff Leben ausgewählt, weil mich besonders interessierte, welche Beziehungen er zum eigenen Leben und zum Leben der anderen hatte. Lichtenberg war ein skeptischer Schriftsteller und Autor, der ständig aktuelle Gedanken formulierte. Lichtenbergs Leben war nicht einfach. Im Scheiben suchte er Trost. Beim Versuch, das Thema „Leben und die menschliche Seele“ zu behandeln, muss man nicht nur die Ansichten, sondern auch seine Eigenschaften und seine Skepsis sehen. In den Aphorismen habe ich vor allem eine überwigende Trauer bemerkt, als ob es im Leben vor allem das Traurige und nicht das Lustige und Fröhliche gäbe. Aber anderseits ist nichts hoffnungslos, wie er in der Anmerkung über die Seelenwanderung schreibt. In dem Gedanken A 11 fasst er zusammen, was er über das Leben denkt. „Die Erfindung der wichtigsten Wahrheiten hängt von einer feinen Abstraktion ab, und unser gemeines Leben ist eine beständige Bestrebung uns zu derselben unfähig zu machen, alle Fertigkeiten, Angewohnheiten, Routine, bei einem mehr, als bei dem andern, und die Beschäftigung der Philosophen ist es, diese kleinen blinden Fertigkeiten, die wir durch Beobachtungen von Kindheit an uns erworben haben, wieder zu verlernen. Ein Philosoph sollte also billig als ein Kind schon besonders erzogen werden.“ Während alle Bildungsromane und pädagogische Konzepte von der Vervollkommnug des Menschen ausgehen, sieht Lichtenberg die Fähigkeiten des Kindes durch den Bildungsweg nur verschüttet. Unser Leben besteht in seinen Augen vor allem aus Routine, wir sind daran gewöhnt und von Kindheit an dazu erzogen, die Sachen so zu sehen, wie sie die meisten wahrnehmen. Die Philosophen haben die spezielle Aufgabe, alle diese Fertigkeiten abzustreifen und uns einen unvoreingenomemen Blick zu vermitteln. Deshalb sollten die Philosophen anders erzogen werden. Es scheint nach Lichtenberg, als ob wir uns schlafwandlerisch in Stereotypen bewegen, wir machen alles selbstverständlich und wir verstehen unser Leben nicht. Wir machen vieles ohne zu überlegen, automatisch, nur der Routine des Lebens folgend. Wir sollen etwas dagegen machen. Überschätzt er jedoch nicht die Philosophen, wenn er ihnen zumutet, uns aus dieser Routine zu befreien? Auch die Philosophen sind von etwas beeinflusst und sollen dann uns beeinflussen. Auch Lichtenberg war sicher von seiner Erkrankung beeinflusst. Er sah sein Leben anders als ein gesunder Mensch. Er dachte über viele Sachen und Kleinigkeiten mehr nach, er musste alles genau überlegen, bevor er etwas machte. Die Menschen sollen mehr überlegen und weniger automatisch handeln, um sich seine Distanz zum dem oft zermürbenden Alltag zu bewahren. Wenn der Mensch überlegt, kann er Philosoph werden. Spannend wäre die möglichen Lesart von dem Substantiv Erfindung zu überprüfen. Lichtenberg denkt über den gesellschaftlihen Rahmen nach, in dem sich das Leben jedes Einzelenen abspielt. Wie im ersten Beispiel bleibt er wenig optimistisch. Der Aphorismus D 332 trägt den Namen Über den Neger-Embryo in Spiritus. Hier kann man große Skepsis sehen. Er schreibt, wie ein Kind das Leben erwartet. Über den Neger-Embryo in Spiritus. Da liegt er noch in der Stellung, worin er Leben und Tag erwartette, Leben und Tag, die dem Armen nie erschienen. Kind, wie glücklich bist du, schon so früh an dem Ziel, das Tausende deiner Brüder unter blutigen Striemen, unter Leiden ihre Zahl erst erreichen. Armer Kleiner, wie glücklich bist du, die Ruhe die du genießest, müssen sich Tausende deiner unglückseeligen Brüder mit Blut unter der Geißel nichtwürdiger Krämer erkaufen. Nichts, nichts hast du an dieser Welt verloren, wo deine Rechte verkauft sind, und wo dein Herr ein Krämer gewesen wäre. Auch für ihn wäre es besser gewesen, der deine Kette schon bereit hielt, er hätte wie du den Tag nicht gesehen. Dieser Aphorismus scheint auf den Göttinger Popularphilosophen und Rassisten Christoph Meiners (1747–1810) zu reagieren, dessen Schrift Über die Rechtmäßigkeit des Neger-Handels 1788 erschhienen ist. Meiners, Lichtenberg nennt ihn in einem Brief an Georg Foster der Mongole Meiners[1], sieht die Neger zwar über „Orang-Utans“, aber auf der gleichen Stufe wie Finnen (Lappen) und Mongolen, höher standen dann zwar Juden, die Lichtenberg allerdings auch hasste[2], ganz oben standen dann weiße Christen. Lichtenberg spottet nicht nur über den Embryo, dem so viel erspart blieb, sondern auch über die Ausbeuter der Sklavenarbeit, die dadurch sündigen und lieber selbst ungeboren bleiben sollten. Der Embryo sei glücklich, weil es nichts an dieser Welt verloren habe, und nichts verlieren kann. Dieser Embryo ist glücklich, weil Tausende andere Menschen erst durch dieses Jammertal durch müssen, bevor sie den Tod davon erlöst. In den Tod mündet jedes Leben, nur in der Dosis von Schmerz unterscheidet sich das Leben der Menschen. Sollte man also denken, dass es besser ist, die Welt nie erblickt zu haben? Diese pessimistische Meinung scheint dem Aphorismus B 125 zu widersprchen, in dem es über die mögliche Art, das Leben zu verlängern, heißt: Die andere Art ist, dass man langsamer geht und die beiden Punkte stehen läßt, wo Gott will, und dieses gehört für die Philosophen, diese haben nun gefunden, dass es am besten ist, dass man zugleich botanisieren geht, zickzack, hier versucht über einen Graben zu springen und dann wieder herüber, wo es rein ist, und es niemand sieht, einen Purzelbaum wagt und so fort. Welche Bedeutung hat die Metapher, im Leben Purzelbäume schlagen ? Heißt es, den sinnlichen Genüssen nicht abgetan sein? Oder sogar in der Gesellschaft verpönten Genüssen? Wie hat man vor dem Turnbater Jahn Purzelbäme wahrgenommen? Oder meint er nur ein nicht utilitaristisches Verhalten? Würden die Leute glücklicher sein, wenn es kein Leiden der Welt gäbe? Diese Frage beantwortet er im Gedanken J 845 „es ist gut, wenn es einem einmal ein bischen knapp geht.“ Damit er einsieht, dass man zwar von der Luft nicht leben, dass man Materielles zum Leben braucht, aber die Krankheit dem Menschen beibringen kann, bescheiden zu leben und Kleinigekiten zu schätzen. Oder meint es der Autor ironisch, also doch so, dass wir uns von diesem ewigen Jammertal leicht trennen sollen? Mit dem Genießen des Lebens, solange es von Krankheit und Altersschwäche nocht nicht wesentlich beeinträchtigt ist beschäftigt sich der Aphorismus L79: „Die glücklichen Zeiten des Lebens, da man noch nicht denkt, wie alt man ist, noch kein Buch hält über die Haushaltung des Lebens.“ Mit der Wendung Buch halten geht Lichtenberg auf ein Bild aus dem kaufmännischen Leben ein, in dem man Gewinn und Verlust präzise festhalten muss. Die Zeit verrinnt, aber die Angst vor der verrinnenden Zeit ist noch schlimmer. In Lichtenbergs Anmerkungen mischen sich Pessimismus und Optimismus durch. Pessimismus überwiegt jedoch, aber der Leser weiß nicht genau, welche Aphorismen und Gedanken Lichtenberg ironisch und welche ernst gemeint hat. Abstand halten und sich über das Unveränderliche nicht grämen scheint eine nicht unnütze Bemerkungen zur neuen Auflage des Lebens, wenn es eine Wiedergeburt gäbe. Und auf die Seelenwanderung, sei es ernst oder ironisch gemeint, kommt er noch einmal in dem Sudelbuch aus den Jahren 1789-1793 ein: Wenn es der Himmel für nötig und nützlich finden sollete mich und mein Leben noch einmal neu aufzulegen, so wollte ich ihm einige nicht unnütze Bemerkungen zur neuen Auflage mitteilen, die hauptsächlich die Zeichnung des Porträts und den Plan des Ganzen angehen. (J 659) Ein Systém: Jeder Mensch kömmt durch Seelenwanderung in den Zustand, den er seinem Leben vorzüglich beneidete und wünschte, so geht alles endlich in einem Zirkel, kein Stand wird ganz leer sein. (J 705) Man sieht, wie skeptisch und unzufrieden mit seinem Leben er war. Er war. Er nennt aber nicht Gott, sondern wählt den vageren Begriff Himmel, der einem das Leben gibt. Solche zurückhaltende Äußerungen gab es häufig in der Zeit der Aufklärung. Er würde den Himmel bitten, bei der neuen Auflage seines Lebens die Zeichnung und Pläne zu ändern. So stellt er sich sein System der Seelenwanderung vor, um die Welt gerechter zu machen. Ein besseres Leben war ein Wunsch Lichtenbergs, er wusste, dass es wahrscheinlich nicht erreichbar ist, aber fand in der Seelenwanderung den Trost in seinem Leben. Seine Beziehung zu den Möglichkeiten der Aufklärer, die Welt zu verbessern, ist aus dem Aphorismus K 268 ersichtlich:„Wir leben in der Welt, worin ein Narr viele Narren, aber ein weiser Mann nur wenige Weise macht.“ Literatur: Lichtenberg, Georg Christoph: Sudelbücher (online verfügbar unter: http://gutenberg.spiegel.de/buch/aphorismen-sudelbucher-6445). Lichtenberg, Georg Christoph: Myšlenky, postřehy, nápady. Praha 1986. Stingelin, Martin : Unsere ganze Philosophie ist Berichtigung des Sprachgebrauchs. München 1996 Schäfer, Frank : Lichtenberg und das Judentum. Göttingen 1998. Schäfer, Frank: Lichtenberg-ABC. Leipzig 1998. 11 993 Zeichen ________________________________ [1] Frank Schäfer: Lichtenberg und das Judentum. Göttingen: Wallstein Verlag, 1998. S. 145 [2] Ebenda.