Am Tag darauf wurde Saverio in das Büro bestellt. Dort sollte er über die Ereignisse aussagen. »Hai er Sic- geschlagen?« wollte ein Angestellter wissen. Saverio verneinte. •I' in Wim.Li «, kommentierte der Angestellte im Büro, »den Vorgang« i li.il's erwischt damals. Wir hatten da beide Augen ZUgedrüi In, B eil Nicola schon lange bei uns war. Aber nun ist <".....Igüll ig vorbei. Im Irrenhaus ist er gut aufgehoben.« Dei Angestellte lachte höhnisch. »Dann ab mit dem. Sie Itlblt bekommen ja neue Möbel und den Schaden an Ihren 5»ch......letzt, und nächste Woche kommt dann ein neuer M.......I lln Zimmer.« Passavantis Rückkehr (1976) 1 Vor seinem Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland hatte Passavanti in der Gegend seines Dorfes als Maurer gearbeitet. Auf einem gerahmten Foto, auf dem alten Wohnzimmerschrank in der Wohnung seiner Mutter, sieht man ihn zwischen seinen ehemaligen Arbeitskollegen. Sie waren alle mit sonnenverbrannten, braunen Gesichtern, in Unterhemden, mit zerrissenen Hosen und mit Hüten aus Zeitungspapicr. i960 ging die Baufirma pleite. Er fuhr nach Verona, wo ihn eine deutsche Kommission ärztlich untersuchte und ihm die Erlaubnis gab, nach Deutschland zu fahren. In der Bundesrepublik arbeitete er als Hilfsarbeiter bei mehreren Baufirmen, dann in der Montage bei einer Kühlschrankfabrik und schließlich in einer Bitumenfabrik in der Gegend von Mainz. Vor Weihnachten 1975 kehrte er nach Hause zurück - für immer -, wie er zu Freunden immer wieder sagte. Er fuhr nach Deutschland mit einem Pappkoffer, und mit einem solchen kehrte er zurück. Er war dort mit wenigen Sachen ausgekommen, nahm auch nur wenige wieder mit: gebrauchte Töpfe, die Pfanne, in der er fast jeden Tag Spaghetti und Schnitzel zubereitete, mehrere Messer, mit der Inschrift »Blauer Stern Solingen«, die wegen ihrer Qualität in seiner Heimat sehr begehrt waren, einen elektrischen Rasierapparat, ein kleines Kofferradio, das ihm in einsamen Stunden in seinem Zimmer Gesellschaft geleistet hatte, und noch zwei Fotos. Eines dieser Fotos zeigte ihn mit anderen Italienern vor einer Baracke, im Hintergrund die Wäsche, die sie kurz davor zum Trocknen aufgehängt hatten, die grüne Baracke, in der sie wohnten, und einen grau-verhangenen Himmel. Alle lachten auf diesem Bild, aber ihr Lachen schien künstlich, gezwungen. Auf dem anderen Foto war Passavanti mit Freunden in einer Kneipe zu sehen: Der Tisch war voll mit Bierflaschen und überfüllten Aschenbechern. Drei Frauen saßen dabei, mit braunen Haaren, sie waren vielleicht vierzig. Nur an ihren Namen, die er auf der Rückseite aufgeschrieben hatte, konnte man erkennen, 39 daß es sich um deutsche Frauen handelte. Alle stießen ihre Gläser an und lachten. Auch Passavanti lachte vergnügt. Sein Arm war auf der Lehne eines Stuhls, auf dem eine der drei Frauen saß, ausgestreckt, so daß der Eindruck entstehen konnte, als sei diese seine Freundin. Passavanti fuhr zurück gerade in der Zeit, in der wieder verstärkt entlassen wurde. Auch aus seiner Heimat hatte er gehört, daß dort einen Arbeitsplatz zu bekommen immer schwieriger wurde. Aber er spürte, daß es endlich Zeit war, zurückzukehren. Zurückkehrende Arbeitsemigranten waren dort überhaupt nicht beliebt. Alles in allem: Sie wurden mit Kühle und Distanz empfangen. In der Regel schimpfte man über sie: Sie würden während der Ferien kommen, mit großen Wagen und vollen Taschen von Deutscher Mark. Sie würden sich dann im Dorf so •/erhalten, als seien sie die Herren des Dorfes - gerade sie, die ciiisi verlumpt und verschämt das Dorf verlassen hatten. Im Sommei erkannte man sie auch schon von weitem an ihren I. Ii idei ii mit deutschem Schnitt, an ihren überheblichen Posen, '" il..... iiI i ii i, Ih'ih n Spaßen und an ihren Gesprächen. < »Ii« "LI die meisten von ihnen kein richtiges Deutsch konn- 1......Ii ii-.ii 'In I »einsehen« genannt. Und man war beson- 'l'i Froh darüber, speziell wom man nicht unmittelbar davon bi i ruf Ii ii ,A 11 ' i......-ii i sah, daß sie ihre Autos beluden und in iln < .< Ii il in . I .iihI / in in klu'hrten. I '.iv.. i\.im i w ii ji'dmli eiiiei der Arbeitsemigranten, die weder um großen Autos noch mit überheblicher Pose nach Hause Linien. In fünfzehn Jahren kam er auch insgesamt nur viermal. Bi pflegte mehr auf dem Dorfplatz zu stehen, auf die Dorfge-• l'i .ii he ZU hören oder einfach Karten zu spielen in der Bar. Am h wenn einige Neugierige ihn über sein Leben in der Bundi in publik ausfragten, so sprach Passavanti nur wenig dar-"I" i Ii ahnte, daß hinter ihren Fragen auch die Absicht sich in Ii. ii g, herauszuhören, wie weit er es jetzt gebracht hätte; ob er, w..... ci es zu Reichtum gebracht hatte, zu beneiden oder, wenn •! umgekehrt ein armer Schlucker geblieben war, zu be- daueiii ii i M.iiiilu'i winde auch direkter: »Was hast du mit dem vielen 1 feld aus l >Deutschen<, sind Märchen. Ich weiß nicht, ob du es glaubst, es gibt Leute, die wie die Schweine leben. Das ganze Jahr hindurch essen sie hartes Brot und Zwiebeln oder machen sich Spaghetti für die ganze Woche und trinken nur Leitungswasser, aber das ist nicht wie unseres, es ist Wasser, das nach Chlor schmeckt und einen faden Geschmack hinterläßt. Was glaubst du, die gehen nie aus, leben wie Klosterbrüder in der Baracke, klopfen eine Uberstunde nach der anderen, dann kommen sie und protzen herum. Glaub mir, würden sie anständig leben, mit allem, was der Mensch braucht, dann würden sie keine Lire sparen. Und von wegen dickem Wagen und so.« »Du übertreibst ganz schön.« 43 »Soll ich dir was erzählen«, rief Passavanti erregt. Seine Augen wurden kleiner, sein Blick bohrend, die Wimpern zitterten. »Zwei aus San Giovanni haben mit mir in einer Bitumenfabrik gearbeitet, ich sage dir nicht, wie: Tag und Nacht; dem Meister haben sie den Arsch geleckt, um Überstunden machen zu können. Andere Italiener haben sie ausgespielt und verraten, bloß für ein paar Überstunden. Und das ist nicht alles: Die haben sonntags regelrechte Jagd auf Katzen gemacht, um sie in die Pfanne zu hauen, wegen ein paar Mark, um zu sparen. Und das war auch nicht alles, ich habe es mit eigenen Augen gesehen: es war eine Nacht, in der ich Schicht hatte und ich war müde. Ich habe mich in den Aufenthaltsraum gesetzt und ausgeruht. Da Ktmen sie, haben mehrere Flaschen aus den Schränken von Kol-li|',cn genommen, um sie tags darauf beim Händler zu verkau-leii. Sie haben auch Seife, Zigaretten, wenn welche liegengeblie-I"" W Iren, mitgenommen. So weit waren sie runtergekommen, di' '•• liv, .■im'. Und als sie mich gesehen haben, wollten sie mir vot'K'tiilu'ln, sie hüllen in ihrem Spind was vergessen. Heute KUtli Oll i........"ii ihnen mit einem Mercedes herum, ich habe '1.....1 M lim gi lehen. Aber wenn er mich entdeckt, dreht er 8»ch nun I '• i II hältll III Ii, wenn er mich sieht, das Schwein. Wal gUubll du. .....I in. in-,i du, lohnt es sich, so runterzukom- men, ii........ I.......I upml n? Nein, nein, lieber Giorgio, ich habe Dlngl •rlfbl In I ..... Ii Iii.iii.I, daa hältst du nicht aus. Und was dazugeltl nt» |laul...... Min w.u um er/ähl ich dir alles. Ich sehe, du glaubt.....I llil Iii »Doch.« »Nein, nein, i, I e/lli .1......I,., es nicht, kannst du auch nicht verstehen. I >u.....II...... • Ibti erleben, um es zu glauben. Aber lassen wil .Ii., Ii ni wii d.is (leiede vom »Gelobten Land<. Ich bclulir m. m. n Hui, du behältst die Märchen. - Außerdem wollten W.............aren Passavanti Ii.mi- ........, ,. IM,,,,., jeine Verkrampfung schien sich jedoi Ii IUJ lul..... I Inn wirkte er erleichtert. Gior- gio schwieg. Zur Allee waren I.......I gl kl um....., dun I. du- man zum alten Kloster gehen k........ , dil I •• I" btl Itl '.|..i i. i .u. . ke im Sommer. Nur eine Kindorgruppi * ......ttrwegl, die Kinder jagten sich, schreiend und johlend, bil lil In ein« Quergasse verschwanden. Unter den hohen Bi......... warf«] dil I Kirnen runde Licht- flecken auf den AsphaIi im. Leicht! Briie tog von Süden her. Ein BMW 380 raste an ihnen vorbei und verschwand im Dunkel der Allee. »Hast du den Wagen gesehen? Was für ein Mordsding!« äußerte Giorgio, dann zischte er: »Das war eben ein Deutscher, aber ein richtiger. Der hat das Kloster aufgekauft und zu einem Restaurant und Hotel umfunktioniert, hat renoviert, Orchester reingesetzt; man ißt Fisch und trinkt Moscato. Er hat groß inseriert im Norden, auch in Deutschland. Da kannst du sehen, was da los ist im Sommer, da kommen die Touristen aus allen Ecken her, und er macht das große Geld. Die Leute kommen direkt mit dem Flugzeug bis in die Stadt, dann werden sie mit dem Bus abgeholt, ist allerdings mordstcuer, da kann unsereins nicht hingehen. Der >Hund< hat auch Grundstücke am Meer gekauft, direkt am Strand, und wo einer von uns nie eine Genehmigung gekriegt hätte, hat er eine wie nix bekommen und hat Hotels gebaut mit Schwimmbad und allem Komfort: Sachen für die Prominenz. Hast du es schon gesehen?« Passavanti hob die Schultern hoch. »Alles verändert, erkennst du nicht wieder.« »Eure Schuld, wenn ihr euch alles aufzwingen laßt«, murmelte Passavanti und fuhr sarkastisch fort: »Dummköpfe seid ihr! Ihr laßt euch von hier vertreiben, um im Norden zu arbeiten, und sie kommen runter, kaufen alles - euch inbegriffen. Und wozu seid ihr überhaupt geboren?« »Dort mit Arbeit könnte man schön Geld machen, so auch unter der Bank. Aus dem Touristengeschäft springt schon was raus.« »Du bist nicht mehr der alte Giorgio, früher einmal bist du nie auf solche Gedanken gekommen, aber lassen wir das, sonst ist der Abend hin. Komm, an der Ecke ist eine Bar, laß uns auf uns trinken heute abend.« Sie gingen in die Bar, ein Lokal mit nur zwei Tischen, einer kleinen Theke. Niemand stand dahinter. Kisten waren hinter den Tischen gestapelt, hauptsächlich Cola und Bier. »Die Leute essen anscheinend noch«, kommentierte Giorgio und setzte sich an den Tisch neben der Tür. Eine Frau kam heraus, von der anderen Seite des Lokals, wahrscheinlich aus einer Tür der anliegenden Wohnung. Sie blickte Passavanti schräg an. »Habt ihr Lemon Soda?« fragte Giorgio. »Was soll der Quatsch!« rief Passavanti. »Wein, oder schmeckt dir der Wein nicht mehr? Seit wann bist du Absti- 44 45 nenzler geworden? Nix damit, heute sind wir zusammen, wie früher, also Wein her!« Die Frau lief zur Theke. »Nein, keinen Wein, wenn dann Bier.« Die Frau blieb stehen und starrte beide ungeduldig an: »Was jetzt?« »Also gut, dann Bier. Haben Sie nicht deutsches?« Die Frau schüttelte den Kopf. »Na gut, was Sie da haben. I >ann zwei große Flaschen.« Das Bier wurde gereicht. Passavanti füllte die Gläser bis zum Rand, und seines leerte ei mil einem Schluck. Giorgio trank nur wenig. »Was ist los, Giorgio? Ii das alles? Weißt du, daß in Deutschland Biel wir Waiser getrunken wird? Auf, trink schon!« »Mach um I.ini'/,.im... IVi1.1..iv.11111 lulli. iein Glas wieder neu: »Also Prost!« und trank waiti i Saumäßig schmeckt das Bier, wie verdünntes Sei-Ii'mw.ihm i I i.r, wärmt überhaupt nicht, ist wie unser Dorf. Komm, kipp'l ■< hon runter!« 1.....i.i" nahm noch einen Schluck und schwieg. Ii gendwie merkwürdig, du trinkst wie die Kinder da oben im Norden. Nun, weißt du, die Deutschen können schon leben. Wenn man mit ihnen lebt, merkt man es. Die sind wie wir.« »Die kommen großspurig runter und glauben, wir sind ihre Dienstmädchen.« »Was du sagst, überall gibt es solche und solche. Den großen Molli möchte jeder spielen. Aber sie gefallen mir, wenn sie arbeiten. Sie können arbeiten wie kein anderes Volk. Auch zu 1 lause sind sie so, sie wissen einfach, wie man anleiert. Du mußt sie dir ansehen, egal wo sie hinkommen, zuerst gucken sie, wie S> läuft, dann ran an den Feind -.« Er füllte das Glas nach, und den Rest trank er aus der Flasche. »Auf, wo hängt's? Trink schon, Mann!« mischte er ein und prüfte Giorgio mit einem Blick. Giorgio bewegte sich nicht, beobachtete die Frau, die an der Theke Gläser abtrocknete. ». . . die toben auch nicht, wenn etwas nicht läuft, kühl bleiben die, prüfen nach und überlegen. In allem sind sie so, und wenn sie erfahren, daß die Frau mit einem anderen gegangen ist, da bleiben sie auf dem Stuhl hocken, sie lassen sich nichts anmerken.« 46 »Die müssen dumm sein. Ich habe schon davon gehört, die glücklich Gehörnten, und sie besaufen sich lieber . ..« »Komm, trink schon!« meldete Fassavanti und schnalzte mit der Zunge, griff zu seinem Glas und erhob es. »Schmeckt beschissen, aber was soll's. Prost!« Passavanti goß sein Bier in die Kehle, Giorgio näßte sich damit nur die Lippen und stellte das Glas wieder zurück. Passavanti grinste: »Was ist los? Was ist nur aus dem alten Giorgio geworden?« »Ich hab Familie, eine Arbeit, und morgen geht es bei mir weiter.« »Ich bestell mir noch eine Flasche.« »Kannst du von meiner Flasche erst kriegen«, und Giorgio füllte das Glas von Passavanti. »Die haben gutes Bier, das geht bis 12 Grad wie nix, so stark, daß du schon mit einem Glas warm wirst, nicht wie dieses Spülwasser. Und sie können trinken, daß du es ihnen nicht anmerkst. Komm, ich bestell' noch eins.« »Du kannst meins leertrinken, ich hab schon genug.« »Ja, ja, hast ein kleines Pöstchen in der Gemeinde, und schon spielst du die große Verantwortung hoch. Und ich sage dir noch eins, in Deutschland ist das wirklich anders mit der Bürokratie. Bürokratisch sind sie auch, aber da läuft's nicht wie hier. Hier pennt ihr Jahrzehnte auf Akten, das habe ich beim Rentenantrag von meiner Mutter gesehen. Beamte müssen dort spuren, und wenn sie angeben wollen, kannst du sie gleich kleinkriegen, indem du drohst mit Aufsichtsbeschwerde und so. In Deutschland sind Beamte keine Götter. Du bist in der Verwaltung, ein kleiner Gott bist du jetzt.« »Übertreib nicht«, wandte Giorgio gereizt ein. »Wenn ich es sage, für dich ist die Sache klar. Du hockst da drin auf dem bequemen Stuhl. Was kann dich schon jucken? Aber lassen wir das.« Passavanti drückte das Glas von Giorgio in dessen Hände. »Trink, auf! Früher hast du alles getrunken, auch beschissenen Trester, kann man sagen.« Giorgio stellte sein Glas wieder ab und senkte dabei die Augen. »Kein Wunder, daß du's zu nix bringst«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Das sagst du nicht noch mal«, zischte Passavanti, und seine Augen blitzten. Giorgio rief die Besitzerin zu sich: »Zahlen!« 47 Passavanti warf seinen Arm auf Giorgios Schulter: »Komm, laß uns wieder die alten Freunde von früher sein. Trinken wir noch einen, und reden wir von was anderem. Erzähl mal von deiner Familie.« Die Barbesitzci in kam an ihren Tisch. »Ich bezahle«, sagte Passavanti, holte seine Brieftasche heraus und reich» ihr einen Fünftausendlireschein. < Jim i'.io w.u I einen ernsten Blick zu der Frau. »Ihr wißt ja«, sugu- ei, »die Deutschen sind unsere Gäste, sie haben nichts zu bezahlen Die Frau zog ihre Hand zurück und wartete, bis Giorgio leinen Geldbeutel hatte. Passavanti stieß den Schein in ihre I Luid, worauf sie ihn auf den Tisch legte, nahm dann Giorgios < >i Iii, der es inzwischen genau abgezählt hatte. »Warum darf ich nicht bezahlen?« fragte Passavanti mit flehenden Augen. »1 labt ihr ja gehört. Gäste sind Gäste«, antwortete sie und II i K liwand hinter der Theke. (iiorgio erhob sich. »Bleib doch noch!« flehte Passavanti weiter, »wir wollten doch den Abend zusammen verbringen. Was hast du sonst zu Hause zu tun? Fernsehenglotzen? Oder hat dir die Frau beschränkte Ausgangserlaubnis gegeben?« »Red' keinen Quatsch. Ich bin für Saufabende nicht geschnitten. Da ist mir meine Leber zu wertvoll. Außerdem mag ich nicht das ganze Gequatsche von Deutschland; echt, nix gegen dich, aber hier haben wir andere Dinge im Kopf.« »Trink wenigstens noch aus, setz dich und leiste mir Gesellschaft. Es macht dir bestimmt nichts aus, wenn ich trinke; und ich rede auch nicht mehr von Deutschland. Erzähl du jetzt, erzähl mir alles, was hier so passiert ist in all den Jahren.« »Jetzt habe ich keine Lust mehr hierzubleiben. Entweder kommst du mit, und wir machen eine Runde durch das Dorf, oder ich gehe«, sagte Giorgio und grinste. »Eine Runde machen, was ein Scheiß. Wie brave Buben, frische Luft nehmen, nein, hier bleibe ich. Die Deutschen sind wenigstens konsequent, wenn die in einer Kneipe sind, dann bleiben sie auch hocken.« 48 Es wurde Frühling. Die Tage lichteten sich länger, und das Wetter wurde angenehmer. Passavanti ging schon am frühen Morgen aus dem Haus, lief zum Dorfplatz, trank dort in der Bar einen Kaffee und verbrachte den Rest des Morgens beim Friseur, wo er Zeitungen lesen konnte oder den neuen Dorftratsch hörte. Ab und zu ging er auch zum Fahr- und Motorradmechaniker, der auch sonst als Installateur arbeitete, setzte sich dann auf das Radrichtgestell und beobachtete ihn bei seiner Arbeit. Auf Gespräche ließ er sich kaum ein. Manchmal ging er überhaupt nicht aus dem Haus und lag den ganzen Tag in seinem Bett. Dann ging er manchmal runter und schaute den Kindern zu, die in der Nachbarschaft Fußball spielten. War er guter Laune, dann spielte er mit; und er zeigte ihnen, wie man Gegenspieler austribbelte; dann erzählte er ihnen von den Spielen, bei denen er in der italienischen Mannschaft in der Bundesrepublik mitgemacht hatte. Bei den seltenen Spaziergängen fiel ihm schnell auf, daß sich das Dorf kaum verändert hatte; nur mehrere Häuser waren hinzugebaut worden; meist gehörten sie den Arbeitsemigranten und standen leer, da die immer noch in der Bundesrepublik lebten. Manche im Dorf nannten diese Häuser spöttisch »Emigrantendenkmäler«. Zwei wurden auch nie von ihren Eigentümern bewohnt: Sie starben in der Bundesrepublik, einer an seinem Arbeitsplatz, der andere bei einem Verkehrsunfall. Die Häuser wurden dann von reichen Leuten aus der Stadt gekauft, die sie nur im Sommer benutzen wollten. Auch um das Dorf herum war alles gleich geblieben; auf der Nordwestseite die verbrannten Hügel, südlich das Flußbett talwärts, wie eine vertrocknete Ader einer sterbenden Landschaft, und im Osten die Felder, wo hauptsächlich Olivenbäume, Weinreben und Weidefläche waren. Dann die anderen Felder, viele winzige Flächen nur am Ortsrand, wie aneinander genäht, die ihren Besitzer nicht ernähren konnten; sie wurden von Frauen bestellt, die Männer gingen in die siebzig Kilometer entfernte Stadt arbeiten. Passavanti hörte manche wegfahren, am frühen Morgen, gerade als er ins Bett gehen wollte. Gegen vier fuhren sie los, und abends um sieben Uhr kamen sie zurück. Der Rest der Felder, und das waren die meisten, gehörte den zwei einflußreichsten Familien des Dorfes; Lupari und 49 Grilletto waren deren Häupter, il.u.ui hatte sich überhaupt nichts geändert. Auch die in den füni 1 < |.ihren eingeleitete Landwirtschaftsreform hatte vor ihrani Grundbesitz halt gemacht, und jeder im Dorf wußte warum Ihr Einfluß reichte bis zu den höchsten Amtern und in» Parli.....ni. Nicht zufällig war jeweils einer ihrer Söhne Politikci .ml l.andesebene geworden. Von den beiden Häuptern 11< l< nur l.upari die Felder bestellen, von verarmten Bauern, di Ii im leisteten Frauen, v11■ I<■ davon Emigrantenfrauen, und Kindel , die von Kapos aus den umliegenden Dörfern angehenen wurden. Grilletto zog dagegen vor, seine Felder bewalden und verrotten zu lassen; das war für ihn lohnender, dei..... bekam dal iir Subventionen v< iiii Staat. I >aß sich überhaupt nichts vci.imli u hatte, verbitterte Passa-v.inii. Und er spürte den Groll m li< Ii steigen, wie damals, vor der Abfahrt in die Fremde. El 8.......> i e sich viel zu gut an jene Niederlagen damals, an die täglii lien Demütigungen als Tagelöhner, bis er dann an der Baustelle eine Arbeit fand und für einen Hungerlohn bis tief in die N.icht arbeiten mußte. Und als die Baufirma Pleite ging, betrai htete er dies eigentlich als Erlösung. Aber durch die Emig] 11 ion wollte er nicht nur dem Dorfelend entfliehen-er haue SUi Ii Träume, die Arbeitsemigranten-Träume: viel Geld verdienen und schnell nach Hause kehren und sich selbständig machen, vielleicht auch ein Geschäft aufmachen und Einfluß und Ansehen gewinnen im Dorf. Jedes Jahr der Emigration hatte jedoch etwas an seinen Luftschlössern zerstört, so daß sie schon nach fünf Jahren in Trümmern lagen. Mehrmals war Passavanti auch in die Hauptstadt gefahren, um eine Arbeit zu suchen. Er fand keine. Nun war er es leid, zu fragen. Doch fuhr er immer wieder hin; er kam in das kleine Industrieviertel und schaute sich die Bauten an; er träumte sich einen Arbeitsplatz. Er wußte doch, daß es keine Chance gab: Nur Beziehungen hätten helfen können. Vielleicht auch ein Wort von einem Freund, mehrere Millionen Lire als Schmiergeld für den Meister, ebenso vielleicht für den Freund dann, der ein gutes Wort gesagt hätte. Dann fielen ihm die Bekannten vom Dorl ein, die hier in der Stadt eine Arbeit hatten und fünfzehn Stunden täglich unterwegs waren. Er sah sie abends heimkommen, mit stummer, geistloser Gebärde. Und er fragte sich, was sie wohl vom Leben haben würden, was hatte sich für sie geändi n gegenüber früher, 5° als sie Bauern waren und auch bei Sonnenaufgang das Haus verließen und erst spät am Abend zurückkamen? In ihren Gesichtern erkannte er keinen Unterschied, nur den Platz hatten sie gewechselt. Doch er wünschte sich einen. Vor einer harten und schweren Arbeit hatte er keine Angst, auch in der Bundesrepublik hatte er Schlimmes hinter sich gebracht. Und er wußte, daß er, um zu leben, früher oder später doch eine Arbeit hätte anfangen müssen. Aber er wollte sie nicht auf diese Weise, unter diesen Bedingungen. Er wollte nicht nach einer Arbeit fehlen, wie damals. Deswegen spürte er, daß seine Rundgänge in der Hauptstadt sinnlos gewesen waren. Er wollte eine Arbeit, aber ohne mühevolle Anbiederungen. Zu einer List greifen oder den Arsch von jemandem lecken, der ihm bei der Einstellung hätte helfen können, wollte er nicht. Er wollte keine Abhängigkeiten, die ihn in die täglichen Unterwürfigkeiten eingewickelt hätten, keine Verwicklungen. Wenn, dann hätte es eine saubere Sache sein sollen. Er wünschte sich, als Mensch zu leben, jetzt. Das ersehnte er sich mit seiner ganzen Seele. Nicht mehr bitten und betteln, sich totarbeiten und die Füße lecken, um bloß für das Brot zu leben. Früher hatte er nichts anderes gelernt, nicht anders gehandelt; und er wußte, was es bedeutete. Er wollte es nicht mehr. Er sah die Männer auf dem Dorfplatz, wie sie die Zeit, die ihnen übrig blieb, totschlugen, wie sie in ihren Tagträumen versunken waren und wie sie in ihren Enttäuschungen, in ihrem Groll brüteten: Wie sie ihre täglichen Niederlagen schluckten. Er wollte und er konnte es nicht mehr. Ihm wurde bewußt: Das alles hatte er in der Bundesrepublik gelernt. Nicht, daß sie es ihm beigebracht hätten, er hatte es gelernt in all den Gastarbeiterjahren. Als Gastarbeiter. Nicht aus einem Krieg, aus der Arbeitsemigration kam er. Er hatte begriffen, daß Kriege sinnlos waren, nicht die Arbeit. Er wäre auch nicht zurückgekehrt, wenn der Groll nicht gewesen wäre, der aufwühlende Groll, den er empfand, sobald die Dinge so schwierig, so verwickelt wurden und nur Hinterlistigkeit, das Hereinlegen der anderen helfen konnte. Er wäre nicht zurückgekehrt, wenn die Bundesrepublik ihm auch nur eine Möglichkeit gegeben hätte, sich dort heimisch zu fühlen. Zurückgekehrt, glaubte er, daß er dadurch dem Groll entgangen wäre, daß es im Dorf einfacher geworden wäre - getäuscht hatte er sich. Doch hatte er noch den vagen Wunsch, sich wieder einzuleben. Auf der Fahrt in die Hauptstadt träumte er davon, daß jemand ihn ansprach und ihm eine Arbeit anbot. Er hätte jetzt auch jede angenommen, aber ohne Anbiederung, ohne Betteln. Er wollte nicht alles neu anfangen, in der gleichen Art und Weise, als ob er nie in der Fremde gewesen wäre. Ihm war es alles zu schwierig geworden, verdammt schwierig; und zurück in die Bundesrepublik traute er sich nicht mehr. 4 An einem Samstagabend, der schön und warm war und einen Himmel mit noch heller scheinenden Sternen zeigte als sonst, saßen an der Bar am Dorfplatz vielleicht zwanzig Leute, die Karten spielten und mit lauten Schreien die Stiche begleiteten. In einem unregelmäßigen Rhythmus konnte man die Finger-tenochen auf den Tischen klopfen hören; Passavanti spielte mit. Die Stunden vergingen, und die Gruppe verkleinerte sich, bis Ii. H Ii /.cliIi /.urückblieben. Nach einer großen und heftigen Dis-luiv.inii niemand wußte dann, wie es dazu kam - kam man zu eine] Wette /wischen Passavanti und Giorgio. Sic wi-iii-n-Ii darum, wer von ihnen am meisten trinken kön-ii. < ci.»: .Im < Häschen Cognac, und Passavanti: jeweils eine I''lasche Bici. Sic stellten sich vor die Theke und begannen mit dem Trinken vor den Blicken und dem Lächeln der anwesenden Zuschauer, Passavanti mit einer großen Dreiviertelliterflasche und Giorgio mit einem kleinen Cognacglas. »Dir werd ich's zeigen, du Deutscher«, murmelte Giorgio und beugte sich zur Theke. »In Deutschland trinkt man Schnaps vor dem Bier, besonders wenn es kalt draußen ist«, erklärte Passavanti und grinste dabei. »Der kommt hierher, der Deutsche, und macht große Sprüche, der soll dort bleiben, wenn er nur so viel Lob für Deutschland findet.« Giorgio machte winzig kleine Augen und schnaubte. »Ich sage euch, dort gibt's Bier, frisch aus dem Faß, das wie Öl runterrutscht. Und du kriegst keinen trockenen Mund davon, auch keinen dicken Kopf.« Passavanti lachte höhnisch, erhob die Flasche und schüttete den Inhalt in sich hinein. »Pfui Teufel, wie Spülwasser schmeckt das.« Er hatte bereits fünf Flaschen getrunken, während Giorgio bei seinem vierzehnten Gläschen war. Nun wirkten ihre Posen 5* nicht mehr selbstsicher, eher marionettenhaft. Sie wankten jedesmal, wenn sie die Hand von der Theke heben wollten, um das Glas oder die Flasche zu heben. Auch ihre Stimmen dehnten sich, und ihre Blicke wurden trüb. Hinter ihnen wurde es aber immer lauter. Die einen wetteten, die anderen diskutierten über den unterschiedlichen Alkoholgehalt von Cognac und Bier, ob Bier gesünder sei als Wein und Cognac. Aus der Diskussion wurde ein Stimmengewirr, auch die Wetten häuften sich, obgleich die meisten Anwesenden mehr oder weniger offen mit Giorgio sympathisierten. Bei der neunten Flasche fing Passavanti an zu taumeln, und nur mit viel Mühe konnte er sie noch an den Mund führen. Giorgio dagegen lehnte an der Theke, wirkte aber geistesabwesend. Dann hob er das Gläschen, brachte es zu seinem Mund, schien aber nicht die Kraft zu haben, es zu kippen. »Ehi, Giorgio, brauchst einen Kran?« sagte einer aus dem Hintergrund, und alle brachen in ein lautes Gelächter aus. Giorgio ließ das Glas sinken, ohne was getrunken zu haben, wie im Zeitlupentempo. Dann fiel er um; sein Glas zersprang auf dem Boden in tausend Stücke, ohne daß man das Klirren hören konnte. Der Cognac breitete sich neben seinem Gesicht aus zu einem Klecks. Passavanti merkte es nicht. Man sagte ihm nur, daß ergewonnen hatte. Er suchte Giorgio, um ihm ordentlich auf die Schulter zu klopfen. Und als er ihn in der Menge nicht sah, suchte er den Weg nach draußen. Vor der Bar pinkelte er lange, als ob er sich ganz ausleeren wollte. Dann taumelte er in Richtung nach Hause. 5 Den folgenden Tag verbrachte Passavanti im Bett. Gegen Abend kam seine Mutter in sein Zimmer und fragte, ob er nicht wenigstens zum Abendessen runterkommen wolle. »Hab keine Lust.« Er gähnte und drehte sich um. »Komm doch, nur einen kleinen Happen.« Und sie blieb beharrlich auf der Türschwelle stehen. Ihre Anwesenheit im Zimmer wurde ihm unbehaglich. Er wandte sich seiner Mutter zu: »Was hast du? Warum guckst du mich so schief an?« »Und du fragst so? Meinst du, ich weiß nicht, was heute nacht passiert ist?« 53 Ihre Stimme klang hart. »Und weiter?« »Du weißt es nicht, nee? Mit deinen Bravourstücken.« »Was ist denn?« fragte Passavanti gereizt. »Giorgio ist tot. Heute nacht haben sie ihn ins Krankenhaus gebracht. Es war schon zu spät«, sagte sie vorwurfsvoll. »Tot?« »Ja, tot.« »Wie?« schrie Passavanti und sprang aus dem Bett. »Tot?« »Ja, ja, hab ich doch gesagt. Oder verstehst du meine Sprache nicht mehr?« Passavanti vergrub das Gesicht hinter seinen breiten Händen. »Ach Gott, bist du ein-Schwein!« stöhnte er. Kr sprang zur Tür hin, wo seine Mutter stand, und packte ihre Schulter. »Das stimmt doch nicht, sag' mir, daß es nicht wahr ist.« i .ils mich los!« Ii ■.i.h i ic verblüfft auf seine Hände, ließ sie wieder fallen. I ..........1 >!11 r.wn oder nicht?« r.r.-..n'.hui n< liiillellc den Kopf: »Vielleicht später.« II 11 I i ... also «las I vsscii aul dem Tisch«, sagte sie und ging, r.i'.'.iv.inii s.iiik kraftlos auf das Bett und starrte zur Zimmer- .Ici ko. »Giorgio ist tot«, ging es ihm hämmernd durch den Kopf. Er hatte keine Gewissensbisse, machte sich keine Selbstvorwürfe. Was ihn wurmte, war etwas ganz anderes. Und ihm fiel der Abend in der Bar ein, wo er so viel über die Bundesrepublik erzählen konnte, wodurch Giorgio verärgert w.u. An dem Abend schließlich, als es geschah, fing es eigentlich harmlos an: Als Passavanti beim Kartenspielen die falsche K.n ic zog, was ihn das Spiel kostete, meinte Giorgio ironisch, ob ei solche Schnitzer auch in Deutschland gelernt hätte. Solche Bemerkungen hatte ihn beim Skatspielen mit Deutschen in der Stammkneipe vollkommen kaltgelassen. Die deutschen Freunde sagten: »Jetzt kommt er mit seinen Itaker-Schnitzern«, und sie lachten darüber; er lachte mit. Plötzlich fiel ihm Luise ein, die er ja in derselben Kneipe kennengelernt hatte und mit der er dann zwei Jahre zusammenlebte. Noch nicht einmal verabschiedet hatte er sich, als er wegfuhr. Ihm wurde klar, daß auch die Beziehung zu Luise ein wesentlicher Grund seiner Rückkehr war. Sie wollte ihn heiraten, er wollte keine Verwicklungen. Er wollte es so haben, daß alles einfach und überschaubar bleiben konnte. Außerdem hätte die Heirat einen endgültigen Abschied von seiner Heimat bedeutet. In der Bundesrepublik war er nach fünfzehn Jahren nicht heimisch geworden, und er spürte, daß er dort nie mehr heimisch werden konnte. Und er liebte Luise nicht. Je länger der Aufenthalt in der Bundesrepublik dauerte, um so komplizierter wurde für ihn das Leben als Gastarbeiter. Die deutschen Freunde schienen ihm einen Spiegel vorzuhalten, auf dem er sich zerteilt erkennen konnte. Aber auch hier hielten ihm die Leute einen Spiegel vor. Und Giorgio hielt ihn am besten. In dessen Spiegel sah er sich noch zerteilter als in einem anderen. Eine tiefe Leere breitete sich in ihm aus. Giorgio war tot, und mehr als der Verlust eines Freundes schmerzte ihn, daß durch seinen Tod ihm ein schärferer Spiegel vorgehalten wurde: ein Spiegel, in dem er sich nun ganz zerstückelt sah, ganz und gar: er, in vielen kleinen Puzzleteilchen, Teilen, die nicht mehr zusammensetzbar schienen. Erst spät in der Nacht fand Passavanti seinen Schlaf. Der Schlaf war leicht, und vor seinen Augen bewegten sich verschwommene Bilder von Giorgio: fröhlich lachend und Prosit rufend; auch seine Mutter, die ihn ständig fragte, warum er nach Deutschland weggefahren sei. »Wärest du bloß geblieben!« Bekannte aus der Bar, die hinter seinem Rücken lachten und riefen: »Der war in Deutschland und hat es dort zu nichts gebracht! Nur Saufen hat er gelernt!« Und: »Was macht er noch hier? Warum kehrt er nicht dahin zurück, wo er hingehört jetzt?« Schließlich trat eine große Gestalt vor ihn, die zu ihm sagte: »Im Dorf kannst du jetzt, nach dem, was alles passiert ist, nicht mehr bleiben. Du mußt weg, und egal, wo du hingehst, Giorgios Leiche wirst du in deinen Koffer packen und mitnehmen!« Passavanti strampelte in seinem Bett, als ob er diese Gestalt wegjagen wollte und rief mehrmals: »Nein, nein, ich werde hier bleiben! Ich werde Giorgio vergessen!« Es waren die Glocken der Kirche, die ihn weckten. Er zog sich schnell an. Als er die Treppe hinunterlief, kam seine Mutter aus der Küche und rief: »Warum hast du gestern abend nichts gegessen?« vi »Keine Lust«, murrte Passavanti. »Willst du jetzt nicht frühstücken? Den Tisch habe ich schon gedeckt.« »Die Glocken läuten - wird Giprgio beerdigt?« »Ja«, sagte sie und stellte sich vor die Haustür. »Wo willst du denn hin?« Sie starrte ihn an. »Zur Beerdigung.« »Du bleibst hier. Deine Anwescnlicii dort schafft nur böses Blut, nachdem das passier! im I. h li.ime mich wegen deiner Bravourstücke und lasse um Ii mii '/.eil vor niemandem blik-ken.« Sie streckte ihic I Luid /um Türgriff und hielt ihn fest. »Laß Ii Ii will i ms • Im das dci Kcspckl \.....leinei Mutter?« , »Laß los, Ii.iL i. Ii Kt-sa^t.. I. h h tb dl tl l im I> Im du Ii gedeckt, geh erst frühstücken.« Ii Ii v\ ill im In essen, ich will hier raus.« In,. Im .Ii in. Mutter, Hlcib hier, bis alles vorbei ist.« M ii Ii .i du Plfttl P < 'der . . .«, seine Stimme bebte. ■ I Im .ml deine Mutter . . .« I 1 um iniMs ii I.......-Iieii Platz machen.« '...... I [and hu lue BUm Türgriff und befreite diesen von der I Luid dci M im i ii. Sie wich zur Seite. ■ ( iili Line im In hin«, sagte sie mit weinerlicher Stimme. •■ I .ils das meine Sache sein«, zischte er zurück, bevor er rausging- Der Platz vor der Kirche war wie leergefegt, nur ein Hund knabberte dort an einem Knochen. Ein anderer Hund kam aus der Seitenstraße, die zum Dorfplatz führte, blieb hinter dem anderen kurz stehen, schoß dann zum Knochen hin, riß ihn aus dem Maul des anderen und machte sich davon. Der erste Hund jaulte, versuchte, diesen Dieb zu jagen, mußte dann aber kurz darauf zurückkehren und roch an der Stelle, wo der Knochen gelegen hatte. Er schaute ständig in die Richtung hin, wo der zweite Hund verschwunden war. Als Passavanti zur Straße, die zum Friedhof führte, gelangte, war gerade der Beerdigungszug vorbei. Die letzten Autos, die im Schrittempo fuhren, waren hundert Meter weiter noch zu sehen. Er beeilte sich und erreichte sie erst am Ende des Dorfes. Um sie herum waren nur die vertrockneten Felder, hier und da Olivenbäume, weiter auf Hügeln Kaktusfeigenbäume. An diese Strecke konnte er sich kaum noch erinnern. Das letztemal war er vor zwölf Jahren auf dem Friedhof, als sein Vater starb. Er bekam damals ein Telegramm. Als er jedoch ankam, war sein Vater schon beerdigt. Seitdem mied er diesen Weg. Kaum hatte er zwei Autos überholt, aus denen die Fahrer ihn erstaunt beglotzten, begannen die letzten vom Beerdigungszug sich umzudrehen und mit der Hand vor dem Mund zu flüstern. Drei Männer lösten sich dann aus der Gruppe und schritten Passavanti entgegen. Passavanti konnte sie erkennen, es waren der Schwager von Giorgio und zwei Freunde, Marco und Gino. Sie hielten meterweit vor ihm an und kreuzten die Arme. Als die letzten Autos vorbei waren, stellten sie sich auf die Straßenmitte. »Wo möchte der Deutsche denn hingehen?« Sein Gesicht hatte sich zu einer festen Grimasse versteift. »Deine Anwesenheit ist hier nicht erwünscht!« sagte Marco hart. Giorgios Schwager nickte: »Verstanden?« »Giorgio war mein Freund .. .«, sagte Passavanti und machte einige Schritte nach vorn. Die anderen drei umkreisten ihn. »Will oder kann der Deutsche nicht verstehen?« brüllte Marco. »Wir warnen dich! Verschwinde, bevor noch was passiert«, zischte der Schwager. »Ich bin mir keiner Schuld bewußt.« »Hörst du schlecht? Mach, daß du wegkommst!« »Da liegt auch mein Vater begraben. Ich will hingehen.« Passavanti schob Marco und den Schwager von Giorgio beiseite und lief weiter. Gino hielt ihn am Arm fest, bis die anderen zwei wieder vorkamen und sich vor Passavanti stellten. »Freund, wir haben dich gewarnt, heute hast du auf dem Friedhof nichts zu suchen, verstanden!« stieß der Schwager ihm mit bebender Stimme entgegen. Auf seiner Stirn rollten Schweißperlen. »Kein Mensch kann mir verbieten, hinzugehen, wo ich es für richtig halte«, knurrte Passavanti und versuchte, sich vom Griff Ginos zu befreien. »In Deutschland kannst du es machen, aber nicht hier bei uns. Also hau ab endlich!« $6 57 Passavanti riß sich los und versuchte an der Seite weiterzulaufen. Da sprangen sie auf ihn zu und schlugen, bis er auf dem Pflaster regungslos liegenblieb. Dann warfen sie ihn in den Straßengraben. Als er wieder zu sich kam, war der Beerdigungszug schon auf dem Friedhof. Die drei waren nur noch ganz klein zu erkennen. Aus der Nase blutete er, das Knie, der Magen und die Stirn schmerzten. Noch eine Weile mußte er liegenbleiben, bis er sich hinkend auf den Heimweg ma< hen konnte. Das Dorf sah ausgestorben aus. Die Fcnstci -laden w.ucn zugeklappt. Seine Mutter jaiimu-i n den ganzen Abend. Er schloß sich in sein Zimmer ein. Sic ging d.iini nur noch zu ihm hoch, um sein Essen vor die Tin KU (teilen, Erst drei Tage später ging er wieder hinunter und |ß in dei K in lic mit seiner Mutter. 7 Am folgenden Tag -.|>i.h Ii sie ihn an: »Schon lange will ich mit dir sprei lien«, während sie den Teller mit Suppe füllte. »Du siehll ii Ii bin all und müde, ich lebe nicht mehr lange. Aber bevor k Ii sin In-, will i( Ii um noch eines sehen, daß du endlich eine l'.iniiln g.....dcsl und eine Arbeit findest. Bevor meine Augen sich schließen, möchte ich sehen, daß du so lebst wie die anderen, mit einer ordentlichen Arbeit und einer anständigen Familie. Glaubst du nicht, Vito?« Passavanti verkrümmte seinen Mund, sagte aber kein Wort. Sie fuhr fort: »Ich bin krank, das weißt du, Arthritis, und ich schaffe es nicht mehr, die Wäsche zu waschen und zu bügeln. Ich werde auch die Nachbarin Bianca fragen, ob sie mir hilft.« »Ich kann dir auch helfen«, sagte Passavanti zu ihr. »Das würde auch noch fehlen. Wenn die Nachbarn sehen, daß du wäscht . . . nein, nein, such dir lieber eine Arbeit.« »Das sagt sich so einfach.« »Sieh mal, meine Rente reicht nicht für beide aus. Mit dem Geld, das ich kriege, kann man keine Sprünge machen.« »Ich kriege noch Arbeitslosengeld«, wandte Passavanti ein. »Aber wie lange noch? Und wenn, das ist keine Lösung, du mußt endlich arbeiten gehen. Du bist schon lange zu Hause...« »Ich weiß. Wenn du wüßtest, wie schwierig es ist.« »Wenn du Familie gehabt hättest, wärest du schon lange am Suchen.« »Gewiß. Wie Vater, für einen Hungerlohn«, erwiderte Passavanti voller Sarkasmus. »Vito, rede nicht so über den armen Vater«, rief sie mahnend. »Gewiß, wenn ich mir einen Karton um den Hals hänge, mit der Aufschrift: >Arbeite ohne Bezahlung<, finde ich vielleicht eine Arbeit.« »Hast du keine Hoffnung und kein Vertrauen?« »Ich habe gar nichts mehr.« Er spürte, wie Groll in ihm aufstieg. »O, mein Gott!« »Hör auf, ich habe niemandem Rechenschaft abzugeben, im Gegenteil, die Rechnung ist noch offen.« Er wußte, daß seine Mutter ihn nicht verstehen würde. Er wußte auch, daß er es nicht erklären konnte. Sie durfte es auch nicht wissen. »Gründe eine Familie, dann wirst du die Dinge anders sehen. Dann wirst du Vertrauen und Hoffnung kriegen«, bat sie mit flehender Stimme. Er bemerkte, wie der Groll in ihm arbeitete. »Ich werde nichts tun, gar nichts«, klagte er verbittert. »Vito, ich mache mir Gedanken um dich. Ich sehe schon, daß du in einer kritischen Lage bist. Wärst du nicht weggewesen, hättest du bestimmt hier eine Frau gefunden. Und es wäre alles ganz anders.« »Auch in Deutschland gibt's Mädchen«, flüsterte Passavanti. »Was willst du jetzt machen?« »Zurück nach Deutschland.« Sie schwieg eine Weile; als ob sie es geahnt hätte, sagte sie dann resignierend: »In deinem Alter kann man immer noch was finden. Suche wenigstens in der Stadt.« »Nein, ich werde nicht mehr suchen, ich will nicht mehr bleiben. Im Dorf habe ich nur noch dich. Letztendlich bin ich hier ein Fremder. Ich fahre, heute noch.« Die Mutter begann zu weinen. Passavanti legte seinen Arm auf ihre Schulter. »Es ist nicht deine Schuld. Du willst das beste lür mich, du hast dich hier ein Leben lang abgestrampelt, um durchzukommen. Ich konnte das nicht, und ich kann es jetzt auch nicht. Ich will das auch nicht mehr.« Passavanti spürte, wie der Ekel in ihm hochstieg. Es war der Ekel vor sich selbst. Er ging in sein Zimmer, und in großer Eile bereitete er seinen Koffer vor und kam wieder runter. Die Alte stand vor der Küchentür und schluchzte. 58 59 Passavanti empfand ein tiefes Mitgefühl für die alte Frau, und ihm wurde bewußt, daß er sie vielleicht zum letztenmal sah. Früher dachte er das jedesmal, wenn er kurz vor seiner Abreise stand. Aber dies waren nur vage Vermutungen. Jetzt spürte er es deutlich und drückte die Mutter ganz fest an sich. Auch sie muß es geahnt haben. Sie sagte: »Komm wenigstens noch zu meiner Beerdigung.« Auf der Straße spielten die Jungen aus der Nachbarschaft Fußball. Als sie ihn mit dem Koffer sahen, hörten sie mit ihrem Spiel auf und liefen ihm nach. »Gehst du wieder nach Deutschland?« fragte der Jüngste. Passavanti nickte nur. »Können wir helfen, den Koffer zu tragen?« »Lieber nicht«, erwiderte er ihnen, »er ist zu schwer für euch und keine gute Übung.« »Dann wirst du mit uns nicht mehr spielen?« fragte der [üngste. • klar, das nächste Mal, wenn ich wiederkomme.« i hui ich mit dir nach Deutschland kommen?« fragte ihn der .Ah. .1. vi in allen. I in bin ii". Ii EU jung«, sagte Passavanti zu ihm und lächelte, 'I i......I" rli .....inen Moment. »Aber wer weiß, vielleicht (Verden Jl......I d........ch treffen, Deutschland ist nicht groß. Abel fim denk .ins Spielen, da hast du mehr davon.« Vierzig Minuten mußte l'assavanti an der Bushaltestelle war-ten, bis aer Bus zur Stadt kam. Noch spät am Abend stieg er in den Zug nach Mailand ein. Er setzte sich nicht in ein Abteil. I (ort hätten Mitreisende ihn früher oder später in ein Gespräch wi wirkelt, und er wollte nicht reden. Er wollte auch nicht i dei lügen. Das wäre die Sache nicht wert gewesen. Damit .Iii ( .lull nicht wieder hochkäme, hätte er die Dinge beim Nanu ii nennen müssen. Und das spürte er wieder: Die Mitreisenden wollten nur das hören, was für ihre Ohren paßte. So stellte er sich an das Fenster im Gang und betrachtete die Lichter der I läiiM i in den I Kiffern, wie sie sich näherten und wieder entfernten. I lud iT versuchte, die Dunkelheit zu ergründen. Sein Dorl verließ er nun zum zweitenmal, vielleicht jetzt endgültig. - Und obwohl es in ihm Gleichgültigkeit erzeugte, schmerzte ihn dieser Abschied doch. Er versuchte nunmehr, seine Gedanken auf das Leben in der Bundesrepublik zu lenken: eine Arbeit wird er schon finden, egal wo und egal was, Hauptsache: neu anfangen. Sein Leben 60 sollte zwar nicht glatt laufen, das erwartete er gar nicht, jedoch wenigstens ohne Groll. Das erhoffte er sich. Er verspürte einen plötzlichen Hunger und holte sich im Speisewagen ein Mortadellabrötchen und aß es am Fenster. Ein Schnellzug mit deutschen Waggons bohrte sich an ihm vorbei. Er erkannte das an der grünen Lackierung.