Mitte des 14. Jahrhunderts raffte die Pest ein Drittel der 15 Millionen Deutschen dahin. Im Westen des Reiches schlugen Verzweiflung und Hilflosigkeit der Menschen in Wut um. Sie suchten nach Schuldigen an der Katastrophe und fanden sie schnell: die verhasste Minderheit, die Außenseiter der mittelalterlichen Gesellschaft - die Juden.
Angeblich hatten die Juden Gift in die Brunnen geträufelt! Die Aussage eines französischen Juden - unter der Folter erpresst - machte schnell die Runde in ganz Europa. In fast allen größeren Städten fiel der Mob über die Juden her.
Zur Zeit Karls IV. gab es über 1000 jüdische Gemeinden in Deutschland. Die größten existierten in Mainz, Worms und Speyer. Sie konnten hierzulande auf eine sehr lange Geschichte zurückblicken. Schon im Gefolge der Römer waren Juden ins damalige Germanien gekommen. Sie siedelten an den großen Flüssen und Handelsrouten. Juden wohnten gewöhnlich sogar in der Stadtmitte, rund um ihre Synagoge.
Aber die Existenz der jüdischen Gemeinden war immer gefährdet. Diskriminierende Gesetze verwehrten Juden den Zugang zu den Handwerken. So blieben ihnen nur der Handel und das Geschäft des Geldverleihens. Das machte sie zu einem notwendigen Glied der mittelalterlichen Gesellschaft - und gleichzeitig verhasst. Denn die Zinsen waren wegen der unkalkulierbaren Risiken sehr hoch.
Pogrome waren eine Begleiterscheinung der gesamten mittelalterlichen Geschichte. Die bis zum 14. Jahrhundert schlimmsten Ausschreitungen ereigneten sich im Vorfeld des ersten Kreuzzugs 1096. Die Kreuzfahrer, die sich in französischen und deutschen Städten sammelten, fielen über die jüdische Bevölkerung her und brachten aus religiösem Fanatismus die "Jesusmörder" um.
Um die Juden vor immer wiederkehrenden Übergriffen zu schützen, schuf Friedrich II. 1236 ein neues Gesetz. Demnach standen die Juden im Heiligen Römischen Reich fortan unter der persönlichen Protektion der Herrscher und erhielten den offiziellen Titel "Kammerknechte". Das hieß, sie gingen praktisch in den Haushalt und persönlichen Besitz des Monarchen über. Damit genossen sie aber auch Schutz. Denn niemand konnte sich ungestraft am Eigentum des Königs vergreifen. Diesen Schutz ließen sich die Mächtigen teuer bezahlen - in Form der Judensteuer, einer der wichtigsten Einnahmequellen der Könige.
Auch Karl IV. profitierte von den Juden und hatte sie als Siedler und willkommene Steuerzahler nach Prag eingeladen. Aber schon seine Vorgänger hatten häufig das so genannte "Judenregal" im Reich, also das Recht, von den Juden Steuern zu erheben, an die Städte verpfändet. Diese Verpfändung bedeutete, dass der König gegen die Zahlung einer vereinbarten Summe das Recht, von den Juden Steuern zu erheben, an die Stadt abtrat. Nach Ablauf einer Frist fiel das Recht wieder an den König zurück: eine beliebte Methode der mittelalterlichen Herrscher, kurzfristige Liquiditätsprobleme zu lösen.
Zwar wurde in den Verträgen vereinbart, dass die Stadtoberen für das Recht, die Judensteuer einzustreichen, auch die Sicherheit der jüdischen Gemeinde zu garantieren hatten. Aber die Praxis sah meistens ganz anders aus. Denn ohne den königlichen Schutz waren die Juden wieder rechtlos. Karl IV. verpfändete etwa die jüdische Gemeinde Straßburgs an den dortigen Magistrat und setzte damit eine unheilvolle Entwicklung fort.
Das Gerücht von den Brunnenvergiftern breitete sich schneller aus als die Pest selbst. In Basel, Straßburg und Freiburg loderten Scheiterhaufen, auf denen Menschen bei lebendigem Leib verbrannten. Anstifter des organisierten Massenmords waren oft die Kaufleute und mächtigen Zünfte, die mit den Juden auch ihre Schuldscheine verbrannten. Weder der König noch die städtischen Behörden schritten ein.
Vergeblich mahnte der Papst aus Avignon zur Vernunft. In einem Rundschreiben an die Christen Europas verurteilte er die Verbrechen und demontierte die Anschuldigungen: Die Juden könnten keine Schuld an der Pest tragen, da sie ihr selbst zum Opfer fielen. Außerdem wüte die Pest auch an Orten, an denen gar keine Juden lebten. Überzeugende Argumente, die aber niemand hören wollte.
Auch die Nürnberger Judengemeinde wurde 1349 Zielscheibe zunehmender Anfeindungen. An der Stelle des heutigen Marktplatzes und der Frauenkirche befand sich einst das jüdische Viertel samt Synagoge. Der enorme wirtschaftliche Aufschwung der Stadt hatte zu einem erheblichen Anwachsen der Bevölkerung und des Stadtgebietes geführt. Daher beschloss der Magistrat, den Marktplatz zu erweitern. Für dieses ehrgeizige städteplanerische Projekt mussten aber einige Häuser von Juden abgerissen werden. Die Genehmigung dazu konnte nur der König als ihr persönlicher Schutzherr erteilen. Der städtische Gesandte Ulrich Stromer wurde in dieser Angelegenheit bei Karl in Prag vorstellig.
Die Vorgänge von damals sind gut dokumentiert. Im Nürnberger Stadtarchiv hat sich der Vertrag erhalten, den Karl IV. mit dem Nürnberger Magistrat schloss. Er erlaubte den Nürnbergern, die Häuser abzureißen. Dafür verpflichtete sich die Stadt, an der Stelle der Synagoge eine Kirche zu Ehren Marias zu errichten. Das Perfide an dem Vertrag: Mit keinem Wort wurde erwähnt, was mit den Bewohnern der Häuser geschehen sollte. Implizit ging die Vereinbarung davon aus, dass die Juden, wenn die Abrissarbeiten begannen, nicht mehr am Leben waren. Das Dokument datiert auf den 16. November 1349.
Zwei Wochen später wurden die Nürnberger Juden zusammengetrieben und verbrannt, ihr Friedhof wurde dem Erdboden gleichgemacht. Das Erinnerungsbuch der jüdischen Gemeinde verzeichnete den Tod von 560 Mitgliedern.
Nürnberg war kein Einzelfall. In Frankfurt am Main verpfändete Karl im Juni 1349 die ihm zustehende Judensteuer an die Stadt und überschrieb dem Magistrat den jüdischen Besitz - für den Fall, dass die Juden zu Tode kämen. Dafür erhielt der König 20.000 Mark in Silber. Einen Monat später massakrierten die Bürger Frankfurts die gesamte jüdische Gemeinde.
Vorfälle wie diese verdunkeln den Glanz der Herrschaft Karls IV. Auch wenn er die Ermordung der Juden nicht selbst anordnete, so nahm er sie doch stillschweigend hin, denn er stellte den Magistraten praktisch Blankovollmachten für Pogrome aus - und verdiente daran. Deshalb wurde Karl IV. sogar als der "erste Schreibtischtäter der Geschichte" bezeichnet.
Dabei kann man nicht behaupten, dass er die Pogrome tatsächlich guthieß. Denn die Juden Böhmens blieben unter seiner Herrschaft unbehelligt. Rückblickend erklärte er, dass die Ermordung der Juden ein großer Schaden für das Reich gewesen sei. Das Verstörende an seinem Verhalten ist der Pragmatismus, mit dem er vorging: Da ihm die Machtmittel fehlten, die Juden im Reich zu schützen, wollte er wenigstens aus der Situation Kapital schlagen. Karl war ein Mann mit zwei Gesichtern: einerseits hochgebildet, klug und weitsichtig, aber auch eiskalt, wenn es um seinen Vorteil ging.
Dieser Artikel stammt aus dem Begleitbuch "Die Deutschen - Von Karl dem Großen bis Rosa Luxemburg" von Guido Knopp, Stefan Brauburger und Peter Arens zur Sendereihe "Die Deutschen II". Das Buch ist 2010 im C. Bertelsmann Verlag erschienen.
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