Mein Vater Mein Vater Als meine Mutter und ich 1990 Moskau verließen, war mein Vater heilfroh. Damit hatte er gleich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Zum einen war er stolz, in diesen schwierigen Zeiten seine Familie im sicheren Exil untergebracht zu haben. Es war mit einer gewissen Aufopferung verbunden und alles in allem nicht leicht gewesen. Nicht jeder schaffte es. Zweitens hatte er nach dreißig Jahren Ehe endlich seine Ruhe und konnte nun tun und lassen, was er wollte. Als sein Betrieb, in dem er als Ingenieur tätig war, den Geist aufgab, wie es fast alle Kleinbetriebe im postsowjetischen Frühkapitalismus taten, fand mein Vater schnell eine Lösung. Er fuhr durch die Stadt und entdeckte zwei Tabakläden mit sehr unterschiedlichen Preisen für ein und dieselben Waren. So kaufte er vormittags in dem einen Geschäft ein und verkaufte die Sachen am Nachmittag an das andere. Damit kam er eine Weile über die Runden. Wie ein Kind reagierte er auf alle Neuigkeiten, welche die Marktwirtschaft mit sich brachte, ohne sich 30 darüber groß zu wundern oder zu klagen. Als die Kriminalität immer größere Ausmaße annahm, nagelte er alle Fenster mit Holzplatten zu. Den Korridor verwandelte er in ein Waffenarsenal: Eisenstangen, Messer, Axt und ein Eimer für feindliches Blut standen dort bereit. In der Badewanne hortete mein Vater die Lebensmittelvorräte. Aus der Küche machte er einen Beobachtungsposten. Die meisten Möbel zerhackte er nach und nach zu Kleinholz für den Fall einer plötzlichen Energiekrise. Egal was für Nachrichten das Fernsehen brachte, meinem Vater konnten keine Perestroika-Wirren etwas anhaben. Doch auf Dauer wurde ihm die eigene Festung zum Gefängnis. Ermüdet entschied er sich 1993, ebenfalls nach Berlin zu ziehen. Zwecks Familienzusammenführung, wie das lange Wort in seinem Reisepass hieß. Hier wurde er depressiv, weil er nach dem langen anstrengenden Kampf nichts mehr zu tun hatte - wohl das Schlimmste, was einem mit 68 passieren kann. Die süßen Früchte des entwickelten Kapitalismus einfach zu genießen, war ihm zuwider. Mein Vater sehnte sich nach neuen Aufgaben, nach Verantwortung und Kampf um Leben und Tod. Wer sucht, der findet. So kam mein Vater auf die Idee, den Führerschein zu machen. Damit war er erst einmal für die nächsten zwei Jahre beschäftigt. Dreimal wechselte er die Fahrschule. Sein erster Fahrlehrer sprang mitten im Verkehr aus dem Auto, in drei 31 Mein Vater Sprachen fluchend. Sein zweiter Fahrlehrer weigerte sich schriftlich, mit ihm im selben Wagen zu sitzen. »Beim Fahren betrachtet Herr Kaminer unentwegt seine Füße«, schrieb er in einer Erklärung an seinen Fahrschulleiter. Natürlich war das eine Lüge. Es stimmte schon, dass mein Vater während der Fahrt nie auf die Straße schaute, sondern nach unten. Dabei starrte er jedoch nicht auf seine Füße, sondern auf die Pedale, um nicht auf das falsche zu treten. Der dritte Fahrlehrer war ein mutiger Kerl. Nachdem beide mehrere Stunden zusammen im Auto verbracht und dem Tod ins Auge gesehen hatten, wurden sie wie Brüder. Dieser Fahrlehrer schaffte es, meinem Vater die Führerschein-Idee endgültig auszureden. Dann kam wieder eine lange Phase der Depression, bis er das Berliner Seniorenkabarett in Weißensee Die Knallschoten für sich entdeckte. Dort stieg er ein. In dem neuen Programm »Kein Grund, um stillzuhalten« - eine Satire zu aktuellen Problemen unserer Zeit, »heiter, aber bissig!« - spielt mein Vater nun den Ausländer. Ich verpasse nie eine Vorstellung und bringe ihm stets frische Blumen mit. Meine Mutter unterwegs Die ersten 60 Jahre ihres Lebens verbrachte meine Mutter in der Sowjetunion. Nicht ein einziges Mal überschritt sie die Grenzen ihrer Heimat, obwohl ihre beste Freundin 1982 einen in Moskau stationierten Deutschen heiratete und mit ihm nach Karl-Marx-Stadt zog, wohin sie dann meine Mutter mehrmals einlud. Der Parteisekretär des Instituts für Maschinenbau, in dem sie arbeitete, musste die für eine solche Reise notwendige Beurteilung schreiben, das tat er aber nie. »Eine Auslandsreise ist eine ehrenvolle und verantwortungsvolle Maßnahme«, sagte er jedes Mal zu meiner Mutter. »Sie haben sich jedoch auf dem Feld der gesellschaftlich-politischen Arbeit nicht bemerkbar gemacht, Frau Kaminer. Daraus schließe ich, dass Sie für eine solche Reise noch nicht reif sind.« Reif für die Reise wurde meine Mutter erst mit der Auflösung der Sowjetunion, als sie 1991 nach Deutschland emigrierte. Schnell entdeckte sie eine der «roßten Freiheiten der Demokratie, die Bewegungsfreiheit. Sie konnte nun überall hin. Aber wie weit will 33 Meine Mutter unterwegs man eigentlich fahren, und wie groß darf die Welt sein? Diese Fragen beantworteten sich quasi automatisch,1 als meine Mutter sich mit dem Angebot von Roland-Reisen, einem Berliner Billig-Bus-Reiseunternehmen, vertraut machte. Ein Bus fährt bestimmt nicht nach Amerika, Australien oder Indien. Aber er fährt schön lange. Man hat das Gefühl, auf einer weiten Reise zu sein und gleichzeitig bleibt man dem Zuhause irgendwie nahe. Das ist praktisch, preiswert und unterhaltsam. Obwohl die an sich beliebten Roland-Reisen immer öfter mangels Teilnehmern ausfallen, hat meine Mutter inzwischen bereits zwei Dutzend Bustouren mitgemacht und dabei viele Reiseziele erreicht. Von Spanien im Süden bis Dänemark im Norden. In Kopenhagen fotografierte sie die Meerjungfrau, die jedoch gerade mal wieder kopflos war. In Wien erzählte die Reiseleiterin meiner Mutter, dass die Wienerwürste dort Frankfurter heißen, ferner, dass man dort anständigen Kaffee nur im Restaurant vor dem Rathaus bekomme und dass Stapo die Abkürzung für Polizei sei. In Paris fand der Busfahrer keinen Parkplatz, und sie mussten den ganzen Tag mit dem Bus rund um den Eiffelturm fahren. Am Wolfgangsee kaufte meine Mutter echte Mozartkugeln, die rundesten Pralinen der Welt, die ich seither immer zu Weihnachten geschenkt bekomme. In Prag wären sie um ein Haar auf der Karlsbrücke mit dem Touristenbus eines anderen Veranstalters zusammengestoßen. In 34 Meine Mutter unterwegs Amsterdam feierte die Königin gerade ihren Geburtstag, und viele schwarze Mitbürger tanzten vor Freude auf der Straße, als der Roland-Bus mit meiner Mutter dort ankam. In Verona besichtigte sie das Denkmal der Shakespear'schen Julia, deren linke Brust von den vielen Touristenhänden bereits ganz klein und glänzend geworden ist. Nach London konnte meine Mutter nicht fahren, weil England nicht zu den Schengenstaaten gehört und sie erst in Calais feststellte, dass sie für England ein Extra-Visum brauchte. Dafür fotografierte sie dann über Nacht jedes zweite Haus in Calais. Am nächsten Tag war der Bus bereits auf der Heimfahrt und nahm meine Mutter wieder mit - zurück nach Berlin. Die Tatsache, dass sie Big Ben und der Tower-Bridge nicht einmal nahe gekommen war, machte ihr nicht viel aus. Sie ist inzwischen eine gewiefte Busreisende, für die das Ziel nicht so wichtig ist wie der Weg. Süße feme Heimat Süße ferne Heimat Meine Frau Olga wurde auf der Insel Sachalin geboren, in der Stadt Ocha. 1000 Kilometer von Tokio entfernt, 10 000 Kilometer von Moskau, 12 000 von Berlin. In ihrer Geburtsstadt gab es drei Grundschulen mit den Nummern 5, 4 und 2. Die Nummer 3 fehlte, in Ocha kursierte jedoch das Gerücht, dass diese Schule vor 30 Jahren von einem Schneesturm ins Meer gefegt worden war, weil sie ein Stockwerk zu viel hatte. In unmittelbarer Nähe der drei Schulen befanden sich die Straf- und Besserungsanstalten der Stadt: neben Schule 5 das Gerichtsgebäude, neben Schule 4 die Irrenanstalt und neben Schule 3 das Gefängnis. Diese Nachbarschaft hatte eine große erzieherische Wirkung und erleichterte den Pädagogen in Ocha die Zähmung der Jugend. Eine Handbewegung, ein Blick aus dem Fenster wies die Jugend darauf hin, was sie erwartete, falls sie die Hausaufgaben nicht rechtzeitig erledigten. Zur Freude der Kinder gab es jedes Mal schulfrei, wenn ein Schneesturm auf der Insel wütete oder die 36 Temperatur unter 35 Grad minus fiel. Dann saßen alle |U Hause und warteten auf die Herbstferien. Es existierten nämlich nur zwei Jahreszeiten auf Sachalin, der lange Winter und dann, ab Ende Juli, wenn sich der letzte Schnee auflöste, der Herbst. Mit ihm kamen viele Schiffe, die leckere Sachen wie getrocknete Was-Hcrmelonenkrusten für die Kindergärten brachten, damit die Kinder etwas zum Beißen hatten. Aus China kamen getrocknete Ananas, getrocknete Bananen, gefrorene Pflaumen und die chinesischen Sandstürme. Aus Japan kamen die japanischen »Big John«-Jeans, die aber immer zu Mein waren. Trotzdem standen die Bewohner von Sachalin Schlange, um sie zu ergattern. Alle schimpften auf die Japaner und wunderten sich, wie sie mit solch kurzen Beinen und derart fetten Hintern überleben konnten. Doch jede Familie hatte eine Nähmaschine zu Hause und nähte sich dann ihre »Big Johns« zurecht. Das Unterhaltungsprogramm auf der Insel war relativ eintönig. Im Winter saß meine Frau mit anderen Kindern im einzigen Kino der Insel, das »Erdölarbeiter« hieß, und sah sich alte russische und deutsche Filme an: »Drei Männer im Schnee«, »Verloren im Eis« und »Drei Freunde auf hoher See« zum Beispiel. Die Kinder waren die ersten Einheimischen auf der Insel, außer den Nivchen, den Ureinwohnern, die in einem Reservat auf der Südseite der Insel langsam ausstarben. Die Eltern der Kinder waren alle Geologen oder 37 Süße ferne Heimat Ölbohrer und kamen a^s sämtlichen fünfzehn Republiken der Sowjetunion. Im Herbst gingen die Kinder gerne baden. Zwei Seeh gab es in der Stadt. Der Pioniersee und der Komsomolzensee. Der Pioniersee war klein, flach und schmutzig. Der Komsomolzensee dagegen schön tief und sauber. Sogar ein wenig zu tief, deswegen wurden dort ständig Kinder vermisst. Jedes Jahr ertrank eines im Komsomolzensee. Es gab noch einen weiteren Badeort, den so genannten Bärensee, etwa zwei Kilometer hinter der Stadtgrenze in der Nähe vom Kap des Vercierbens. Aber keiner traute sich dorthin, wegen der mvitierten Waschbären, die unter dem Einfluss der chinesischen Sandstürme zu gefährlichen Wasserbewohnern geworden waren, zu einer Art Sachalin-Krokodil. Außer diesen Waschbären gab es noch andere Tiere dort; Braunbären, Füchse und jede Menge Hasen, die auf' dem großen Feld hinter dem Krankenhaus lebten. Wölfe gab es keine mehr. Der letzte Sachaliner Wolf wurde 1905 am Kap des Verderbens erschossen. Man ehrte ihn mit einem Beton-Denkmal, das jedoch irgendwann während eines Schneesturms umkipptte und ins Wasser stürzte. Das Kap des Verderbens hiieß nicht wegen des Wolfs so, sondern weil dort immier wieder die Flucht von Kar-torgo-Häftlingen zu Elnde war, die versucht hatten, aufs Festland zu entkq>mmen. Entweder gerieten sie unter Eis oder wurden von Soldaten erschossen. Alle auf Sachalin lehrenden Erwachsenen bekamen Süße ferne Heimat eine Nordzulage, wodurch sich ihr Gehalt verdoppelte. Außerdem durften sie früher in Rente gehen. Die auf Sachalin lebenden Kinder bekamen nicht einmal ein einfaches Gehalt. Olga sah mit zwölf Jahren auf dem Flugplatz von Chabarowsk zum ersten Mal in ihrem Leben einen Spatzen. »Mama, Mama, schau mal, die riesigen Fliegen«, rief sie. »Das sind Spatzen, Spat-zen, keine Flie-gen, du dummes Kartorgokind«, regte sich ein Mann auf, der seinem Äußeren nach gerade eine Freiheitsstrafe abgebüßt hatte und auf die nächste Maschine Richtung Süden wartete. Er lachte, rauchte gierig und fluchte. »Verdammte Spatzen, verfluchtes Land, verfluchte Kinder, verfluchte Taiga!« Mit 16 hatte Olga die Schule beendet und flog nach Leningrad, um dort einen vernünftigen Beruf zu erlernen. Einige Jahre später übersiedelte sie nach Deutschland, was zwar schrecklich weit von ihrer Heimat entfernt ist, aber Berlin gefällt ihr trotzdem ganz gut... 38 Langweilige Russen in Berlin keit des Künstlers«. Nun hat er sogar schon ihren Briefkasten mit Blumen bemalt und an der Hauswand gegenüber in riesigen Buchstaben zweideutige Bemerkungen hinterlassen. Und dann gibt es da noch den berühmten Hundezüchter Goldmann aus Alma Ata, der sie eines Nachts i*1 ihrem Hausflur fast zuTode erschreckt hatte, weil er Helena mit einer neuen gerade von ihm gezüchteten Hunderasse überraschen wollte. So wie zuvor auch schon der Briefmarkensammler Minin, der in der Welt de* Philatelie eine wahre Berühmtheit darstellt und ihr unbedingt seine wertvolle Lieblingsmarke mit einem Totenschädel schenken wollte. »Warum machen ausgerechnet die interessanten Menschen so viele Umstände?«, wundert sich Helena. Seit sich der scheußliche Hund unbekannter Rasse im dunklen Flur auf sie gestürzt hatte, kann sie nicht mehr ruhig schlafen. Auch der Castaneda aus Hohenschönhausen macht ihr Sorgen. Sie hat schon sechs Faxe von ihm bekom-m^n, in denen er ankündigt, nun endgültig den Weg des Kriegers zu gehen. Helena fühlt sich von »Interes-sariten Russen« geradezu umzingelt. Die Journalistin überlegt sich sogar, ihre Kolumne in der Zeitung aufzugeben oder sie in »langweilige Russen in Berlin« utrizubenennen. Ich versuche, sie davon abzuhalten. Denn das wäre für die »Interessanten Menschen« eine Katastrophe. Schließlich sind sie mehr als alle anderen auff die Unterstützung der Medien angewiesen. Deutschunterricht Was hat uns die moderne Naturwissenschaft anzubieten? »Finden Sie die Kapazität des Schwingungskreisels...« Da kann ich nur sagen: Sucht sie doch selber und macht damit was ihr wollt! Neulich fand ich im Wartesaal eines Arztes in der Brigitte einen dreiseitigen Beitrag über die Quantenmechanik. Die Autorin behauptete darin, dass es laut der Quantenmechanik keine Zeit gibt. Das ist keine erfreuliche Botschaft, besonders wenn man über zwei Stunden beim Arzt im Warteraum sitzt und immer kränker wird. Mit der kalten Welt der Physik will ich nichts zu tun haben. Lieber lerne ich zu Hause weiter Deutsch - im Bett. Seit Jahren lese ich täglich in meinem russischen Lehrbuch Deutsches Deutsch zum Selberlernen aus dem Jahr 1991. Ein Trost für Geist und Körper. Das Vorwort könnte allerdings manch einem Angst einjagen, denn dort wird beschrieben, wie schrecklich kompliziert diese Sprache ist: »Im Deutschen ist >das junge Mädchen< geschlechtslos, die Kartoffel dagegen nicht. Der Busen ist männlich und alle Substantive fangen 183 Deutschunterricht Deutschunterricht mit einem großen Buchstaben an«, klagen die Russen. Na und? Mir macht das nichts aus. Ich lese Deutsches Deutsch zum Selberlernen seit etwa acht Jahren und werde wohl noch weitere dreißig Jahre damit verbringen. Im Deutschen Deutsch tut sich eine andere, eine beruhigend heile Welt auf. Den im Lehrbuch vorkommenden Leuten geht es saugut, sie führen ein harmonisches, glückliches Leben, das in keinem anderen Lehrbuch möglich wäre: »Genosse Petrov ist ein Kollektivbauer. Er ist ein Komsomolze. Er hat drei Brüder und eine Schwester. Alles Komsomolzen. Genosse Petrov lernt Deutsch. Er ist fleißig. Die Wohnung des Genossen Petrov liegt im Erdgeschoss. Die Wohnung ist groß und hell. Genosse Petrov lernt Deutsch. Diese Arbeit ist schwer, aber interessant. Er steht pünktlich um sieben Uhr morgens auf. Er isst immer in der Kantine zu Mittag. Das Wetter ist immer gut. Am Sonntag geht er mit den Kameraden ins Kino. Der Film ist immer gut. Kommst du? Ich komme ganz bestimmt. Du bist krank. Wir trinken lieber Tee. Es ist angenehm, im Wald spazieren zu gehen. Wir sind für den Frieden. Wir sind gegen den Krieg. Nehmen Sie diese Bücher für Ihre Kinder!« Wenn ich zu lange in dem Lehrbuch lese, kommt mir Genosse Petrov manchmal fast unglaubwürdig vor. Dann lege ich das Buch zur Seite und lese zur Abwechslung Deutsch 2 für Ausländer, ein deutsches Lehrbuch vom Herder-Institut, Leipzig 1990: »Der Berg Fichtelberg ist der höchste Berg der DDR. Seine Höhe beträgt 1214 Meter. Trotz Emigration, Krankheit, Not und Gefahr war Karl Marx ein glücklicher Mensch, weil er...« Langsam versinke ich in Schlaf. Ich träume, wie Karl Marx, Genosse Petrov und ich zu früher Stunde auf dem Berg Fichtelberg stehen. Das Wetter ist gut, die Sicht ist klar. Die Sonne geht auf und gleich wieder unter, die speckigen Flamingos ziehen langsam nach Süden. Wir unterhalten uns auf Deutsch. »Ich habe eine sehr schöne Wohnung», sagt Karl Marx. »Sie ist groß und hell. Ich bin glücklich.« »Ich auch«, sagt Genosse Petrov. »Und ich auch«, flüstere ich vor mich hin. 184 Der Sprachtest Der Sprachtest Eine große Einbürgerungswelle steht vor der Tür. Bald werden viele Ausländer dem »Deutschland«-Verein angehören, wenn man den Zeitungen glauben darf. Auch viele meiner Landsleute spielen mit dem Gedanken, ihren Fremdenpass umzutauschen und richtige deutsche Bürger zu werden. Die Eintrittsregeln sind bekannt: Man füllt einige Formulare aus, bringt einige Bescheinigungen mit - aber Achtung! Wie bei jedem großen Verein gibt es auch hier versteckte Fallen und Unklarheiten. Viele Russen, die schon länger hier leben, können sich noch gut daran erinnern, wie es damals mit dem Eintritt in die Partei war. Der war scheinbar auch ganz einfach: Jeder, der zwei Jahre kandidiert und gut gearbeitet hatte, durfte Mitglied werden. Doch nur die wenigsten sind es geworden. Mein Vater zum Beispiel hatte in der Sowjetunion dreimal versucht, in die Partei einzutreten, immer vergeblich. Jetzt will er in Deutschland eingebürgert werden. Seit acht Jahren lebt er hier, und diesmal will er sich seine Chancen nicht durch Unwissenheit vermasseln. Die schlauen Russen haben auch bereits herausgefunden, was bei der Einbürgerung die entscheidende Rolle spielt: der neue geheimnisvolle Sprachtest für Ausländer, der gerade in Berlin eingeführt wurde. Mit seiner Hilfe will die Staatsmacht beurteilen, wer Deutscher sein darf und wer nicht. Das Dokument wird zwar noch geheim gehalten, doch einige Auszüge davon landeten trotzdem auf den Seiten der größten russischsprachigen Zeitung Berlins. Diese Auszüge schrieb mein Vater sogleich mit der Hand ab, um sie gründlich zu studieren. Denn jedem Kind ist wohl klar, dass es bei dem Sprachtest weniger um die Sprachkenntnisse als solche geht, als um die Lebenseinstellung des zukünftigen deutschen Bürgers. In dem Test werden verschiedene Situationen geschildert und dazu Fragen gestellt. Zu jeder Frage gibt es drei mögliche Antworten. Daraus wird dann das psychologische Profil des Kandidaten erstellt. Variante I: Ihr Nachbar lässt immer wieder spätabends laut Musik laufen. Sie können nicht schlafen. Besprechen Sie mit Ihrem Partner das Problem und überlegen Sie, was man tun kann. Warum stört Sie die Musik? Gibt es noch andere Probleme mit dem Nachbarn? Welche Vorschläge haben Sie, um das Problem zu lösen? Dazu verschiedene Antworten, a, b und c. Unter c steht »Erschlagen Sie den Nachbarn«. Darüber lacht mein Vater nur. So leicht lässt er sich nicht aufs Kreuz legen. 186 187 Der Sprachtest Variante II: DerWinterschlussverkauf (Sommerschlussverkauf) hat gerade begonnen. Sie planen zusammen mit Ihrem Partner einen Einkaufsbummel. Wann und wo treffen Sie sich? Was wollen Sie kaufen? Warum wollen Sie das kaufen? Mein Vater ist nicht blöd. Er weiß inzwischen genau, was der Deutsche kaufen will und warum. Doch die dritte Variante macht ihm große Sorgen, da er den Subtext noch nicht so richtig erkennen kann. Variante III: »Mit vollem Magen gehst du mir nicht ins Wasser, das ist zu gefährlich«, hören Kinder häufig von ihren Eltern. Wer sich gerade den Bauch voll geschlagen hat, sollte seinem Körper keine Hochleistungen abfordern. Angst vor dem Ertrinken, weil ihn die Kräfte verlassen, braucht allerdings keiner zu haben. Schwimmen Sie gern? Haben Sie danach Gesundheitsprobleme? Was essen Sie zum Frühstück? Diesen Text reichte mir mein Vater und fragte, was die Deutschen meiner Meinung nach damit gemeint haben könnten?. O-o, dachte ich, das ist ja ein richtig kompliziertes Ding. Den ganzen Abend versuchte ich, Variante III zu interpretieren. Danach wandte ich mich an meinen Freund Helmut, der bei uns in der Familie als Experte in Sachen Deutschland gilt. Doch selbst er konnte den Text nicht so richtig deuten. Ich habe bereits so eine Vorahnung, dass mein Vater bei dem Sprachtest durchfallen wird. Warum ich immer noch keinen Antrag auf Einbürgerung gestellt habe Jede Nacht entstehen bei uns an der Schönhauser Allee, Ecke Bornholmer Straße, neue, immer größere Gruben. Sie werden von Vietnamesen ausgehoben, die diese Ecke als Geschäftsstelle für den Zigarettenverkauf gewählt haben. So vermute ich zumindest, seit ich sie dort wiederholt im Morgengrauen mit Schaufeln in der Hand gesehen habe: zwei Männer und eine sehr nette Frau, die seit Jahren eine geschäftsführende Rolle an dieser Ecke spielt. »Warum graben die Vietnamesen? Beschaffen sie sich neue Lagerräume für ihre Ware?«, überlegte ich auf dem Weg zum Bezirksamt und Herrn Kugler. Es ging wieder einmal darum, die deutsche Einbürgerung zu beantragen, schon zum dritten Mal. Ärgerlich. Das erste Mal lief alles wie am Schnürchen, ich hatte alle Fotokopien dabei, meine wirtschaftlichen Verhältnisse waren geklärt, alle meine Aufenthaltszeiten und -orte seit der Geburt aufgezählt, die DM 500,- Gebühren akzeptiert und sämtliche Kinder, Frauen und Eltern aufgelistet. Zwei Stunden lang unterhielt ich mich mit Herrn Kugler 189 Warum ich immer noch keinen Antrag... über den Sinn des Lebens in der BRD, doch dann scheiterte ich an der einfachen Aufgabe, einen handgeschriebenen Lebenslauf anzufertigen. Er sollte unkonventionell, knapp und ehrlich sein. Ich nahm einen Stapel Papier, einen Kugelschreiber und ging auf den Flur. Nach ungefähr einer Stunde hatte ich fünf Seiten voll geschrieben, war aber immer noch im Kindergarten. »Es ist doch nicht so einfach, mit dem handgeschriebenen Lebenslauf«, sagte ich mir und fing von vorne an. Am Ende hatte ich drei Entwürfe, die alle interessant zu lesen waren, aber im besten Falle bis zu meiner ersten Ehe reichten. Unzufrieden mit mir selbst ging ich nach Hause. Dort versuchte ich, mir den Unterschied zwischen einem Roman und einem handgeschriebenen, unkonventionellen Lebenslauf klar zu machen. Beim nächsten Mal scheiterte ich an einem anderen Problem. Ich sollte in einem mittelgroßen Quadrat Gründe für meine »Einreise nach Deutschland« angeben. Ich strengte mein Hirn an. Mir fiel aber kein einziger Grund ein. Ich bin 1990 absolut grundlos nach Deutschland eingereist. Abends fragte ich meine Frau, die für alles einen Grund weiß: »Warum sind wir damals überhaupt nach Deutschland gefahren?« Sie meinte, wir wären damals aus Spaß nach Deutschland gefahren, um zu sehen, wie es war. Aber mit solchen Formulierungen kamen wir doch nicht weiter. Der Beamte würde denken, dass wir die Einbürgerung auch 190 Warum ich immer noch keinen Antrag... nur aus Spaß beantragten und nicht aus... »Wozu beantragen wir eigentlich die Einbürgerung?«, wollte ich meine Frau noch fragen, aber sie war schon zur Fahrschule gegangen, um ein paar alten Damen, die sich auf der Straße aufhielten, Angst einzujagen und reihenweise Fahrschullehrer verrückt zu machen. Meine Frau hat eine sehr unkonventionelle Fahrweise. Aber das ist eine andere Geschichte. Ich gab dann vorsichtig »Neugierde« als Grund für unsere Einreise nach Deutschland an, das schien mir vernünftiger zu klingen als »Spaß«. Dann schrieb ich meinen Lebenslauf mit der Hand vom Computerbildschirm ab. Alles zusammen tat ich in eine Mappe und ging am nächstenTag wieder zu Herrn Kugler. Es war noch sehr früh und dunkel, aber ich wollte unbedingt der Erste sein, weil der Beamte im Standesamt mehr als einen Ausländer pro Tag nicht schafft. Da sah ich die Vietnamesen: Sie gruben schon wieder! Ich trat näher. Zwei Männer standen mit frustrierten Gesichtern mitten in einem großen Loch, die Frau stand daneben und beschimpfte die beiden auf Vietnamesisch. Die Männer verteidigten sich träge. Ich sah in die Grube. Es war nur Wasser drin. Auf einmal wurde mir klar, was hier vorging: Die Vietnamesen hatten vergessen, wo sie ihre Zigaretten vergraben hatten und suchen sie jetzt überall - vergeblich. Plötzlich kam Wind auf, meine Papiere fielen aus der Mappe und landeten in der Grube: der sorgfältig 191 Warum ich immer noch keinen Antrag. handgeschriebene Lebenslauf, all die Gründe für meine Einreise nach Deutschland, der große Fragebogen mit meinen wirtschaftlichen Verhältnissen - alles flog in die nasse Grube. Ich werde wohl nie die Einbürgerung bekommen. Aber wozu auch?