Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend Seitenangaben vor der Textprobe weisen auf die Ausgabe in der Dieterich´schen Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1982. Hg. Gabriele Drews: Bibliothek des 18. Jahrhunderts. Nach der Beschreibung der Gegend: 8 Vor ohngefähr dreißig Jahren lebte noch darinn ein ehrwürdiger Greis, Eberhard Stilling, ein Bauer und Kohlenbrenner. Er hielt sich den ganzen Sommer durch im Walde auf, und brannte Kohlen; kam aber wöchentlich einmal nach Hause, um nach seinen Leuten zu sehen, und sich wieder auf eine Woche mit Speisen zu versehen. Er kam gemeiniglich Sonn- abends Abends, um den Sonntag nach Florenburg in die Kirche gehen zu können, allwo er ein Mitglied des Kirchenraths war. Hierinnen bestunden auch die mehresten Geschäfte seines Lebens. Sechs großgezogene Kinder hatte er, wovon die zween ältesten Söhne, die vier jüngsten aber Töchter waren. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 3. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54724 (vgl. Stilling-Leben, S. 2)] 8f. Gespräch zwischen Stähler und Ebert Stilling Ich erwarte auch wirklich ohne Furcht den wichti- gen Augenblick, wo ich von diesem schweren, alten und starren Leib befreyt werden soll, um mit den See- len meiner Voreltern, und anderer heiligen Männer, in einer ewigen Ruhe umgehen zu können. Da werd' ich finden: Doktor Luther, Calvinus, Oecolampadius, Bucerus, und andere mehr, die mir unser seeliger Pastor, Herr Winterberg, so oft gerühmt, und gesagt hatte, daß sie nächst den Aposteln, die frömmsten Männer gewesen. »Das kann möglich seyn! Aber sag' mir, Ebert, hast du die Leute, die du da herzählst, noch gekannt?« Wie schwazest du? die sind über zweihundert Jahr todt. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 5. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54726 (vgl. Stilling-Leben, S. 3)] 12 Der Sohn Wilhelm bittet um die Zustimmung der Eltern, um zu heiraten: Mein Vater sagt ja oft, wer auf seinen Berufswegen geht, darf nichts fürchten. Hier wurd' er bald bleich, bald roth; endlich brach er stammelnd los, und sagte: Zu Lichthausen (so hieß der Ort, wo er Schule hielt, und dabei den Bauren ihre Kleider machte) wohnt ein armer ver- triebener Prediger; ich wäre wohl willens seine jüng- ste Tochter zu heurathen; wenn ihr beide Eltern es Mein Vater sagt ja oft, wer auf seinen Berufswegen geht, darf nichts fürchten. Hier wurd' er bald bleich, bald roth; endlich brach er stammelnd los, und sagte: Zu Lichthausen (so hieß der Ort, wo er Schule hielt, und dabei den Bauren ihre Kleider machte) wohnt ein armer vertriebener Prediger; ich wäre wohl willens seine jüngste Tochter zu heurathen; [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 9. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54730 (vgl. Stilling-Leben, S. 6)] 13 alles war in tiefer Stille, nur zwo Nachtigallen sangen wechselsweise auf das allerlieblichste. Dieses war Wilhelmen öfters ein Wink gewesen. Er sank an der Wand nieder. O Gott! seufzte er, dir dank ich, daß du mir solche Eltern gegeben hast! O laß sie Freude an mir sehen! Laß mich ihnen nicht zur Last seyn! Dir dank ich, daß du mir eine tugendhafte Frau giebst! O segne mich! - Thränen und Empfindungen hemmten ihm die Sprache, und da redete sein Herz unaussprechliche Worte, welche nur die Seelen empfinden und kennen, die sich in gleicher Lage befunden haben. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 11. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54732 (vgl. Stilling-Leben, S. 7-8)] 14 Brautwerbung Wilhelms In einem andern Nachbarhause hatte der alte Pastor Moriz mit seinen zwo Töchtern ein paar Kammern gemiethet, in welchen er sich aufhielte. Nachdem nun den Nachmittag Wilhelm seinen Bauern eine Predigt in der Capelle vorgelesen, und mit ihnen nach altem Brauch ein Lied gesungen, so eilte er, so geschwind als es nur seine gebrechliche Füße zulassen wollten, nach Herr Morizen. Der alte Mann saß eben vor seinem Clavier, und spielte ein geistlich Lied. Sein Schlafrock war sehr reinlich, und schön gewaschen, nirgend sah man einen Riß, aber wohl hundert Lap- pen. Neben ihm auf einer Kiste saß Dorothe, ein Mädchen von zwei und zwanzig Jahren, ebenfalls sehr reinlich, aber ärmlich, angezogen, die gar anmu- thig das Lied zu ihres Vaters Melodie sang. Sie wink- te ihrem Wilhelm heiterlächelnd. Er setzte sich bei sie und sang mit ihr aus ihrem Buch. Sobald das Lied zu Ende war, grüßte der Pastor Wilhelmen und sagte: Schulmeister, ich bin nie vergnügter, als wenn ich spiele und singe. Wie ich noch Prediger war, da ließ ich manchmal lange singen, weil unter so viel verei- nigten Stimmen das Herz weit über alles Irdische sich wegschwingt. Doch ich muß etwas anders mit euch reden. Mein Dortchen hat mir gestern Abend herausgestammelt, daß es euch lieb habe; ich bin aber arm; was sagen eure Eltern? Sie sind mit allem herzlich wohl zufrieden, antwortete Wilhelm. Dortchen drungen Thränen aus ihren hellen Augen, und der alte ehr- würdige Mann stand auf, nahm seiner Tochter rechte Hand, gab sie Wilhelmen und sagte: Ich habe nichts in der Welt als zwo Töchter; diese ist mein Augapfel; nimm sie, Sohn! nimm sie! - Er weinte - »der Seegen Jehova triefe auf euch herunter, und mache euch ge- segnet vor ihm und seinen Heiligen und gesegnet vor der Welt! Eure Kinder müßen wahre Christen werden, eure Nachkommen seyen groß! [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 12 ff. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54733 (vgl. Stilling-Leben, S. 8 ff.)] 14 Moritz: Mein ganzes Leben war Gott geheiliget; unter vielen Schwachheiten, aber ohne Anstoß hab' ich gewandelt und alle Menschen geliebt; dies sey auch eure Richtschnur, so werden meine Gebeine im Frieden ruhen! [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 14. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54735 (vgl. Stilling-Leben, S. 9)] 15 Distanz zum Erzählten: Nun waren unsere Verlobte allein, und das hatten sie beide gewünscht. Wie er fort war, schlugen sie die Hände in einander, saßen neben einander, und erzählten sich, was ein jedes empfunden, geredt und gethan, seitdem sie sich einander gefallen hatten. Sobald sie fertig waren, fingen sie wieder von vorne an, und gaben der Geschichte vielerlei Wendungen; so war sie immer neu: für alle Menschen langweilig, nur für sie nicht. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 15. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54736 (vgl. Stilling-Leben, S. 10)] 16 Moritz, der den glücklichen Tag mit einer Schnepfe(njagd) feiern wollte, wurde vom Jäger und seinen Knechten verprügelt. Groteske Darstellung: Sie fanden Morizen in dem Wirthshause auf einem Stuhl sitzen; seine grauen Haare waren von Blut zusammengebacken; die Knechte und der Jäger stunden um ihn, fluchten, spotteten, knüpften ihm Fäuste vor die Nase, und eine geschossene Schnepfe lag vor Morizen auf dem Tisch. Der unpartheyische Wirth trug ruhig Brandwein zu. Friederike bat fle- hentlich um Gnade, und Dortchen um ein wenig Brandwein, dem Vater den Kopf zu waschen; allein sie hatte kein Geld zu bezahlen, und der Schade war auch zu groß für den Wirth, ihr ein halbes Glas zu schenken. Doch wie die Weiber von Natur barmher- zig sind, so brachte die Wirthin einen Scherben, der unter dem Zapfen des Brandweinfasses gestanden, und daraus wusch Dortchen dem Vater den Kopf. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 16. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54737 (vgl. Stilling-Leben, S. 11)] 18 Die Schule vor der Trauung ausgesetzt: Wil- helm hatte vor der Zeit die Schule ausgesetzt; denn in solchen Zeiten ist man zu keinem Berufsgeschäfte aufgelegt. Auch brauchte er die Tage nothwendig, sei- ner Braut und Schwestern neue Kleider auf die Hoch- zeit zu machen, und sonst mancherlei zu handthieren. Stillings Töchter verlangten ebenfalls. Sie probirten öfters ihre neue Wämser und Röcke von feinem schwarzen Tuch; die Zeit wurd' ihnen Jahre lang, biß sie sie einmal einen ganzen Tag anhaben könnten. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 19. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54740 (vgl. Stilling-Leben, S. 13)] 21f. Das Kapitel durch folgendes schöne weltliche Liedlein (von Stillings Töchtern gesungen): Es ritt ein Ritter wohl über's Feld. Er hatte kein'n Freund, kein Gut, kein Geld. Sein Schwesterlein war hübsch und fein. »Ach Schwesterlein! ich sage dir Adie. Ich sehe dich ja nimmermehr. Ich reite weg, in ein fremdes Land. Reich du mir deine weiße Hand!« Adie! Adie! Adie! [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 24. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54745 (vgl. Stilling-Leben, S. 16-17)] 24 Sitzordnung im Hause von Eberhard Stilling für mich kaum nachvollziebar: Stilling selbsten ganz fest und treuherzig ausgearbeitet. An diesem Tisch saß Eberhard Stilling oben an der Wand, wo er durch das Brett befestigt war, und zwar vor demselben. Vielleicht darum hatte er sich diesen vortheilhaften Platz gewählt, damit er seinen linken Ellenbogen auf das Bret stützen, und zugleich ungehindert mit der rechten Hand essen könnte. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 28. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54749 (vgl. Stilling-Leben, S. 19)] 24 Große Künstler haben gemeiniglich die Tugend an sich, daß ihr erfinderischer Geist immer etwas neues sucht; daher ist ihnen dasjenige, was sie schon erfunden haben, und was sie wissen, viel zu langweilig, es fer- ner zu verfeinern. Johann Stilling war also arm; denn was er konnte, versäumte er, um dasjenige zu wissen, was er nicht konnte. Seine gute einfältige Frau wünschte oft, daß ihr Mann seine Künsteleien auf Feld und Wiesen zu verbessern wenden möchte, damit sie mehr Brod hätten. Allein laßt uns der guten Frauen ihre Einfalt verzeihen; sie verstund es nicht besser; wenigstens Johann war klug genug hiezu. Er schwieg oder lächelte. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 29. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54750 (vgl. Stilling-Leben, S. 20)] 27 Moritz besucht die Tochter, bereitet sich auf seinen Tod und bereut seine alchemistische Leidenschaft: erzieherisch Nun höret noch eine Ermahnung von mir, und folgt derselben: Alles was ihr thut, das überlegt vorher wohl, ob es auch andern nützlich seyn könne. Findet ihr, daß es nur euch dienlich ist, so denkt: das ist ein Werk ohne Belohnung. Nur wo wir dem Nächsten dienen, da belohnt uns Gott. Ich habe arm und unbemerkt in der Welt dahin- gewandelt, und wann ich todt bin, dann wird man meiner bald vergessen; ich aber werde Barmherzigkeit finden vor dem Thron Christi, und selig seyn. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 33. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54754 (vgl. Stilling-Leben, S. 23)] 28 seine Mutter - keine Abweichung von der Er-Form, trotzdem aber das Geburtsdatum des Autors: Nun nahte der Tag der Niederkunft heran, und 1740 den 12ten September, Abends um 8 Uhr, wurde Henrich Stilling gebohren. Der Knabe war frisch, gesund und wohl, und seine Mutter wurde gleichfalls, gegen die Weissagungen der Tiefenbacher Sybillen, geschwind wieder besser. Das Kind wurde in der Florenburger Kirche getauft. Vater Stilling aber, um diesen Tag feyerlicher zu machen, richtete ein Mahl an, bei welchem er den Herrn Pastor Stollbein zu sehen wünschte. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 34. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54755 (vgl. Stilling-Leben, S. 23-24)] 29 Stollbein vom Großvater gemahnt: Ich will doch nicht hoffen, sagte der Herr Pastor, daß ich hier unter dem Schwarm von Bauren speisen soll. Vater Stilling antwortete: Hier speißt niemand, als ich und meine Frau und Kinder, ist euch das ein Baurenschwarm? Ei, was anders! antwortete jener. So muß ich euch erinnern, Herr! - versetzte Stilling, daß ihr nichts weniger als ein Diener Christi, sondern ein Pharisäer seyd. Er saß bei den Zöllnern und Sündern, und aß mit ihnen. Er war überall klein und niedrig und demüthig. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 37. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54758 (vgl. Stilling-Leben, S. 25)] 32 Eine verdächtige Bettlerin, die zuerst behauptet, ihr Vater sei Pastor: »Ich wollte es absolut nicht haben, daß mein Mann mit Spitzbuben umging; denn obgleich mein Vater nur ein Schuhflicker war. - « Die Frau packte ihr Kind auf den Nacken, und lief was sie laufen konnte. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 41. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54762 (vgl. Stilling-Leben, S. 28)] 34 Stillende Mutter des gesunben Henrich, die Passage bereitet die Schilderung des letzten Ausflugs zur Ruine des Geißenberger Schlosses: Vor und nach verfiel Dortchen in eine sanfte Schwermuth. Sie hatte an nichts in der Welt Vergnügen mehr, aber auch an keinem Theile Verdruß. Sie genoß beständig die Wonne der Wehmuth, und ihr zartes Herz schien sich ganz in Thränen zu verwandeln, in Thränen ohne Harm und Kummer. Gieng die Sonne schön auf, so weinte sie, und betrachtete sie tiefsinnig; sprach auch wohl zuweilen: Wie schön muß der seyn, der sie gemacht hat! Gieng sie unter, so weinte sie. Da gehet der tröstliche Freund wieder von uns, sagte sie dann oft, und sehnte sich weit weg in den Wald, zur Zeit der Dämmerung. Nichts aber war ihr rührender, als der Mond; sie fühlte dann was unaussprechliches, und ging ganze Abende unten an dem Geisenberg. Wilhelm begleitete sie fast immer und redete sehr freundlich mit ihr. Sie hatten beide etwas ähnliches in ihrem Charakter. Sie hätten die ganze Welt voll Menschen missen können, nur eins das andere nicht; dennoch empfanden sie jedes Elend und jeden Druck des Nebenmenschen. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 44. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54765 (vgl. Stilling-Leben, S. 30)] 35 Dortchen erklärt ihre Schwermüthigkeit, um den Verdacht zu zerstreuen, sie liebe die Schwestern Wilhelms nicht. Aber ich will dir sagen, wie es mir ist. Wenn ich im Frühling sehe, wie alles aufgeht, die Blätter an den Bäumen, die Blumen und die Kräuter, so ist mir, als wenn es mich gar nicht angienge; es ist mir dann, als wenn ich in einer Welt wäre, worinn ich nicht gehörte. Sobald ich aber ein gelbes Blatt, eine verwelkte Blume, oder dürres Kraut finde, dann wer- den mir die Thränen los, und mir wird so wohl, so wohl, daß ich es dir nicht sagen kann; und doch bin ich nie freudig dabei. Sonsten machte mich das alles betrübt, und ich war nie fröhlicher, als im Frühling.« Ich kenne das nicht. So viel aber ist doch wahr, daß es mich recht empfindlich macht. Indem sie so redeten, kamen sie zu den Ruinen des Schlosses [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 46. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54767 (vgl. Stilling-Leben, S. 32)] 38 Dortchens Lied über einen Reuter, der sich rächt, nicht nur an dem Mörder selbst, sondern auch an seinen Töchtern: Es leuchten drei Sterne über ein Königes Haus. Drei Jungfräulein wohnten darinn:: Ihr Vater war weit über Land hinaus Auf ein'm weißen Rösselein. Sternelein blinzet zu Leide. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 50. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54771 (vgl. Stilling-Leben, S. 35)] 40 Dortchens Tod Wie sie den Wald hinab gingen, durchdrang ein tödtlicher Schauer Dortchens ganzen Leib. Sie zitterte von einer kalten Empfindung, und es ward ihr sauer Stillings Haus zu erreichen. Sie verfiel in ein hitziges Fieber. Wilhelm war Tag und Nacht bey ihr. Nach vierzehn Tagen sagte sie des Nachts um zwölf Uhr zu Wilhelmen: Komm, lege dich zu Bette. Er zog sich aus, und legte sich zu ihr. Sie faßte ihn in ihren rechten Arm, er lag mit seinem Kopf an ihre Brust. Auf einmal wurde er gewahr, daß das Pochen ihres Pulses nachließ, und dann wieder ein paarmal klopfte. Er erstarrte und rief seelzagend! Mariechen! Marie- chen! Alles wurde wacker und lief herzu. Da lag Wilhelm und empfieng Dortchens letzten Athemzug in seinen Mund. Sie war nun todt. Wilhelm war betäubt, und seine Seele wünschte nicht wieder zu sich selbst zu kommen; doch endlich stieg er aus dem Bette, weinte und klagte laut. Selbst Vater Stilling und seine Margrethe gingen zu ihr, und hielten ihr die Augen fest zu, und schluchzeten. Es sah betrübt aus, wie die beiden alten Grauköpfe naß von Thränen zärtlich auf den verblichenen Engel blickten. Auch die Mädchen weinten laut, und erzählten sich untereinander alle die letzten Worte und Liebkosungen die ihnen ihre see- lige Schwägerin gesagt hatte. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 53. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54774 (vgl. Stilling-Leben, S. 36-37)] 42 Eberahrd Stilling ist ratlos, wie seinen verzweifelten Sohn wieder dem Leben zurückzuwenden: Soll ich Dortchens Fehler all aufzählen, und su chen, ihn zu überreden, er habe nichts so gar kostba- res verlohren: so würde ich ihre Seele beleidigen, ein Lügner oder Lästerer seyn, weiter aber nichts ausrichten, als Wilhelmen mir auf immer zum Feinde machen; Er würde alle ihre Tugenden dagegen aufzählen, und ich würde in der Rechnung zu kurz kommen. Soll ich ihm ein anderes Dortchen aufsuchen? Das müste just ein Dortchen seyn, und doch würd es ihm vor ihr eckeln. Ach! es giebt kein Dortchen mehr! - Ihm zitterten die Lippen und seine Augen waren naß. Nun weinten sie wieder alle, vornehmlich darum, weil ihr Vater weinte. Bei diesen Umständen war Wilhelm nicht im Stande sein Kind zu versorgen, oder sonst etwas nützliches zu verrichten. Margarethe nahm also ihren Enkel in völlige Verpflegung, futterte und kleidete ihn auf ihre altfränkische Manier aufs reinlichste. Die Mädchen gängelten ihn, lehrten ihn beten und andächtige Reimchen hersagen, und wenn Vater Stilling Sams- tags Abends aus dem Walde kam und sich bei den Ofen gesetzt hatte, so kam der Kleine gestolpert, suchte auf seine Knien zu klettern, und nahm jauchzend das auf ihn gesparte Butterbrod; mauste auch wohl selbsten im Quersack um es zu finden; [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 56. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54777 (vgl. Stilling-Leben, S. 39-40)] 43 Auf diesem Schloß hatte sich eine Gesellschaft frommer Leute eingepachtet. Sie hatten eine Fabrike von halbseidenen Stoffen unter sich angelegt, wovon sie sich nähreten. Was nun kluge Köpfe waren, die die Moden und den Wohl- stand in der Welt kannten, oder mit einem Wort, wohllebende Leute, die hatten gar keinen Geschmack an dieser Einrichtung. Sie wusten, wie schimpflich es in der großen Welt wäre, sich öffentlich zu Jesu Chri- sto zu bekennen, oder Unterredungen zu halten, worinnen man sich ermahnte dessen Lehre und Leben nachzufolgen. Daher waren denn auch diese Leute in der Welt verachtet, und hatten keinen Werth; sogar fanden sich Menschen, die wollten gesehen haben, daß sie auf ihrem Schlosse allerhand Greuel verübten, wodurch dann die Verachtung noch größer wurde. Mehr konnte man sich aber nicht ärgern, als wenn man hörte: daß diese Leute über solche Schmach noch froh waren, und sagten, daß es ihrem Meister eben so ergangen. Unter dieser Gesellschaft war einer Nah- mens Niclas, ein Mensch von ungemeinem Genie und Naturgaben. Er hatte Theologie studiert, dabei aber die Mängel aller Systeme entdeckt, auch öffentlich da- gegen geredet und geschrieben; weswegen er ins Ge- fängniß gelegt, [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 58. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54779 (vgl. Stilling-Leben, S. 41)] 44 Dieses Gespräch ist wichtig; darum will ich es hier beifügen, so wie mirs Niclas selbsten erzählet hat. Nachdem sich Niclas gesetzt, fing er an: Wie gehts euch nun Meister Stilling, könnt ihr euch auch in das Sterben eurer Frau schicken? »Nicht zu wohl! das Herz ist noch so wund daß es blutet; doch fange ich an mehrern Trost zu finden.« Niklas / pietistischer Prediger Viktor Christian Tuchfeld (gest. 1745) [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 59. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54780 (vgl. Stilling-Leben, S. 41-42)] 45 Er befiehlt, wir sollen andern das beweisen, was wir wünschen, daß sie uns beweisen sollen; thun wir nun das, so sind wir ihrer Liebe gewiß, sie werden uns wohl thun und viel Vergnügen machen, wenn sie anders keine böse Menschen sind. Er befiehlt, wir sollen die Feinde lieben; so bald wir nun einem Feinde Liebes und Gutes erzeigen, so wird er gewiß auf das äusserste gefoltert, bis er sich mit uns ausgesöhnt hat; wir selbsten aber geniessen bei der Ausübung dieser Pflichten, die uns nur im Anfang ein wenig Mühe ko- sten, einen innern Frieden, der alle sinnliche Vergnü- gen weit übertrifft. Ueberdas ist der Stolz eigentlich die Quelle aller unserer gesellschaftlicher Laster, [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 61. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54782 (vgl. Stilling-Leben, S. 43)] 47/48 Wilhelm erlaubte niemals dem Knaben, mit andern Kindern zu spielen, … 48 Am Nachmittag, von zwo bis drei Uhr, oder auch etwas länger, lies ihn Wilhelm in den Baumhof und Geisenberger Wald spatzieren; er hatte ihm daselbst einen Distrikt angewiesen, den er sich zu seinen Belu- stigungen zueignen, aber über welchen er nicht weiter ohne Gesellschaft seines Vaters hinausgehen durfte. Diese Gegend war nicht größer, als Wilhelm aus sei nem Fenster übersehen konnte, damit er ihn nie aus den Augen verlieren möchte. War denn die gesetzte Zeit um, oder wenn sich auch ein Nachbars Kind Henrichen von weiten näherte, so pfif Wilhelm, und auf dieses Zeichen war er den Augenblick wieder bei seinem Vater. Diese Gegend, Stillings Baumhof und ein Strich Waldes, der an den Hof gränzte, wurde von unserm jungen Knaben also täglich bei gutem Wetter besucht, und zu lauter idealischen Landschaften gemacht. Da war eine egyptische Wüste, in welcher er einen Strauch zur Höle umbildete, in welche er sich verbarg und den heiligen Antonius vorstellte, betete auch wohl in diesem Enthusiasmus recht herzlich. In einer andern Gegend war der Brunn der Melusine; dort war die Türkei, wo der Sultan und seine Tochter, die schöne Marcebilla, wohnten; da war auf einem Felsen das Schloß Montalban, in welchem Reinold wohnte u. s. w. Nach diesen Oertern wallfahrte er täglich, kein Mensch kann sich die Wonne einbilden die der Knabe daselbst genoß; sein Geist floß über, er stammelte Reimen und hatte dichterische Einfälle. So war die Erziehung dieses Kindes beschaffen bis ins zehnte Jahr. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 66. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54787 (vgl. Stilling-Leben, S. 46-47)] 49 das Laster der Lügen, auf wel chem er ihn oft ertappte, so häßlich versalzen würde. Er verdoppelte seine Strenge, besonders wo er eine Lüge gewahr wurde; allein er richtete dadurch weiter nichts aus, als daß Henrich alle erdenkliche Kunstgriffe anwendete seine Lügen wahrscheinlicher zu ma- chen; und so wurde denn doch der gute Wilhelm betrogen. Sobald merkte der Knabe nicht daß es ihm gelung, so freute er sich und dankte noch wohl Gott, daß er ein Mittel gefunden, einem Strafgericht zu entgehen. Doch muß ich auch dieses zu seiner Ehrenrettung sagen; er log nicht, als nur dann, wann er Schläge damit abwenden konnte. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 68. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54789 (vgl. Stilling-Leben, S. 47-48)] 51 Selbst der Pastor Stollbein wurde neugierig ihn zu sehen. Nun war Henrich noch nie in der Kirche gewesen, hatte daher auch noch nie einen Mann mit einer großen weissen Perücke und feinen schwarzen Kleide gesehen. Der Pastor kam nach Tiefenbach hin, und weil er vielleicht eh in ein ander Haus gegangen war, so wurde seine Ankunft in Stillings Hause vorhin ruchtbar, wie auch warum er gekommen war. Wilhelm unterrichtete seinen Henrichen also, wie er sich betragen müste, wenn der Pastor käme. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 71. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54792 (vgl. Stilling-Leben, S. 50)] 51 »Nein, Pastor, das ist nicht das erste; Kinder müssen erst beten lernen, daß ihnen Gott Verstand geben möge, den Catechismus zu begreifen.« Herr Stollbein war schon im Ernst ärgerlich, und eine scharfe Strafpredigt an Wilhelmen war schon ausstudirt; doch diese Antwort machte ihn stutzig. Wie betest du denn? fragte er ferner. »Ich bete: lieber Gott! gieb mir doch Verstand, daß ich begreifen kann, was ich lese.« Das ist recht, mein Sohn, so bete fort! »Ihr seyd nicht mein Vater.« Ich bin dein geistlicher Vater. »Nein, Gott ist mein geistlicher Vater; ihr seyd ein Mensch ein Mensch kann kein Geist seyn.« Wie, hast du denn keinen Geist, keine Seele? »Ja freylich! wie könnt ihr so einfältig fragen? Aber ich kenne meinen Vater.« Kennst du denn auch Gott, deinen geistlichen Vater? Henrich lächelte. »Sollte ein Mensch Gott nicht kennen?« Du kannst ihn ja doch nicht sehen. Henrich schwieg, und hohlte seine wohlgebrauchte Bibel, und wies dem Pastor den Spruch Röm. I. V. 19. und 20. Nun hatte Stollbein genug. Er hieß den Knaben hinaus gehen, und sagte zu dem Vater: wird alle seine Voreltern übertreffen; fahret fort, ihn wohl unter der Ruthe zu halten; der Junge wird ein großer Mann in der Welt. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 72. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54793 (vgl. Stilling-Leben, S. 50-51)] 56 Als Henrich neun war: Von dieser Zeit an schien Wilhelm ganz verändert; sein Herz war wieder geöfnet worden, und seine frommen Gesinnungen hinderten ihn nicht unter die Leute zu gehn. Alle Menschen, auch die wildesten, empfanden Ehrfurcht in seiner Gegenwart; denn sein ganzer Mensch hatte in der Einsamkeit einen unwiderstehlichen, sanften Ernst angenommen, aus dem eine reine einfältige Seele hervorblickte. Oefters nahm er auch seinen Sohn mit, zu dem er eine ganz neue, warme Liebe spürte. Beym Finden des Messers war er Dortchens ganzen Charakter an dem Knaben gewahr geworden; es war sein und Dortchens Sohn; und über diesen Aufschluß stürzte alle seine Neigung auf Henrichen, und er fand Dortchen in ihm wieder. Nun führte Wilhelm seinen Henrichen zum ersten- mal in die Kirche. Er erstaunte über alles was er sah; sobald aber die Orgel anfing zu gehen, da wurde seine Empfindung zu mächtig, er bekam gelinde Zückungen; eine jede sanfte Harmonie zerschmolz ihn, die Molltöne machten ihn in Thränen fliessen, und das rasche Allegro machte ihn aufspringen. Wie erbärmlich auch sonst der gute Organist sein Handwerk verstund, so war es doch Wilhelmen unmöglich seinen Sohn davon abzubringen, nicht nach geendig- ter Predigt den Organisten und seine Orgel zu sehen. Er sah sie, und der Virtuose spielte ihm zu Gefallen ein Andante, welches vielleicht das erstemal in der Florenburger Kirche war, daß dieses einem Bauren- jungen zu Gefallen geschah. Nun sah auch Henrich zum erstenmal seiner Mutter Grab. Er wünschte nur ihre noch übrige Gebeine zu sehen; da das aber nicht geschehen konnte, so setzte er sich auf den Grabeshügel, pflückte einige Herbst- blumen und Kräuter auf demselben, steckte sie vor sich in seine Knopflöcher und ging weg. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 76. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54797 (vgl. Stilling-Leben, S. 53-54)] 58 f. Henrich geht mit seinem Großvater dem Kohlen brennen. Unterwegs erzählt er seinem Großvater die Historie von der schönen Melusine. Vater Stilling stellte sich, als wenn er über die Geschichte ganz erstaunt wäre, und als wenn er sie in allen Umständen wahr zu seyn glaubte. Dies muste aber auch geschehen, wenn man Henrichen nicht ärgern wollte; denn er glaubte alle diese Historien so fest als die Bibel. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 78. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54799 (vgl. Stilling-Leben, S. 55)] 58 Während der Zeit, daß der Großvater arbeitete, ging er im Wald herum, und betrachtete alle Schönheiten der Gegend und der Natur; alles war ihm neu und unaussprechlich reizend. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 79. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54800 (vgl. Stilling-Leben, S. 55)] 59 Deine Vorfahren sind alle ehrbare fromme Leute gewesen; es giebt wenig Fürsten die das sagen können. Laß' dir das die größte Ehre in der Welt seyn, daß dein Großvater, Urgroßvater und ihre Väter alle Männer waren, die zwar ausser ihrem Hause nichts zu befehlen hatten, doch aber von allen Menschen geliebt und geehrt wurden. Keiner von ihnen hat sich auf unehrliche Art verheurathet, oder sich mit einer Frauensperson vergangen; keiner hat jemahls begehrt, das nicht sein war; und alle sind großmüthig gestorben in ihrem höchsten Alter. Henrich freute sich und sagte: ich werde also alle meine Voreltern im Himmel finden? Ja, erwiederte der Großvater, das wirst du; unser Geschlecht wird daselbst grünen und blühen. Henrich! erinnre dich an diesen Abend so lang du lebst. In jener Welt sind wir von großem Adel; verlier diesen Vorzug nicht! Unser Segen wird auf dir ruhen, so lange du fromm bist; wirst du gottlos werden und deine Eltern verachten, so werden wir dich in der Ewigkeit nicht kennen. Henrich fing an zu weinen, und sagte: Seyd dafür nicht bang, Großvater! ich werde fromm und froh seyn, daß ich Stilling heisse. Erzählet mir aber, was ihr von unsern Voreltern wisset. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 80. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54801 (vgl. Stilling-Leben, S. 56)] 60 Der Großvater erinnert sich, daß sein Ururgroßvater Uli Stilling ohngefähr Anno 1500 geboren wurde und aus der Schweiz nach Tiefenbach kam. Heinrich Stilling, der mein Großvater war: 1596 geb. und wurde 101 Jahre alt. Er war ein Schirrmeister, hatte gemeiniglich 20 bis 30 Fuhrleute bei sich. Zu der Zeit waren die Räubereyen noch sehr im Gange, und noch wenig Wirthshäuser an den Strassen; daher nahmen die Fuhrleute Proviant mit sich. Des Abends stellten sie die Karren in einen Kreis herum, so daß einer an den andern stieß, die Pferde stellten sie mitten ein, und mein Großvater mit den Fuhrleuten waren bei ihnen. Wann sie dann gefüttert hatten, so rief er: Zum Gebet, ihr Nachbarn! dann kamen sie alle, und Henrich Stil- ling betete sehr ernstlich zu Gott. Einer von ihnen hielt die Wache, und die anderen krochen unter ihre Karren an's Trockne, und schliefen. Sie führten aber immer scharf geladen Gewehr und gute Säbel bey sich. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 81. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54802 (vgl. Stilling-Leben, S. 57)] 61 Hanns Stilling, dieser war mein Vater. Er lebte ruhig, wartete seines Ackerbaues und diente Gott. Er hatte den ganzen dreyßigjährigen Krieg erlebt, und war öfters in die äu- sserste Armuth gerathen. Er hat zehn Kinder gezeugt, unter welchen ich der jüngste bin. Ich wurde 1680 geboren, eben da mein Vater 60 Jahr alt war. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 83. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54804 (vgl. Stilling-Leben, S. 58)] 62 Reflexion der Empfindungen des Schriebenden: Ich will sie alle nett aufschreiben, damit ichs nicht vergesse. Die Ritter nennen ihre Voreltern Ahnen, ich will sie auch meine Ahnen heissen. Der Großvater lächelte und schwieg. Des andern Tages gingen sie wieder nach Hause, und Henrich schrieb alle die Erzählung in ein altes Schreibbuch, das er umkehrte, und die hinten weiß gebliebene Blätter mit seinen Ahnen vollpfropfte. Mir werden die Thränen los, da ich dieses schreibe. Wo seyd ihr doch hingeflohen, ihr selge Stunden? Warum bleibt nur euer Andenken dem Menschen übrig! Welche Freude überirrdischer Fülle schmeckt der gefühlige Geist der Jugend! Es giebt keine Nied- rigkeit des Standes, wenn die Seele geadelt ist. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 84. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54805 (vgl. Stilling-Leben, S. 59)] 66 (Wilhelm wieder Schulmeister) nahm daher mit Furcht und Zittern die Stelle an. Er bekleidete sie mit Treue und Eifer, und fing zuletzt an zu muthmassen, daß es Gott nicht ungefällig seyn könnte, wenn er mit seinem Pfund wucherte und seinem Nächsten zu dienen suchte. Nun fing auch unser Henrich an in die lateinische Schule zu gehen, Man kann sich leicht vorstellen, was er für ein Aufsehen unter den andern Schulknaben machte. Er war blos in Stillings Haus und Hof bekannt, und war noch nie unter Menschen gekommen; seine Reden waren immer ungewöhnlich, und wenig Menschen verstunden was er wollte; keine jugendliche Spiele, wornach die Knaben so brünstig sind, rührten ihn, er ging vorbei und sah sie nicht. Der Schulmeister Weiland merkte seinen fähigen Kopf und großen Fleiß; daher lies er ihn ungeplagt; und da er merkte daß ihm das langweilige Auswendiglernen unmöglich war, so befreite er ihn davon, und wirklich Henrichs Methode Latein zu lernen war für ihn sehr vortheilhaft. Er nahm einen lateinischen Text vor sich, schlug die Worte im Lexicon auf, da fand er dann was jedes für ein Theil der Rede sei; suchte ferner die Muster der Abweichungen in der Grammatik u. s. f. Durch diese Methode hatte sein Geist Nahrung in den besten lateinischen Schriftstellern, und die Sprache lernte er hinlänglich schreiben, lesen und verstehen. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 90. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54811 (vgl. Stilling-Leben, S. 63-64)] 67 Abends kamen dann unsere fünf liebe Leute zusammen; sie speisten, schütteten eins dem andern seine Seele aus, und sonderlich erzählte Henrich seine Historien, woran sich alle, Margrethe nicht ausgenommen, ungemein ergötzten. Sogar der ernste pietistische Wilhelm hatte Freude daran, und las sie wohl selbsten Sonntags nachmittags [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 92. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54813 (vgl. Stilling-Leben, S. 64)] 69 Henrich bitte Mariechen, ihm die Historie von Joringel und Jorinde noch einmal. Mariechen zu erzählen: »Es war einmal ein altes Schloß mitten in einem großen dicken Wald; darinnen wohnte eine alte Frau ganz allein, das war eine Erzzauberinn. Am Tage machte sie sich bald zur Katze, oder zum Hasen, oder zur Nachteule; des Abends aber wurde sie ordentlich wieder wie ein Mensch gestaltet. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 95. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54816 (vgl. Stilling-Leben, S. 67)] 72 Vision des Großvaters: …Licht, eben so als wenn Morgens früh die Sonne aufgeht. Ich verwunderte mich sehr. Ei! dacht ich, dort steht ja die Sonne am Himmel; ist das denn eine neue Sonne? Das muß ja was wunderlichs seyn, das muß ich sehen. Ich ging drauf an; wie ich vorn hin kam, siehe da war vor mir eine Ebne, die ich mit meinen Augen nicht übersehen konnte. Ich hab mein lebtag so herrlichs nicht gesehen; so ein schöner Geruch, so eine kühle Luft kam da'rüber her, ich kanns euch nicht sagen. Es war so weiß Licht durch die ganze Gegend, der Tag mit der Sonne ist Nacht dagegen. Da standen viel tausend prächtige Schlösser, eins nah beym andern. Schlösser! - ich kanns euch nicht beschreiben! als wenn sie von lauter Silber wären. Da waren Gärten, Büsche, Bäche. O Gott wie schön! - Nicht weit von mir stand ein großes herrliches Schloß. (Hier liefen dem guten Stilling die Thränen häufig die Wangen herunter, Mariechen und Henrichen auch.) Aus der Thür dieses Schlosses kam jemand heraus, auf mich zu, wie eine Jungfrau. Ach! ein herrlicher Engel! - Wie sie nah bei mir war, ach Gott! da war es unser seliges Dortchen! [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 100. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54821 (vgl. Stilling-Leben, S. 70-71)] Der alte Stilling aber war von der Zeit an, wie einer der in der Fremde und nicht zu Hause ist. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 101. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54822 (vgl. Stilling-Leben, S. 71)] 73 Vorahnung des Todes beim Decken des Hausdaches: Er richtete es so ein, daß er ale Jahr so viel davon neu deckte, soweit das Roggenstroh reichte, daß er für dies Jahr gezogen hatte. 75 frische Rasen oben über den First zu legen 75/76 Des Mittags über Tisch ermahnten sie ihn wieder ernstlich vom Dach zu bleiben; selbst Henrich bat ihn jemand vor Lohn zu kriegen, der vollends mit der Deckerei ein Ende mache. Allein der vortrefliche Greiß lächelte mit einer unumschränkten Ge- walt um sich her; Ein Lächeln, das so manchem Menschen das Herz geraubt und Ehrfurcht eingeprägt hatte! Dabei sagte er aber kein Wort. Ein Mann, der mit einem beständig guten Gewissen alt geworden, sich vieler guten Handlungen bewust ist, und von Jugend auf sich an einen freyen Umgang mit Gott und seinem Erlöser gewöhnt hat, gelangt zu einer Größe und Freiheit, die nie der größte Eroberer erreicht hat. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 106. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54827 (vgl. Stilling-Leben, S. 74)] 77 endlich kam Eberhard wieder, hatte einen großen Rasen um den Kopf hangen, bückte sich zu Henrichen, sah ganz ernsthaft aus und sagte: Sieh, welch eine Schlafkappe! - Henrich fuhr in einander, und ein Schauer ging ihm durch die Seele. Er hat mir hernach wohl gestanden, daß dieses einen unvergeßlichen Eindruck auf ihn gemacht habe. Indessen stieg Vater Stilling mit dem Rasen das Dach hinauf. Henrich schnitzelte an einem Hölzchen; indem er darauf sah, hörte er ein Gepolter; er sah hin, vor seinen Augen wars schwarz wie die Nacht - Lang hingestreckt lag da der theure liebe Mann unter der Last von Leitern, seine Hände vor der Brust gefalten; die Augen starrten, die Zähne klapperten und alle Glieder bebten, wie ein Mensch im starken Frost. Henrich warf eiligst die Leitern von ihm, streckte die Arme aus, und lief wie ein Rasender das Dorf hinab und erfüllte das ganze Thal mit Zeter und Jammer. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 108. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54829 (vgl. Stilling-Leben, S. 75-76)] 79 Margrethe Stilling am Sterbebett ihres Mannes: sie dehnte sich aus (denn sie war vom Alter ein wenig gebückt) richtete ihre Augen auf und reckte die Hände gen Himmel, und betete mit dem feurigsten Herzen; sie holte jedesmal aus tiefster Brust Odem, und den verzehrte sie in einem brünstigen Seufzer. Sie sprach die Worte plattdeutsch nach ihrer Gewohnheit aus, aber sie waren alle voll Geist und Leben. Der Inhalt ihrer Worte war, daß ihr Gott und Erlöser ihres lieben Mannes Seele gnädig aufnehmen, und zu sich in die ewige Freude nehmen möge. Wie sie anfing zu beten, sahen alle ihre Kinder auf, erstaunten, sunken im Bett auf die Knie und beteten in der Stille mit. Nun kam der letzte Herzensstoß; der ganze Körper zog sich; er stieß einen Schrei aus; nun war er verschieden. Margrethe hörte auf zu beten, faßte dem entseelten Manne seine rechte Hand an, schüttelte sie und sagte: Leb wohl, Eberhard! in dem schönen Himmel! bald sehen wir uns wieder! [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 111. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54832 (vgl. Stilling-Leben, S. 77-78)] 79/80 Herr Pastor Stollbein ist aus dieser Geschichte als ein störrischer wunderlicher Mann bekannt, allein ausser dieser Laune war er gut und weichherzig. Wie Stilling ins Grab gesenkt wurde, weinte er helle Thränen; und auf der Kanzel waren unter beständigem Weinen seine Worte: Es ist mir leid um dich, mein Bruder Jonathan! Wollte Gott, ich wäre für dich gestorben! und der Text zur Leichenrede war: Ei du frommer und getreuer Knecht! du bist über weniges getreu gewesen, ich will dich über viel setzen; gehe ein zu deines Herrn Freude! Sollte einer meiner Leser nach Florenburg kommen, gegen der Kirchthür über, da wo der Kirchhof am höchsten ist, da schläft Vater Stilling auf dem Hügel. Sein Grab bedeckt kein prächtiger Leichstein; aber oft fliegen im Frühling ein Paar Täubchen einsam hin, girren und liebkosen sich zwischen dem Gras und Blumen, die aus Vater Stillings Moder hervorgrünen. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jugend, S. 112. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54833 (vgl. Stilling-Leben, S. 78-79)] Heinrich Stillings Jünglingsjahre 83 Margarethe trauerte indessen still und ohne Klagen; Henrich aber redete viel mit ihr von seinem Großvater. Er dachte sich den Himmel wie eine herrliche Gegend von Wäldern, Wiesen und Feldern, wie sie im schönsten May grünen und blühen, wenn der Südwind drüber her fächelt, und die Sonne jedem Geschöpfe Leben und Gedeihen einflößt. Dann sah er Vater Stilling mit hellem Glanz ums Haupt einhertreten, und ein silberweiß Gewand um ihn herabfließen. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 2. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54835 (vgl. Stilling-Leben, S. 81)] 84 ich weine um den Tisch. Der Oheim lachte, und sagte: Du magst wohl um ein altes eichenes Bret weinen! Henrich wurde ärgerlich, und versetzte: dieses Gewerbe dahinten, und diesen Fuß da, und diese Ausschnitte am Gewerbe hat mein Großvater gemacht, - wer ihn lieb hat, kann das nicht zerbrechen. Simon wurde zornig, und erwiederte: er war mir nicht groß genug, und wo sollt ich denn den meinigen lassen? Ohm! sagte Henrich, den solltet ihr hieher gestellt haben, bis meine Großmutter todt ist, und wir andern fort sind. Indessen veränderte sich alles; das sanfte Wehen des Stillingschen Geistes verwandelte sich ins Gebrause einer ängstlichen Begierde nach Geld und Gut. Margrethe empfand dieses, und mit ihr ihre Kinder; sie zog sich zurück in einen Winkel hinter dem Ofen, und da verlebte sie ihre übrigen Jahre; sie wurde staarblind, doch hinderte sie dieses nicht an ihrem Flachsspinnen, womit sie ihre Zeit zubrachte. Vater Stilling ist hin, nun will ich seinem Enkel, dem jungen Henrich, auf dem Fuß folgen, wo er hingeht, alles andre soll mich nicht aufhalten. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 4. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54837 (vgl. Stilling-Leben, S. 82-83)] 85 Im Sommer täglich zu Fuß in die Lateinschule in die Stadt Florenburg: Des Morgens früh nahm Henrich seinen Schulsack, worinn nebst den nöthigen Schulbüchern, und einem Butterbrod für den Mittag, auch die Historia von den vier Heymonskindern, oder sonst ein ähnliches Buch, nebst einer Hirtenflöte, sich befande; sobald er dann gefrühstückt hatte, machte er sich auf den Weg, und wenn er hinaus vors Dorf kam, so nahm er sein Buch heraus, und lase während dem Gehen; oder er trillerte alte Romanzen und andere Melodien auf seiner Flöte. Das Lateinlernen wurde ihm gar nicht schwer, und er behielt dabey Zeit gnug, alte Geschichten zu lesen. Des Sommers gieng er alle Abend nach Haus, des Winters aber kam er nur Samstags Abends, und ging des Montags Morgens wieder fort; dieses währte vier Jahre, doch blieb er aufs letzte des Sommers über viel zu Haus, und half seinem Vater am Schneiderhandwerk, oder er machte Knöpfe [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 5. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54838 (vgl. Stilling-Leben, S. 84)] 86 Eine Geschichte, wie sie Nerudas Dědova mísa festhält: Der junge Frühling fragt: was machst du da, Peter? Ho! sagt das Kind, ich mach ein Tröglein, daraus sollen Vater und Mutter essen, wenn ich groß bin. Der junge Frühling und seine Frau sahen sich eine Weile an, fiengen endlich an zu weinen, und hohlten alsofort den alten Großvater an den Tisch, und ließen ihn mit essen. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 7. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54840 (vgl. Stilling-Leben, S. 85)] 87 Stilling predigt den Kindern - von einem Stuhl und mit einem Weiberschurz auf dem Rücken und einem Kragen von weißem Papier: Dieses that er oft, denn es war auch nur sein einziges Kinderspiel, das er jemalen mag getrieben haben. Nun trug es sich einsmalen zu, als er recht heftig declamirte, und seinen Zuhörern die Hölle heiß machte, daß Herr Pastor Stollbein auf einmal in die Stube trat; er lächelte nicht oft, doch konnte ers jetzt nicht verbeißen; Henrich lachte aber nicht, sondern er stund wie eine Bildsäule, blaß wie die Wand, und das Weinen war ihm näher als das Lachen; seine Zuhörer stellten sich alle an die Wand und falteten die Hände. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 9. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54842 (vgl. Stilling-Leben, S. 87)] 91 In Stollbeins Katechisationsstunden wurde er ermahnt, sich nicht vorzudrängen: Stollbein spazierte die Stube ab, und indem er wiederum herauf kam, sagte er lächelnd: »Stilling, was heißt das zu deutsch: medium tenuere beati?« Das heißt: die Seeligen haben den Mittelweg gehalten; doch deucht mir, man könnte auch sagen, plerique medium tenentes sunt damnati. (Die mehresten Leute sind verdammt, die das Mittel gehalten haben, das ist: Die weder kalt noch warm sind). Herr Stollbein stutzte, sah ihn an, und sagte: Junge! ich sage dir, du sollst das Recht haben, voran zu stehen, du hast vortreflich geantwortet. Doch nun stund er nie wieder vornen, damit ihm die andre Kinder nicht böswerden möchten. Ich weiß nicht, ob es Feigherzigkeit, oder ob es Demuth war. Nun fragte ihn Herr Stollbein wieder: Warum gehst du nicht an deinen Ort? Er antwortete: Wer sich selbst erniedriget, der soll erhöhet werden. Schweig! erwiederte der Pastor, du bist ein vorwitziger Bursche. Dieses ging nun so seinen Gang fort, bis im Jahr 1755 auf Ostern, da Henrich Stilling vierzehn und ein halb Jahr alt war; [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 13. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54846 (vgl. Stilling-Leben, S. 89)] 92 auf Ostern gieng er zum Nachtmahl, und alsofort wurde er zum Schulmeister nach Zellberg bestimmt, welchesAmt er den ersten May antreten mußte. Die Zellberger verlangten auch mit Schmerzen nach ihm, denn sein Ruhm war weit und breit erschollen. Die Wonne läßt sich nicht aussprechen, welche der junge Stilling hier-über empfand, [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 13. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54846 (vgl. Stilling-Leben, S. 90)] 93 Zellberg: Auf den kleinen Dörfern in diesen Gegenden wird vom ersten May bis auf Martini, und also den Sommer durch, wöchentlich nur zween Tage, nemlich Freytags und Samstags, Schul gehalten; und so wars auch zu Zellberg. Stilling ging Freytags Morgens mit Sonnen-Aufgang hin, und kam des Sonntags Abends wieder. Dieser Gang hatte für ihn etwas unbeschreibliches; - besonders wenn er des Morgens vor Sonnenaufgang auf der Höhe aufs Feld kam, und die Sonne dort aus der Ferne, zwischen den buschigten Hügeln aufstieg; vor ihr her säuselte ein Windchen, und spielte mit seinen Locken; dann schmolz sein Herz, er weinte oft, und wünschte Engel zu sehen, wie Jacob zu Mahanaim. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 15. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54848 (vgl. Stilling-Leben, S. 91)] 95 Er quartirte sich daselbst ein; und das erste, was er vornahm, war die Untersuchung der Krügerischen Bibliothek; er schlug einen alten Folianten auf, und fandeine Uebersetzung Homers in teutsche Verse; er hüpfte für Freuden, küßte das Buch, drückte es an seine Brust, bat sichs aus, und nahm es mit in die Schule; wo ers in der Schublade unter dem Tisch sorgfältig verschloß, und so oft darinnen lase, als es ihm nur möglich war. Auf der lateinischen Schule hatte er den Virgilius erklärt, und bey der Gelegenheit so viel vomHomer gehört, daß er vorher Schätze darum gegeben hätte, um ihn nur einmal lesen zu können; nun bot sich ihm hier die Gelegenheit von selbst dar, und er nutzte sie auch rechtschaffen. Schwerlich ist die Ilias seit der Zeit, daß sie in der Welt gewesen, mit mehrerem Entzücken und Empfindung gelesen worden. Hector war sein Mann, Achill aber nicht, Agamemnon noch weniger; mit einem Wort: er hielt es durchgehends mit den Trojanern, ob er gleich den Paris mit seiner Helenen kaum des Andenkens würdigte; besonders weil er immer zu Haus blieb, da er doch die Ursache des Kriegs war. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 18. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54851 (vgl. Stilling-Leben, S. 93)] 96 Zellenberger Bauern erzählten ihm Geschichten : »Es ist gut, Schulmeister, daß du kommst, ich bin doch müde, nun hör, was ich dir sagen will; ich denke so eben dran. Ich und dein Großvater haben vor drei- ßig Jahren einmal hier Kohlen gebrennt, da hatten wir viel Freude! wir kamen immer bey einander, aßen und trunken zusammen, und redeten dann immer von alten Geschichten. Du siehst hier rund umher, so weit dein Auge trägt, keinen Berg, oder wir besannen uns auf seinen Namen, und den Ort, wo er am nächsten liegt; das war uns dann nun so recht eine Lust, wenn wir da so lagen, und uns Geschichten erzählten, und zugleich den Ort zeigen konnten, wo sie geschehen waren.« [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 20. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54853 (vgl. Stilling-Leben, S. 94-95)] 97 ein hoher Berg mit dreyen Köpfen, der mittelste heißt noch der Kindelsberg, da stand vor uralten Zeiten ein Schloß, das auch so hieß; da wohn- ten Ritter drauf, das waren sehr gottlose Leute. Da zur Rechten hatten sie, an dem Kopf, ein sehr schönes Silber-Bergwerk, wovon sie stockreich wurden. Nu, was geschah! Der Uebermuth ging so weit, daß sie sich silberne Kegel machten; /…/ [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 21. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54854 (vgl. Stilling-Leben, S. 95)] Da kam der junge Rittersmann, Auf seinem schwarzen Pferde:,: Der sprach die Jungfrau freundlich an, Ihr Herze er stolz begehrte:,: Die Jungfrau sprach: du kannst mich nie Zu deinem Weiblein haben:,: Wenns dürr ist das grüne Lindlein hie, Dann will ich dein Herze laben:,: /…/ Die Jungfrau sprach in großer Noth: Ich kann dich nimmer lieben!:,: Der stolze Ritter stach sie todt, Das thät den Graf betrüben:,: Der Graf kam noch denselben Tag, Er sah mit traurigem Muthe:,: Wie da bey dürrer Linde lag Die Jungfrau in rothem Blute:,: [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 23. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54856 (vgl. Stilling-Leben, S. 96-97)] 100 Heinrich Stillings Schulmethode Des Morgens, sobald die Kinder in die Schule kamen, und alle beysammen waren, so betete er mit ihnen, und catechisirte sie in den ersten Grundsätzen des Christenthums nach eigenem Gutdünken ohne Buch; dann ließ er einen jeden ein Stück lesen, wenn das vorbey war, so ermunterte er die Kinder, den Catechismus zu lernen, indem er ihnen versprach, schöne Historien zu erzählen, wenn sie ihre Aufgabe recht gut auswendig können würden; während der Zeit schrieb er ihnen vor, was sie nachschreiben sollten, ließ sie noch einmal alle lesen, und denn kam's zum Erzählen, wobey vor und nach alles erschöpft wurde, was es jemals in der Bibel, im Kaiser Octavianus, der schönen Magelone, und andern mehr gelesen hatte; auch die Zerstörung der königlichen Stadt Troja wurde mit vorgenommen. So war es auf seiner Schule Sitte und Gebrauch von einem Tag zum andern. Es läßt sich nicht aussprechen, mit welchem Eifer die Kinder lernten, um nur früh ans Erzählen zu kommen; waren sie aber muthwillig, oder nicht fleißig gewesen, so erzählte der Schulmeister nicht, sondern lase selbsten. Niemand verlor bey dieser seltsamen Manier zu unterweisen, als die Abc -Schüler, und die am Buchstabiren waren; dieser Theil des Schulamts war Stilling viel zu langweilig. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 26. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54859 (vgl. Stilling-Leben, S. 98-99)] 101 Jakob Böhm-Lektüre und Unterhaltungen mit Krüger über Böhm und Parascelsus: Stilling selber fand Geschmack darinnen, nicht bloß wegen des Steins der Weisen, sondern weilen er ganz hohe und herrliche Begriffe, besonders im Böhm, zu finden glaubte; wenn sie das Wort: Rad der ewigen Essenzien, oder auch schielender Blitz, und andre mehr aussprachen, so empfunden sie eine ganz besondere Erhebung des Gemüths. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 27. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54860 (vgl. Stilling-Leben, S. 99)] 103 - sein weiteres Bleiben in Zellenburg scheiterte an der Feindschaft zwischen Stollbein und Krüger: auf Martini die Schule verlassen. Herr Pastor Stollbein und Herr Förster Krügerwaren Todfeinde. Dieses kam daher: Stollbein war einunumschränkter Monarch in seinem Kirchspiel; sein geheimes Raths-Collegium, ich meyne das Consistorium, bestund aus lauter Männern, die er selber angeordnet hatte, und von denen er voraus wußte, daß sie einfältig gnug waren, immer Ja zu sagen. Vater Stilling war der letzte gewesen, der noch vom vorigen Prediger bestellet worden; daher fand er nirgends Widerstand. Er erklärte Krieg und schloß Frieden, ohne jemand zu Rath zu ziehen, alles fürchtete ihn, und zitterte in seiner Gegenwart. Doch kann ich nicht sagen, daß das gemeine Wesen unter seiner Regierung sonderlich gelitten hätte, er hatte bey seinen Fehlern eine Menge guter Eigenschaften. Nur Krüger und einige der Vornehmsten zu Florenburg haften ihn so sehr, daß sie fast gar nicht in die Kirche gingen, vielweniger bey ihm communicirten. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 28. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54861 (vgl. Stilling-Leben, S. 100)] 102/103 Gott!versetzte er, wie soll ichs doch machen? Die wollen haben, ich soll die Kinder rechnen lehren, und der Herr Pastor will's nicht haben! Wem soll ich nun folgen? [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 29. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54862 (vgl. Stilling-Leben, S. 101)] 105 Sein Vater Wilhelm war dagegen, die Stelle gegen den Willen Stollbeins behalten zu wollen: Simon versetzte, ich hätt' ihn zu Zellberg gelassen, der Pastor wird doch noch zu bezwingen seyn. Das hätte wohl geschehen können, antwortete Wilhelm, aber man hat ihn her- nach doch immer auf den Hals, und wird seines Le- bens nicht froh. Leiden ist besser als Streiten. Meinet- wegen, fuhr Simon fort, ich schier mich nichts um ihn, er sollte mir nur einmal zu nahe kommen! Wil- helm schwieg, und dachte: das läßt sich in der Stube hinterm Ofen gut sagen. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 33. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54866 (vgl. Stilling-Leben, S. 103)] 105 f Stiling zum Hausinformator im Hause Steifmann in Dorlingen, 9 Stunden von zu Hause: Die Bedinge waren: daß Herr Steifmann von Neujahr an bis nächste Ostern Unterweisung für seine Kinder verlangte; dafür gab er Stillingen Kost und Trank, Feuer und Licht; fünf Reichsthaler Lohn bekam er auch, allein dafür mußte er von den benachbarten Bauern so viel Kinder in die Lehre nehmen, als sie ihm schicken würden, das Schulgeld davon zog Steifmann; auf die Weise hatte er die Schule fast umsonst. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 33. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54866 (vgl. Stilling-Leben, S. 104)] 107 Charakteristik Steifmanns: Steifmann war reich, er hatte viel Geld, Güter, Ochsen, Kühe, Schaafe, Ziegen und Schweine, dazu seine Stahlfabrique, worinnen Waaren verfertiget wurden, mit denen er Handlung trieb. Er hatte jetzt nur erst die zweyte Frau, hernach aber hat er die dritte, oder wohl gar die vierte, geheyrathet; das Glück war ihm so günstig, daß er verschiedene Frauen nach einander nehmen konnte, wenigstens schien ihm das Sterben und Wiedernehmen der Weiber eine besondere Belustigung zu seyn. Die jetzige Frau war ein gutes Schaaf, ihr Mann redete oft gar erbaulich mit ihr von den Tugenden seiner ersten Frauen, so, daß sie, aus großer Empfindung des Herzens, oft blutige Thränen weinte. Sonsten war er gar nicht zum Zorn aufgelegt; er redete nicht viel, was er aber sagte, das war von Gewicht und Nachdruck, weilen es gemeiniglich jemand, der gegenwärtig war, beleidigte. Er ließ sich auch anfänglich mit seinem neuen Schulmeister in Gespräche ein, allein er gefiel ihm nicht. Von allem, was Stilling gewohnt war zu reden, verstund er nicht ein Wort, eben so wenig, als Stilling begriff, wovon sein Patron redete. Daher schwiegen sie beyde, wenn sie beysammen waren. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 37. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54870 (vgl. Stilling-Leben, S. 106)] 108 Stillings Plage mit seinen Schülern: vierschrötige Jungens, die sich gegen ihren Schulmeister verhielten, wie so viel Patagonier gegen einen Franzosen. Zehn bis zwölf Mädchen von eben dem Schrot und Korn kamen auch, und setzten sich hinter den Tisch. Stilling wußte nicht recht, was er mit diesem Volk anfangen sollte. Ihm war bang für so vielen wilden Gesichtern; doch versuchte er die gewöhnliche Schulmethode, und ließ sie beten, singen, lesen und den Catechismus lernen. Dieses gieng ungefehr vierzehn Tage seinen ordentlichen Gang; allein nun war es auch geschehen, ein oder anderer Cosaken-ähnlicher Junge versuchte es, den Schulmeister zu necken. Stilling brauchte den Stock rechtschaffen, aber mit so widrigem Erfolg, daß, wenn er sich müde auf dem starken Buckel zerdroschen hatte, der Schüler aus vollem Hals lachte, der Schulmeister aber weinte. Das war dann dem Herrn Steifmann so seine liebste Belustigung; wenn er in dem Schulstübchen Lerm hörte, so kam er, that die Thür auf, und ergötzte sich von Herzen. Dieses Verfahren gab Stillingen den letzten Stoß. Seine Schule wurde zum polnischen Reichstag, wo ein jeder that, was ihn recht dauchte. So wie nun der arme Schulmeister in der Schule alles gebrannte Herzeleid ausstund, so hatte er auch außer derselben keine frohe Stunde. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 38. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54871 (vgl. Stilling-Leben, S. 107)] 108 In dem Hause selbsten war ihm niemand hold, alle sahen ihn für einen einfältigen dummen Knaben an; denn ihre niederträchtige, ironisch-zotigte und zweydeutige Reden verstund er nicht,er antwortete immer gutherzig, wie ers meynte nach dem Sinn der Worte, suchte überhaupt einen jeden mit Liebe zu gewinnen, und dieses war eben der gerade Weg, eines jeden Schuhputzer zu werden. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 39. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54872 (vgl. Stilling-Leben, S. 107-108)] 109 fast erstickt, als ihn die Knechte in der Rauchkammer einsperrten: that einen Sprung nach dem Holz, griff etliche Stücke,indessen wirbelte einer von den Dreschern auswendig die Thür zu. Der arme Stilling gerieth in Todesangst, der Rauch erstickte ihn, es war stockfinster da, er wurde irre, und wußte nicht mehr, wo die Thür war. In diesem erschrecklichen Zustand that er einen Sprung gegen die Wand, und traf just gerade gegen die Thür, dergestalt, daß der Wirbel zerbrach, und dieThür aufsprung. Stilling stürzte die Treppe herunter bis auf die Tenne, wo er betäubt und sinnlos hingestreckt lag. Als er wieder zu sich selbst kam, sahe er die Drescher nebst Herrn Steifmann um sich stehen, und aus vollem Halse lachen. Des sollte doch der T... nicht lachen! sagte Steifmann. Dieses ging Stillingen durch die Seele. Ja! antwortete er, der lacht würklich, daß er endlich einmal seines Gleichen gefunden hat. Das gefiel seinem Patron außerordentlich, und er pflegte wohl zu sagen: das sey das erste und auch das letzte gescheute Wort gewesen, das er von seinem Schulmeister gehört habe. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 40. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54873 (vgl. Stilling-Leben, S. 108)] 110 Wilhelm Stilling heiratete eine 28j-hrige Witwe aus Leindorf: er mußte sich erst tief prüfen, ehe er finden konnte, ob ihm wohl oder weh dabey ward; so ganz verschiedene Empfindungen stiegen in seinemGemüth auf. Endlich schritte er ein Paarmal vor sich hin, und sagte zu sich selbst: Meine Mutter ist im Himmel, mag diese einsweilen in diesem Jammerthal bey mir und meinem Vater ihre Stelle vertreten. Dereinsten werd ich doch diese verlassen, und jene suchen. Mein Vater thut wohl! - Ich will sie doch recht lieb haben, und ihr allen Willen thun, so gut ich kann, so wird sie mich wieder lieben, und ich werde Freude haben. Nun machte er Steifmann die Sache bekannt, forderte etwas Geld, und reiste nach Tiefenbach zurück. Er wurde daselbst von allen mit tausend Freuden empfangen, besonders von Wilhelmen, dieser hatte ein wenig gezweifelt, ob sein Sohn auch wohl murren würde; da er ihn aber so heiter kommen sah, flossen ihm die Thränen aus den Augen, er sprung auf ihn zu,und sagte: Willkommen, Henrich! [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 42. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54875 (vgl. Stilling-Leben, S. 109-110)] 112 Begegnung mit einer Magd auf dem Weg zur Schloßruine: Nun rauschte etwas zur Seiten im Gesträuche, er schaute hin, und sahe ein anmuthiges Weibsbild stehen, blaß, aber zärtlich im Gesicht, in Leinen und Baumwolle gekleidet. Er schauderte, und das Herz klopfte ihm, da es aber noch früh am Tage war, so furchte er sich nicht; sondern fragte: Wo seyd ihr her? Sie antwortete: von Tiefenbach. Das kam ihm fremd vor, denn er kannte sie nicht. Wie heißt ihr denn? - Dorthchen. Stilling that einen hellen Schrey, und sank zur Erden in Ohnmacht. Das gute Mädchen wußte nicht, wie ihr geschah; sie kannte den jungen Burschen auch nicht. Denn sie war erst als Magd auf Neujahr nach Tiefenbach gekommen. Sie lief bey ihn, kniete bey ihn auf die Erde und weinte. Sie verwunderte sich sehr über den jungen Menschen, besonders,daß er so weiche Hände, und ein so weißes Gesicht hatte; auch waren seine Kleider reiner und sauberer, auch wohl ein wenig besser, als der andern Burschen ihre. Der Fremde gefiel ihr. Indessen kam Stilling wieder zu sich selber, er sahe die Weibsperson nahe bey sich, er richtete sich auf, sah sie starr an, und fragte zärtlich: was macht ihr hier? Sie antwortete sehr freundlich: ich will dürres Holz lesen. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 44. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54877 (vgl. Stilling-Leben, S. 111)] 113 Nach der Hochzeit des Vaters blieben in Dorlingen seine Schüler von der Schule weg:Dorlingen. Allein seine Schüler kamen nicht wieder; das Frühjahr rückte heran, und ein jeder begab sich aufs Feld. Da er nun nichts zu thun hatte, so wies man ihm verächtliche Dienste an, so, daß ihm sein tägliches Brod recht sauer wurde. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 45. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54878 (vgl. Stilling-Leben, S. 112)] 115 Die Leindorfer, wo Wilhelm wohnte, beriefen ihn auf Michaelis 1756 zu ihrem Schulmeister. Stilling willigte in diesen Beruf mit Freuden; er war nun glückseelig, und trat mit seinem siebenzehnten Jahr dieses Amt wieder an. Er speiste bey seinen Bauern um die Reihe, vor und nach der Schule aber, mußte er seinem Vater am Handwerk helfen. Auf diese Weise blieb ihm keine Zeit zum Studiren übrig, als nur, wenn er auf der Schule war; und da war der Ort nicht, um selber zu lesen, sondern andre zu unterrichten. Doch stahl er manche Stunde, die er auf die Mathematik und andere Künsteleyen verwandte. Wilhelm merkte das, er stellte ihn darüber zur Rede, und schärfte ihm das Gewissen. Stilling antwortete mit betrübtem Herzen: »Vater! meine ganze Seele ist auf dieBücher gerichtet, ich kann meine Neigung nicht bändigen, gebt mir vor und nach der Schule Zeit, so will ich kein Buch auf die Schule bringen.« Wilhelm erwiederte das ist doch zu beklagen! alles, was du lernst, bringt dir ja kein Brod und Kleider ein, und alles, was dich ernähren könnte, dazu bist du ungeschickt. Stilling betrauerte selber seinen Zustand, denn das Schulhalten war ihm auch zur Last, [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 49. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54882 (vgl. Stilling-Leben, S. 114-115)] 116 Stillings positive Erfahrungen mit dem Pastor, unter dessen Aufsicht die Leindorfer Schule war: Auch der Herr Pastor Dahlheim, zu dessen Kirchspiel Leindorf gehörte,ein Mann, der seinem Amt Ehre machte, liebte ihn. Stilling wunderte sich über die Maßen, als er das erstemal bey diesem vortreflichen Mann auf sein Zimmer kam; er war ein Greis von achtzig Jahren, und lagjust auf einem Ruhebettchen, als er zur Thür herein trat; er sprung auf, bot ihm die Hand, und sagte: »Nehmt mir nicht übel, Schulmeister! daß ihr mich auf dem Bette findet, ich bin alt und meine Kräfte wanken.« Stilling wurde von Ehrfurcht durchdrungen,ihm flossen die Thränen die Wangen herab. Herr Pastor! antwortete er, es freut mich recht sehr, unter Ihrer Aufsicht Schule zu halten! Gott gebe Ihnen viel Freude und Seegen in Ihrem Alter! Ich danke euch, lieber Schulmeister! erwiederte der edle Alte, ich bin, Gott sey Dank! nahe an dem Ziel meiner Laufbahn, und ich freue mich recht auf meinen großen Sabbath. Stilling gieng nach Hause, und unterwegens machte erdie besondere Anmerkung: Herr Dahlheim müßte entweder ein Apostel, oder Herr Stollbein ein Baalspfaffe seyn. Herr Dahlheim besuchte zuweilen die Leindorfer Schule, wenn er auch dann eben nicht alles in gehöriger Ordnung fande, so fuhr er nicht aus, wie Herr Stollbein, sondern er ermahnte Stillingen ganz liebreich, dieses oder jenes abzuändern; und das that bey einem so empfindsamen Gemüth immer die beste Wirkung. Diese Behandlung des Herrn Pastors war würklich zu bewundern, denn er war ein gähzorniger hitziger Mann, aber nur gegen die Laster, nicht gegen die Fehler; dabey war er auch gar nicht herrschsüchtig. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 50. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54883 (vgl. Stilling-Leben, S. 115-116)] 117/118 Warum er die Leindorfer Schule verlassen mußte: manche dachten, er versäume die Kinder, andere störten seine Sonnenuhren und Beobachtungen der Sonne. Oftmalen stunden zween oder mehrere auf der Straßen still, und sahen ihn im Fenster durch ein Gläschen nach der Sonne gucken; da sagte dann der eine: der Kerl ist nicht gescheut! - der andere vermuthete! er betrachte den Himmelslauf, und beyde irrten sehr, es waren nur Stücke zerbrochener Füße von Brandtweinsgläsern. Diese hielte er vors Auge, und betrachtete gegen die Sonne die herrlichen Farben in ihren mancherley Gestalten, welches ihn, nicht ohne Ursache, königlich ergötzte. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 53. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54886 (vgl. Stilling-Leben, S. 117-118)] 118 Ein Angebot aus Preysingen, zwo Stunden südwärts von Leindorf: Dieser Prediger war ein weitläuftiger Anverwandter des seligen Dorthchens, mithin auch des jungen Stillings. Diese Ursache nebst dem allgemeinen Ruf von seinen seltnen Gaben, hatten den braven Pastor Goldmann bewogen, ihn der Preysinger Gemeinde vorzuschlagen. Er wanderte also auf Michaelis nach seiner neuen Bestimmung. *er war froh, das leidige Schneiderhandwerk loszuwerden und zeit für seine mathematischen Studien zu haben [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 54. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54887 (vgl. Stilling-Leben, S. 118)] 118 So brach er inThränen aus, setzte sich eine Weile auf die Rasen nie-der, und ergötzte sich an der herrlichen Aussicht. Hierfieng er zuerst an, ein Lied zu versuchen, es gelung ihm auch so ziemlich, denn er hatte eine natürliche Anlage dazu. Ich habe es unter seinen Papieren nachgesucht, aber nicht finden können. Hier nahm er sich nun vest und unwiderruflich vor, Fleiß und Eifer auf die Schule zu verwenden, die übrige Zeit aber in seinem mathematischen Studium fortzufahren. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 55. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54888 (vgl. Stilling-Leben, S. 118-119)] 120 Seine Wohnung wurde ihm bey einer reichen, vornehmen und dabey über die Maßen dicken Wittwe, angewiesen, die sich Frau Schmoll nennte, und zwo schöne sittsame Töchter hatte, wovon die älteste Maria hieß, und zwanzig Jahr alt war; die andre aber hieß Anna, und war achtzehn Jahr alt. Beyde Mädchen waren recht gute Kinder, so wie auch ihre Mutter. Sie lebten zusammen wie die Engel, in der edelsten Harmonie, und so zu sagen, in einem Ueberfluß von Freuden und Vergnügen, denn es fehlte ihnen nichts, und das wußten sie auch zu nutzen, daher brachten sie ihre Zeit, nebst den Hausgeschäften, mit Singen und allerhand erlaubten Ergötzlichkeiten zu. Stilling liebte zwar das Vergnügen, allein, die Unthätigkeit des menschlichen Geistes war ihm zuwider, daher konnte er nicht begreifen, daß die Leute keine Langeweile hatten. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 56. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54889 (vgl. Stilling-Leben, S. 119)] 120 Stilling hatte noch an keine Frauenliebe gedacht; diese Leidenschaft und das Heyrathen war in seinen Augen eins, und jedes ohne das andre ein Gräuel. Da er nun gewiß wußte, daß er keine von den Jungfern Schmoll heyrathen konnte, indem keine, weder einen Schneider, noch einen Schulmeister nehmen durfte, sounterdrückte er jeden Keim der Liebe, der so oft, besonders zu Maria, in seinem Herzen aufblühen wollte.Doch, was sage ich vom Unterdrücken! wer vermag das aus eigner Kraft? - Stillings Engel, der ihn leitete, kehrte die Pfeile von ihm ab, die auf ihn geschossen wurden. Die beyden Schwestern dachten indessen ganz anders; der Schulmeister gefiel ihnen im Herzen,er war in seiner ersten Blüthe, voller Feuer und Empfindung; denn ob er gleich ernst und still war, so gab es doch Augenblicke, wo sein Licht aus allen Winkeln des Herzens hervorglänzte. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 56. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54889 (vgl. Stilling-Leben, S. 119-120)] 123 Seine Lektüre: Barockromane: Asianische Banise oderBlutiges, doch mutiges Pegu,168, von Heinrich Anselm von Ziegler und Kliphauen, ein höfischer Roman. Des christlichen deutschen Großfürsten Herkules und der böhmischen königlichen Fräulein Valiska Wundergeschichte, 1659, abenteurerlicher Ritterroman von Andreas Heinrich Buchholz (1607 - 1671) eine neue Sprache zu hören, aber sie entzückte und rührte ihn bis auf den Grund seines Herzens. Blitz, Donner und Hagel, als die rächenden Werkzeuge des gerechten Himmels - war ein Ausdruck für ihn, dessen Schönheit er nicht genug zu rühmen wußte. Goldbedeckte Thürne - welche herrliche Kürze! und so bewunderte er das ganze Buch durch, die Menge von Metaphern, in welchen der Styl des Herrn von Ziegler gleichsam schwomme. Ueber alles aber schien ihm der Plan dieses Romans ein Meisterstück der Erdichtung zu seyn, und der Verfasser desselben war in seinen Augen der größte Poet, den jemals Teutschland hervorgebracht hatte. Als er im Lesen dahin kam, wo Balacin seine Banise im Tempelerrettet, und den Chaumigrem ermordet, so überlief ihn der Schauer der Empfindung dergestalt, daß er fortlief, in einen geheimen Winkel niederkniete, und Gott dankte, daß Er doch endlich den Gottlosen ihren Lohn auf ihr Haupt bezahle, und die Unschuld auf den Thron setze. Er vergoß milde Thränen, und lase mit eben der Wärme auch den zweyten Theil durch. Dieser gefiel ihm noch besser; der Plan ist verwickelter, und im Ganzen mehr romantisch. Darauf lase er die zween Quartbände von der Geschichte des christlichen teutschen Großfürsten Hercules, und der Königlich Böhmischen Prinzessin Valiska, und dieses Buch gefiel ihm gleichfalls über die Maßen; [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 62. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54895 (vgl. Stilling-Leben, S. 123-124)] 123/124 Was das für eine Glückseligkeit sey, eine solche neue Schöpfung von Geschichtenzu lesen, gleichsam mit anzusehen, und alles mit den handelnden Personen zu empfinden, das läßt sich nur denen sagen, die ein Stillings Herz haben. Es war einmal eine Zeit, da man sagte: der Hercules, die Banise und dergleichen, ist das größte Buch, das Teutschland hervorgebracht hat. Es war auch einmal eine Zeit, da mußten die Hüte der Mannspersonendreyeckigt hoch in die Luft stehen, je höher, je schöner. Der Kopfputz der Weiber und Jungfrauen stand derweil in die Queere, je breiter, je besser. Jetzt lacht man der Banise und des Hercules, eben so, wie man eines Hagestolzen lacht, der noch mit hohem Hut, steifen Rockschößen, und ellenlangen herabhangenden Aufschlägen einhertritt. Anstatt dessen trägt man Hütchen, Röckchen, Manschettchen, liest Amourettchen, und buntschäckigte Romänchen, und wird unter der Hand so klein, daß man einen Mann aus dem vorigen Jahrhundert, wie einen Riesen ansieht, der von Grobheit strotzt. Dank sey's vorab Klopstock, und so die Reihe herunter bis auf - daß sie dem unteutschen tändelnden Ton die Spitze geboten, und ihn auf die Neige gebracht haben. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 63. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54896 (vgl. Stilling-Leben, S. 124-125)] 125 Alles, was er in der Natur sahe, jede Gegend idealisirte er zum Paradies, alles war ihm schön, und die ganze Welt beynah ein Himmel. Böse Menschen rechnete er mit zu den Thieren, und was sich halb gut auslegen ließ, das war nicht mehr böse in seinen Augen. Ein Mund, der anders sprach, als das Herz dachte, jede Ironie, und jede Satyre, war ihm ein Gräuel, alle andre Schwachheiten konnte er entschuldigen. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 64. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54897 (vgl. Stilling-Leben, S. 125)] 128/129 Die Geschichte der wahnsinnigen Anna: Alles, was er in der Natur sahe, jede Gegend idealisirte er zum Paradies, alles war ihm schön, und die ganze Welt beynah ein Himmel. Böse Menschen rechnete er mit zu den Thieren, und was sich halb gut auslegen ließ, das war nicht mehr böse in seinen Augen. Ein Mund, der anders sprach, als das Herz dachte, jede Ironie, und jede Satyre, war ihm ein Gräuel, alle andre Schwachheiten konnte er ent-schuldigen. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 64. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54897 (vgl. Stilling-Leben, S. 125)] »Der Junge sagte freundlich zu der armen alten Frauen, wie sie so an der Thür stund und zitterte: Kommt, Altmutter, und wärmt euch!« Sie kam herzu. Nun gieng sie auch wieder ganz bebend, kam und stand krumm neben Stillingen. »Sie gieng aber zu nah ans Feuer stehn; - ihre alte Lumpen fiengen an zu brennen, und sie wards nicht gewahr. Der Jüngling stund und sah das. - Er hätt's doch löschen sollen, nicht wahr, Schulmeister? - Er hätt's löschen sollen?« Stilling schwieg. Er wußte nicht, wie ihm war; er hatte so eine dunkle Ahndung, die ihn sehr melancholisch machte. Sie wollte aber eine Antwort haben; sie sagte: »Nicht wahr, er hätte löschen sollen? - Gebt mir eine Antwort, so will ich auch sagen: Gott lohn euch!«Ja! erwiederte er, er hätte löschen sollen. Aber, wenn er nun kein Wasser hatte, nicht löschen konne! - Stilling stund auf, er fand keine Ruhe mehr, doch durfte er sich's nicht merken lassen. »Ja! (fuhr Anna fort und weinte) dann hätte er alles Wasser in seinem Leibe zu den Augen heraus weinen sollen, das hätte so zwey hübsche Bächlein gegeben zu löschen.« Sie kam wieder und sah ihm scharf ins Gesicht; die Thränen stunden ihm in die Augen. »Nun, die will ich dir doch abwischen!« Sie nahm ihr weißes Schnupftüchlein, wischte sie ab, und setzte sich wieder still an ihren Ort. Alle waren still und traurig. Drauf giengen sie zu Bett. Stillingen kam kein Schlaf in die Augen; er meynte nicht anders, als wenn ihm das Herz im Leibe für lauter Mitleid und Erbarmen zerspringen wollte. Er besann sich, was da wohl seine Pflicht wäre? - Sein Herz sprach für sie um Erbarmung, sein Gewissen aber forderte die strengste Zurückhaltung. Er untersuchte nun, welcher Forderung er folgen müßte? Das Herz sagte: Du kannst sie glückselig machen. Das Gewissen aber: Diese Glückseligkeit ist von kurzer Dauer, und dann folgt ein unabsehlich langes Elend darauf. Das Herz meynte: Gott könnte die zukünftigenSchicksale wohl recht glücklich ausfallen lassen; das Gewissen aber urtheilte: man müßte Gott nicht versuchen, und nicht von ihm erwarten, daß er, um ein Paar Leidenschaften zweyer armer Würmer willen, eine ganze Verkettung vieler auf einander folgender Schicksale, wobey so viele andre Menschen interessirtsind, zerreißen und verändern solle. Das ist auch wahr! sagte Stilling, sprang aus dem Bett, und wandelte auf und ab, ich will freundlich gegen sie seyn, aber mit Ernst und Zurückhaltung.[Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 71. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54904 (vgl. Stilling-Leben, S. 128-130)]129f.Annas Lied Es saß auf grüner Heide / Ein Schöfer grau und alt130 Sie kamen nah zur Heide, Allwo der Vater saß:,: Es trauerten an der Weide Die Schäflein in dem Gras. Sonne, noch einmal, blicke zurücke! Auf einem grünen Rasen Stand Faramund starr und vest:,: Die bangen Vögelein saßen Ganz still in ihrem Nest. Sonne, noch einmal, blicke zurücke! Er fiel, mit blanken Zähnen, Sein armes Mädchen an:,: Sie rief mit tausend Thränen Ihn um Erbarmen an. Sonne, noch einmal, blicke zurücke! Das bange Seelenzagen Hört nun der Vater bald:,: Des Mädchens Ach und Klagen Erscholl im ganzen Wald. Sonne, noch einmal, blicke zurücke![Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 73. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54906 (vgl. Stilling-Leben, S. 131)]131Stilling mußte sich mit Gewalt halten, daß er nicht hart weinte und heulte. Sie stund oft gegen der Sonne über, sah sie zärtlich an, und sung dann: Sonne, noch einmal, blicke zurücke! Ihr Ton war sanft, wie einer Turteltauben, wenn sie vor dem Untergang der Sonne noch einmal girrt. Ich wünschte, daß meine Leser nur die sanfte harmonische Melodien dieses und anderer in dieser Geschichte vorkommenden Lieder hätten, siewürden dieselben doppelt empfinden; doch werde ich sie vielleicht dereinsten auch drucken lassen. Endlich sprung sie wieder an seinen Arm, und gieng mit ihm fort. Du weinst, Faramund! sagte sie, aber du beißest mich doch nicht, heiß mich Lore, ich will dich Faramund heißen; willst du? Ja! sagte Stil-ling mit Thränen, sey du Lore, ich bin Faramund. Arme Lore! was wird die Mutter sagen?/…/Nun griff sie seine rechte Hand, legte sie unter ihre linke Brust, und sagte: Wie's da klopft! - da ist die Hölle - da gehörst du hinein, Faramund! - Sie knirschte auf den Zähnen, sahe wild um sich her. Ja! fuhr sie fort, du bist schon dadrinnen! - aber - wie ein böser Engel! - Hier hielt sie ein, weinte. Nein, sagte sie, so nicht, so nicht. Unter dergleichen Reden, die dem guten Stilling scharfe Messer im Herzen waren, kamen sie nach Hause.[Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 74 ff. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54907 (vgl. Stilling-Leben, S. 131 ff.)]133Wutanfälle der Geisteskranken:/Stilling /dieser konnte sie bald zur Ruhe bringen, er hießsie nur Lore, dann hieß sie ihn Faramund, und war so zahm, wie ein Lämmchen. Ihr gewöhnlicher Zeitvertreib bestund darinnen, daß sie eine Schäferin vorstellte; und diese Idee muß bloß von obigem Lied hergekommen seyn, denn sie hatte gewiß keine Schäfergeschichte, oder Idyllen ge-lesen, ausgenommen einige Lieder, welche von der Art in Schmolls Hause gäng und gäbe waren. Wenn man zu ihr hinauf kam, so hatte sie ein weißes Hemd über ihre Kleider angezogen, und einen rund um ab-gezügelten Mannshut auf dem Kopf. Um den Leib hatte sie sich mit einem grünen Band gegürtet, dessenlang herabhangendes Ende sie ihrem Schäferhund, den sie Phylax hieß, und der niemand anders, als ihre alte Aufwärterinn war, um den Hals gebunden hatte. Das gute alte Weib mußte auf Händen und Füßen herumkriechen, und so gut bellen, als sie konnte, wenn sie von ihrer Gebieterin gehetzt wurde; öfters wars mit dem Bellen nicht genug, sondern sie mußte sogar einen oder den andern ins Bein beißen. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 77. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54910 (vgl. Stilling-Leben, S. 133-134)]133/134ziemlich viele unter seinen Bauern, die ihm begonnten, recht feind zu werden. Die Ursache davon ist nicht zu entwickeln; Stilling war einer von denen Menschen, die niemand gleichgültig sind, entweder man mußte ihn lieben, oder man mußte ihn hassen; die erstern sahen auf sein gutes Herz, und vergaben ihm seine Fehler gern; die andern betrachteten sein gutes Herz als dumme Einfalt, seine Handlungen als Fuchsschwänzereyen, und seine Gaben als Prahlsucht.Diese wurden ihm unversöhnlich feind, und je mehr er sie, seinem Charakter gemäß, mit Liebe zu gewinnen suchte, je böser sie wurden; denn sie glaubten nur, es sey bloß Schmeicheley von ihm, und wurden ihm nur desto feindseeliger. Endlich begieng er eine Unvorsichtigkeit, die ihn vollends um die Preysinger Schule brachte, wie gut die Sache auch an seiner Seiten gemeynt war. Er band sich nicht gern an die alte gewöhnliche Schulmethode, sondern suchte allerhand Mittel hervor, um sich und seine Schüler zu belustigen; deswegen ersann er täglich etwas neues. Sein erfinderischer Geist fand vielerley Wege, dasjenige, was die Kinder zu lernen hatten, ihnen spielend beyzubringen. Viele seiner Bauern sahen es als nützlich an, andere betrachteten es als Kindereyen, und ihn als einen Stocknarren. Besonders aber fieng er ein Stück an, das allgemeines Aufsehen machte. Er schnitte weiße Blätter in der Größe wie Karten; diese bezeichnete er mit Nummern; die Nummern bedeuteten diejenigen Fragen des Heydelbergischen Catechismus, welche die nehmliche Zahl hatten; diese Blätter wurden von vier oder fünf Kindern gemischt, so viel ihrer zusammen spielen wollten, alsdann wie Karten umgegeben und gespielt; die größere Nummer stach immer die kleinere ab, derjenige, welcher am letzten die höchste Nummer hatte, brauchte nur die Frage zu lernen, die seine Nummer anwies, und wenn er sie schon vorhin gekonnt hatte, so lernte er nichts bis den andern Tag, [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 78. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54911 (vgl. Stilling-Leben, S. 134-135)] 135 Nach der Entlassung, die er selbst einreichen sollte, um den Bauern zuvorzukommen und in Ehren entlassen zu werden, wieder bei seinem Vater yu Hause: 138 Stillings Melancholie, als er der Herbst beginnt- nach Wilhelm das Erbe seiner Mutter: Es war nunmehro Herbst, und die Feld-Arbeit mehrentheils vorbey, daher mußte er fast immer auf dem Handwerk arbeiten, und dieses war ihm auch lieber, seine Glieder konnten es besser aushalten. Dennoch aber fand sich seine tiefe Traurigkeit bald wieder, er war, wie in einem fremden Lande, von allen Menschen verlassen. Dieses Leiden hatte so etwas ganz besonders und unbeschreibliches; das einzige, was ich nie habe begreifen können, war dieses: So bald die Sonne schien, fühlte er sein Leiden doppelt, das Lichtund Schatten des Herbstes brachte ihm ein so unaussprechliches Gefühl in seine Seele, daß er für Wehmuth oft zu vergehen glaubte, hingegen wenn es regnigt Wetter und stürmisch war, so befand er sich besser, es war ihm, als wenn er in einer dunklen Felsenkluft säße, er fühlte dann eine verborgene Sicherheit, wobey es ihm wohl war. Ich hab unter seinen alten Papieren noch einen Aufsatz gefunden, den er diesen Herbst im October an einem Sonntag Nachmittag verfertiget hat; es heißt unter andern darinnen: Gelb ist die Trauerfarbe Der sterbenden Natur, Gelb ist der Sonnenstral; Er kommt so schief aus Süden, Und lagert sich so müde Langs Feld und Berge hin; Die kalte Schatten wachsen, Auf den erblaßten Rasen Wirds grau von Frost und Reif, Der Ost ist scharf und herbe, Er stößt die falben Blätter, Sie nieseln auf den Frost u.s.w. An einem andern Ort heißt es: Wenn ich des Nachts erwache, So heults im Loch der Eulen, Die Eiche saust im Wind. Es klappern an den Wänden, Die halb verfaulten Bretter, Es rast der wilde Sturm Dann ists mir wohl im Dunkeln, Dann fühl ich tiefen Frieden, Dann ists mir traurig wohl u.s.w. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 84. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54917 (vgl. Stilling-Leben, S. 138-139)] 139 Sein Freund Kaspar, der Eisenschmelzer, sein einziger Freund in Leindorf, der ihm Mut machen konnte: eine edle Seele, warm für die Religion, mit einem Herzen voller Empfindsamkeit. Der November hatte noch schöne Herbsttage, deswegen giengen Caspar und Stilling Sonntags Nachmittags spazieren, alsdann flossen ihre Seelen in einander über; besonders hatte Caspar eine veste Ueberzeugung in seinem Gemüth, daß sein Freund Stilling vom himmlischen Vater zu weit was anders, als zum Schulhaltenund Schneiderhandwerk bestimmt sey; er konnte das so unwidersprechlich darthun, daß Stilling ruhig und großmüthig beschloß, alle seine Schicksale geduldig zu ertragen. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 87. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54920 (vgl. Stilling-Leben, S. 140-141)] 139 Berufung an die Kreefelder Kapellenschule, 1760, in seienm 20. Lebensjahr: 140 sein Amtskollege Graser aus dem Dorf Kleinhoven 141 Stilling war überaus vergnügt wegen dieser Bekanntschaft, ja er hofte sogar, dereinst durch Hülfe seines Freundes ein Adeptus zu werden. Graser liehe ihm die Schriften des Basilius Valentinus. Er lase sie ganz aufmerksam durch, und als er hinten an den Proceß aus dem Ungarischen Vitriol kam, da wußte er gar nicht, wie ihm ward. Er glaubte würklich, er könnte nun den Stein der Weisen selber machen. Er bedachte sich eine Weile, nun fiel ihm ein, wenn der Proceß so ganz vollkommen richtig wäre, so müßte ihn ja ein jeder Mensch machen können, der nur das Buch hätte. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 89. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54922 (vgl. Stilling-Leben, S. 142)] 142 Einsmals besuchte er seinen Freund Graser an einem Samstag Nachmittag; er fand ihn allein auf der Schule sitzen, allwo er etwas ausstach, das einem Pettschaft ähnlich war. Stilling fragte: Herr College! was machen Sie da? »Ich stech ein Pettschaft.« [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 90. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54923 (vgl. Stilling-Leben, S. 143)] Stilling gab ihm die Hand darauf, und sagte: Ich werde sie gewiß nicht verrathen. »Nun so hören Sie! ich hab ein Geheimniß; ich kann Kupfer in Silber verwandeln, ich will Sie in Compagnie nehmen, und Ihnen die Hälfte von dem Gewinn geben; indessen sollen Sie zuweilen einige Tage heimlich verreisen, und das Silber an gewisse Leute zu veräußern suchen.« Stilling saß und dachte der Sache nach; der ganze Vortrag gefiel ihm nicht, denn erstlich gieng sein Trieb nicht dahin, viel Geld zu erwerben, sondern nur Erkenntniß der Wahrheit und Wissenschaften zu erlangen, und Gott und dem Nächsten damit zu dienen; und vors zweyte, so kam ihm bey seiner geringen Weltkenntniß die ganze Sache doch verdächtig vor; denn je mehr er nach dem Pettschaft blickte, je mehr wurde er überzeugt, daß es ein Münz-Stempel sey. Es fieng ihm daher an zu grauen, und er suchte Gelegenheit, von dem Schulmeister Graser abzukommen, indem er ihm sagte, er wolle nach Haus gehen, und die Sache näher überlegen. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 91. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54924 (vgl. Stilling-Leben, S. 143-144)] 142 Grase konnte noch nach Amerika fliehen: Seine Mitschuldigen aber wurden gefangen, und nach Verdienst gestraft. Er war eigentlich selber der rechte Künstler gewesen, und gewiß mit dem Strang belohnt worden, wenn man ihn ertappt hätte. Stilling erstaunte über die Gefahr, in welcher er geschwebt hatte, und dankte Gott von Herzen, daß Er ihn bewahrt hatte. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 92. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54925 (vgl. Stilling-Leben, S. 144)] 144 Mit diesem Abenteuer gekoppelt klingt die darauffolgende Anschuldigung viel bedrohlicher als sie sich letztendlich herausstellt: Dialekt als Mittel einer Desavouierung, Stillings Verteidigung ohne Anführungsstriche: Der Inspector räusperte sich, drehte sich gegen die Männer, und sprach: »Ist das air Schoolmaister?« Ja, Herr Oberprediger! »So! arächt! Ihr sayd also der Schoolmaister von Kleefeld?« Ja! sagte Stilling. » 'r sayd mer ain schöner Kerl! wärt wärth, daß man aich aus dem Land paitschte!« Sachte! sachte! redete der Präsident ein, audiatur et altera pars. »Herr Präsident! das k'hört ad forum ecclesiasticum. Sie habä da nichts z' sagä.« Der Präsident ergrimmte und schwieg. Der Inspector sahe Stilling verächtlich an, und sagte: »Wie 'r da stäth, der schlechte Mensch!« Die Männer lachten ihn hönisch aus. Stilling konnte das gar nicht ertragen, er hatte auf der Zunge, er wollte sagen: wie Christus vor dem Hohenpriester! allein er nahms wieder zurück, trat näher, und sagte: was hab ich gethan? Gott ist mein Zeuge, ich bin unschuldig! Der Inspector lachte hönisch, und erwiederte: »Als wenn 'r nit wüßt, was'r selbstan begangä hat! fragt air K'wissä!« Herr Inspector! mein Gewissen spricht mich frey, [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 94. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54927 (vgl. Stilling-Leben, S. 145-146)] 146 Die Bauern (Rehkopf an deren Spitze) haben ihn auf dem Amt - direkt beim Inspektor Weinhold - verteidigt und wollten eine konkrete Anschuldigung hören. 147 Stilling sahe sich also wiederum ins größte Labyrinth versetzt; er fühlte wohl, daß er abermal würde weichen müssen, und was alsdann auf ihn wartete. Unterdessen kam er doch hinter das ganze Geheimniß seiner Verfolgung. Der vorige Schulmeister zu Kleefeld war allgemeingeliebt gewesen; nun hatte er sich mit einem Mädchendaselbst versprochen, und suchte, um sich besser näh-ren zu können, mehr Lohn zu bekommen; deswegen, als er einen Beruf an einen andern Ort erhielte, so stellte er der Gemeine vor, daß er ziehen würde, wennman ihm nicht den Lohn erhöhte: er glaubte aber gewiß, man würde ihn um einiges Gelds willen nicht weggehen lassen. Allein es schlug ihm fehl, man ließ ihm Freyheit zu ziehen, und wählte Stilling. Es ist leicht zu denken, daß die Familie des Mädchens nunmehro alle Kraft anwendete, um Stilling zu stürzen, und dieses bewerkstelligten sie ganz geheim, indem sie den Inspector mit wichtigen Geschenken das ganze Jahr durch überhäuft hatten, so, daß er ohneUrtheil und Recht beschloß, ihn wegzujagen. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 99. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54932 (vgl. Stilling-Leben, S. 149)] 149 Der Präsident konnte zwar nicht verhindern, dass Stilling abgesetzt wurde, konnte aber wenigstens die Bestellung des alten Schulmeisters vereiteln: Dem Herrn Inspector kommts zu, einen Schulmeister zu bestätigen, wenn ihr einen erwählt habt. Meine Pflicht aber ist's, Acht zu haben, daß Ruhe und Ordnung erhalten werde; deswegen befehl ich euch bey hundert Gulden Strafe, den vorigen Schulmeister nicht zu wählen, sondern einen ganz unpartheyischen; damit die Gemeinde wieder ruhig werde. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 102. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54935 (vgl. Stilling-Leben, S. 151-152)] 150 Stilling bekam vom Pastor Goldmann eine Empfehlung an den Hofprediger Herrn Schneeberg in Lahnburg (Anmerkungsapparat: Oranienstein bei Dietz), der ihm eine Stelle als Bergwerkverwalter in Aussicht stellt. Diesem Gespräch ging eine Warnung des Richters Goldmann: 152/153 Nun will ich weißagen, was euch wiederfahren wird: Gott wird durch eine lange und schwere Führung alle eure eitle Wünsche suchen abzufegen; gelingt ihm dieses, so werdet ihr endlich nach vielen schweren Proben, ein glücklicher großer Mann, und ein vortrefliches Werkzeug Gottes werden! Wenn ihr aber nicht folgt, so werdet ihr euch vielleicht bald hoch schwingen, und einen entsetzlichen Fall thun, der allen Menschen, die es hören werden, in die Ohren gellen wird.« Stilling wußte nicht, wie ihm ward, alle diese Worte waren, als wenn sie Goldmann in seiner Seelen gelesen hätte. Er fühlte diese Wahrheit im Grund seines Herzens, und sagte mit inniger Bewegung und gefaltenen Händen: Gott! Herr Vetter! das ist wahr! ich fühl's, so wirds mir gehen. Goldmann lächelte, und schloß das Gespräch mit den Worten: Ich beginne zu hoffen, ihr werdet endlich glücklich seyn. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 108. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54941 (vgl. Stilling-Leben, S. 155-156)] 155 Hofprediger Herrn Schneeberg in Lahnburg: Lassen Sie Ihren äußern Aufzug und Betragen in Kleidung, Essen, Trinken und Aufführung, immer mittelmäßig bürgerlich seyn, so wird niemand mehr von Ihnen fordern, als Ihre Aufführung ausweist; komm ich in ein schön meublirtes Zimmer, bey einen Mann in kostbarem Kleide, so frag ich nicht lang eh, wes Standes er sey, sondern ich erwarte eine Flasche Wein und Confect; komm ich aber in ein bürgerlich Zimmer, bey einem Mann in bürgerlichem Kleide, ey so erwarte ich nichts weiter, als ein Glas Bier und eine Pfeife Toback. Stilling erkannte die Wahrheit dieser Erfahrung, er lachte und sagte: Das ist eine Lehre, die ich nie vergessen werde. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 112. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54945 (vgl. Stilling-Leben, S. 158)] 156 Zurück bei Goldmann in Rothhagen, der ihm doch von der Stelle abrät: O Vetter! Vetter! wo wills doch mit euch hinaus? - Das ist eine Stelle, die euch Gott im Zorn giebt; wenn ihr sie bekommt, das ist dergerade Weg zu eurem gänzlichen Verderben, und das will ich euch beweisen: sobald ihr da seyd, fangen alle Hofschranzen an, euch zu besuchen, und sich bey euch lustig zu machen; [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 113. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54946 (vgl. Stilling-Leben, S. 159)] 157 man führt die Geistlichen nicht so leicht in Versuchung als andere Leute. Sie haben gut sagen! - Hört, Vetter! alle moralischen Predigten sind nicht einen Pfifferling werth, der Verstand bestimmt niemahlen unsre Handlungen, wenn die Leidenschaften etwas stark dabey interessirt sind, das Herz macht allezeit ein Mäntelchen darum, und überredet uns: schwarz sey weiß! - Vetter! ich sag euch eine größere Wahrheit, als Freund Schneeberg. Wer nicht dahin kommt, daß das Herz mit einer starken Leidenschaft Gott liebt, den hilft alles moralisiren ganz und gar nichts. Die Liebe Gottes allein macht uns tüchtig, moralisch gut zu werden. Dieses sey euch ein Notabene, Vetter Stilling! und nun bitt ich euch, gebt dem Herrn Berg-Verwalter seinen ehrlichen Abschied, und bewillkommt die arme Nähnadel mit Freuden, so lang bis euch Gott hervorziehen wird. Ihr seyd mein lieber Vetter Stilling, und wenn ihr auch nur ein Schneider seyd. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 114. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54947 (vgl. Stilling-Leben, S. 159-160)] 157 Auch Stilling sieht das ein: Ja, es ist wahr! - Mein Herz ist die falscheste Creatur auf Gottes Erdboden, immer meyn ich, ich hätte die Absicht nur mit meinen Wissenschaften Gott und dem Nächsten zu dienen - und wahrlich! - es ist nicht wahr! ich will nur gern ein großer Mann werden, gern hoch klimmen, um nur auch tief fallen zu können. - O! wo krieg ich Kraft, mich selber zu überwinden? [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 115. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54948 (vgl. Stilling-Leben, S. 160)] 159 Zu Hause kann er es nicht aushalten: nach Michaelis 1760 kam er heim. Wenn er nun weiter nichts zu thun gehabt hätte, alsauf dem Handwerk zu arbeiten, so würde er sich beruhigt und in die Zeit geschickt haben; allein sein Vater stellte ihn auch ans Dreschen. Er mußte den ganzen Winter durch des Morgens früh um zwey Uhr aus demBett, und auf die kalte Dreschtenne. Der Flegel war ihm erschrecklich. Er bekam die Hände voller lichter Blasen, und seine Glieder zitterten für Schmerzen und Müdigkeit, allein das half alles nichts, vielleicht hätte sich sein Vater über ihn erbarmt, allein die Mutter wollte haben, daß ein jeder im Hause Brod und Kleider verdienen sollte. Dazu kam noch ein Umstand. Stilling konnte mit dem Schullohn niemals auskommen, denn der ist in dasigen Gegenden, ausserordentlich klein; Fünf und zwanzig Reichsthaler des Jahrs, ist das Höchste, was einer bekommen kann; Speise und Trank geben einem die Bauern um die Reihe. Daher können die Schulmeister alle ein Handwerk, welches sie in den übrigen Stunden treiben, um sich desto besser durchzuhelfen. Das war aber nun Stillings Sache nicht, er wußte in der übrigen Zeit weit was angenehmeres zu verrichten; dazu kam noch, daß er zuweilen ein Buch oder sonst etwas kaufte, das in seinen Kram diente, daher gerieth er in dürftige Umstände, seine Kleider waren schlecht und abgetragen, so daß er aussahe als einer der gern will und nicht kann. Wilhelm war sparsam, und seine Frau in einem noch höhern Grad; dazu bekam sie verschiedene Kinder nach einander, so daß der Vater Mühe genug hatte, sich und die Seinigen zu nähren. Nun glaubte er, sein Sohn wäre groß und stark genug, sich seine Nothdurft selbsten zu erwerben. Als das nun so nicht recht fort wollte wie er dachte, so wurde der guteMann traurig, und fieng an zu zweifeln, ob sein Sohn auch wohl endlich gar ein liederlicher Taugenichts werden könnte. Er fieng an(,) ihm seine Liebe zu entziehen … [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 118. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54951 (vgl. Stilling-Leben, S. 162-163)] 162 bei einem Schneidermeister in Florenburg (für einige Wochen) - Herbst 1761. Besuch bei der Großmuttger Margarethe, die ihm über ein weit zurüpckliegendes Gespräch mit ihrem seligen Mann erzählt: Ja! sagte er: Margrethe! wenn ich doch noch erleben mögte, was aus dem Jungen wird. Ich weiß nicht: Wilhelm - wird noch in die Klemme kommen, so stark als er jetzt das Christenthum treibt, wird ers nicht ausführen, er wird ein frommer ehrlicher Mann bleiben, aber er wird noch was erfahren. Denn er spart gern, und hat Lust zu Geld und Gut. Er wird wieder heyrathen, und dann werden seine gebrechliche Füße dem Kopf nicht folgen können. Aber der Junge! der liebt nicht Geld und Gut, sondern Bücher, und davon läßt sichs im Bauernstand nicht leben. Wie die beyden zusammen stallen werden, weiß ich nicht! - Aber der Junge wirddoch am End glücklich seyn, das kann nicht fehlen. Wenn ich eine Axt mache, so will ich damit hauen; und wozu unser Herr Gott einen Menschen schafft, dazu will er ihn brauchen.« [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 122. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54955 (vgl. Stilling-Leben, S. 165)] 163 mit einemmahl überdachte er sein kurzes und mühseeliges Leben. Er sunk auf die Knie, weinte laut, und betete feurig zum Allmächtigen um Gnade und Erbarmen. Nun stund er auf, seine Seele schwomm in Empfindungen und Kraft; er setzte sich neben den Hollunderstrauch, nahm seine Schreibtafel aus der Tasche und schrieb: Hört ihr lieben Vögelein, Eures Freundes stille Klagen! Hört ihr Bäume groß und klein Was euch meine Seufzer sagen! [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 124. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54957 (vgl. Stilling-Leben, S. 166-167)] 165 Seine sonderbare Gemützsbeschaffenheit in Florenburg war wohl auf die Tochjter des Meisters, Lieschen, zurückzuführen: Er war traurig, aber mit einer so zärtlichen Süßigkeit vermischt, daß man wünschen sollte, auf solche Weise traurig zu seyn. Die Quellen von diesemseltsamen Zustand hat er nie entdecken können. Doch glaub ich die häußlichen Umstände seines Meisters trugen viel dazu bey; es war eine so ruhige Harmonie in diesem Hause; was einer wollte, das wollte auch der andere. Dazu hatte er auch eine große wohlgezogene Tochter, die man mit Recht unter die größten Schönheiten des ganzen Landes zählen mußte. Diese sung unvergleichlich, und konnte einen Vorrath von vielen schönen Liedern. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 127. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54960 (vgl. Stilling-Leben, S. 168)] 166 Lieschens Vision einer armen Mutter eines unehelichen Kindes: zusammen mit der wahnsinnigen Anne erinnert es mich an Viktorka in Babička. »Heinrich, ich kann und darf dir nicht sagen, was mir fehlt, ich will dir aber etwas erzählen: Es war einmahl ein Mädgen, das war gut und fromm, und hatte keine Lust zu unzüchtigen Leben; aber sie hatte ein zärtliches Herz, auch war sie schön und tugendsam. Diese gieng an einem Abend auf ihrer Schlafkammer ans Fenster stehen, der Vollmond schien so schönin den Hof, es war Sommer, und alles draussen so still. Sie bekam Lust, noch ein wenig heraus zu gehen. Sie gieng still zur Hinterthür hinaus in den Hof, und aus dem Hof in die Wiese die daran stieß. Hier setzte sie sich unter eine Hecke in den Schatten, und sung mit leiser Stimme: Weicht quälende Gedanken!« (Dieses war eben das Lied, welches Liesgen den Sonntag Abend mit Stilling sung, als sie so ausserordentlich traurig wurde.) »Nachdem sie ein paar Verse gesungen hatte, kam ein wohlbekannter Jüngling zu ihr, der grüßte sie, und fragte: Ob sie wohl einklein wenig mit ihm die Wiesen herunter spatzieren wollte? Sie thats nicht gern, doch als er sie sehr nöthigte, so gieng sie mit. Als sie nun eine Strecke zusammen gewandelt hatten, so wurde dem Mädgen auf einmal alles fremd. Sie befand sich in einer ganz unbekannten Gegend, der Jüngling aber stund lang und weiß neben ihr, wie ein Todter der auf der Bahre liegt,und sah sie erschrecklich an. Das Mädgen wurde Todbange, und sie betete recht herzlich, daß ihr doch der liebe Gott gnädig seyn möchte. Nun drehete sie der Jüngling auf einmahl mit dem Arm herum, und sprachmit hohler Stimme: Da sieh wie es dir ergehen wird! Sie sahe vor sich hin eine Weibsperson stehen, welche ihr selbsten sehr ähnlich oder wohl gar gleich war; sie hatte alte Lumpen anstatt der Kleider um sich hangen, und ein kleines Kind auf dem Arm, welches eben so ärmlich aussahe. Sieh! sagte der Geist ferner! das ist schon das dritte unehliche Kind das du haben wirst. Das Mädgen erschrak und sunk in Ohnmacht. Als sie wieder zu sich selber kam, da lag sie in ihrem Bett uns schwitzte vor Angst, sie glaubte aber, sie hätte geträumt. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 129. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54962 (vgl. Stilling-Leben, S. 169-170)] 168 Pastor Stollbein bietet ihm die Stelle des Rectors an der latzeinischen Schule zu Florenburg. Stilling wird aber Opfer der Rivalitäten des Pastors mit den Bürgern, die ihm auch - unabhängig voneinander - die Stelle anbieten. Stilling beginnt Nur der undurchsichtige reiche Franzose sieht gleich diese Entwicklung voraus: Er zog also auf Neujahr 1762 nach Florenburg bey dem Schöffen Keylhof ein, und fieng seine lateinische Information an. Als er einige Tage da gewesen war, that ihm Herr Stollbein in geheim zu wissen, er möchte einmal zu ihm kommen, doch so, daß es niemand gewahr würde. Dieses geschah auch an einem Abend in der Dämmerung. Der Pastor freute sich von Herzen, daß die Sachen eine solche Wendung nahmen. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 135. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54968 (vgl. Stilling-Leben, S. 174)] 171/172 Unter denen, die bey Keylhof kamen, war ein gar sonderlicher Mann, ein Franzos von Geburt, der hieß Gayet. So wie nun niemand wußte, wo er eigentlich her war, desgleichen ob er lutherisch oder reformirt war, und warum er des Sommers eben sowohl wolleneOber-Strümpfe mit Knöpfen an den Seiten trug, als des Winters; wie auch, woher er an das viele Geld kam, das er immer hatte, so wußte auch niemalen jemand, mit welcher Parthie ers hielte. Stilling hatte diesen wunderlichen Heiligen schon kennen gelernt, als er in die lateinische Schule gieng. Gayet konnte niemand leiden, der ein Werkeltags-Mensch war; Leute, mit denen er umgehen sollte, mußten Feuer undTrieb und Wahrheit und Erkenntniß in sich haben; wenn er so jemand fand, dann war er offen und ver-traulich. Da er nun zu Florenburg niemand von der Art wußte, so machte er sich ein Plaisir daraus, sie alle zusammen, den Pastor mitgerechnet, zum Narren zu haben. Stilling aber hatte ihm von jeher gefallen, und nun, da er erwachsen und Informator bey Keylhofwar, so kam er oft hin, um ihn zu besuchen. Dieser Gayet saß auch wohl des Abends da und hielte Rath mit den andern; dieses war aber nie sein Ernst, sondern nur, seine Freude an ihnen zu haben. Einsmals, als ihrer sechs bis acht recht ernstlich an der Schulsache überlegten, fieng er an: »Hört, ihr Nachbarn, ich will euch was erzählen! Als ich noch mit dem Kasten auf dem Rücken längs die Thüren gieng und Hüte feil trug, so komm ich auch von ungefehr einmal ins Königreich Siberien, und zwar in die Hauptstadt Emugi; nun war der König eben gestorben, und die Reichsstände wollten einen andern wählen. Nun war aber einUmstand dabey, worauf alles ankam; das Reich Kreuz-Spinn-Land gränzt an Siberien, und beyde Staaten haben sich seit der Sündfluth her immer in den Haaren gelegen, bloß aus der Ursache: Die Siberier haben lange in die Höh stehende Ohren, wie ein Esel, und die Kreuz-Spinn-Länder haben Ohrlappen, die bis auf die Schulter hangen. Nun war von jeher Streit unter beyden Völkern; jedes wollte behaupten, Adam hätte Ohren gehabt wie sie. Deswegen mußte inbeyden Ländern immer ein rechtgläubiger König erwählt werden; das beste Zeichen davon war, wenn jemand gegen die andere Nation einen unversöhnlichen Haß hatte. Als ich nun da war, so hatten die Siberier einen vortreflichen Mann im Vorschlag, den sie nicht so sehr wegen seiner Rechtgläubigkeit, als vielmehr wegen seiner vortreflichen Gaben zum König machen wollten. Nur er hatte hoch in die Höhe stehende Ohren, und auch herabhangende Ohrlappen, er trug also in dem Fall auf beyden Schultern; das wollte zwar vielen nicht gefallen, doch man wählte ihn. Nun beschloß der Reichsrath, daß der König mit der wohlgeordneten hochohrigten Armee gegen den langohrigten König zu Felde ziehen sollte; das geschah. Allein, was das einen Allarm gab! - Beyde Könige kamen ganz friedlich zusammen, gaben sich die Hände und hießen sich Brüder. Alsofort setzte man den König mit den Zwitterohren wieder ab, und schnitte ihm die Ohren ganz weg, nun konnt er laufen.« [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 137. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54970 (vgl. Stilling-Leben, S. 175-176)] 176 Versöhnung Stollbeins, der seinen tod nahe wußte, mit Johann Stilling. 176 176 Abschied vom Vater, Stilling zieht auf die Wanderschaft:Aber - du - wenn ich deine ersten Jahre - und die Freude bedenke, die ich an dir haben wollte - und du bist nun fort - so ists um Stillings Freude geschehen! Das Ebenbild des ehrlichen Alten.« - Hier konnte er nicht mehr reden, er hielt beyde Hände vor die Augen, krümmte sich ineinander und weinte laut. Diese Scene war Stilling unausstehlich, er wurde ohnmächtig. Als er wieder zu sich selber kam, stand sein Vater auf, drückte ihm die Hand und sagte: Heinrich! nimm von niemand Abschied, geh, wann dir der himmlische Vater winkt! Die heiligen Engel werden dich begleiten, wo du hingehst, schreib mir oft, wie esdir geht! Nun eilte er zur Thür hinaus. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 147. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54980 (vgl. Stilling-Leben, S. 182-183)] 179 Reisepaß 180 Abschiedsgedicht als Schluß des zweiten Teils: Wohlan! ich wende meine Blicke Nach unbekannten Bergen hin, Und schaue nicht nach euch zurücke, Bis daß ich einst vollendet bin. Erbarmer! leite mich im Segen, Auf diesen unbekannten Wegen! Nun stund Stilling auf, trocknete seine Thränen ab, nahm seinen Stab in die Hand, den Reisesack auf den Rücken, und wanderte über die Höhe ins Thal hinun- ter. [Jung-Stilling: Henrich Stillings Jünglings-Jahre, S. 152. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 54985 (vgl. Stilling-Leben, S. 186)]