Herder: Von deutscher Art und Kunst II. Shakespeare Wenn bei einem Manne mir jenes ungeheure Bild einfällt: »hoch auf einem Felsengipfel sitzend! zu sei- nen Füßen, Sturm, Ungewitter und Brausen des Meers; aber sein Haupt in den Strahlen des Him- mels!« so ist's bei Shakespeare! - Nur freilich auch mit dem Zusatz, wie unten am tiefsten Fuße seines Felsenthrones Haufen murmeln, die ihn - erklären, retten, verdammen, entschuldigen, anbeten, verleum- den, übersetzen und lästern! - und die Er alle nicht höret! Welche Bibliothek ist schon über, für und wider ihn geschrieben! - die ich nun auf keine Weise zu vermehren Lust habe. Ich möchte es vielmehr gern, daß in dem kleinen Kreise, wo dies gelesen wird, es niemand mehr in den Sinn komme, über, für und wider ihn zu schreiben: ihn weder zu entschuldigen, noch zu verleumden; aber zu erklären, zu fühlen wie er ist, zu nützen, und - wo möglich! - uns Deutschen herzustellen. Trüge dies Blatt dazu etwas bei! Die kühnsten Feinde Shakespeares haben ihn - unter wie vielfachen Gestalten! beschuldigt und ver- spottet, daß er, wenn auch ein großer Dichter, doch kein guter Schauspieldichter, und wenn auch dies, doch wahrlich kein so klassischer Trauerspieler sei, als Sophokles, Euripides, Corneille und Voltaire, die alles Höchste und Ganze dieser Kunst erschöpft. - Und die kühnsten Freunde Shakespeares haben sich meistens nur begnüget, ihn hierüber zu entschuldi- gen, zu retten: seine Schönheiten nur immer mit An- stoß gegen die Regeln zu wägen, zu kompensieren; ihm als Angeklagten das absolvo zu erreden, und denn sein Großes desto mehr zu vergöttern, je mehr sie über Fehler die Achsel ziehen mußten. So stehet die Sache noch bei den neuesten Herausgebern und Kommentatoren über ihn - ich hoffe, diese Blätter sollen den Gesichtspunkt verändern, daß sein Bild in ein volleres Licht kommt. Aber ist die Hoffnung nicht zu kühn? gegen so viele, große Leute, die ihn schon behandelt, zu anma- ßend? ich glaube nicht. Wenn ich zeige, daß man von beiden Seiten bloß auf ein Vorurteil, auf Wahn ge- bauet, der nichts ist, wenn ich also nur eine Wolke von den Augen zu nehmen, oder höchstens das Bild besser zu stellen habe, ohne im mindesten etwas im Auge oder im Bilde zu ändern: so kann vielleicht meine Zeit, oder ein Zufall gar schuld sein, daß ich auf den Punkt getroffen, darauf ich den Leser nun festhalte, »Hier stehe! oder du siehest nichts als Kari- katur!« Wenn wir den großen Knaul der Gelehrsam- keit denn nur immer auf- und abwinden sollten, ohne je mit ihm weiterzukommen - welches traurige Schicksal um dies höllische Weben! Es ist von Griechenland aus, daß man die Wörter Drama, Tragödie, Komödie geerbet, und so wie die Letternkultur des menschlichen Geschlechts auf einem schmalen Striche des Erdbodens den Weg nur durch die Tradition genommen, so ist in dem Schoße und mit der Sprache dieser, natürlich auch ein gewisser Regelnvorrat überall mitgekommen, der von der Lehre unzertrennlich schien. Da die Bildung eines Kindes doch unmöglich durch Vernunft geschehen kann und geschieht; sondern durch Ansehen, Ein- druck, Göttlichkeit des Beispiels und der Gewohn- heit: so sind ganze Nationen in allem, was sie lernen, noch weit mehr Kinder. Der Kern würde ohne Schlau- be nicht wachsen, und sie werden auch nie den Kern ohne Schlaube bekommen, selbst wenn sie von dieser ganz keinen Gebrauch machen könnten. Es ist der Fall mit dem griechischen und nordischen Drama. In Griechenland entstand das Drama, wie es in Norden nicht entstehen konnte. In Griechenland war's, was es in Norden nicht sein kann. In Norden ist's also nicht und darf nicht sein, was es in Griechenland ge- wesen. Also Sophokles' Drama und Shakespeares Drama sind zwei Dinge, die in gewissem Betracht kaum den Namen gemein haben. Ich glaube diese Sätze aus Griechenland selbst beweisen zu können, und eben dadurch die Natur des nordischen Drama, und des größten Dramatisten in Norden, Shakespeares sehr zu entziffern. Man wird Genese einer Sache durch die andre, aber zugleich Verwandlung sehen, daß sie gar nicht mehr dieselbe bleibt. Die griechische Tragödie entstand gleichsam aus einem Auftritt, aus dem Impromptus des Dithyram- ben, des mimischen Tanzes, des Chors. Dieser bekam Zuwachs, Umschmelzung: Äschylus brachte statt einer handelnden Person zween auf die Bühne, erfand den Begriff der Hauptperson, und verminderte das Chormäßige. Sophokles fügte die dritte Person hinzu, erfand Bühne - aus solchem Ursprunge, aber spät, hob sich das griechische Trauerspiel zu seiner Größe empor, ward Meisterstück des menschlichen Geistes, Gipfel der Dichtkunst, den Aristoteles so hoch ehret, und wir freilich nicht tief gnug in Sophokles und Eu- ripides bewundern können. Man siehet aber zugleich, daß aus diesem Ursprun- ge gewisse Dinge erklärlich werden, die man sonst, als tote Regeln angestaunet, erschrecklich verkennen müssen. Jene Simplizität der griechischen Fabel, jene Nüchternheit griechischer Sitten, jenes fort aus- gehaltne Kothurnmäßige des Ausdrucks, Musik, Bühne, Einheit des Orts und der Zeit - das alles lag ohne Kunst und Zauberei so natürlich und wesentlich im Ursprunge griechischer Tragödie, daß diese ohne Veredlung zu alle jenem nicht möglich war. Alles das war Schlaube, in der die Frucht wuchs. Tretet in die Kindheit der damaligen Zeit zurück: Simplizität der Fabel lag würklich so sehr in dem, was Handlung der Vorzeit, der Republik, des Vater- landes, der Religion, was Heldenhandlung hieß, daß der Dichter eher Mühe hatte, in dieser einfältigen Größe Teile zu entdecken, Anfang, Mittel und Ende dramatisch hineinzubringen, als sie gewaltsam zu sondern, zu verstümmeln, oder aus vielen, abgeson- derten Begebenheiten ein Ganzes zu kneten. Wer je- mals Äschylus oder Sophokles gelesen, müßte das nie unbegreiflich finden. Im ersten was ist die Tragödie als oft ein allegorisch-mythologisch-halbepisches Gemälde, fast ohne Folge der Auftritte, der Geschich- te, der Empfindungen, oder gar, wie die Alten sagten, nur noch Chor, dem einige Geschichte zwischenge- setzt war - konnte hier über Simplizität der Fabel die geringste Mühe und Kunst sein? Und war's in den meisten Stücken des Sophokles anders? Sein »Philok- tet«, »Ajax«, »Vertriebner Ödipus« usw. nähern sich noch immer so sehr dem Einartigen ihres Ursprunges, dem dramatischen Bilde mitten im Chor. Kein Zwei- fel! es ist Genesis der griechischen Bühne. Nun sehe man, wieviel aus der simpeln Bemerkung folge. Nichts minder als: »das Künstliche ihrer Regeln war - keine Kunst! war Natur!« - Einheit der Fabel - war Einheit der Handlung, die vor ihnen lag; die nach ihren Zeit-, Vaterlands-, Religions-, Sitten- umständen, nicht anders als solch ein Eins sein konn- te. Einheit des Orts - war Einheit des Orts; denn die eine, kurze feierliche Handlung ging nur an einem Ort, im Tempel, Palast, gleichsam auf einem Markt des Vaterlandes vor: so wurde sie im Anfange, nur mimisch und erzählend nachgemacht und zwischenge- schoben: so kamen endlich die Auftritte, die Szenen hinzu - aber alles natürlich noch eine Szene, wo der Chor alles band, wo der Natur der Sache wegen Bühne nie leer bleiben konnte usw. Und daß Einheit der Zeit nun hieraus folgte und natürlich mitging - welchem Kinde brauchte das bewiesen zu werden? Alle diese Dinge lagen damals in der Natur, daß der Dichter mit alle seiner Kunst ohne sie nichts konnte! Offenbar siehet man also auch: die Kunst der grie- chischen Dichter nahm ganz den entgegengesetzten Weg, den man uns heutzutage aus ihnen zuschreiet. Jene simplifizierten nicht, denke ich, sondern sie ver- vielfältigten : Äschylus den Chor, Sophokles den Äschylus, und man darf nur die künstlichsten Stücke des letztern, und sein großes Meisterstück, den »Ödi- pus in Thebe« gegen den »Prometheus«, oder gegen die Nachrichten vom alten Dithyramb halten: so wird man die erstaunliche Kunst sehen, die ihm dahinein zu bringen gelang. Aber niemals Kunst aus vielen ein Eins zu machen, sondern eigentlich aus einem ein vie- les, ein schönes Labyrinth von Szenen, wo seine größte Sorge blieb, an der verwickeltsten Stelle des Labyrinths seine Zuschauer mit dem Wahn des vori- gen einen umzutauschen, den Knäuel ihrer Empfin- dungen so sanft und allmählich loszuwinden, als ob sie ihn noch immer ganz hätten, die vorige dithyram- bische Empfindung. Dazu zierte er ihnen die Szene aus, behielt ja die Chöre bei, und machte sie zu Ruhe- plätzen der Handlung, erhielt alle mit jedem Wort im Anblick des Ganzen, in Erwartung, in Wahn des Wer- dens, des Schon-Habens (was der lehrreiche Euripi- des nachher sogleich, da die Bühne kaum gebildet war, wieder verabsäumte!). Kurz, er gab der Hand- lung (eine Sache, die man so erschrecklich mißverste- het) Größe. Und daß Aristoteles diese Kunst seines Genies in ihm zu schätzen wußte, und eben in allem, fast das Umgekehrte war, was die neuern Zeiten aus ihm zu drehen beliebt haben, müßte jedem einleuchten, der ihn ohne Wahn und im Standpunkte seiner Zeit gele- sen. Eben daß er Thespis und Äschylus verließ, und sich ganz an den vielfach dichtenden Sophokles hält, daß er eben von dieser seiner Neuerung ausging, in sie das Wesen der neuen Dichtgattung zu setzen, daß es sein Lieblingsgedanke ward, nun einen neuen Homer zu entwickeln, und ihn so vorteilhaft mit dem ersten zu vergleichen; daß er keinen unwesentlichen Umstand vergaß, der nur in der Vorstellung seinen Begriff der Größe habenden Handlung unterstützen konnte. - Alle das zeigt, daß der große Mann auch im großen Sinn seiner Zeit philosophierte, und nichts we- niger, als an den verengernden kindischen Läppereien schuld ist, die man aus ihm später zum Papiergerüste der Bühne machen wollen. Er hat offenbar, in seinem vortrefflichen Kapitel vom Wesen der Fabel »keine andre Regeln gewußt und anerkannt, als den Blick des Zuschauers, Seele, Illusion!« und sagt ausdrücklich, daß sich sonst die Schranken ihrer Länge, mithin noch weniger Art oder Zeit und Raum des Baues durch keine Regeln bestimmen lassen. O wenn Ari- stoteles wieder auflebte, und den falschen, widersinni- gen Gebrauch seiner Regeln bei Dramas ganz andrer Art sähe. - Doch wir bleiben noch lieber bei der stil- len, ruhigen Untersuchung. Wie sich alles in der Welt ändert: so mußte sich auch die Natur ändern, die eigentlich das griechische Drama schuf. Weltverfassung, Sitten, Stand der Re- publiken, Tradition der Heldenzeit, Glaube, selbst Musik, Ausdruck, Maß der Illusion wandelte: und na- türlich schwand auch Stoff zu Fabeln, Gelegenheit zu der Bearbeitung, Anlaß zu dem Zwecke. Man konnte zwar das Uralte, oder gar von andern Nationen ein Fremdes herbeiholen, und nach der gegebnen Manier bekleiden: das tat alles aber nicht die Würkung: folg- lich war in allem auch nicht die Seele: folglich war's auch nicht (was sollen wir mit Worten spielen?) das Ding mehr. Puppe, Nachbild, Affe, Statüe, in der nur noch der andächtigste Kopf den Dämon finden konn- te, der die Statüe belebte. Lasset uns gleich (denn die Römer waren zu dumm, oder zu klug, oder zu wild und unmäßig, um ein völlig gräzisierendes Theater zu errichten) zu den neuen Atheniensern Europens über- gehen, und die Sache wird, dünkt mich, offenbar. Alles was Puppe des griechischen Theaters ist, kann ohne Zweifel kaum vollkommner gedacht und gemacht werden, als es in Frankreich geworden. Ich will nicht bloß an die sogenannten Theaterregeln den- ken, die man dem guten Aristoteles beimißt, Einheit der Zeit, des Orts, der Handlung, Bindung der Sze- nen, Wahrscheinlichkeit des Brettergerüstes, usw. sondern würklich fragen, ob über das gleißende, klas- sische Ding, was die Corneille, Racine und Voltaire gegeben haben, über die Reihe schöner Auftritte, Ge- spräche, Verse und Reime, mit der Abmessung, dem Wohlstande, dem Glanze - etwas in der Welt mög- lich sei? Der Verfasser dieses Aufsatzes zweifelt nicht bloß daran, sondern alle Verehrer Voltaires und der Franzosen, zumal diese edlen Athenienser selbst, wer- den es geradezu leugnen - haben's ja auch schon gnug getan, tun's und werden's tun, »über das geht nichts! das kann nicht übertroffen werden!« Und in den Gesichtspunkt des Übereinkommnisses gestellt, die Puppe aufs Bretterngerüste gesetzt - haben sie recht, und müssen's von Tag zu Tage je mehr man sich in das Gleißende vernarrt, und es nachäffet, in allen Ländern Europens mehr bekommen! Bei alledem ist's aber doch ein drückendes unwi- derstrebliches Gefühl »das ist keine griechische Tra- gödie! von Zweck, Würkung, Art, Wesen kein grie- chisches Drama!« und der parteiischte Verehrer der Franzosen kann, wenn er Griechen gefühlt hat, das nicht leugnen. Ich will's gar nicht einmal untersuchen »ob sie auch ihren Aristoteles den Regeln nach so be- obachten, wie sie's vorgeben«, wo Lessing gegen die lautesten Anmaßungen neulich schreckliche Zweifel erregt hat. Das alles aber auch zugegeben, Drama ist nicht dasselbe, warum? weil im Innern nichts von ihm dasselbe mit jenem ist, nicht Handlung, Sitten, Spra- che, Zweck, nichts - und was hülfe also alles äußere so genau erhaltne Einerlei? Glaubt denn wohl jemand, daß ein Held des großen Corneille ein römischer oder französischer Held sei? Spanisch-Senecasche Helden! galante Helden, abenteurlich tapfere, großmütige, ver- liebte, grausame Helden also dramatische Fiktionen, die außer dem Theater Narren heißen würden, und wenigstens für Frankreich schon damals halb so fremde waren, als sie's jetzt bei den meisten Stücken ganz sind - das sind sie. Racine spricht die Sprache der Empfindung - allerdings nach diesem einen zuge- gebnen Übereinkommnisse ist nichts über ihn; aber außer dem auch - wüßte ich nicht, wo eine Empfin- dung so spräche? Es sind Gemälde der Empfindung von dritter fremder Hand; nie aber oder selten die un- mittelbaren, ersten, ungeschminkten Regungen, wie sie Worte suchen und endlich finden. Der schöne Vol- tairesche Vers, sein Zuschnitt, Inhalt, Bilderwirt- schaft, Glanz, Witz, Philosophie - ist er nicht ein schöner Vers? Allerdings! der schönste, den man sich vielleicht denken kann, und wenn ich ein Franzose wäre, würde ich verzweifeln, hinter Voltaire einen Vers zu machen - aber schön oder nicht schön, kein Theatervers! für Handlung, Sprache, Sitten, Leiden- schaften, Zweck eines (anders als französischen) Drama, ewige Schulchrie, Lüge und Galimathias. Endlich Zweck des allen? durchaus kein griechischer, kein tragischer Zweck! Ein schönes Stock, wenn es auch eine schöne Handlung wäre, auf die Bühne zu bringen! eine Reihe artiger, wohlgekleideter Herrn und Dames schöne Reden, auch die schönste und nützlichste Philosophie in schönen Versen vortragen zu lassen! sie allesamt auch in eine Geschichte dich- ten, die einen Wahn der Vorstellung gibt, und also die Aufmerksamkeit mit sich fortzieht! endlich das alles auch durch eine Anzahl wohlgeübter Herrn und Dames vorstellen lassen, die würklich viel auf Dekla- mation, Stelzengang der Sentenzen und Außenwerke der Empfindung, Beifall und Wohlgefallen anwen- en - das alles können vortreffliche und die besten Zwecke zu einer lebendigen Lektüre, zur Übung im Ausdruck, Stellung und Wohlstande, zum Gemälde guter oder gar heroischer Sitten, und endlich gar eine völlige Akademie der Nationalweisheit und Décence im Leben und Sterben werden (alle Nebenzwecke übergangen), schön! bildend! lehrreich! vortrefflich! durchaus aber weder Hand noch Fuß vom Zweck des griechischen Theaters. Und welches war der Zweck? Aristoteles hat's ge- sagt, und man hat gnug darüber gestritten - nichts mehr und minder, als eine gewisse Erschütterung des Herzens, die Erregung der Seele in gewissem Maß und von gewissen Seiten, kurz! eine Gattung Illusi- on, die wahrhaftig! noch kein französisches Stück zu- wege gebracht hat, oder zuwege bringen wird. Und folglich (es heiße so herrlich und nützlich, wie es wolle) griechisches Drama ist's nicht. Trauerspiel des Sophokles ist's nicht. Als Puppe ihm noch so gleich; der Puppe fehlt Geist, Leben, Natur, Wahrheit - mit- hin alle Elemente der Rührung - mithin Zweck und Erreichung des Zwecks - ist's also dasselbe Ding mehr? Hiemit würde noch nichts über Wert und Unwert entschieden, es wäre nur bloß von Verschiedenheit die Rede, die ich mit dem Vorigen ganz außer Zweifel ge- setzt glaube. Und nun gebe ich's jedem anheim, es selbst auszumachen, »Ob eine Kopierung fremder Zeiten, Sitten und Handlungen in Halbwahrheit, mit dem köstlichen Zwecke, sie der zweistündigen Vor- stellung auf einem Bretterngerüste fähig und ähnlich zu machen, wohl einer Nachbildung gleich- oder übergeschätzt werden könne, die in gewissem Be- tracht die höchste Nationalnatur war?« ob eine Dich- tung, deren Ganzes eigentlich (und da wird sich jeder Franzose winden oder vorbeisingen müssen) gar kei- nen Zweck hat - das Gute ist nach dem Bekenntnis der besten Philosophen nur eine Nachlese im Detail - ob die einer Landesanstalt gleich geschätzt werden kann, wo in jedem kleinen Umstande Würkung, höch- ste schwerste Bildung lag? Ob endlich nicht eine Zeit kommen mußte, da man, wie die meisten und künst- lichsten Stücke Corneillens schon vergessen sind, Crébillon und Voltaire mit der Bewundrung ansehen wird, mit der man jetzt die »Asträa« des Hrn. von Urfé, und alle »Clelien« und »Aspasien« der Ritter- zeit ansieht, »voll Kopf und Weisheit! voll Erfindung und Arbeit! es wäre aus ihnen so viel! viel zu lernen - aber schade! daß es in der ›Asträa‹ und ›Clelia‹ ist«. Das Ganze ihrer Kunst ist ohne Natur! ist abenteuerlich! ist ekel! - Glücklich wenn wir im Ge- schmack der Wahrheit schon an der Zeit wären! Das ganze französische Drama hätte sich in eine Samm- lung schöner Verse, Sentenzen, Sentimens verwan- elt - aber der große Sophokles stehet noch, wie er ist! Lasset uns also ein Volk setzen, das aus Umstän- den, die wir nicht untersuchen mögen, Lust hätte, sich statt nachzuäffen und mit der Walnußschale davonzu- laufen, selbst lieber, sein Drama zu erfinden: so ist's, dünkt mich, wieder erste Frage: wenn? wo? unter welchen Umständen? woraus soll's das tun? und es braucht keines Beweises, daß die Erfindung nichts als Resultat dieser Fragen sein wird und sein kann. Hole es sein Drama nicht aus Chor, aus Dithyramb her: so kann's auch nichts Chormäßiges, Dithyrambisches haben. Läge ihm keine solche Simplizität von Faktis der Geschichte, Tradition, häuslichen, und Staats- und Religionsbeziehungen vor - natürlich kann's nichts von alledem haben. - Es wird sich, wo mög- lich, sein Drama nach seiner Geschichte, nach Zeit- geist, Sitten, Meinungen, Sprache, Nationalvorurtei- len, Traditionen, und Liebhabereien, wenn auch aus Fastnachts- und Marionettenspiel (eben, wie die edlen Griechen aus dem Chor) erfinden - und das Erfundne wird Drama sein, wenn es bei diesem Volk dramati- schen Zweck erreicht. Man sieht, wir sind bei den toto divisis ab orbe Britannis und ihrem großen Shakespeare. Daß da, und zu der und vor der Zeit kein Griechen- land war, wird kein pullulus Aristotelis leugnen, und hier und da also griechisches Drama zu fodern, daß es natürlich (wir reden von keiner Nachäffung) entstehe, ist ärger, als daß ein Schaf Löwen gebären solle. Es wird allein erste und letzte Frage: »wie ist der Boden? worauf ist er zubereitet? was ist in ihn gesäet? was sollte er tragen können?« - und Himmel! wie weit hier von Griechenland weg! Geschichte, Tradition, Sitten, Religion, Geist der Zeit, des Volks, der Rüh- rung, der Sprache - wie weit von Griechenland weg! Der Leser kenne beide Zeiten viel oder wenig, so wird er doch keinen Augenblick verwechseln, was nichts Ähnliches hat. Und wenn nun in dieser fglücklich oder unglücklich veränderten Zeit, es eben ein Alter, ein Genie gäbe, das aus seinem Stoff so natürlich, groß, und original eine dramatische Schöpfung zöge, als die Griechen aus dem ihren - und diese Schöpfung eben auf den verschiedensten Wegen dieselbe Absicht er- reichte, wenigstens an sich ein weit vielfach Einfälti- ger und Einfach-Vielfältiger - also (nach aller meta- physischen Definition) ein vollkommenes Ganzes wäre - was für ein Tor, der nun vergliche und gar ver- dammte, weil dies zweite nicht das erste sei? Und alle sein Wesen, Tugend und Vollkommenheit beruhe ja darauf, daß es nicht das erste ist: daß aus dem Boden der Zeit, eben die andre Pflanze erwuchs. Shakespeare fand vor und um sich nichts weniger als Simplizität von Vaterlandssitten, Taten, Neigun- gen und Geschichtstraditionen, die das griechische Drama bildete, und da also nach dem ersten metaphy- sischen Weisheitssatze aus nichts nichts wird, so wäre Philosophen überlassen, nicht bloß kein griechisches, sondern wenn's außerdem nichts gibt, auch gar kein Drama in der Welt mehr geworden, und hätte werden können. Da aber Genie bekanntermaßen mehr ist, als Philosophie, und Schöpfer ein ander Ding, als Zer- gliederer: so war's ein Sterblicher mit Götterkraft be- gabt, eben aus dem entgegengesetztesten Stoff, und in der verschiedensten Bearbeitung dieselbe Würkung hervorzurufen, Furcht und Mitleid! und beide in einem Grade, wie jener erste Stoff und Bearbeitung es kaum vormals hervorzubringen vermocht! - Glückli- cher Göttersohn über sein Unternehmen! Eben das Neue, Erste, ganz Verschiedne zeige die Urkraft sei- nes Berufs. Shakespeare fand keinen Chor vor sich; aber wohl Staats - und Marionettenspiele - wohl! er bildete also aus diesen Staats - und Marionettenspielen, dem so schlechten Leim! das herrliche Geschöpf, das da vor uns steht und lebt! Er fand keinen so einfachen Volks- und Vaterlandscharakter, sondern ein Vielfa- ches von Ständen, Lebensarten, Gesinnungen, Völ- kern und Spracharten - der Gram um das Vorige wäre vergebens gewesen; er dichtete also Stände und Men- schen, Völker und Spracharten, König und Narren, Narren und König zu dem herrlichen Ganzen! Er fand keinen so einfachen Geist der Geschichte, der Fabel, der Handlung: er nahm Geschichte, wie er sie fand, und setzte mit Schöpfergeist das verschiedenartigste Zeug zu einem Wunderganzen zusammen, was wir, wenn nicht Handlung im griechischen Verstande, so Aktion im Sinne der mittlern, oder in der Sprache der neuern Zeiten Begebenheit (événement) großes Er- äugnis nennen wollen - o Aristoteles, wenn du er- schienest, wie würdest du den neuen Sophokles home- risieren! würdest so eine eigne Theorie über ihn dich- ten, die jetzt seine Landsleute, Home und Hurd, Pope und Johnson noch nicht gedichtet haben! Würdest dich freuen, von jedem deiner Stücke, Handlung, Charakter, Meinungen, Ausdruck, Bühne, wie aus zwei Punkten des Dreiecks Linien ziehen zu können, die sich oben in einem Punkte des Zwecks, der Voll- kommenheit begegnen! Würdest zu Sophokles sagen: male das heilige Blatt dieses Altars! und du o nordi- scher Barde alle Seiten und Wände dieses Tempels in dein unsterbliches Fresko! Man lasse mich als Ausleger und Rhapsodisten fortfahren: denn ich bin Shakespeare näher als dem Griechen. Wenn bei diesem das Eine einer Handlung herrscht: so arbeitet jener auf das Ganze eines Eräug- nisses, einer Begebenheit. Wenn bei jenem ein Ton der Charaktere herrschet, so bei diesem alle Charakte- re, Stände und Lebensarten, so viel nur fähig und nötig sind, den Hauptklang seines Konzerts zu bilden. Wenn in jenem eine singende feine Sprache, wie in einem höhern Äther tönet, so spricht dieser die Spra- che aller Alter, Menschen und Menscharten, ist Dol- metscher der Natur in all ihren Zungen - und auf so verschiedenen Wegen beide Vertraute einer Gott- eit? - Und wenn jener Griechen vorstelle und lehre und rühre und bildet, so lehre, rührt und bildet Shake- speare nordische Menschen! Mir ist, wenn Ich ihn lese, Theater, Akteur, Kulisse verschwunden! Lauter einzelne im Sturm der Zeiten wehende Blätter aus dem Buch der Begebenheiten, der Vorsehung der Welt! - einzelne Gepräge der Völker, Stände, Seelen! die alle die verschiedenartigsten und abgetrenntest handelnden Maschinen, alle - was wir in der Hand des Weltschöpfers sind - unwissende, blinde Werk- zeuge zum Ganzen eines theatralischen Bildes, einer Größe habenden Begebenheit, die nur der Dichter überschauet. Wer kann sich einen größern Dichter der nordischen Menschheit und in dem Zeitalter! denken! Wie vor einem Meere von Begebenheit, wo Wogen in Wogen rauschen, so tritt vor seine Bühne. Die Auf- tritte der Natur rücken vor und ab; würken ineinander so disparat sie scheinen; bringen sich hervor, und zer- stören sich, damit die Absicht des Schöpfers, der alle im Plane der Trunkenheit und Unordnung gesellet zu haben schien, erfüllt werde - dunkle kleine Symbole zum Sonnenriß einer Theodizee Gottes. Lear der ra- sche, warme, edelschwache Greis, wie er da vor seiner Landkarte steht, und Kronen wegschenkt und Länder zerreiße - in der ersten Szene der Erscheinung trägt schon allen Samen seiner Schicksale zur Ernte der dunkelsten Zukunft in sich. Siehe! der gutherzige Ver- schwender, der rasche Unbarmherzige, der kindische Vater wird es bald sein auch in den Vorhöfen seiner Töchter - bittend, betend, bettelnd, fluchend, schwär- mend, segnend - ach, Gott! und Wahnsinn ahndend. Wird's sein bald mit blassem Scheitel unter Donner und Blitz, zur untersten Klasse von Menschen herab- gestürzt, mit einem Narren und in der Höhle eines tol- len Bettlers Wahnsinn gleichsam pochend vom Him- mel herab. - Und nun ist wie er's ist, in der ganzen leichten Majestät seines Elends und Verlassens; und nun zu sich kommend, angeglänzt vom letzten Strahle der Hoffnung, damit diese auf ewig, ewig erlösche! Gefangen, die tote Wohltäterin, Verzeiherin, Kind, Tochter auf seinen Armen! auf ihrem Leichnam ster- bend, der alte Knecht dem alten Könige nachsterbend - Gott! welch ein Wechsel von Zeiten, Umständen, Stürmen, Wetter, Zeitläuften! und alle nicht bloß eine Geschichte - Helden und Staatsakti- on, wenn du willt! von einem Anfange zu einem Ende, nach der strengsten Regel deines Aristoteles; sondern tritt näher, und fühle den Menschengeist, der auch jede Person und Alter und Charakter und Neben- ding in das Gemälde ordnete. Zween alte Väter und alle ihre so verschiedne Kinder! Des einen Sohn gegen einen betrognen Vater unglücklich dankbar, der andre gegen den gutherzigsten Vater scheußlich un- dankbar und abscheulich glücklich. Der gegen seine Töchter! diese gegen ihn! ihre Gemahl, Freier und alle Helfershelfer im Glück und Unglück. Der blinde Glo- ster am Arm seines unerkannten Sohnes, und der tolle Lear zu den Füßen seiner vertriebnen Tochter! und nun der Augenblick der Wegscheide des Glücks, da Gloster unter seinem Baume stirbt, und die Trompete rufet alle Nebenumstände, Triebfedern, Charaktere und Situationen dahinein gedichtet - alles im Spiel! zu einem Ganzen sich fortwickelnd - zu einem Vater- und Kinder-, Königs- und Narren- und Bettler- und Elend-Ganzen zusammengeordnet, wo doch überall bei den disparatsten Szenen Seele der Begebenheit atmet, wo Örter, Zeiten, Umstände selbst möchte ich sagen, die heidnische Schicksals- und Sternenphilo- sophie, die durchweg herrschet, so zu diesem Ganzen gehören, daß ich nichts verändern, versetzen, aus an- dern Stücken hieher oder hieraus in andre Stücke bringen könnte. Und das wäre kein Drama? Shake- speare kein dramatischer Dichter? Der hundert Auf- tritte einer Weltbegebenheit mit dem Arm umfaßt, mit dem Blick ordnet, mit der einen durchhauchenden, alles belebenden Seele erfüllet, und nicht Aufmerk- samkeit; Herz, alle Leidenschaften, die ganze Seele von Anfang bis zu Ende fortreißt - wenn nicht mehr, so soll Vater Aristoteles zeugen, »die Größe des le- bendigen Geschöpfs darf nur mit einem Blick überse- hen werden können« - und hier - Himmel! wie wird das Ganze der Begebenheit mit tiefster Seele fortge- fühlt und geendet! - Eine Welt dramatischer Ge- schichte, so groß und tief wie die Natur; aber der Schöpfer gibt uns Auge und Gesichtspunkt, so groß und tief zu sehen! In »Othello, dem Mohren«, welche Welt! welch ein Ganzes! lebendige Geschichte der Entstehung, Fort- gangs, Ausbruchs, traurigen Endes der Leidenschaft dieses edlen Unglückseligen! und in welcher Fülle, und Zusammenlauf der Räder zu einem Werke! Wie dieser Jago, der Teufel in Menschengestalt, die Welt ansehen, und mit allen, die um ihn sind, spielen! und wie nun die Gruppe, ein Cassio und Rodrich, Othello und Desdemone in den Charakteren, mit dem Zunder von Empfänglichkeiten seiner Höllenflamme, um ihn stehen muß, und jedes ihm in den Wurf kommt, und er alles braucht, und alles zum traurigen Ende eilet. - Wenn ein Engel der Vorsehung menschliche Leiden- schaften gegeneinander abwog, und Seelen und Cha- raktere gruppierte, und ihnen Anlässe, wo jedes im Wahn des Freien handelt, zuführt, und er sie alle mit diesem Wahne als mit der Kette des Schicksals zu seiner Idee leitet - so war der menschliche Geist, der hier entwarf, sann, zeichnete, lenkte. Daß Zeit und Ort, wie Hülsen um den Kern immer mitgehen, sollte nicht einmal erinnert werden dürfen, und doch ist hierüber eben das helleste Geschrei. Fand Shakespeare den Göttergriff eine ganze Welt der disparatesten Auftritte zu einer Begebenheit zu erfassen; natürlich gehörte es eben zur Wahrheit sei- ner Begebenheiten, auch Ort und Zeit jedesmal zu idealisieren, daß sie mit zur Täuschung beitrügen. Ist wohl jemand in der Welt zu einer Kleinigkeit seines Lebens Ort und Zeit gleichgültig? und sind sie's in- sonderheit in den Dingen, wo die ganze Seele geregt, gebildet, umgebildet wird? in der Jugend, in Szenen der Leidenschaft, in allen Handlungen aufs Leben! Ist's da nicht eben Ort und Zeit und Fülle der äußern Umstände, die der ganzen Geschichte Haltung, Dauer, Existenz geben muß, und wird ein Kind, ein Jüngling, ein Verliebter, ein Mann im Felde der Taten sich wohl einen Umstand des Lokals, des Wie? und Wo? und Wann? wegschneiden lassen, ohne daß die ganze Vorstellung seiner Seele litte? Da ist nun Shakespeare der größte Meister, eben weil er nur und immer Diener der Natur ist. Wenn er die Begebenhei- ten seines Drama dachte, im Kopf wälzte, wie wälzen sich jedesmal Orter und Zeiten so mit umher! Aus Szenen und Zeitläuften aller Welt findet sich, wie durch ein Gesetz der Fatalität, eben die hieher, die dem Gefühl der Handlung, die kräftigste, die idealste ist; wo die sonderbarsten, kühnsten Umstände am meisten den Trug der Wahrheit unterstützen, wo Zeit- und Ortwechsel, über die der Dichter schaltet, am lau- testen rufen: »hier ist kein Dichter! ist Schöpfer! ist Geschichte der Welt!« Als z.E. der Dichter den schrecklichen Königs- mord, Trauerspiel »Macbeth« genannt, als Faktum der Schöpfung in seiner Seele wälzte - bist du, mein lieber Leser, so blöde gewesen, nun in keiner Szene, Szene und Ort mitzufühlen - wehe Shakespeare, dem verwelkten Blatte in deiner Hand. So hast du nichts von der Eröffnung durch die Zauberinnen auf der Heide unter Blitz und Donner! nichts nun vom bluti- gen Manne mit Macbeths Taten zur Botschaft des Königes an ihn, nichts wider die Szene zu brechen, und den prophetischen Zaubergeist zu eröffnen, und die vorige Botschaft nun mit diesem Gruße in seinem Haupt zu mischen - gefühlt! Nicht sein Weib mit jener Abschrift des Schicksalsbriefes in ihrem Schlos- se wandern sehen, die hernach wie grauerlich anders wandern wird! Nicht mit dem stillen Könige noch zu guter Letzt die Abendluft so sanft gewittert, rings um das Haus, wo zwar die Schwalbe so sicher nistet, aber du o König - das ist im unsichtbaren Werk! - dich deiner Mördergrube näherst. Das Haus in unruhiger, gastlicher Zubereitung, und Macbeth in Zubereitung zum Morde! Die bereitende Nachtszene Bankos mit Fackel und Schwert! Der Dolch! der schauerliche Dolch der Vision! Glocke - kaum ist's geschehen und das Pochen an der Tür! - Die Entdeckung, Versamm- ung - man trabe alle Orter und Zeiten durch, wo das zu der Absicht, in der Schöpfung, anders als da und so geschehen könnte. Die Mordszene Bankos im Walde; das Nachtgastmahl und Bankos Geist - nun wieder die Hexenheide (denn seine erschreckliche Schicksalstat ist zu Ende!). Nun Zauberhöhle, Be- schwörung, Prophezeiung, Wut und Verzweiflung! Der Tod der Kinder Macduffs unter den Flügeln ihrer einsamen Mutter! und jene zween Vertriebne unter dem Baum, und nun die grauerliche Nachtwanderin im Schlosse, und die wunderbare Erfüllung der Pro- phezeiung - der heranziehende Wald - Macbeths Tod durch das Schwert eines Ungebornen - ich müßte alle, alle Szenen ausschreiben, um das idealisierte Lokal des unnennbaren Ganzen, der Schicksals-, Königsmords- und Zauberwelt zu nennen, die als Seele das Stück, bis auf den kleinsten Umstand von Zeit, Ort, selbst scheinbarer Zwischenverwirrung, be- lebt, alles in der Seele zu einem schauderhaften, un- zertrennlichen Ganzen zu machen - und doch würde ich mit allem nichts sagen. Dies Individuelle jedes Stücks, jedes einzelnen Weltalls, geht mit Ort und Zeit und Schöpfung durch alle Stücke. Lessing hat einige Umstände »Hamlets« in Vergleichung der Theaterkönigin »Semiramis«[1] ent- ickelt - wie voll ist das ganze Drama dieses Lokal- geistes von Anfang, zu Ende. Schloßplatz und bittre Kälte, ablösende Wache und Nachterzählungen, Un- glaube und Glaube - der Stern - und nun er- cheint's! - Kann jemand sein, der nicht in jedem Wort und Umstande Bereitung und Natur ahnde! So weiter. Alles Kostüm der Geister erschöpft! der Menschen zur Erscheinung erschöpft! Hahnkräh und Pauken- schall, stummer Wink und der nahe Hügel, Wort und Unwort - welches Lokal! welches tiefe Eingraben der Wahrheit! Und wie der erschreckte König kniet, und Hamlet vorbeiirrt in seiner Mutter Kammer vor dem Bilde seines Vaters! und nun die andre Erscheinung! Er am Grabe seiner Ophelia! der rührende good fel- low in allen den Verbindungen mit Horaz, Ophelia, Laertes, Fortinbras! das Jugendspiel der Handlung, was durchs Stück fortläuft und fast bis zu Ende keine Handlung wird - wer da einen Augenblick Brettern- gerüste fühlt und sucht, und eine Reihe gebundner ar- tiger Gespräche auf ihm sucht, für den hat Shake- speare und Sophokles, kein wahrer Dichter der Welt gedichtet. Hätte ich doch Worte dazu, um die einzelne Haupt- empfindung, die also jedes Stück beherrscht, und wie eine Weltseele durchströmt, zu bemerken. Wie es doch in »Othello« würklich mit zu dem Stücke ge- hört, so selbst das Nachtsuchen wie die fabelhafte Wunderliebe, die Seefahrt, der Seesturm, wie die brausende Leidenschaft Othellos, die so sehr verspot- tete Todesart, das Entkleiden unter dem Sterbe- liedchen und dem Windessausen, wie die Art der Sünde und Leidenschaft selbst - sein Eintritt, Rede ans Nachtlicht usw. wäre es möglich, doch das in Worte zu fassen, wie das alles zu einer Welt der Trauerbegebenheit lebendig und innig gehöre - aber es ist nicht möglich. Kein elendes Farbengemälde läßt sich durch Worte beschreiben oder herstellen, und wie die Empfindung einer lebendigen Welt in allen Sze- nen, Umständen und Zaubereien der Natur. Geht, mein Leser, was du willt, »Lear« und die »Richards«, »Cäsar« und die »Heinrichs«, selbst Zauberstücke und Divertissements, insonderheit »Romeo«, das süße Stück der Liebe, auch Roman in jedem Zeitumstande, und Ort und Traum und Dichtung - geht es durch, versuche etwas der Art wegzunehmen, zu tauschen, es gar auf ein französisches Bretterngerüste zu simplifi- zieren - eine lebendige Welt mit allem Urkundlichen ihrer Wahrheit in dies Gerüste verwandelt - schöner Tausch! schöne Wandlung! Nimm dieser Pflanze ihren Boden, Saft und Kraft, und pflanze sie in die Luft: nimm diesem Menschen Ort, Zeit, individuelle Bestandheit - du hast ihm Otem und Seele genom- men, und ist ein Bild vom Geschöpf. Eben da ist also Shakespeare Sophokles' Bruder, wo er ihm dem Anschein nach so unähnlich ist, um im Innern, ganz wie er, zu sein. Da alle Täuschung durch dies Urkündliche, Wahre, Schöpferische der Ge- schichte erreicht wird, und ohne sie nicht bloß nicht erreicht würde, sondern kein Element mehr (oder ich hätte umsonst geschrieben) von Shakespeares Drama und dramatischem Geist bliebe: so sieht man, die ganze Welt ist zu diesem großen Geiste allein Körper: alle Auftritte der Natur an diesem Körper Glieder, wie alle Charaktere und Denkarten zu diesem Geiste Züge - und das Ganze mag jener Riesengott des Spi- noza »Pan! Universum!« heißen. Sophokles blieb der Natur treu, da er eine Handlung eines Orts und einer Zeit bearbeitete: Shakespeare konnt ihr allein treu bleiben, wenn er seine Weltbegebenheit und Men- schenschicksal durch alle die Orter und Zeiten wälzte, wo sie - nun, wo sie geschehen: und gnade Gott, dem kurzweiligen Franzosen, der in Shakespeares fünften Aufzug käme, um da die Rührung in der Quintessenz herunterzuschlucken. Bei manchen französischen Stücken mag dies wohl angehen, weil da alles nur fürs Theater versifiziert und in Szenen Schau getragen wird; aber hier geht er eben ganz leer aus. Da ist Weltbegebenheit schon vorbei: er sieht nur die letzte, schlechteste Folge, Menschen, wie Fliegen fallen: er geht hin und höhnt: Shakespeare ist ihm Ärgernis und sein Drama die dummeste Torheit. Überhaupt wäre der ganze Knäuel von Ort- und Zeitquästionen längst aus seinem Gewirre gekommen, wenn ein philosophischer Kopf über das Drama sich die Mühe hätte nehmen wollen, auch hier zu fragen: »was denn Ort und Zeit sei?« Soll's das Bretterngerü- ste, und der Zeitraum eines Divertissements au théâtre sein: so hat niemand in der Welt Einheit des Orts, Maß der Zeit und der Szenen, als - die Franzosen. Die Griechen - bei ihrer hohen Täuschung, von der wir fast keinen Begriff haben - bei ihren Anstalten für das Öffentliche der Bühne, bei ihrer rechten Tem- pelandacht vor derselben, haben an nichts weniger als das je gedacht. Wie muß die Täuschung eines Men- schen sein, der hinter jedem Auftritt nach seiner Uhr sehen will, ob auch so was in soviel Zeit habe gesche- hen können? und dem es sodann Hauptelement der Herzensfreude würde, daß der Dichter ihn doch ja um keinen Augenblick betrogen, sondern auf dem Gerüste nur ebensoviel gezeigt hat, als er in der Zeit im Schneckengange seines Lebens sehen würde - welch ein Geschöpf, dem das Hauptfreude wäre! und welch ein Dichter, der darauf als Hauptzweck arbeitete, und sich denn mit dem Regelnkram brüstete, »wie artig habe ich nicht soviel und soviel schöne Spielwerke! auf den engen gegebnen Raum dieser Brettergrube, Théâtre François genannt, und in den gegebnen Zeit- raum der Visite dahin eingeklemmt und eingepaßt! die Szenen filiert und enfiliert! alles genau geflickt und geheftet« - elender Zeremonienmeister! Savoyar- de des Theaters, nicht Schöpfer! Dichter! dramati- scher Gott! Als solchem schlägt dir keine Uhr auf Turm und Tempel, sondern du hast Raum und Zeit- maße zu schaffen, und wenn du eine Welt hervorbrin- gen kannst, und die nicht anders, als in Raum und Zeit exsistieret, siehe, so ist da im Innern dein Maß von Frist und Raum; dahin du alle Zuschauer zau- bern, daß du allen aufdringen mußt, oder du bist - was ich gesagt habe, nur nichts weniger, als dramati- scher Dichter. Sollte es denn jemand in der Welt brauchen demon- striert zu werden, daß Raum und Zeit eigentlich an sich nichts, daß sie die relativeste Sache auf Dasein, Handlung, Leidenschaft, Gedankenfolge und Maß der Aufmerksamkeit in oder außerhalb der Seele sind? Hast du denn, gutherziger Uhrsteller des Drama, nie Zeiten in deinem Leben gehabt, wo dir Stunden zu Augenblicken und Tage zu Stunden; gegenteils aber auch Stunden zu Tagen, und Nachtwachen zu Jahren geworden sind? Hast du keine Situationen in deinem Leben gehabt, wo deine Seele einmal ganz außer dir wohnte, hier in diesem romantischen Zimmer deiner Geliebten, dort auf jener starren Leiche, hier in die- sem Drückenden äußerer, beschämender Not - jetzt wieder über Welt und Zeit hinausflog, Räume und Weltgegenden überspringet, alles um sich vergaß, und im Himmel, in der Seele, im Herzen dessen bist, des- sen Exsistenz du nun empfindest? Und wenn das in deinem trägen, schläfrigen Wurm- und Baumleben möglich ist, wo dich ja Wurzeln gnug am toten Boden deiner Stelle festhalten, und jeder Kreis, den du schleppest, dir langsames Moment gnug ist, deinen Wurmgang auszumessen - nun denke dich einen Au- genblick in eine andre, eine Dichterwelt nur in einen Traum? Hast du nie gefühlt, wie im Traum dir Ort und Zeit schwinden? was das also für unwesentliche Dinge, für Schatten gegen das was Handlung, Wür- kung der Seele ist, sein müssen? wie es bloß an dieser Seele liege, sich Raum, Welt und Zeitmaß zu schaf- fen, wie und wo sie will? Und hättest du das nur ein- mal in deinem Leben gefühlt, wärest nach einer Vierteilstunde erwacht und der dunkle Rest deiner Traumhandlungen hätte dich schwören gemacht, du habest Nächte hinweg geschlafen, geträumt und ge- handelt! - dürfte dir Mahomeds Traum, als Traum noch einen Augenblick ungereimt sein! und wäre es nicht eben jedes Genies, jedes Dichters, und des dra- matischen Dichters insonderheit erste und einzige Pflicht, dich in einen solchen Traum zu setzen? Und nun denke, welche Welten du verwirrest, wenn du dem Dichter deine Taschenuhr, oder dein Visitenzim- mer vorzeigest, daß er dahin und darnach dich träu- men lehre? Im Gange seiner Begebenheit, im ordine successi- vorum und simultaneorum seiner Welt, da liegt sein Raum und Zeit. Wie, und wo er dich hinreiße? wenn er dich nur dahin reißt, da ist seine Welt. Wie schnell und langsam er die Zeiten folgen lasse; er läßt sie fol- gen; er drückt dir diese Folge ein: das ist sein Zeit- aß - und wie ist hier wieder Shakespeare Meister! langsam und schwerfällig fangen seine Begebenheiten an, in seiner Natur wie in der Natur: denn er gibt diese nur im verjüngten Maße. Wie mühevoll, ehe die Triebfedern in Gang kommen! je mehr aber, wie lau- fen die Szenen! wie kürzer die Reden und geflügelter die Seelen, die Leidenschaft, die Handlung! und wie mächtig sodann dieses Laufen, das Hinstreuen gewis- ser Worte, da niemand mehr Zeit hat. Endlich zuletzt, wenn er den Leser ganz getäuscht und im Abgrunde seiner Welt und Leidenschaft verloren sieht, wie wird er kühn, was läßt er aufeinanderfolgen! Lear stirbt nach Cordelia, und Kent nach Lear! es ist gleichsam Ende seiner Welt, Jüngster Tag da, da alles aufeinan- derrollet und hinstürzt, der Himmel eingewickelt und die Berge fallen; das Maß der Zeit ist hinweg. - Frei- lich wieder nicht für den lustigen, muntren Kaklogal- linier, der mit heiler frischer Haut in den fünften Akt käme, um an der Uhr zu messen, wieviel da in wel- cher Zeit sterben? aber Gott, wenn das Kritik, Thea- ter, Illusion sein soll - was wäre denn Kritik? Illusi- on? Theater? was bedeuteten alle die leeren Wörter. Nun finge eben das Herz meiner Untersuchung an, »wie? auf welche Kunst und Schöpferweise Shake- speare eine elende Romanze, Novelle und Fabelhisto- rie zu solch einem lebendigen Ganzen habe dichten können? Was für Gesetze unsrer historischen, philo- sophischen, dramatischen Kunst in jedem seiner Schritte und Kunstgriffe liege?« Welche Untersu- chung! wieviel für unsern Geschichtbau, Philosophie der Menschenseelen und Drama. - Aber ich bin kein Mitglied aller unsrer historischen, philosophischen und schön-künstlichen Akademien, in denen man frei- lich an jedes andre eher, als an so etwas denkt! Selbst Shakespeares Landsleute denken nicht daran. Was haben ihm oft seine Kommentatoren für historische Fehler gezeihet! der fette Warburton z.E. welche hi- storische Schönheiten schuld gegeben! und noch der letzte Verfasser des »Versuchs« über ihn hat er wohl die Lieblingsidee, die ich bei ihm suchte: »wie hat Shakespeare aus Romanzen und Novellen Drama ge- dichtet?« erreicht? Sie ist ihm wie dem Aristoteles dieses britischen Sophokles, dem Lord Home kaum eingefallen. Also nur einen Wink in die gewöhnlichen Klassifi- kationen in seinen Stücken. Noch neuerlich hat ein Schriftsteller2, der gewiß seinen Shakespeare ganz gefühlt hat, den Einfall gehabt, jenen ehrlichen Fish- monger von Hofmann, mit grauen Bart und Runzelge- sicht, triefenden Augen und seinem plentiful lack of wit together with weak Hams, das Kind Polonius zum Aristoteles des Dichters zu machen, und die Reihe von Als und Cals, die er in seinem Geschwätz wegsprudelt, zur ernsten Klassifikation aller Stücke vorzuschlagen. Ich zweifle. Shakespeare hat freilich die Tücke, leere locos communes, Moralen und Klas- sifikationen, die auf hundert Fälle angewandt, auf alle und keinen recht passen, am liebsten Kindern und Narren in den Mund zu legen; und eines neuen Sto- baei und Florilegii, oder Cornu copiae von Shake- speares Weisheit, wie die Engländer teils schon haben und wir Deutsche gottlob! neulich auch hätten haben sollen - deren würde sich solch ein Polonius, und Launcelot, Arlequin und Narr, blöder Richard, oder aufgeblasner Ritterkönig am meiste zu erfreuen haben, weil jeder ganze, gesunde Mensch bei ihm nie mehr zu sprechen hat, als er aus Mund in Hand braucht, aber doch zweifle ich hier noch. Polonius soll hier wahrscheinlich nur das alte Kind sein, das Wolken für Kamele und Kamele für Baßgeigen an- sieht, in seiner Jugend auch einmal den Julius Cäsar gespielt hat, und war ein guter Akteur, und ward von Brutus umgebracht, und wohl weiß: why day is day, night night and time is time also auch hier einen Kreisel theatralischer Worte dre- et - wer wollte aber darauf bauen? oder was hätte man denn nun mit der Einteilung? Tragedy, Comedy, History, Pastoral, Tragical-Historical, und Historical- -Pastoral, und Pastoral-Comical und Comical-Histori- al-Pastoral, und wenn wir die Cals noch hundertmal mischen, was hätten wir endlich? kein Stück wäre doch griechische Tragedy, Comedy und Pastoral, und sollte es nicht sein. Jedes Stück ist History im weit- sten Verstande, die sich nun freilich bald in Tragedy, Comedy, usw. mehr oder weniger nuanciert. - Die Farben aber schweben da so ins Unendliche hin, und am Ende bleibt doch jedes Stück und muß bleiben - was es ist. Historie! Helden- und Staatsaktion zur Illusion mittlerer Zeiten oder (wenige eigentliche Plays und Divertissements ausgenommen) ein völli- ges Größe habende Eräugnis einer Weltbegebenheit, eines menschlichen Schicksals. Trauriger und wichtiger wird der Gedanke, daß auch dieser große Schöpfer von Geschichte und Welt- seele immer mehr veralte! daß da Worte und Sitten und Gattungen der Zeitalter, wie ein Herbst von Blät- tern welken und absinken, wir schon jetzt aus diesen großen Trümmern der Ritternatur so weit heraus sind, daß selbst Garrick, der Wiedererwecker und Schutz- engel auf seinem Grabe, so viel ändern, auslassen, verstümmeln muß, und bald vielleicht, da sich alles so sehr verwischt und anders wohin neiget, auch sein Drama der lebendigen Vorstellung ganz unfähig wer- den, und eine Trümmer von Kolossus, von Pyramide sein wird, die jeder anstaunet und keiner begreift. Glücklich, daß ich noch im Ablaufe der Zeit lebte, wo ich ihn begreifen konnte, und wo du, mein Freund, der du dich bei diesem Lesen erkennest und fühlst, und den ich vor seinem heiligen Bilde mehr als einmal umarmet, wo du noch den süßen und deiner würdigen Traum haben kannst, sein Denkmal aus unsern Rit- terzeiten in unsrer Sprache, unserm so weit abgearte- ten Vaterlande herzustellen. Ich beneide dir den Traum, und dein edles deutsches Würken laß nicht nach, bis der Kranz dort oben hange. Und solltest du als denn auch später sehen, wie unter deinem Gebäu- de der Boden wankt, und der Pöbel umher stillsteht und gafft, oder höhnt, und die daurende Pyramide nicht alten ägyptischen Geist wiederaufzuwecken ver- ag - dein Werk wird bleiben, und ein treuer Nach- komme dein Grab suchen, und mit andächtiger Hand dir schreiben, was das Leben fast aller Würdigen der Welt gewesen: voluit! quiescit! Fußnoten 1 Oden, bei Bode 1771. Die vorigen Flicke vom Auf- satz waren Jahre vorher dem Verf. entkommen. 2 Briefe über Merkw. der Liter. 3. Samml. ________________________________ [1] Voltaire