Interkulturelle Bildungsforschung herausgegeben von Ingrid Gogolin und Marianne Krüger-Potratz Ingrid Gogolin, Ursula Neumann (Hrsg.) Großstadt-Grundschule Eine Fallstudie über sprachliche und kulturelle Pluralität als Bedingung der Grundschularbeit Band 1 Wissenschaftlicher Beirat Prof. Dr. Martine Abdallah-Pretceille (Valenciennes) Prof. Dr. Georg Hansen (Hagen) Prof. Dr. Friedrich Heckmann (Bamberg) Prof. Dr. Gunther Kress (London) Prof. Dr. Hans-Jürgen Krumm (Wien) Prof. Dr. Gudula List (Köln) Prof. Dr. Ingrid Lohmann (Hamburg) Prof. Dr. Meinen A. Meyer (Hamburg) Prof. em. Dr. Wolfgang Mitter (Frankfurt) Prof. Dr. Bernhard Nauck (Chemnitz) Prof. Dr. Hans H. Reich (Koblenz-Landau) Prof. Dr. Werner Schiffauer (Frankfurt/Oder) Dr. Norbert Wenning (Hagen) Waxmann Münster / New York Waxmann Münster / New York München / Berlin München / Berlin Ina Dirim & Andreas Hieronymus neu von hoher Variabilität vor, die sich - genau wie dies aus unserem Material spricht - auch als höchst flexibel erwiesen. Hewitt spricht daher von einem Zusammenleben von Jugendlichen unterschiedlicher Herkunft "in eindeutig ethnisch gemischten Lebenswelten" (ebd.: 250). Ein ethnisch heterogenes großstädtisches Unifeld wie das unserer Untersuchung ist als besonders fruchtbarer Boden zur Einstellung neuer flexibler Lebenszusammenhänge anzusehen; deren sprachliche Gestaltung konnten wir in den Kindergruppen nachspüren. In dem letzten Abschnitt unseres Kapitels wollen wir den sprachlichen Aspekt der »ethnisch-gemischten« Lebenswelt, wie wir sie in unserer Untersuchung vorgefunden haben, beschreiben. Es geht um die sprachliche Interaktion in den beschriebenen heterogenen Kindergruppen. Im Zentrum steht die Frage, wie Kinder sich sprachlich verhalten, wenn sie sich weder im Elternhaus noch in der Schulklasse aufhalten. Besonderes Augenmerk liegt auf der Untersuchung des Phänomens »Code-Switching«. Anhand von Beispielen wollen wir soziolinguistische Merkmale der Sprachalternation in mehrsprachigen Kindergruppen beschreiben. Ziel ist, einen Einblick in den geschickten Einsatz verschiedener Sprachcodes innerhalb einer sprachlichen Interaktion unter Kindern zu geben. K~ »xtS^y:'l-&.i):X "" ''""} t'v-^-ci.' tJ? t/üiC. . -tri i~t i c\ßX. 5 iwci-t'C '»~A-i*~k,r . 1 Außerschulische und außerfamiliäre Sprachpraxis mehrsprachiger Kinder inci Dirim (unter Mitarbeit von Susan Lange) Eine der zentralen Fragen in unserer Untersuchung der außerschulischen und außerfamiliären Lebenswelt der Kinder war die nach den Modi sprachlicher Interaktion in den multilingualen Kindergruppen. Wir verfolgten das Ziel zu beschreiben, wie Kinder sich sprachlich verhalten, wenn sie weder in der Schulklasse noch im Elternhaus, wenn sie also »unter sich« sind. Wir gingen davon aus, daß sich in den von uns beobachteten Kindergruppen bereits sprachlich heterogene Ausdrucksmöglichkeiten etabliert hatten, die viele Ähnlichkeiten mit jenen aufweisen, die Hewitt (1990a) in bezug auf Jugendliche beschreibt. Gewiß war dabei zu berücksichtigen, daß Interaktions- und Ausdrucksformen Bezüge zum Lebensalter aufweisen und wir daher keine gleichen Ergebnisse auf der Ebene der Phänomene erwarten konnten. Ferner nahmen wir an, daß die den mehrsprachigen Kindern mögliche Sprachwahl einerseits Ausdruck ihres vielfältigen kulturellen und sprachlichen Vermögens ist, andererseits mit sozialen Gegebenheiten in Zusammenhang steht und interaktive Funktionen erfüllt, wie dies in der BRD bisher hauptsächlich von Auer in bezug auf italienische Jugendliche in Konstanz untersucht worden ist (vgl. z.B. in: Auer 1983, 1984). Dieser geht davon aus, daß die Sprachwahl innerhalb einer Konversation zwischen Mehrsprachigen nur zu einem sehr geringen Teil zufällig ist (Auer 1980: llf). In Übereinstimmung mit dieser Grundannahme hatten wir uns zum Ziel gesetzt zu untersuchen, mit welchen inner- und außersprachlichen Merkmalen mehrsprachige Interaktionen zusammenhängen, d.h. von welchen sozialen, situativen und interaktiven Motiven diese Interaktionen mitbestimmt werden. In unserer Untersuchung geht es demnach nicht darum, dem »main-stream« der einschlägigen sprachwissenschaftlichen Forschung zu folgen und die grammatikalisch-syntaktische Beschaffenheit der Äußerungen von mehrsprachigen Kindern zu analysieren.30 Im Gegensatz zu dieser Sicht auf die Erforschung des »Sprachwechselverhaltens« (Haust 1993) begreifen wir die Sprachalternation31 in Anleh- 30 Zu den Hauptvertreterinnen und -Vertretern dieser strukturalistischen Forschungsrichtung, deren übergeordnetes Ziel die Formulierung von »Universalien« der Sprachalternation ist, zählen u.a. Poplack (1990) und Muysken (1991). Zur neueren Kritik dieser Forschungsrichtung siehe Hewitt (1994). 31 In der einschlägigen Forschungsliterarur herrscht Uneinigkeit über die Bezeichnungen für die verschiedenen Phänomene des Umschaltens von einer Sprache in die andere. In der vorliegenden Arbeit werden die Begriffe »Sprachalternation« und »Code-Switching« als Oberbegriffe für den Gebrauch von mehr als einer Sprache innerhalb derselben Gesprächssituation verwendet. 216 217 hici Dirim nung an Auer als eine »interaktive Leistung« von Mehrsprachigen innerhalb multilingualer Gesprächssituationen und untersuchen diese Situationen im Sinne der Konversationsanalyse (der Sprachalternation), deren Ziel "der Nachweis alltagsweltlicher Zusammenhänge zwischen der gewählten Varietät und anderen Merkmalen der sozialen Situation, wie Zahl und Kategorisierbarkeit der Teilnehmer, Thema der Interaktion, lokalem und institutionellem Kontext etc." ist (Auer 1980: 2), Dies schließt an die Auffassung jener Forscherinnen und Forscher an, die davon ausgehen, daß Sprecher meistens eine soziale Motivation haben, wenn sie von der einen Sprache in die andere umschalten: "Codeswitching is mainly used by the Speaker to convey social meanings" (McConvell 1985: 95). Daraus folgt unter anderem, daß Sprachalternation nur nach einer gründlichen Analyse der sozialen Gegebenheiten der gesellschaftlichen Umgebung, in die sie eingebettet ist, verstehbar ist (vgl. z.B. Myers-Scotton 1991, McConvell 1985 und Milroy & Wei 1991). Die Analyse einer Äußerung, die aus ihrem Kontext herausgerissen wurde, wie in der Erforschung der Sprachalternation häufig der Fall, macht unter sozio-linguistischer Perspektive wenig Sinn. Im Hinblick auf unsere Untersuchung kommt hinzu, daß die soziale Umwelt der Probanden weitgehend bekannt ist, also in die Analyse einbezogen werden kann. Vorgehen in der Untersuchung Datenerhebung und Probanden Um die sprachliche Praxis in multilingualen Kindergruppen untersuchen zu können, wurden an den beiden Untersuchungsorten »Schulhof der Faberschule« und »Kindertreff« Tonaufnahmen gemacht. Da der »Kindertreff«, wie erwähnt, eine offene Einrichtung für Grundschulkinder in unmittelbarer Nachbarschaft der Faberschule, sehr häufig von Schülerinnen und Schülern der Faberschule frequentiert wurde und eine hohe Kooperationsbereitschaft von Seiten der betreuenden Sozialpädagoginnen bestand, bot sich diese Institution auch aus forschungspragmatischen Gründen als geeigneter Ort zur Untersuchung der sprachlichen Praxis in multilingualen Kindergruppen im außerschulischen Bereich an. Die Tonaufnahmen wurden im Gebäudeinneren des »Kindertreffs« und auf den beiden zur Einrichtung gehörenden Spielplätzen durchgeführt. Die Aufnahmen im »Kindertreff« fanden an fünf Beobachtungstagen statt. Das Gebäudeinnere und die beiden Spielplätze der Einrichtung unterschieden sich im Hinblick auf die gegebene Interaktionskonstellation insofern, als die betreuenden Sozialpädagoginnen und die Praktikantin in den Spielzimmern oft in einen engeren Kontakt mit den Kindern traten, sich im Vergleich dazu jedoch wenig auf den Spielplätzen aufhielten. Auf den Spielplätzen fanden die Gespräche der Kinder 1 ^ Außerschulische und außerfamiliäre Sprachpraxis mehrsprachiger Kinder deshalb häufig ohne »Einmischung« der Sozialpädagoginnen statt. Ferner waren die Spielhandlungen der Kinder durch ihre größeren Bewegungsmöglichkeiten dynamischer als in den Spielzimmern. Dadurch, daß ein reges Kommen und Gehen von Kindern stattfand, änderte sich die Zusammensetzung der Gruppen häufiger. Es waren auf den Spielplätzen meist mehr Kinder als in den Innenräumen anwesend. Während der Beobachtung haben wir jeweils drei derjenigen Kinder mit Tonaufnahmegeräten ausgestattet, die zu diesem Zeitpunkt auch die Faberschule besuchten, um möglichst einen Vergleich zwischen der Sprachpraxis der Kinder in den unterschiedlich betreuten Orten »Klassenzimmer«, »Schulhof«, »Gebäudeinneres« und »Spielplätze des Kindertreffs« anstellen zu können. So ergab sich eine Auswahl türkisch- und deutschsprachiger Kinder. In die Interaktion waren aber auch Kinder mit anderen Sprachkenntnissen involviert, sobald sie in eine Interaktionskonstellation eintraten.32 Die Informationen über die sprachlichen Hintergründe der Kinder bekamen wir auf unterschiedlichem Wege: Eine Informationsquelle waren die Tonbänder selbst, da hier die Kinder beim Sprechen zu hören waren. Die Informationen zu den weiteren Sprachen der Kinder bekamen wir teilweise von den Kindern selbst. Dies geschah entweder in informellen Gesprächen während oder nach der Tonaufnahme oder bei den »Stadtspaziergängen«. Bei den Kindern, die während der Spaziergänge befragt wurden, handelte es sich manchmal um solche, die bei den Tonaufnahmen im »Kindertreff« anwesend waren. Einige Kinder waren uns aus der Unterrichtsstudie bekannt. Weitere Informationen über die Sprachen der Kinder bekamen wir von den Sozialpädagoginnen des »Kindertreffs«. Unseren Informationen zufolge, wurden zwei nach eigenen Angaben portugiesisch-, spanisch-, deutsch- und türkischsprachige Kinder aus sog. »binationaler Ehe« per Tonband aufgenommen. Trotz der Anwesenheit weiterer portugiesischsprachiger Kinder wurde diese Sprache während unserer Beobachtungen nicht verwendet. Einige Kinder aus dem ehemalig jugoslawischen Raum gaben die Kenntnis mehrerer Sprachen an: Romanes, Kroatisch, Türkisch und »Jugoslawisch«, so die von ihnen benutzten Bezeichnungen. Ferner nahmen an den Interaktionen Kinder aus griechischem Elternhaus teil. Da der »Kindertreff« selten von monolingual deutschen Kindern frequentiert wird (darauf wurde im dritten Abschnitt dieses Kapitels schon eingegangen), wurde nur an einem der Beobachtungstage ein Mädchen aus monolingual deutschsprachigem Elternhaus aufgenommen. In unseren Aufnahmen verwendeten die aufgezählten Kinder nichttürkischer Herkunft beinahe ausschließlich die deutsche Sprache, so daß wir nachfolgend die mehrsprachige Praxis von Kindern vor allem anhand der Interaktionen in türkischer und deutscher Sprache beschreiben werden. 32 Vgl. die detaillierte Liste im Anhang. 219 Inci Dirim Bestandteil der Beobachtungsmethode des Projektes ist, wie an anderer Stelle genauer ausgeführt, die Kombination von technisch gestützter Beobachtung, Feldnotizen und Tonaufzeichnung. Feldnotizen wurden in dieser Studie durch zwei bei jeder Aufnahmesequenz anwesende Beobachterinnen bzw. Beobachter angefertigt. Diese Protokollantinnen und Protokollanten, die sich in der Nähe der Kinder aufhielten, versuchten, möglichst viel vom Geschehen und den Äußerungen festzuhalten, ohne jedoch in die Aktivitäten der Kinder einzugreifen. Die Feldnotizen dienten vor allem der späteren Identifikation von Interagierenden in den Bandaufzeichnungen, da einzelne markante Äußerungen wörtlich notiert bzw. akustisch wahrnehmbare Begleitgeräusche beschrieben wurden. Im Tonmaterial sind äußerst unterschiedliche Situationen festgehalten: Gespräche, Streit, Lieder, religiöser Gesang, Sprachspiele wie Nachahmung von Kinostars, Werbetexte etc. Das gewonnene Datenmaterial weist eine breite Palette von Formen kindlichen Umgangs mit Sprache auf. Umgang mit den Daten Die Aufbereitung und Auswertung des Tonmaterials geschah in Anlehnung an die Vorgehensweise im Untersuchungsteil »Unterrichtsaufnahmen«: Zu den Tonaufnahmen wurden »Inhaltsverzeichnisse« erstellt; dabei wurden die Feldnotizen ergänzend beigezogen. Den »Inhaltsverzeichnissen« sind Ablauf und Inhalt der aufgezeichneten Interaktionen sowie Hinweise auf die dabei verwendeten Sprachen zu entnehmen. Besonders markiert wurden Stellen, in denen ein Codewechsel vonstatten geht; z.B.: Uhrzeit Bandlaufzahl Ereignis Sprache 16.10 192 Ayse singt. Türkisch 210 Serpil schlägt Ayse vor zu malen. Türkisch/Deutsch Anhand der Spalte für die gerade verwendeten Sprachen konnten die Stellen, in denen von einer Sprache in die andere umgeschaltet wurde, problemlos identifiziert werden. Alle diese Stellen wurden unter der Frage ihrer Bedeutung für die realisierte Interaktion analysiert. Um eine Übersicht zu bekommen, erstellten wir ein Verzeichnis, in dem die gefundenen Sequenzen der Sprachalternation unter konversationsanalytischen Gesichtspunkten zusammengestellt sind. Diese aus dem Material heraus entwickelten »diskursfunktionalen Phänomene« geben nicht nur einen Überblick über die Fülle der im Material vorfindlichen Phänomene, sondern eröffnen auch die Möglichkeit, sich mit spezifischen inhaltlichen Aspekten der Sprachalternation zu befassen. Wir konnten in unserem Material verschiedene Außerschulische und außerfamiliäre Sprachpraxis mehrsprachiger Kinder strukturelle Phänomene feststellen, die mit dem Wechsel von einer Sprache in die andere einhergehen, z.B. die deutliche Kennzeichnung des Ansprechpartners durch das Umschalten in die andere Sprache. Im folgenden geben wir zunächst einen Überblick über die Diskursfunktionen der Sprachalternation in den Kindergruppen, die wir in den Aufzeichnungen vorfanden. Die einzelnen Diskursfunktionen werden anschließend mit jeweils einem Beispiel aus unserem Datenmaterial veranschaulicht. Abschließend geben wir mit einer Incidentanalyse (vgl. hierzu Erläuterung im Einleitungskapitel) einer Sprachalternationssequenz einen tieferen Einblick in die sprachliche Interaktion unter mehrsprachigen Kindern. Diskursfunktionen der Sprachalternation Nach Auswertung des Gesamtmaterials konnten wir folgende Diskursfunktionen der Sprachalternation im Sprechen der von uns untersuchten Kinder ermitteln. Es sind zunächst solche, die die äußere Konstellation der Sprachsituation betreffen (A). Zum zweiten können sie im Hinblick auf die Strategien, die die Sprecher darin verfolgen, interpretiert werden (B). Die Beispiele enthalten daher meistens beide Aspekte, sind jedoch im folgenden je einer Kategoriengruppe zugeordnet. A. Deskriptive Kategorien (I bis III): Hiermit sind Sprachwechsel gemeint, die mit einer Veränderung der Gruppenkonstellation, z.B. mit einem Wechsel des Adressaten oder einer Veränderung des besprochenen Themas einhergehen. I. Veränderungen der Teilnehmerkonstellation 1.1. Adressatenwechsel a) verbunden mit Themenwechsel b) verbunden mit Wiederholung der Äußerung c) verbunden mit Veränderung des Interaktionstyps33 d) als Reaktion auf Äußerungen oder Ansprache verschiedener Sprecher (im Dialog eines Sprechers mit mehreren Sprechern) e) verbunden mit Veränderungen der Äußerungsform34 0 verbunden mit dem Reden zu sich selbst bzw. Selbstbeantwortung einer Frage 33 Unter »Interaktionstyp« verstehen wir kommunikative Ereignisse wie Streit, Erzählung etc. (vgl. »communicative acts« in: Saville-Troike 1982: 31). iA Unter »Äußerungsform« verstehen wir die illokutiven Funktionen von Äußerungen, z.B. Befehle, Fragen, Informationen. 220 221 Inci Dirim 1.2. Adressateneingrenzung (durch den Gebrauch einer nicht allen Kommunikationsteilnehmern verständlichen Sprache) 1.3. Adressatenerweiterung (durch Wahl einer allen verständlichen Sprache) II. Themenveränderungen II. 1. Themenwechsel a) verbunden mit Adressatenwechsel 11.2. Beenden eines Themas 11.3. Unterbrechungen III. Innersprachliche Auslöser der Sprachalternation B. Interpretative Kategorien (IV bis VI): Hiermit sind solche Fundstellen gemeint, in denen ein Kind mit dem Umschalten von einer Sprache in die andere vermutlich eine bestimmte Absicht verfolgte. Alle diese Stellen der Sprachalternation lassen die Vermutung zu, daß der Sprecher mit dem Wechsel in die andere Sprache die Strategie verfolgte, seine Position bzw. seine Interessen hervorzuheben. IV. Redestrategien IV. 1. Kommentierungen IV.2. Zitierungen IV.3. Fragen IV.4. Veränderungen der Äußerungsform IV.5. Veränderungen des Interaktionstyps IV.6. Überredungen IV.7. (Selbst-)Korrekturen bzw. Explizierung des Gesagten IV.8. Verneinungen IV. 9. Wiederholungen V. Strategien zum Zwecke der Veränderung von Kommunikationskonstellationen V.l. verbunden mit Themenwechsel V.2. durch die Wiederholung der Äußerung des Vorsprechers V.3. durch die Unterbrechung der Rede eines Sprechers V. 4. Übersetzung einer Äußerung für einen Kommunikationsteilnehmer, der die verwendete Sprache nicht versteht VI. »Regieanweisungen« VII. Aufforderungen zu einer (Spiel-)Handlung VI.2. Aufforderungen, eine bestimmte Sprache zu verwenden Außerschulische und außerfamiliäre Sprachpraxis mehrsprachiger Kinder Im folgenden möchten wir die oben aufgelisteten Diskursfunktionen der Sprachalternation mit Beispielen aus unserem Material veranschaulichen. Zunächst werden die deskriptiven Kategorien dargestellt: 1.1 Der erste große Komplex der Diskursfunktionen der Sprachalternation lautet »Adressatenwechsel«: Hier sind solche Beispiele von Sprachalternation zusammengestellt, in denen sich ein Kind nacheinander an unterschiedliche Personen wendet und dabei von der einen Sprache in die andere umschaltet, z.B.: Ausschnitt 1 Cevdet: [zur Beobachterin] Türk inüsün [?]35 bist du Türkin [?] Beobachterin: [abweisend] hm Cevdet: [zu Murtaza] ist sie Türkin [?] Beobachterin: [zu Cevdet] mein Vater ist Türke - habe ich doch eben gesagt Diese Sequenz entstammt einer Aufnahme in den Spielzimmern des »Kindertreffs«. Die Aufnahme hatte gerade begonnen. Cengiz und Murtaza standen herum. Cengiz wendete sich an eine der Beobachterinnen, von der er mitbekommen hatte, daß sie ebenfalls Türkisch spricht. Er fragte sie auf Türkisch, ob sie Türkin sei. Die Beobachterin gab ihm keine eindeutige Antwort. Daraufhin wendete sich Cevdet an Murtaza und fragte ihn, diesmal auf Deutsch, ob die Beobachterin Türkin sei. 1.1 .a. Der Adressatenwechsel kann mit weiteren Phänomenen einhergehen als nur dem Umschalten von einer Sprache in die andere. So kann er mit einem Themenwechsel verbunden sein: Ausschnitt 2 Nurtac: [zu Cansu] aha Güler - Güler takiyor simdi [kreischt; wendet sich an Hakki] oh laß mich auch mal spielen Hakki aha Güler - Güler bindet sie [die Gürteltasche, in der der Walkman ist] sich jetzt um [kreischt; wendet sich an Hakki] oh laß mich auch mal spielen Hakki 35 Den Transkriptionskonventionen entsprechend wurden Originaläußerungen fettgedruckt. Übersetzungen und Kommentare jedoch nicht. 223 inci Dirim Außerschulische und außerfamiliäre Sprachpraxis mehrsprachiger Kinder In dieser Sequenz spielten mehrere Kinder auf dem großen Spielplatz Tischtennis und unterhielten sich dabei. Nurtac wendete sich zunächst an Cansu und gab in türkischer Sprache ihre Beobachtung wieder, daß Güler sich gerade den Walkman umbindet. Danach wendete sie sich in deutscher Sprache an Hakki und gab ihrem Wunsch Ausdruck, er solle sie spielen lassen. !. 1 .b. Manchmal geht der Adressatenwechsel mit einer Untermauerung der Äußerung in der anderen Sprache einher. Ein Beispiel dafür lieferten uns Kinder, die Tischtennis spielten und sich gleichzeitig über die Tonaufnahmegeräte unterhielten, die sie vom Beobachterteam erhalten hatten. Ausschnitt 3 Cem: [zu Nurtac] das ist [:::] das ist ein Walkman Nurtac: [aufgeregt zu Cem] doch - das [das Mikrophon] hört sogar ohne Walkman - doch [zu Cansu] onlar okulumuza geldi - o zaman duyduk biz - degil mi Cansu - okulumuza geldiler [zu Cem] haben wir gehört doch - das [das Mikrophon] hört sogar ohne Walkman - doch [zu Cansu] sie [die Beobachterinnen] sind in unsere Schule gekommen -nicht wahr - Cansu - sie sind in unsere Schule gekommen [zu Cem] haben wir gehört Cem fragte in die Runde der Mitspielerinnen und Mitspieler, ob die anderen, falls sie eins von beiden bekämen, sich für das Mikrophon oder für den Walkman entscheiden würden. Er zeigte Nurtac den Walkman. Nurtac widersprach ihm erregt auf Deutsch und behauptete, das Mikrophon könne auch ohne Walkman aufnehmen. Sie wendete sich - Bestätigung suchend - auf Türkisch an Cansu und sagte, die Beobachterinnen seien schon in die Faberschule gekommen. Dabei hätten die Kinder gehört, daß das Mikrophon ohne Walkman aufnehme. Dann wendete sich Nurtac erneut in deutscher Sprache an Cem und wiederholte, daß sie es (wohl, daß das Mikrophon ohne Walkman aufnehme) gehört hätten. 11.c. Ein Adressatenwechsel kann von einem Wechsel des Interaktionstyps, d.h. des kommunikativen Ereignisses, begleitet sein. Das folgende Gespräch, in das drei Jungen involviert sind, veranschaulicht dieses Phänomen. Zunächst sprechen Fuat und und Kadim miteinander, dann wendet sich Fuat an Mete: i Ausschnitt 4 Fuat: [zu Kadim] büyük degil mi canta Kadim senin icin [?] ist dir die [Gürtel-]Tasche nicht zu groß Kadim [?] 224 Kadim: he büyük [lauter] düsüyor ja - sie ist zu groß [lauter] sie fällt ab Fuat: [verwundert] ooo36 oh Kadim: [aufgeregt] igne tuttular mit Nadeln haben sie [die Beobachterinnen] sie [die Gürteltaschel befestigt Fuat: [guckt sich den Gürtel der Gürteltasche von Kadim genauer an] ufak igneler var degil mi [?] es sind kleine Nadeln da - nicht wahr [?] Kadim: he ja Fuat: bana da taktilar igne de [:::] bana baska [wendet sich an Mete] sey - Memet - Memet meine [Tasche] haben sie zwar auch mit Nadeln befestigt [:::] aber andere [wendet sich an Mete] Dings - Memet - Memet Kadim: [korrigiert ihn] Mete Fuat: [ruft] Mete - Mete Mete: hi [?] hm [?] Fuat: [in ironischem Tonfall] jetzt gibst du an - ne [i.S.v. »nicht wahr?«] mit deiner Gürteltasche Mete: bist du dumm [?] Fuat: [lacht] haha - ja - jetzt hast du eine schlimme Worte gebr/ ge- braucht Mete: [verärgert] das ist egal Fuat: [verärgert] das ist nicht egal Die drei Jungen befanden sich auf dem großen Spielplatz des »Kindertreffs« und unterhielten sich. Kadim und Mete trugen je ein Aufnahmegerät in einer Gürteltasche. Zu Beginn fragte Fuat Kadim auf Türkisch, ob ihm die Gürteltasche nicht zu groß sei. Dann unterhielten die beiden sich noch eine Weile in türkischer Sprache über »die Größe« der Gürteltaschen. Anschließend wendete sich Fuat an Mete. Er warf ihm in deutscher Sprache vor, er gebe mit seiner Gürteltasche an. Daraufhin entstand in deutscher Sprache ein kleines Wortgefecht zwischen Fuat und Mete. Der vorgestellte Ausschnitt weist somit zwei deutlich von einander abgrenzbare kommunikative Ereignisse auf, zwischen denen die Sprache und die Sprecher gewechselt werden: Das erste ist eine Unterhaltung, die in türkischer Sprache stattfindet, das zweite ein kleines Wortgefecht, das durch eine Provokation entsteht und in deutscher Sprache ausgeführt wird, Schreibung nach den Konventionen im Türkischen. 225 Inci Dirim Außerschulische und außerfamiliäre Sprachpraxis mehrsprachiger Kinder 1.1.d. Die sprachliche Flexibilität der Kinder erlaubt es ihnen, innerhalb einer Sequenz mehrfach mit dem Adressaten auch die Sprache zu wechseln: Ausschnitt 5 Mete klopfte und blies mehrmals auf das Mikrophon. Gleichzeitig sagte Galip etwas zu ihm, was Mete offenbar nicht verstand. Mete: [zu Galip; schreit] ne - ne [?] was - was [?] Beobachterin: [zu Mete] mikrofonu elleme - sonra sesin gelmez üstüne faß das Mikrophon nicht an - sonst kommt deine Stimme nicht drauf Mete: [erschrocken zur Beobachterin] ach so [bestätigend] hm [wen- det sich wieder Galip zu und schreit] ne - ne Galip [?] ach so hm - [wendet sich wieder Galip zu und schreit] was -was Galip [?] In dieser Sequenz wendete sich Mete zunächst in türkischer Sprache an Galip, um ihn zu fragen, was er gesagt habe. Danach wendete sich eine der Beobachterinnen an Mete und wies ihn ebenfalls in türkischer Sprache darauf hin, er solle das Mikrophon nicht anfassen. Mete antwortete ihr erschrocken auf Deutsch und bestätigte, daß er verstanden habe. Anschließend wendete er sich wieder Galip zu und fragte ihn erneut auf Türkisch, was er gesagt habe. I.l.e. Ein Adressatenwechsel kann mit einem Wechsel der Äußerungsform einhergehen: Ausschnitt 6 Güler: [bemerkt Cem] aa Cem - sen mi geldin [?] [zu Dilber] Cem ist da - Vier gewinnt oh Cem - bist du da [?] [zu Dilber] Cem ist da - Vier gewinnt Güler saß mit Dilber in einem Raum des »Kindertreffs« am Tisch; die beiden Mädchen hatten vor, etwas zu spielen. Plötzlich bemerkte Güler, daß Cem hereingekommen war und kommentierte dies in türkischer Sprache. Dann wendete sie sich an Dilber und gab ihr in deutscher Sprache die Information, Cem sei gekommen, anschließend nannte er das Gesellschaftsspiel, das sie spielen würden. 1.1.f. Als einen Adressatenwechsel verstehen wir auch das Reden zu sich selbst, wenn dies dem Sprechen mit einer anderen Person folgt. Auch ein solcher Adres- satenwechsel kann mit dem Umschalten von einer Sprache in die andere gekennzeichnet sein: Ausschnitt 7 Nurtac hörte in einem der Zimmer des »Kindertreffs« Radio. Sie stellte das Radio nach ca. vier Minuten aus; die Sozialpädagogin stand im Zimmer. Nurtac: [zur Sozialpädagogin] ich habe - äh - meine Schuhe ausgezogen -ne [i.S.v. »nicht wahr?«] [schnalzt mit der Zunge] Gunda: du weißt - daß die hier vor die Tür gehören - ne [i.S.v. »nicht wahr?«] und nicht ins Regal Nurtac: was [?] [erschrickt] stimmt [Die Sozialpädagogin geht wieder in das andere Zimmer und widmet sich dem Gruppenspiel, an dem sie teilnahm. Nurtag geht hinterher und macht die Tür hinter sich zu.] Nurtac: [leise zu sich] pis kan doofes Weib Zunächst wendete sich Nurtac an die Sozialpädagogin und teilte ihr mit, sie habe ihre Schuhe ausgezogen. Damit drückte sie aus, die Regel befolgt zu haben, daß das Zimmer, in dem das Radio steht, nur ohne Schuhe betreten werden darf. Diesem Hinweis entgegnete die Sozialpädagogin Gunda mit dem Vorwurf, die Schuhe seien an die falsche Stelle getan worden. Nurtac hatte offenbar mit diesem Vorwurf nicht gerechnet. Sie folgte Gunda und verließ den Raum. Ihrem Ärger machte sie, von anderen kaum hörbar, in türkischer Sprache Luft. 1.2. und 1.3. Die Verwendung einer bestimmten Sprache kann eine Adressatenein-grenzung hervorrufen, wenn diese Sprache nicht für alle Gesprächsteilnehmer verständlich ist. Komplementär dazu gibt es die Adressatenerweiterung, d.h., daß durch den Gebrauch einer bestimmten Sprache der Kreis der potentiellen Kommunikationsteilnehmer erweitert wird. In der folgenden Sequenz lassen sich beide Phänomene beobachten: Ausschnitt 8 Die Geschwister Cevdet und Nurtac befanden sich im Gebäudeinneren des »Kindertreffs«. Die Sozialpädagogin Gunda betreute ein Gruppenspiel, an dem Nurtac und Cevdet nicht teilnahmen. Cevdet ging scheinbar keiner bestimmten Beschäftigung nach; Nurtac fragte die Sozialpädagogin, ob sie im Nebenraum Musik hören dürfe. Ihre Bitte wurde zwar abgelehnt, Nurtac ließ sich dennoch nicht davon abhalten, in den Nebenraum zu gehen: 226 227 Inci Dirim Nurtag: [leise zu sich] ich gehe rein [lauter zu Cevdet] gelsene - ayakka-biyla gir ich gehe rein [zu Cevdet] komm ruhig - komm ruhig mit den Schuhen rein [Cevdet reagiert nicht auf den Vorschlag.] Nurtag: [zu Cevdet] cabuk schnell [Cevdet reagiert wieder nicht.] Nurtac: [ruft] Cevdet [Cevdet reagiert nicht.] Nurtag: [leise zu sich] ach - ich gehe jetzt rein [Cevdet kommt »Tutti Frutti« singend näher.] Nurtag: [laut zu Cevdet] Cevdet - Schuhe ausziehen - Schuhe ausziehen (1 Sek.) Schuhe ausziehen Cevdet: [entfernt sich; ruft Franzius] (kongo - onno - oh no - oh no) komm Zu Beginn der Sequenz drückte Nurtag - eher zu sich selbst - ihren Entschluß aus, in das Nebenzimmer zu gehen. Sie schlug Cevdet - ihrem Bruder - vor, ihr zu folgen und forderte ihn auf, obwohl sie wußte, daß es nicht erlaubt war, mit Schuhen einzutreten. Mit dem Gebrauch des Türkischen konnte sie sich sicher sein, daß dieser Vorschlag von der Sozialpädagogin Gunda, die sich in demselben Raum aufhielt, nicht verstanden wurde. Nurtag spornte ihren Bruder an, rief ihn, da aber Cevdet keine Anstalten machte, ihr zu folgen, entschloß sie sich, in das Nebenzimmer zu gehen. Doch nun näherte sich ihr Cevdet und Nurtag sprach ihn erneut an. Diesmal verlangte sie jedoch von ihm auf Deutsch, also auch der Sozialpädagogin verständlich, er solle seine Schuhe ausziehen. Cevdet ging auf ihre Forderung nicht ein und entfernte sich wieder. Nurtag verfolgte in dieser Sequenz mit dem Gebrauch der verschiedenen Sprachen ihrem Bruder und der Sozialpädagogin gegenüber offensichtlich eine besondere Strategie: Sie animierte zunächst ihren Bruder zum Regelverstoß. Dabei verwendete sie die türkische Sprache, wohl weil sie wußte, daß die Sozialpädagogin sie nicht verstehen würde. Als Cevdet dann Anstalten machte, tatsächlich in das Zimmer einzutreten, ohne seine Schuhe auszuziehen, forderte sie ihn, diesmal in deutscher Sprache, zur gegenteiligen Handlung auf, nämlich dazu, die Schuhe auszuziehen. Vermutlich wollte sie durch diesen Hinweis in deutscher Sprache die Aufmerksamkeit der Sozialpädagogin auf sich lenken, um ihr zu zeigen, daß sie nicht nur selbst Regeln kennt und beachtet, sondern auch »erzieherisch« daran mitwirkt, daß sie von anderen eingehalten werden. III. Die zweite große Gruppe der Diskursfunktionen der Sprachalternation bilden »Themenwechsel«: Wir haben festgestellt, daß ein Wechsel des Themas innerhalb Außerschulische und außerfamiliäre Sprachpraxis mehrsprachiger Kinder einer Gesprächssituation mit dem Umschalten von einer Sprache in die andere einhergehen kann: Ausschnitt 9 Aysel: [zu Cansu] Cansu - sarki söyle (2 Sek.) Cansu - sing etwas Nurtag: [kichernd] abone/ aboneyim abone [singt einen Teil des zu der Zeit populären türkischen Pop-Songs »Abone«] Aysel: [zu Cansu] Aboneyim'i söyle sing »Abone« $Cansu: söyledim ben - coktan das habe ich schon längst gesungen $ Aysel: [zu Nurtag] sen söyle sing du es $Cem: [mit rhythmischer Betonung] [...] sinemaya götürüyor [sagt einen Spruch] Cansu: [mit rhythmischer Betonung] Ayseli - Nurtaci - Altan abimi - ba-bami - seni nereye götüreyim [den Anlaut stark betonend] sinema yollara [lacht] kocakari bakiyor ordan - kak - koca bulamamis da ko/ [differenziert den Spruch von Cem und sagt anschließend einen anderen Spruch] [Die Kinder setzen eine Weile, teils nacheinander, teils gemeinsam die Sprüche in türkischer Sprache fort, dann wendet Nurtag sich an Cansu und Can.] SNurtag: ihr kriegt beide die Kassette am Mittwoch Mehrere Kinder spielten in dieser Sequenz gemeinsam Tischtennis und unterhielten sich dabei. Zunächst ging es inhaltlich um die Präsentation von Liedern und Sprüchen, vermutlich angeregt durch die Aufnahmesituation. Dieser Teil des Gesprächs wurde ausschließlich in türkischer Sprache gestaltet. Zum Schluß wendete sich Nurtag an Cansu und Can, um ihnen mitzuteilen, daß sie die Kassetten (die zum Zeitpunkt der Aufnahme in den Walkmen der Kinder waren), am Mittwoch bekommen werden. Dieser Themenwechsel vom »Präsentieren« von Liedern und Sprüchen zu einer Information über die Übergabe von Tonkassetten geht mit einem Wechsel der Sprache einher; Nurtag machte ihre Mitteilung in deutscher Sprache. II.2. Wenn ein Gespräch oder ein Gesprächsthema beendet wird, kann dies auch von einem Wechsel der Sprache begleitet sein: 228 229 Inci Dírim Außerschulische und außerfamiliäre Sprachpraxis mehrsprachiger Kinder Ausschnitt 10 Ayfer und Cansu unterhielten sich auf dem Spielplatz. Cansu hatte einen der Walkmen bei sich. Aysel kündigte an, sie wolle etwas ins Mikrophon sprechen: Ayfer: [spricht ins Mikrophon; Englisch ausgesprochen ] hi Kid [zu Cansu] und - und wann merkst du - wenn die Kassette alle ist [?] Cansu: ahm - ich merke - wenn das düt düt macht Ayfer: ach so - hat der Mann gesagt - ne [i.S.v. »nicht wahr«] (1 Sek.) [hastig] adain geliyor ach so - hat der Mann gesagt - ne [i.S.v. »nicht wahr?«] (1 Sek.) [hastig] der Mann kommt Die beiden Mädchen schweigen eine Weile. Im ersten Teil der Sequenz sprechen die beiden Mädchen über die Tonaufnahme. Ayfer wollte wissen, woran Cansu es merke, daß die Kassette (im Walkman) abgelaufen sei. Cansu antwortete, sie merke es an einem Tonzeichen. Ayfer meinte daraufhin, das habe bestimmt »der Mann« (vermutlich der Mitarbeiter des Forschungsteams, der auf dem Spielplatz parallel zur Tonaufnahme eine Videoaufnahme durchführte) gesagt. Dieses Gespräch läuft vollständig in deutscher Sprache ab. Nachdem Ayfer ihre Vermutung über die Herkunft der Information, wie man es merke, daß die Kassette zu Ende sei, ausgesprochen hatte, hielt sie kurz inne, um dann darauf hinzuweisen, daß »der Mann« komme. Diese vermutlich warnend gemeinte Bemerkung sprach sie in türkischer Sprache aus. Damit war für die beiden Mädchen das Thema »Aufnahmetechnik« vorerst beendet. II.3. Zu der Gruppe der »Themenveränderungen« gehören auch »Unterbrechungen«. Häufig benutzen Kinder eine Sprache, die in einem laufenden Gespräch gerade nicht verwendet wird, um das Gespräch zu unterbrechen und ein anderes Thema anzusprechen: Ausschnitt 11 Aysel: [zu Cansu] Felicia'ya bak - oturmus orada guck Dir mal Felicia an - da sitzt sie SCansu: [zu Nurtac] bak - Altan abim oraya gitti mi - o da orada - iyi yap/ guck - wenn mein Bruder Altan da hingeht - geht sie auch dahin - gut gemach/ SNurtac: [unterbricht Cansu] das war Netzangabe Aysel, Cansu und Nurtag spielten Tischtennis. Aysel bemerkte Felicia und machte Cansu in türkischer Sprache auf sie aufmerksam. Cansu wendete sich ebenfalls in türkischer Sprache an Nurtac und teilte ihr mit, Felicia gehe immer dorthin, wo Altan - Nurtacs älterer Bruder - sich aufhalte. Nurtac wartete jedoch gar nicht ab, daß Cansu zu Ende redete; sie unterbrach sie mit einer Information über das laufende Tischtennisspiel in deutscher Sprache. III. Die dritte Gruppe der Diskursfunktionen der Sprachalternation bilden »innersprachliche Auslöser« des Umschaltens von einer Sprache in die andere. So bezeichnen wir die Stellen aus unserem Material, an denen Kinder von einer Sprache in die andere umschalten, weil sich offensichtlich so eine bessere Möglichkeit bietet, das Gemeinte auszudrücken. Ein schönes Beispiel dafür liefert der folgende Gesprächsauschnitt aus einem Dialog zwischen Galip und Firat: Ausschnitt 12 Galip und Firat befanden sich auf dem großen Spielplatz des »Kindertreffs«. Sie versuchten einen Wasserball, der sich in den Ästen eines Baumes verfangen hatte, zu befreien. Galip warf zu diesem Zweck mit einem Kescher nach dem Ball. Eine Praktikantin des »Kindertreffs« beobachtete die Szene. Die beiden Beobachterinnen aus dem Forschungsprojekt saßen auf einer Bank in der Nähe des genannten Baumes. Firat. [aufgeregt] nicht so werfen (1 sek) aber nicht auf/ teyzelere dogru atma - hadi mach nicht so werfen (1 sek) aber nicht auf/ wirf nicht auf die Tanten - los mach Galip versicherte, er werde erst genau gucken und dann werfen. Er warf mit dem Kescher nach dem Ball, der Kescher blieb auch in den Ästen hängen. In der transkribierten Sequenz ging folgendes vonstatten: Galip, der den Kescher in der Hand hielt, bekam von Firat eine Anweisung dazu, wie er ihn werfen sollte. Firat, der ältere der beiden Jungen, hatte also gemerkt, daß der Kescher in die Richtung der beiden Protokollantinnen fliegen könnte, und machte Galip darauf aufmerksam. Zuerst sagte er auf Deutsch "Nicht so werfen!", merkte aber sofort, daß er seine Aussage konkretisieren mußte, da Galip wohl mit dem Kescher in derselben Weise weiterzielte. Um zu verdeutlichen, was er mit »so« meinte, redete Firat auf Deutsch weiter und unterbrach seine Äußerung aber genau an der Stelle, wo er das Objekt, die Beobachterinnen, benennen mußte: "Aber nicht auf/". Nach kurzem Zögern fuhr er auf Türkisch fort: "teyzelere" und vervollständigte seine Äußerung auf Türkisch: "Teyzelere dogru atma!". 230 231 Inci Dirun Firat griff zu dem türkischen Wort »teyze«, das nicht nur dazu dient, im Sinne von »Tante« die Schwester der Mutter zu bezeichnen, sondern auch dazu, fremde weibliche Erwachsene zu benennen. Von dieser Möglichkeit, fremde Personen mit Verwandtschaftsbezeichnungen zu titulieren, wird im (Türkei-)Türkischen häufig Gebrauch gemacht. "In der Anrede - auch bei fremden Personen - werden sehr häufig Verwandtschaftsbezeichnugen gebraucht [...]. Welche dieser Anredeformen gewählt wird, bestimmt die vage Einschätzung des Altersverhältnisses und der sozialen Beziehung zu dem, der angeredet wird. Diese Form der Anrede des Partners ist in der Umgangssprache weit verbreitet, wird aber von höheren Schichten weniger gebraucht" (Cimilli & Liebe-Harkort 1976: 21). Hierzu steht eine breite Palette von Bezeichnungen zur Verfügung: »anne« (Mutter), »abla« (große Schwester), »oglum« (mein Sohn), »yavrum« (meinKind), »amca« (Onkel), etc. Im deutschen Sprachgebrauch kommt es zwar auch vor, daß kleine Kinder (z.B. von den Eltern) dazu angeleitet werden, fremde Erwachsene mit »Tante« oder »Onkel« anzureden, es kann jedoch davon ausgegangen werden, daß diese Möglichkeit nicht so umfassend ist, wie man sie im (Türkei-)Türkischen kennt. Mit »Tante« und »Onkel« werden wohl, wenn überhaupt, in der Regel die Freundinnen und Freunde der Eltern angesprochen. Es ist gewiß auch selten, daß fremde Erwachsene von Schulkindern mit diesen Bezeichnungen angeredet werden. Es liegt demnach die Vermutung nahe, daß Firat die Bezeichnung »teyze« gewählt hatte, weil er fast nichts über die Beobachterinnen wußte. Die Bezeichnung »teyze« bzw. »teyzeler« (Plural) gab ihm die Möglichkeit, keinen Fehler zu machen (z.B. mit »Lehrerinnen«) oder unhöflich zu wirken (z.B. mit »Frauen«). Mit der Bezeichnung »teyze« konnte er sich besonders passend ausdrücken. In diesem Falle scheint als Erklärung für den Transfer der vielleicht auf den ersten Blick zu vermutende Grund »Wortfindungsschwierigkeit« nicht ausreichend; vielmehr haben wir es hier mit unterschiedlichen Konzepten von und deshalb unterschiedlichen Ausdrücken für menschliche Beziehungen in den involvierten Kulturen bzw. Sprachen und mit dem Wissen darüber zu tun (vgl. Auer 1983: 152). Nach dieser Illustration der deskriptiven Kategorien gehen wir im folgenden zur Beschreibung der interpretativen Kategorien der Sprachalternationsphänomene über. Zunächst geht es um »Redestrategien«: IV. 1. Wenn mehrsprachige Kinder ein Ereignis kommentieren, tun sie dies häufig in der gerade nicht verwendeten Sprache: Ausschnitt 13 Mete und Kadim schaukelten auf dem Spielplatz. Anton und Franzius, die sich in ihrer Nähe befanden, schössen mit Korken auf Kinder, die sich in einiger Entfernung von den vier Jungen aufhielten. Dann suchten sie ihre abgeschossenen Außerschulische und außerfamiliäre Sprachpraxis mehrsprachiger Kinder Korken. Anton rief jemandem zu, er bzw. sie solle ihm seinen Korken geben. Mete beobachtete von seiner Schaukel aus die Suchaktion. SFranzius: [zu Anton) ich weiß wo [:::] $Mete: [schreit] nein - Anton - ich weiß deine - deiner ist da drin - geh mal weg [Ein Junge schreit.] Anton: [:::] hier ist er Franzius: deiner ist [:::] Mete: [laut] An/ Anton - siehst du ihn nicht - guck mal [schnalzt verärgert mit der Zunge] [leise] görmüyor ya An/ Anton - siehst du ihn nicht - guck mal [schnalzt verärgert mit der Zunge] [leise] er sieht ihn einfach nicht Mete schaltete sich zu Beginn der Sequenz in die Bemühungen von Anton und Franzius, die abgeschossenen Korken zu finden, ein. Er versuchte, Anton in deutscher Sprache klarzumachen, wo dessen Korken liegt. Daß Anton offenbar mit seinen Hinweisen nichts anfangen kann, kommentiert Mete in türkischer Sprache - verbunden mit einem Adressatenwechsel - leicht verärgert mit »Görmüyor ya!«. IV.2. Zitierungen Eine weitere Redestrategie, die die mehrsprachigen Kinder in unserem Material anwenden, sind »Zitierungen«. Dabei handelt es sich um die Wiedergabe von eigenen Äußerungen oder Äußerungen anderer, vermutlich in der Sprache, in der sie ursprünglich gemacht worden sind. Im folgenden zur Veranschaulichung ein Dialog zwischen Fuat und Mete: Ausschnitt 14 Fuat und Mete unterhielten sich auf dem großen Spielplatz des »Kindertreffs«. Fuat: demin ne dedim biliyor musun adama [?] weißt du - was ich vorhin zu dem Mann gesagt habe [? Mete: ne [?] was [?] Fuat: kadma/ adama meine ich zu der Frau/ zu dem Mann meine ich SMete: ne [?] was [?] $Fuat: dedim ki - halt's Maul ich habe gesagt - halt's Maul 232 233 lnci Dirim Meie: vallahi be sag bloß Fuat wollte Mete erzählen, was er einem Mann gesagt hatte. Das Gespräch um die Ankündigung dieser Absicht herum findet bis auf eine kleine Ausnahme (die Äußerung »meine ich« von Fuat) in türkischer Sprache statt. In seiner letzten Äußerung zitierte Fuat sich selbst. Die »Einführung« in das Selbstzitat ist in Übereinstimmung mit dem vorherigen Lauf der Interaktion in türkischer Sprache: »dedim ki«, die folgende Äußerung hingegen in deutscher Sprache, wie sie »dem Mann« gegenüber wohl tatsächlich formuliert worden ist: »Halt's Maul!«. Vorstellbar ist, daß Fuat diese Äußerung hätte ins Türkische übersetzen können; durch die Beibehaltung der Originalsprache gelingt es ihm jedoch, die »Schärfe« seiner Äußerung authentisch zu verdeutlichen. IV.3. Auch Fragen werden durch die Verwendung der anderen Sprache hervorgehoben: Ausschnitt 15 Güler und Aysel befanden sich auf dem Spielplatz des »Kindertreffs«. Güler schien nirgends richtig Anschluß zu finden und näherte sich schließlich Aysel, die in der Nähe einer in den Sand gezeichneten Figur stand. Güler: [zu Aysel] ne yapiyorsun kiz sen - sen bu tüfegi orada mi yaptin [?] was machst du denn - Mädchen - hast du das Gewehr dort gezeichnet [?] Aysel: Nursei yapti Nursei hat es gezeichnet Güler: ach so - Nursei yapti - deine Schwester - ne [i.S.v. »nicht wahr?«] oder eine andere Nursei [?] ach so - Nursei hat es gezeichnet - deine Schwester - ne [i.S.v. »nicht wahr?«] oder eine andere Nursei [?] Güler sprach Aysel an und fragte sie in türkischer Sprache, ob sie die Figur, die an ein Gewehr erinnert, in den Sand gezeichnet habe. Aysel erwiderte knapp in türkischer Sprache, Nursei habe die Figur gezeichnet. Güler signalisierte in deutscher Sprache, sie habe die Antwort verstanden. Dann wiederholte sie die Antwort Aysels in türkischer Sprache. Sie setzte ihre Äußerung aber nicht in türkischer Sprache fort, sondern betonte durch einen Wechsel ins Deutsche ihre Frage, ob es sich bei Nursei um ihre Schwester handele oder um ein anderes Mädchen. Außerschulische und außerfamiliäre Sprachpraxis mehrsprachiger Kinder IV.4. Die »Veränderungen der Äußerungsformen« innerhalb eines Redebeitrags, z.B. der Übergang von einer Frage zu einer Information, werden auch häufig durch den Wechsel der Sprache markiert. Zur Veranschaulichung eine Äußerung von Galip: Ausschnitt 16 Galip und Cengiz befanden sich auf dem großen Spielplatz des Kindertreffs und hatten wohl vor, etwas anzumalen. Galip: [zu Cevdet] nereyi boyayalim - Cevdet komm - hier malen wir was sollen wir anmalen - Cevdet komm - hier malen wir Galip fragte Cevdet zunächst in türkischer Sprache, was sie anmalen sollten. Dann forderte er ihn auf, eine bestimmte Stelle anzumalen. Diese Aufforderung formulierte er im Gegensatz zu der vorherigen Frage in deutscher Sprache. IV.5. Eine weitere Möglichkeit der Markierung, die die Sprachalternation den mehrsprachigen Kindern eröffnet, ist das Unterstreichen des Übergangs von einem Interaktionstyp zum anderen durch den Wechsel der Sprache. Ein Dialog zwischen Mete. Fuat und Kadim liefert ein schönes Beispiel für dieses Phänomen: Ausschnitt 17 Mete und Kadim und Fuat unterhielten sich auf dem Spielplatz. Zunächst sprach Mete Kadim an. Mete: [zu Kadim] sey - Kadim - kirarsan kac Mark Ödemen gerek -biliyor musun [?] Dings - Kadim - weißt du - wieviel du bezahlen mußt - wenn du es kaputtmachst [?] Kadim: bilmiyorum lan ich weiß es nicht Mensch Mete: üc yüz dreihundert Kadim: [wendet sich an Faruk] Faruk - bunu kirarsan [wendet sich an Mete] kac Markti lan [?] Faruk - wenn du das kaputtmachst - [wendet sich an Mete] wieviel Mark war das [?] Mete: üc yüz dreihundert 234 235 Inci Dinrn Kadim: üc yüz - üc yüz - bunu Tascheyle kirarsan dreihundert - dreihundert - wenn du das mit der Tasche zusammen kaputtmachst Mete: bir de fverneinend] e - e - §ey - walkman und noch - [verneinend] eh - eh - Dings - der Walkman 3 nat. [:::] Kadim: [zu Fuat] ich hol dich - ne [i.S.v. »nicht wahr?«] [?] Fuat: wer [?] Kadim: ich hol dich Alter Fuat: [erstaunt] wer - du - mich [?] Kadim: [schreit; gedehnt] ja Fuat: [:::] komm Kadim: komm - wir fangen denn an Fuat: [lachend] o.k. Fuat und Kadim begannen zu raufen; Mete versuchte besorgt, sie auseinanderzubringen. In dieser Sequenz sind zwei deutlich voneinander unterscheidbare Interaktionstypen dokumentiert: eine Unterhaltung über den Preis der Aufnahmegeräte und eine wohl eher spielerisch gemeinte Provokation, die in eine Rauferei mündet. Die Unterhaltung über den Preis der Aufnahmegeräte, an der sich alle drei Jungen beteiligen, fand - bis auf die Ausnahmen »Tasche« und »walkman« - in türkischer Sprache statt. Dann richtete Kadim plötzlich die wohl provokativ gemeinte Äußerung, er »hole« ihn, in deutscher Sprache an Fuat. Die nachfolgende - zunächst nur - verbale Auseinandersetzung über die Provokation Kadims fand in deutscher Sprache statt. IV.6. Wenn ein mehrsprachiges Kind den Versuch unternimmt, ein anderes zu überreden, kann es die andere Sprache zur »Bekräftigung« heranziehen, wie es Galip in der folgenden Sequenz tut: Ausschnitt 18 Mete befand sich auf dem großen Spielplatz des »Kindertreffs«. Galip stand außerhalb des Spielplatzes und machte Mete von dort aus rufend den Vorschlag, mit zum Schwimmen zu gehen. Galip: Kindertreff - gehst du mit Mete: Kindertreff [?] Galip: ja Mete: wo geht ihr Außerschulische und außerfamiliäre Sprachpraxis mehrsprachiger Kinder Gürhan: [:::] Mete: ach so Galip: kommst du mit Mete: nein - ich ha/ - ich hab nichts eingepackt Galip: [sagt etwas auf Türkisch] Mete: ich darf es nicht Galip: doch Mete: nein Galip: bir kere ben yaptim ich habe es schon einmal getan Mete: ist doch egal Galip: ben söyleyecegim bak kadina ich sage es der Frau Mete: ich will es nicht Galip - tschüß Zu Beginn der Sequenz schlug Galip Mete in deutscher Sprache vor, mit zum Schwimmen zu gehen. Da Mete es wohl nicht genau verstanden hatte, klären die beiden Jungen in deutscher Sprache, worum es geht. Galips erneute Frage, ob er mitkomme, lehnte Mete mit der Begründung, er habe nichts (vermutlich: sein Schwimmzeug) eingepackt, ab. Galip sprach Mete diesmal auf Türkisch an - leider für uns nicht verständlich -, aber vermutlich wiederholte er seinen Vorschlag. Mete blieb beim Deutschen und lehnte Galips Vorschlag erneut ab. Galip insistierte in deutscher Sprache. Mete verneinte erneut, auch auf Deutsch. Galip sprach Mete nun wieder auf Türkisch an und versuchte ihn zu überreden. Der Eindruck entsteht, Mete wolle mit dem konsequenten Benutzen des Deutschen seine gegensätzliche Position unterstreichen. IV.7. (Selbst-)Korrekturen oder Explizierungen werden auch häufig durch den Gebrauch der anderen Sprache markiert - möglicherweise, um die Verständlichkeit des Gesagten zu erhöhen. Im folgenden ein Beispiel zu dieser Diskursfunktion der Sprachalternation vom Spielplatz des »Kindertreffs«: Ausschnitt 19 Cansu nahm am Tischtennisspiel teil. Auf die wiederholte Anfrage von Güler (die nicht am Spiel teilnahm), ob sie und Nurtac mit ihr zusammen »Abone« singen möchten, reagierte sie schließlich gereizt: Cansu: [zu Güler; sehr laut] wir wollen nicht singen - istemiyoruz biz oynamak - singen yapmak yani wir wollen nicht singen - wir wollen nicht tanzen - also singen 236 237 Inci Dirim Außerschulische und außerfamiliäre Sprachpraxis mehrsprachiger Kinder Cansu antwortete für sich und Nurtac und sagte zunächst in deutscher Sprache, daß sie nicht singen wollten. Dann schaltete sie ins Türkische um und wiederholte ihre Ablehnung. Dabei gebraucht sie das Verb »oynamak«, was eher »tanzen« bedeutet. Vermutlich geschah das deshalb, weil die Kinder, wenn sie das Lied »Abone« singen, meist auch dazu so tanzen, wie es die Sängerin im Fernsehen tut. Dennoch hatte Cansu, weil sie wohl meinte, daß es ums Singen während des Tischtermisspiels ging, das Bedürfnis, eine weitere Erklärung hinzuzufügen: »singen yapmak«, wörtlich übersetzt »singen machen«. IV.8. Ebenso wie die anderen oben aufgezählten Markierungen wirken »Verneinungen«, in der anderen Sprache ausgesprochen, »endgültiger«. Im folgenden ein Beispiel dazu von dem Spielplatz des »Kindertreffs«: Ausschnitt 20 Cansu und Güler waren auf dem großen Spielplatz. Güler war seit längerer Zeit erfolglos damit beschäftigt, jemanden zu finden, der oder die bereit war, mit ihr »Abone« zu singen. Cansu, die Gülers Vorschlag auch schon abgelehnt hatte, war aus dem Tischtennisspiel, an dem sie teilnahm, ausgeschieden und sprach Güler an: Cansu: hey Güler - bisikletini sürebilir miyim [?] hey Güler - kann ich dein Fahrrad fahren [?] Güler: nein Auf die in türkischer Sprache gestellte Anfrage Cansus, ob sie ihr Fahrrad fahren dürfe, reagierte Güler mit einem strikten »Nein« in deutscher Sprache. IV.9. Die Wiederholung einer Äußerung findet häufig in der anderen Sprache statt. Dies geschieht vermutlich um das Gesagte durch Variation verständlicher zu machen - wie im Falle der »Selbstkorrekturen«. Ein Beispiel liefert uns Güler, die noch immer auf dem großen Spielplatz einen Sing- und Tanzpartner suchte: Ausschnitt 21 Güler hatte nach langem, erfolglosem Suchen Cevdet entdeckt, der keiner besonderen Beschäftigung nachzugehen schien, und sprach ihn an: Güler: Cevdet - gel hele - gel hele [Cevdet nähert sich] sen Abone'yi dans edebiliyor musun [?] Cevdet - komm her - komm her [Cevdet nähert sich] kannst du Abone tanzen [?] 238 Cevdet: he [?] hm [?] Güler: kannst du Abone tanzen [?] Cevdet: ja Zunächst lockte Güler Cevdet in ihre Nähe und fragte ihn in türkischer Sprache, ob er »Abone« tanzen könnte. Wie es sich später herausstellte, hatte sie die Absicht, vor der Videokamera das Lied »Abone« zu singen und gleichzeitig zu tanzen.37 Cevdet verstand die Frage vielleicht nicht, woraufhin Güler ihre Frage in deutscher Sprache wiederholte. Den nächsten großen Komplex der Diskursfunktionen bilden die »Strategien zur Veränderung der Kommunikationskonstellationen«. Hiermit sind die Beispiele aus dem Material gemeint, in denen ein mehrsprachiges Kind durch den Einsatz der anderen Sprache versucht, die Zusammensetzung einer Interaktionsgruppe zu verändern. V.l. Eine der Strategien zur Veränderung von Kommunikationskonstellationen ist mit dem Versuch verbunden, in der anderen Sprache ein neues Thema einzubringen, z.B.: Ausschnitt 22 Nurtac, Cansu und Güler befanden sich auf dem großen Spielplatz. Nurtac und Cansu waren soeben aus einem Tischtennisspiel ausgeschieden und gingen zu einer der beiden Beobachterinnen. Güler folgte ihnen. Nurtac sprach als erste die Beobachterin an. Nurtac: [zur Beobachterin] was hast du dann hier [deutet auf den Beobachtungsbogen] geschrieben [?) Beobachterin: bei dir habe ich geschrieben - Nurtac und Cansu spielen Tischtennis - ahm - dann hat jemand gesagt - ich will auch mal Tischtennis spielen - ich weiß aber nicht - wie das war - dann habe ich bei dir noch geschrieben - Nurtac singt [Die Beobachterin liest in gleicher Weise weiter vor.] Cansu: und was hast du bei mir [?] [Die Beobachterin erzählt weiter; Güler wendet sich gleichzeitig an Nurtac:] Güler: [:::] Abone'yi söyleyelim mi [?] wollen wir »Abone« singen [?] Parallel zur Tonaufnahme fand eine Videoaufnahme statt. 239 Inci Dirim Nurtag und Cansu interessierte, was die Beobachterin in ihren Beobachtungsbogen eingetragen hatte. Beide Mädchen ließen die Stellen, die sie betrafen, vorlesen. Güler verfolgte immer noch das Ziel zu singen und tanzen und wartete nicht ab, bis die Bcobachterin zu Ende erzählt hatte. Sie sprach Nurtac in türkischer Sprache an und schlug vor, »Abone« zu singen. Damit verfolgte sie offensichtlich das Ziel, die Beobachterin auszugrenzen, die Aufmerksamkeit von Nurtag und Cansu auf sich zu lenken, um eine neue Gruppe zu bilden, die nach ihrem Wunsch agierte. V.2. Ein Versuch zur Veränderung einer Kommunikationskonstellation kann per Wiederholung der Äußerung des Vorsprechers, die aber an eine andere Person gerichtet wird, geschehen. Dazu ein Beispiel vom Spielplatz des »Kindertreffs«: Ausschnitt 23 Ein neues Tischtennisspiel, an dem sich mehrere Kinder beteiligen wollten, wurde organisiert. Cansu: [schreit] oh das [wohl: der Tischtennisschläger] ist doch Schrott Mann - wie kann ich Altan. [zu Nurtac] gib doch Cansu den Ball [:::] Cansu: [zu Nurtac] bana ver gib ihn mir Zu Beginn der Sequenz beklagte sich Cansu in deutscher Sprache vermutlich über die schlechte Qualität des Tischtennisschlägers. Danach wendete sich Altan an Nurtac und forderte sie ebenfalls in deutscher Sprache auf, den Ball (gemeint ist wohl der Tischtennisball) Cansu zu geben. Anschließend wendete sich diesmal Cansu selbst in türkischer Sprache an Nurtag und verlangte ebenfalls den Ball. Durch die türkischsprachige und direkte Anrede an Nurtac grenzt Cansu sich von Altan ab und nimmt die Organisation des Spiels in die Hand. V.3. Auch durch die anderssprachige Unterbrechung der Rede eines Sprechers kann ein Kind die Strategie verfolgen, eine Kommunikationskonstellation zu verändern: Ausschnitt 24 Einige Jungen organisierten auf dem großen Spielplatz ein Tischtennisspiel. Mete, eines der jüngeren Kinder, wollte gerne mit Firat zusammen spielen. Firat schenkte jedoch seinem Wunsch keine Beachtung. Außerschulische und außerfamiliäre Sprachpraxis mehrsprachiger Kinder Firat: [an alle] hey - wenn ich einen Pokal habe - ne [:::]/ $Mete: [zu Firat; aufgeregt] abi - abi großer Bruder - großer Bruder [Anrede für männliche Personen, die älter als der Sprecher bzw. die Sprecherin sind] Firat erzählte in deutscher Sprache, wohl an Galip und Franzius gerichtet, die auch mitspielen wollten, was geschehen würde, wenn er einen »Pokal« hätte. Mete hatte sich noch nicht damit abgefunden, nicht mit Firat zusammenzuspielen und versuchte, seine Aufmerksamkeit zu erringen, indem er Firat, den älteren, in türkischer Sprache aufgeregt ansprach. V. 4. Um eine Person, die die gerade verwendete Sprache nicht versteht, in die Kommunikationskonstellation »hereinzunehmen«, kann die gerade verwendete Äußerung in die Sprache dieser Person übersetzt werden: Ausschnitt 25 Cansu und Nurtac hielten sich auf dem großen Spielplatz des »Kindertreffs« auf. Sie waren aus dem gerade stattfindenden Tischtennisspiel ausgeschieden. Cansu reimte einen Spruch über Wilma, ein Mädchen aus griechischem Elternhaus, das sich im Unterschlupf der Anlage aufhielt. Nurtag hatte daraufhin die Idee, Wilma Fragen zu stellen. Die beiden Mädchen gingen zu Wilma. Nurtag: [zu Wilma] senin ismin ne [2 Sek. Pause; wieder zu Wilma] wie heißt du wie heißt du - [2 Sek. Pause; wieder zu Wilma] wie heißt du In dem Unterschlupf angekommen, sprach Nurtag Wilma an und fragte sie zuerst auf Türkisch, wie sie heiße. Da Wilma nicht antwortete, stellte sie dieselbe Frage auf Deutsch, denn so war sie sich sicher, daß das Mädchen die Frage auch verstand. Die letzte Gruppe der Diskursfunktionen der Sprachalternation bilden »Regieanweisungen«. Hiermit sind die Stellen gemeint, an denen Kinder anderen Kindern in der vorher nicht verwendeten Sprache Anweisungen geben, z.B. während eines Spiels. VI. 1. Zu den Regieanweisungen zählen wir die »Aufforderungen zu einer (Spiel-) Handlung«. Dazu ein Beispiel aus einem Videofilm, der im »Kindertreff« von Kindern selbst aufgenommen wurde. 240 241 Inci Dirim Ausschnitt 26 Mehrere Kinder wollten sich gemeinsam ihren Videofilm ansehen. Nurtac legte die Kassette ein. Nurtac: [eher zu sich] jetzt gucken wir uns das erstmal an [Ks ist noch recht chaotisch im Raum. Mehrere Kinder reden durcheinander, wobei ausschließlich die deutsche Sprache zu vernehmen ist. Der Film beginnt.] ?: [im Film] hey mach's aus - wenn wir eingeschlafen sind Hakki Nurtac: [ist in den Film vertieft] geil Hakki: [im Film] ich kann nicht sehen Nurtac: [im Film; verärgert] susun - kapiyi kapat seid ruhig - mach die Tür zu Mehrere Kinder befanden sich gleichzeitig im Raum. Es war noch recht unruhig. Die laufenden Gespräche fanden in deutscher Sprache statt. Sprachlich bildet die letzte Äußerung des Ausschnitts, in der Nurtag leicht verärgert in türkischer Sprache jemanden dazu auffordert, leise zu sein und die Tür zu schließen, eine Ausnahme, weil sie in türkischer Sprache formuliert wird. Mit dem Gebrauch des Türkischen signalisierte Nurtac, daß es sich, im Gegensatz zur vorherigen kommentierenden Äußerung, um eine Aufforderung handelte. VI.2. Eine weitere Erscheinungsform der »Regieanweisungen« sind »Aufforderungen, eine bestimmte Sprache zu verwenden«. Hierzu haben wir ein Beispiel gewählt, in dem das einzige im »Kindertreff« aufgenommene nur deutschsprachige Mädchen mitagiert: Ausschnitt 27 Die Aufnahme beginnt: Die Beobachtungskinder hatten sich die Gürteltaschen umgebunden, die Geräte waren von den Beobachterinnen eingeschaltet worden. Tanja: [zur Beobachterin] ich kann nur drei Wörter auf En/ Eng- lisch - aber mehr nicht Beobachterin: hm [bewundernd] Tanja: [eher zu sich] ich kann auch zwei Sprachen - eine ist Eng- lisch - eine [:::] ein Mädchen: [zu Tanja] du - guck mal - hier hab ich gar keine [:::] STanja: [zu dem Mädchen] do you speak english [?] das Mädchen: hm [?] Tanja: kannst du mit mir Englisch reden [?] - do you speak eng- lish [?] Außerschulische und außerfamiliäre Sprachpraxis mehrsprachiger Kinder Zunächst wendete sich Tanja, das einsprachig deutsche Mädchen, an eine der Beobachterinnen und erzählte, sie könne drei Wörter Englisch. Die Beobachterin signalisierte ihre Anerkennung. Tanja fuhr fort, indem sie eher zu sich selbst sagte, sie könne auch zwei Sprachen. Eine davon sei Englisch. Als zweite Sprache nannte sie vermutlich Deutsch; was sie sagt, ist auf dem Band nicht zu verstehen. Dann wendete sich ein Mädchen an Tanja, vermutlich um ihr etwas zu zeigen. Tanjas Gedanken waren aber wohl noch bei den Sprachen. Sie fragte das Mädchen in englischer Sprache, ob sie Englisch könne. Vermutlich, weil sie keine Reaktion erhielt, wiederholte sie ihre Frage nochmals auf Englisch und Deutsch. Zusammenfassende Betrachtung Nach Darstellung der Beispiele zu den Diskursfunktionen der Sprachalternation im außerschulischen und außerfamiliären Bereich läßt sich abschließend folgendes sagen: Die von uns beobachteten mehrsprachigen Kinder finden im außerschulischen Bereich, insbesondere dann, wenn keine Betreuung von Erwachsenen stattfindet, die Möglichkeit, ihr sprachliches Repertoire in großer Bandbreite einzusetzen. Die vorgestellten Beispiele der Sprachalternation zeigen, daß die Verwendung von mehr als einer Sprache innerhalb einer Gesprächsituation vielfältige Diskursfunktionen erfüllt. Die Beispiele zeigen, daß verschiedene Sprachen in einem gekonnten Einsatz, wie ihn »unsere« Kinder präsentieren, zu einer Einheit verschmelzen. Hier schließen wir uns daher der Kritik Denisons (1992, 1994) am Begriff »Muttersprache« an: Denison (1992) weist darauf hin, daß sowohl bei Laien als auch bei Linguisten die Auffassung herrsche - nicht zuletzt durch die Sprachtheorie Chomskys gefördert - "daß der »ideal native Speaker« eine wohldefinierte und einzige Muttersprache spricht, über die er als ideales Mitglied einer wohldefinierten idealen Sprachgemeinschaft hundertprozentig verfügt. Weiters werden nach Chomsky die Regeln dieser (wohl homogenen) idealen Muttersprache ohne expliziten Unterricht im Vorschulalter erworben" (ebd.: 106). Denison selbst vertritt die Ansicht, daß dies in den seltensten Fällen zutreffe und daß Kinder meist zu Schulbeginn über eine ihrem Alter entsprechende Varietät des heterogenen sprachlichen Gesamtrepertoires ihrer Umgebung verfügten. Nach dieser Sprachauffassung sind alle Menschen in gewisser Weise mehrsprachig, denn unter »Sprache« versteht Denison nicht nur die Standardvarietät einer Sprache, sondern z.B. auch Dialekte und Soziolekte. Die von uns beobachteten Kinder liefern viele Beispiele für die nicht zu unterschätzende Fähigkeit in einer mehrsprachigen Umgebung aufwachsender Kinder, sich verschiedene Sprachvarietäten anzueignen und diese in sprachlicher Interaktion kreativ und sinnvoll einzusetzen. Im folgenden möchten wir mit einer Inädentanalyse einer Sprachalternations-sequenz aus dem außerschulischen Bereich einen tieferen Blick in die sprachliche Interaktion unter mehrsprachigen Kindern geben. 242 243 Inci Dirirn Außerschulische und außerfamiliäre Sprachpraxis mehrsprachiger Kinder Spielerischer Umgang mit Sprache - Tiefenanalyse einer Sprachalternationssequenz Während der Auswertung der Sprachalternationssequenzen stellten wir mehrmals fest, daß die einzelnen Fundstellen im größeren Zusammenhang mehr zum kindlichen Sprachgebrauch aussagen, als die alleinige Ermittlung von Sprachalterna-tionsphänomenen. Einen tieferen Blick in das sprachliche »Geschehen« unter den Kindern ermöglichte uns die Übernahme der Methode der Incidentanalyse. Eine ergiebige Sequenz aus dem »Kindertreff«-Material stellen wir im folgenden vor. In unserem Tonmaterial gibt es zahlreiche Fundstellen, in denen die Kinder spielerisch-kreativ mit ihren Sprachen umgehen. In solchen Sequenzen scheint »Sprache« nicht nur ein Medium, sondern der Zweck selbst zu sein: Das Aufnahmegerät als Bühne benutzend präsentieren die Kinder uns - dem Forschungsteam - und sich gegenseitig ihr sprachliches Können. Diese Stellen sind nicht nur vom häufigen Umschalten von einer sprachlichen Varietät zur anderen gekennzeichnet, sondern zeugen auch davon, daß die Kinder diese Varietäten bewußt und ohne Mühe als Stilmittel einsetzen. Es zeigt sich aber auch, eher auf den zweiten Blick, wie Kinder ihre sozialen Beziehungen über das Mittel der Sprache regeln. Mit der Tiefenanalyse einer solchen Sprachalternationssequenz soll im folgenden veranschaulicht werden, was »Sprache« für Kinder bedeuten kann. Ausschnitt 27 Cansu, ein Mädchen aus türkisch-portugiesischem Elternhaus, nahm an einem Tischtennisspiel teil. Sie schied jedoch nach kurzer Zeit aus und entschloß sich, in die Spielzimmer des »Kindertreffs« zu gehen. Dort traf sie Aysel, ein türkischdeutschsprachiges Mädchen, mit dem sie eine Reihe von »Sprachspielen« entwik-kelte. In folgender Sequenz verließen die beiden Mädchen das Gebäudeinnere der Einrichtung und begaben sich erneut auf den Spielplatz. Dabei ist dies zu hören: Cansu: [erzeugt rhythmische Geräusche mit Stimme und Lippen, wie Rag- gae-Musik] Aysel: (fuck) - äh - äh - you understand me [engl, ausj gesprochen; lacht] Cansu: äh - äh - you understand me [äfft nach] Aysel: [mit englischer Aussprache] english Cansu: [mit der gleichen Ausspräche] english - what's your name - my name is [:::]/ Aysel: what's your name Cansu: what's your name Aysel: my name is Cansu Cansu: my name is Cansu Aysel: fuck your mum Cansu: fuck your mun Aysel: mum [korrigierend] Cansu: mum - fuck your mum Aysel: [imitiert österreichischen Akzent] halts d' Maul du Paul - ich bin österreichisch Cansu. [kichert] noch mal - noch mal bitte - huhu [lachend] - noch mal -noch mal Aysel: [stärker betont] halts d' Maul du Paul - ich bin österreichisch Cansu: [lachend] baska birsey konus sag was anderes Aysel: baska bir§ey yok - was soll ich sagen es gibt nichts anderes Cansu: hasta la pizza Aysel: also Cansu Oyle yapilmaz - also das find ich öh/ [kichert] nein nein - du mußt mal' Türkisch [:::] also Canan - das macht man nicht - also - das find ich öh/ [kichert] nein - nein - du mußt mal Türkisch [:::] Cansu: [schreit] bak seni sevmiyorum artik - terk et beni -[:::] schau - ich liebe dich nicht mehr - verlaß mich [Die Mädchen kichern.] Cansu: [lacht] bunu diyen Aysel Özkan'dir das sagt Aysel Özkan Aysel: halts d' Maul du Paul Cansu: halts d' Maul pts Plaul - [ruft] Nurtac sana yok - Güler aldi halt's d' Maul pts Plaul - [ruft] du kriegst keins Nurtac - Güler hat es genommen Cansu: (kandirdim) [summt] a/ my name is (ich hab gemogelt) - [summt] a/ my name is Aysel: Cansu Cansu: my name is Hafida [arabisch ausgesprochen]- my name is - my name is Aysel Özkan und ich komme aus i/ ahm Aysel: nein [:::] [spricht direkt ins Mikrophon, ahmt eine Stimmführung nach, wie sie in Fernsehsendungen vorkommt, in denen Kinder sich vorstellen] mein Name ist Cansu Mafi - und ich wohne in der -wie heißt eure Straße - Buntennbach 8 - wenn Sie wollen - können Sie mich unter dieser Nummer anrufen [die Mädchen decken das Mikrophon ab und beraten kichernd] Cansu: [im Stil der Fernsehansage von Lottozahlen; auf Deutsch] 4 3 8 3 6 3 7 8 - ich wiederhole - 3 8 4 8 - was weiß ich devamini 43836378 -ich wiederhole - 3 8 4 8 - was weiß ich - wie es weiter geht Aysel: das ist ohne Gewähr 244 245 /nci Dirim Cansu: das ist ohne Gewähr [ahmt Aysel nach] Nurtac?: ach das wüßt ich nicht Cansu: ach das wüßt ich nicht [ahmt Nurtac? nach] Hier endet die Sequenz. Ayfer und Cansu alberten noch eine Weile herum, dann nahmen sie wieder am Tischtennisspiel teil. Lesart Zu Beginn der Sequenz ahmt Cansu den Klang von Reggae-Musik nach. Dieser Musikstil evoziert bei Aysel wohl die englische Sprache: zunächst fällt ihr ein englisches Schimpfwort ein, nach kurzem Zögern setzt sie mit einer Frage fort. Cansu wiederholt den zweiten Teil der englischen Äußerung von Aysel. Aysel expliziert die sprachliche Zugehörigkeit ihrer Äußerung selbst, wobei sie das Wort »english« so betont, daß es sich etwas gekünstelt anhört. Auch dies wird von Cansu erst in gleicher Weise wiederholt, wobei sie sogleich selbst neue englische Äußerungen in Form eines Frage-Antwort-Paars anhängt. Aysel unterbricht Cansu und strukturiert im Tonfall einer Lehrerin die Konversation. Sie wiederholt in einem Tonfall, der an ein Diktat erinnert, die Äußerung »What's your name?« von Cansu. Cansu versteht den Wink und schlüpft in die Rolle der Schülerin, die das Vorgesagte wiederholt. Eine Weile setzen die beiden Mädchen das Vor- und Nachsagespiel fort, wobei Aysel durch die Korrektur von Cansus Aussprache ihre Rolle als (Sprach-)Lehrerin unterstreicht. Hiermit scheint sich Aysels Vorsage-Englisch zu erschöpfen, aber nicht ihr Wissen über unterschiedliche Sprachen, denn sie führt im nächsten Moment eine stark »österreichisch« klingende Äußerung ein, die sie im gleichen Tonfall als solche auch einordnet. Cansu fordert sie belustigt auf, das Gesagte zu wiederholen. Sie tut dies auf Deutsch, einer Sprache aus ihrem lebensweltlichen Repertoire. Damit unterstreicht sie zugleich, daß es sich bei ihrem Beitrag nicht um die Ebene des Spiels handelt, sondern um eine »Regieanweisung«. Aysel geht dem Wunsch mit einer kräftigeren Betonung des »österreichischen« Spruches nach. Cansu fordert Aysel danach erneut lachend auf, etwas anderes zu sagen. Auch hier unterstreicht sie durch den Gebrauch des Türkischen, einer weiteren Sprache aus ihrem lebensweltlichen Repertoire, daß es sich nicht um einen Beitrag auf der Ebene des Spiels handelt. Aysel antwortet ihr ebenfalls auf Türkisch; sie sagt, es gebe nichts anderes und bekräftigt durch einen Wechsel ins Deutsche das Gesagte. Diesmal hat Cansu, die bisher eher den Ideen Aysels gefolgt war, selbst einen Einfall; sie spricht den spanisch klingenden Satz »hasta la pizza« aus; vielleicht inspiriert von Arnold Schwarzeneggers »Hasta la vista baby!« in dem Film »Der Terminator II«. Aysel entgegnet dem zunächst mit einer türkischen Äußerung: Sie spricht eine Warnung aus, wie sie dem Wortlaut und Klangbild nach genau so von 246 Außerschulische und außerfamiliäre Sprachpraxis mehrsprachiger Kinder türkischsprachigen Eltern gesagt worden sein könnte. Einerseits schlüpft sie damit wieder in eine Rolle, nämlich in die Rolle einer Erwachsenen; andererseits kann ihre Warnung auch inhaltlich als eine Zurückweisung von Cansu verstanden werden, da Cansu nun diejenige ist, die mit »hasta la pizza« eine neue (sprach)spieleri-sche Idee hatte und damit Aysels überlegene Rolle zu übernehmen droht. Möchte Aysel dem etwa - die Gefahr erkennend - einen Riegel vorschieben? Unmittelbar nach der türkischsprachigen »Eltern-Warnung« schaltet Aysel ins Deutsche um und fängt eine typische Äußerung der Bewertung (»ich finde ...«) an, bricht aber an der entscheidenden Stelle, an der sie das Werturteil ausdrücken müßte, doch ab. Sie fordert Cansu auf, Türkisch zu sprechen - eine Sprache aus dem alltäglichen, »gewöhnlichen« Sprachrepertoire der beiden Kinder. Dies bestätigt die Vermutung, daß sie lieber diejenige sein will, die »außergewöhnliche« Sprachen einbringt und auf diese Weise die führende Rolle im Spiel inne hat. Cansu gelingt es jedoch, die »gewöhnliche« Sprache Türkisch doch außergewöhnlich zu verwenden, sie schreit dramatisch, wie in einem bestimmten türkischen Spielfilmtyp, sie liebe Aysel nicht mehr, sie solle sie verlassen. Auch hier scheinen Rolle und Realität miteinander verwoben zu sein: Cansu nimmt mit dem Deklamieren eine neue Rolle ein, nämlich die Rolle einer Schauspielerin. Gibt sie aber durch den Inhalt ihrer Äußerung nicht gleichzeitig bewußt oder unbewußt Aysel zu verstehen, daß sie ihre Zurückweisung verstanden hat und gekränkt ist? Beide Mädchen kichern. Cansu ergreift dann wieder das Wort und schiebt im Stil einer Moderatorin, einer neuen Rolle, die dramatische Äußerung Aysel zu. Auch hier scheint sich die Ebene des Spiels subtil mit der Ebene der Beziehung zu mischen. Möchte Cansu ihre Abweisung der älteren und überlegenen Aysel rückgängig machen? Aysel antwortet darauf mit dem ersten Teil der »österreichisch« klingenden Äußerung "Halts d' Maul du Paul«, jetzt offenbar inhaltlich verwendet - als Zurückweisung der Zuschreibung Cansus. Cansu wiederholt diese Äußerung leicht variiert. Wie es scheint, nimmt sie damit wieder die untergeordnete, nachahmende Position ein. Cansu ruft dann ihrer vorbeigehenden Schwester Nurtac zu, sie bekomme kein Aufnahmegerät; Güler habe schon eins genommen. Die Verwendung der »normalen« Sprache Türkisch bestätigt hierbei, daß sie den Rahmen des Spiels verlassen hat. Kaum ist Nurtac wieder weg, wendet sich Cansu erneut an Aysel und tut kund, sie habe ihre Schwester »reingelegt«.38 Cansu nimmt nach einer kleinen Pause, die sie mit dem Summen einer Melodie füllt, die Sprachspiele wieder auf, sie beginnt mit "My name is...", kann aber ihre Äußerung nicht beenden, weil Ayel - wieder ganz Lehrerin - ihr vorsagt, was sie zu sagen habe: nämlich ihren Namen. Cansu scheint aber doch nicht gewillt zu sein, nur die Rolle der Nachahmerin zu spielen und und spricht die Äußerung vollständig aus - unter Vorgabe eines deutlich Arabisch ausgesprochenen Namens. Wieder wird der Widerstand 38 Denn in Wirklichkeit bekam Güler an diesem Tag kein Aufnahmegerät. 247 inci Dirim Außerschulische und außerfamiliäre Sprachpraxis mehrsprachiger Kinder gegen Aysel subtil in das Spiel verpackt. Cansu gibt nun den gewonnenen Vorsprung nicht auf; sie spricht direkt ins Mikrophon und stellt sich als Aysel vor -wie bei einer Radiosendung. Ihr kurzes Zögern wendet Aysel sofort für sich und stellt sich wiederum als Cansu vor. Bei der Angabe der Telefonnummer von Cansu hält Aysel inne, Cansu gibt - im Stil einer Ansagerin - eine imaginäre Telefonnummer an. Hier ist die »Spielsprache« Deutsch, der direkte Einfluß der Medien Fernsehen bzw. Radio wird erneut deutlich. Cansu bricht ihre Bekanntgabe der Telefonnummer ab, unterstreicht dies mit dem Wechseln der Spielsprache Deutsch ins Türkische. Aysel fühlt sich wohl an die Ansage von Lottozahlen erinnert und fügt hinzu, das sei ohne Gewähr. Cansu ahmt sie wieder nach. Nurtac, die hinzukommt, wirft ironisch ein, sie habe das nicht gewußt, was wiederum von Cansu nachgeahmt wird. Deutung In dieser Sequenz aktivieren die beiden Mädchen, sicherlich angeregt durch die Aufnahmesituation, ihr sprachliches Können und Wissen. Die Kinder gebrauchen über ihre lebensweltlichen Sprachen Deutsch und Türkisch hinaus verschiedene Sprachen bzw. Sprachvarietäten; was man identifizieren kann, sind Anklänge an Englisch, Österreichisch, Spanisch und Arabisch. Deutlich wird ihr positiver Bezug zur Mehrsprachigkeit, so daß erneut die These von ihrer »multiplen (Sprach-)Identitäu (vgl. Denison 1992: 107) bestätigt wird. Offensichtlich macht es den beiden Mädchen nicht nur Spaß, ihr Können in Bezug auf verschiedene Sprachen zu präsentieren, sie haben darüber hinaus ein Bewußtsein von verschiedenen Stilebenen. So kann beispielsweise Aysel mühelos den Tonfall und die Wortwahl von Eltern nachahmen oder die Ansage einer Fernsenmoderatorin. Audio-visuelle Medien scheinen überhaupt eine wichtige Quelle der sprachlichen Schöpfungen der Kinder zu sein. Mehrfach entdeckten wir in unserem Material Stellen, in denen Kinder »medienbezogene Ausdrucksformen« (Barthelmes, Feil & Furtner-Kallmünzer 1991), z.B. Lieder, Sprüche und Reime wiedergaben oder sprachliche Assoziationen mit Bezug zu Medien hatten (ebd.: 10lf). Barthelmes, Feil und Furtner-Kallmünzer stellten in einer Untersuchung der Medienerfahrungen von Kindergartenkindern unterschiedliche medienbezogene Gesprächsituationen unter Kindern fest. Sie konnten u.a. beobachten, daß "mit Hilfe der Medieninhalte [...] die Kinder auch soziale Themen wie z.B. Eigentum, Wettbewerb, Anerkennung [formulieren], die den Medieninhalt auch überlagern und dann für den Gesprächsverlauf bestimmend sein können" (ebd.: 102f). Auch wenn es sich bei Aysel und Cansu um ältere Kinder handelt, können wir ebenfalls feststellen, daß Sprache in ihrem Gespräch als soziales Regulatorium mit klaren medialen Bezügen fungiert. Die beiden Mädchen schlüpfen in verschiedene Rollen wie »Lehrerin«, »Mutter« oder »Fernseh-Moderatorin«. Ein tieferer Blick unter die Oberfläche dieser Rollen zeigt, daß sie durch ihre Äußerungen auch die (Macht-)Beziehung unter sich regeln. In diesem Beispiel fungiert die Sprache als Spiegel der sprachlichen Umgebung der beiden Mädchen und ihres Selbstverständnisses als Mehrsprachige, als Spiegel ihres Umgangs mit der Möglichkeit der Sprachalternation, als Spiegel ihrer Wahrnehmung von Medien und als Spiegel ihrer Beziehung zueinander. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß Kinder, die in einer mehrsprachigen Umgebung aufwachsen, unter sich einen aktiven Gebrauch von ihrem multilingualen Sprachrepertoire machen. Sie nutzen ihr sprachliches Wissen kreativ und sinnvoll bei der Gestaltung ihrer sprachlich-spielerischen Aktivitäten. Unsere Beobachtungskinder, die in der Faberschule ihren sprachlichen Ausdruck sehr viel mehr auf das Deutsche beschränkt haben, entfalten unter sich eine multiple Kultur, in der verschiedene Sprachen, Medieninhalte und weitere kulturelle Elemente zum Ausdruck kommen. Auf dem Schulhof der Faberschule nutzen die Kinder auch die Möglichkeit, sprachlich heterogene Gruppen zu bilden. Sie nutzen in den Pausen ferner die Möglichkeit, andere sprachliche Elemente als das Deutsche zu verwenden. Es kann aber festgestellt werden, daß der außerschulische, weitgehend unkontrollierte Bereich Kindern die besseren Voraussetzungen gibt, ihr sprachliches Können und ihre Vorlieben auszuleben und zu entfalten. 248 249 SECHSTES KAPITEL Foto: Gaby Ripke An der »Schwelle«. Die Rolle der Mehrsprachigkeit beim Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe Ursula Neumann Einleitung Die Kinder der Einwanderer leben in einer Welt der Mehrsprachigkeit. Auch im familiären Alltag agieren sie in mehr als einer Sprache. Ihre Erziehung folgt einer durch die Eltern und die weitere Familie getragenen Grundorientierung in Richtung auf Mehrsprachigkeit, die in der Schule meist keine Fortsetzung im Familiensinne findet. Die Spielräume für eine mehrsprachige Praxis dort sind eng, wie die Darlegungen der vorangegangenen Kapitel gezeigt haben. Das folgende Kapitel widmet sich der Auseinandersetzung der Familien mit dem »monolingualen Habitus« der Schule. Für die Untersuchung wurde ein besonderer Zeitabschnitt ausgesucht: die Phase des Verlassens der Grundschule und des Übertritts in die Sekundarstufe, in der es um eine Entscheidung geht, die für den weiteren Bildungsgang des Kindes von erheblicher Bedeutung ist. Den Prozeß der Auseinandersetzung um die Wahl einer geeigneten Schule verstehen wir als wichtige Weichenstellung für den künftigen »Ort im sozialen Raum« (Bourdieu). Dieser »Kampf« wird während der gesamten Grundschulzeit geführt, da die Schule diesen Ort ganz wesentlich mitbestimmt. Nun wird er in einer Entscheidung manifest, die die Eltern der Form nach allein treffen und auf die die Schule nur mit einer Empfehlung Einfluß nehmen kann. Wir fragen nach der Rolle der Mehrsprachigkeit an der »Schwelle«: dem Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe, und betrachten den Übergang als ein Exempel für das Aushandeln sozialer Plazierung.' Wir erwarteten, daß in der für die Kinder biographisch bedeutsamen Selektionssituation sowohl auf Seiten der Lehrerinnen und Lehrer als 1 Wir verwenden den Begriff »Schwelle« in Anlehnung an Mertens & Parmentier (1982). Während dort der Begriff für Übergänge von der Schule in das Beschäftigungssystem gilt, verwenden wir ihn generell für die Orientierungsmomente der Bildungskarriere, hier für den Übergang von der Grundschule in die Sekundarstufe. Der Begriff »Schwelle« bezeichnet in der Arbeitsmarkt- und Berufsforschung Übergänge, die risikoreich und folgenschwer für die Bildungs- und Berufskarriere sind, und »Grundmuster biographischer Abläufe« darstellen (ebd.: 468). Kennzeichnend für die biographische Situation der »Schwelle« ist nach Mertens & Parmentier, daß der einzelne und die Gesellschaft in Abstimmungsverfahren verschiedener Art stehen (ebd.: 469). 251