Sie marschierte zum Ausgang. Ihre Stiefel krachten auf dem Boden wie Revolverschüsse. Mit der Puppe im Arm sah ich ihr nach, bis sie verschwand. Und plötzlich wurden mir zwei Dinge klar. Bernstein hatte eine Geliebte, die zweimal jünger war als er. Und zweitens: Diese Geliebte sah jemandem verblüffend ähnlich, den ich kannte. Es fiel mir bloß nicht ein, wem. Dabei lag es mir auf der Zunge. Ein paar Minuten später marschierte Bernstein durch die Tür. Als ich sagte, daß gerade eine gewisse Irina nach ihm gefragt habe, wurde er aschfahl und hob die Hand, als wollte er etwas abwehren: »Sie haben mir nichts gesagt, und ich habe nichts gehört. Verstanden?« Er ging in sein Büro und schloß die Tür hinter sich. Eine Minute später hörte ich, wie er mit jemandem durch das Telephon stritt. 146 16 Von da an ging es mit mir nach oben wie mit diesen Raketen, die die Amerikaner ins Weltall schießen. Nachdem ich meine Schuld bei Bolek beglichen und noch einen Hunderter draufgelegt hatte, kam er zu dem Schluß, daß jemand, der so ehrlich ist, auch ein Dach über dem Kopf verdient. Und da gerade bei ihm ein Bett frei geworden war, zögerte ich nicht, sein Angebot anzunehmen. Das Übernachten im Belve-dere wurde auch langsam anstrengend, weil die Touristen immer unverschämter wurden. Inzwischen mußte ich schon ganze Ausflüge abfotografieren, was dazu führte, daß ich langsam dem Wärter auffiel. Boleks Wohnung lag im zweiten Bezirk neben dem Prater. Sie war im obersten Stock eines alten Mietshauses und bedeutete einen beträchtlichen Zivilisationssprung für mich. Wenn ich mich aus dem Fenster lehnte, sah ich das Riesenrad, wo man mich eine ganze Umdrehung lang für einen Russen gehalten und mir gezählte siebzehn Schokoriegel zugesteckt hatte. Im Wohnzimmer standen ein Schwarzweißfernseher und vier Stockbetten. An der Decke hing ein Kronleuchter, der so viel Strom fraß wie eine Meereslaterne. Wenn man ihn einschaltete, konnte man auf dem Boden die Mikroben Spazierengehen sehen. Das 147 Besondere an der Wohnung war das Klo. Es war nämlich keins da. Bolek meinte, daß es sich schon allein deshalb gelohnt hatte, nach Wien zu fahren. Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, daß die kleine Toilette auf dem Gang, zu der noch zwei andere Personen einen Schlüssel hatten, unser Klo war. Glücklicherweise waren diese zwei Personen ganz harmlos. Es waren ein arabischer Zeitungsverkäufer, der bei dem Wort »Kronenzeitung« Magenkrämpfe bekam, und eine Pensionistin namens Gertrude Rafla. Sobald sie die Spülung hörte, trabte sie in die Toilette und zählte die Klopapierblätter nach, um sicherzugehen, daß niemand ein paar Zentimeter zuviel von ihrem Toilettenpapier geklaut hatte. Ohne es zu wissen, verdankte ich meine Bleibe auch Boleks anderem Untermieter. Sobald er von dieser Schwimmbadgeschichte gehört hatte, war er sofort dafür, daß ich dort einziehen sollte. Er hieß Lothar und kam aus Stuttgart. Lothar war nicht nur der erste Deutsche, den ich im Leben kennengelernt hatte, sondern auch der erste, der Polnisch sprach. Lothar hatte einen komischen Akzent, aber er sprach fast perfekt, auch wenn er behauptete, daß dabei polnische Studentinnen nachgeholfen hatten. Und zwar in Augenblicken, wo er sogar die Differentialrechnung begreifen würde. Lothar strotzte nur so vor außergewöhnlichen Eigenschaften, die nach und nach ans Tageslicht kamen. Obwohl er aus einer sehr reichen Familie kam, war er ein Muster an Bescheidenheit. Der größte Beweis dafür war wohl die Tatsache, daß er unsere Garconniere einer luxuriöseren Bleibe vorzog. Er hätte 148 sich für das Geld, das ihm seine Eltern schickten, ohne weiteres ein Studentenzimmer oder sogar eine Wohnung im ersten Bezirk leisten können. Aber er behauptete, daß er Studenten nicht ausstehen könne und daß er im Leben noch lange genug Gelegenheit haben würde, im ersten Bezirk zu wohnen. Spätestens dann, wenn seine Chirurgenhände anfangen würden, ihn zu ernähren. Einen Tag nachdem ich eingezogen war, machten sie eine Art Willkommensfeier für mich. Auf dem Tisch standen Wodka, den nur Bolek trank, und ein Haufen Sandwiches mit Lachs und Kaviar, für die Lothar gesorgt hatte. Wir saßen zu dritt in der Küche und erzählten uns gegenseitig alle möglichen Ereignisse aus unserem Leben. Dabei erfuhr ich, warum Lothar ausgerechnet in Wien studierte. Daran war sein Vater schuld, ein angesehener Chirurg aus Stuttgart. Er hatte Lothar nicht nur gezwungen, Medizin zu studieren, sondern auch, nach Wien zu gehen. Er hielt Wien für die romantischste Stadt der Welt. Als junger Student war er nämlich eines Tages in einen Wiener Antiquitätenladen gegangen, um sich eine Kuckucksuhr zu kaufen. Während er nach einem richtigen Exemplar suchte, kam eine junge Frau in den Laden mit genau der Uhr, die er haben wollte. Sie ließen den Verkäufer stehen und gingen in ein Kaffeehaus, um sich über den Preis zu einigen. Und während sie über den Preis feilschten, merkten sie, daß sie sich ineinander verliebt hatten. Das Resultat dieser Kuckucksuhrtransaktion war Lothar. Lothar glaubte, daß seine Alten diese Geschichte absichtlich erfunden hatten, um ihn nach Wien zu 149 verfrachten. Er konnte sich schwer vorstellen, wie seine Mutter, eine Frau, die in einem Versace-Kleid Plätzchen backte und die schon seit Jahren keinen Geldschein gesehen hatte und alles mit Kreditkarte bezahlte, vor über zwanzig Jahren mit einer Kuk-kucksuhr unter dem Arm Antiquitätenläden abklapperte, um dort ausgerechnet auf seinen Vater zu stoßen. Im Gegenzug erzählte auch ich etwas über meine Eltern. Und zwar die Geschichte von dem Tag, wo sich das Gespenst des Ehebetrugs über unser trautes Heim senkte und meine Mutter sich für zehn Stunden in ihrem Zimmer einschloß. In dieser Zeit strickte sie einen rekordverdächtig langen Schal fertig und brachte sich noch nebenbei das Rauchen bei. Dann breitete sie diesen knallroten Schal auf dem Boden aus, so daß mein Vater, wo immer er sich in der Wohnung aufhielt, von diesem Schal verfolgt wurde. Erst als er meiner Mutter sechzehn Rosen kaufte, die Zahl ihrer Ehejahre, rollte sie den Schal ein und machte noch am selben Tag sechzehn kleine Schals daraus, die mein Vater und weiß Gott warum auch ich im Winter tragen müssen und die wohl bis an unser Lebensende reichen werden. Gegen Mitternacht, als wir schon langsam ans Schlafengehen dachten, kam es zu einem kleinen Zwischenfall, der eine weitere ungewöhnliche Charaktereigenschaft Lothars aufdeckte. Bolek stand auf und ging zum Spiegel. Er betrachtete sich eine Weile darin und begann sein Gesicht wie eine überreife Zuckermelone zu kneten: »So ein Mist. Ich bin ganz grün«, sagte er. Wir sahen ihn an. Er hatte recht. Er war grün wie ein Salatkopf. »Das war wieder dieser Scheißlachs von Julius Meinl. Warum besorgst du ihn nicht mal woanders?« beschwerte er sich bei Lothar. »Mein Lachs ist frisch wie immer. Der verträgt sich bloß nicht mit Wodka.« »Wenn du mir noch mal diesen Fisch ins Haus bringst, fliegt er aus dem Fenster«, drohte Bolek an und befühlte seine Nase. Wenn man den beiden so zuhörte, erinnerte das stark an ein altes Ehepaar. Ich sah Lothar an und sagte: »Ich frag mich, ob du nicht übertreibst, Bolek. Ich habe einen Monat lang Thunfisch gegessen und bin kein einziges Mal grün geworden. Lothar kann ja nächstes Mal Fischstäbchen besorgen. Er ist zwar reich, aber sogar für ihn liegt das Geld nicht auf der Straße.« Bolek sah zu mir herüber, als wäre mir plötzlich ein Hirschgeweih aus dem Kopf gewachsen. Er wandte sich mit einem süßlichen Lächeln an Lothar: »Ach ja? Na, dann erklär doch mal deinem Beschützer, für welches Geld du diesen Lachs gekauft hast.« Lothar hüstelte: »Ich gebe Nachhilfestunden in Philosophie. Die werfen einiges ab.« »Nachhilfestunden in Philosophie!« rief Bolek. »Da lachen ja die Totengräber! Er klaut einfach alles. Der würde sogar dem Stephansdom die Turmspitze klauen, wenn sie nicht so schwer wäre. Deshalb wohnt er ja auch hier. Aus jedem Studentenheim wäre er schon längst rausgeflogen.« »Durchaus nicht«, verbesserte Lothar würdevoll. 150 »Was ich mache, kann man kaum als Klauen bezeichnen. Aber ich versuche das diesem Esel schon seit Monaten vergeblich begreiflich zu machen. Denn im Gegensatz zu ihm stecke ich noch voller Ideale.« »Und sein Schrank voller Stereoanlagen.« Ich fiel fast vom Stuhl, als ich das alles hörte. Lothar sah so unschuldig aus wie ein Ministrant in Zivil. Außerdem war er Deutscher. Deutsche klauen nicht. »Ist das wahr?« fragte ich. Lothar schüttelte den Kopf: »Bolek verkennt vollkommen die Lage.« Er nahm ein Lachssandwich vom Teller und hielt es in die Höhe: »Waldemar, du siehst wie j emand aus, der mich verstehen wird. Ich werde das j etzt mal an einem guten Beispiel veranschaulichen.« Ich blickte auf das Lachssandwich wie auf eine Hostie. Bolek kehrte auch an den Tisch zurück. »Stell dir vor, Waldemar, du bist dieser Lachs. Den ganzen Tag schwimmst du herum in deinem Fluß und scherst dich um nichts. Rumschwimmen - das tust du eben gern. Was anderes willst du gar nicht. Ist ja deine Natur. Doch irgendwann kommen die Fischer und werfen ihre Netze aus. Sie haben persönlich nichts gegen dich, aber sie müssen ja auch von was leben. Kabel-TV, Stromrechnung, all das hängt an deinem kleinen rosaroten Körper. Deshalb reißen sich die Fischer so lange den Hintern auf, bis du im Netz zappelst. Dann liefern sie dich an die Fabrik und bekommen ganze fünfzig Schilling für dich. Die Fabrik macht aus dir einen Schottischen Wildwasserlachs und steckt dich in Klarsichtfolie. Du siehst überhaupt nicht wie 152 ein Lachs aus, kostest aber schon das Doppelte. Freie Marktwirtschaft. Zum Schluß kommst du zu Julius Meinl, und der verdoppelt noch mal den Preis, nur weil er dich neben Frutti di mare ins Kühlregal gelegt hat. Also ich weiß nicht, wie ihr das nennt, aber ich nenne das eine Frechheit. Deshalb tauche ich ab und zu bei Julius Meinl auf und befreie den Lachs mit meinen Chirurgenhänden aus dem Tiefkühlregal. Könnt ihr mir folgen, oder soll ich mir auch noch den Kaviar vornehmen? Seine Geschichte ist wirklich nicht lustig. Schließlich ist es ungeborenes Leben.« »Und du bist ganz sicher kein Kommunist, Lothar?« »Würde ich dann Lachs essen?« Lothar steckte sich das Sandwich in den Mund und mampfte es demonstrativ auf. »Mir wird gleich übel«, stöhnte Bolek. »Ich muß mich hinlegen.« Er rappelte sich auf. Lothar und ich wollten ihm unter die Arme greifen, denn er sah wirklich nicht gut aus. Er war jetzt neongrün. Aber er wehrte ab und wankte quer durch die ganze Küche zum Wohnzimmer. »Waldi, geh schlafen«, sagte er, als er in der Tür stand. »Und hör nicht auf ihn. Du mußt früh aufstehen, um dich morgen von Bernstein beklauen zu lassen.« Er ließ die Tür hinter sich ins Schloß fallen. Ich sah auf die Uhr. Es war schon halb eins. Es war höchste Zeit, ins Bett zu gehen, aber ich mußte noch etwas in Erfahrung bringen, sonst würde ich nicht einschlafen können. 153 »Eins verstehe ich noch immer nicht. Warum klaust du, wenn du dir alles leisten kannst? Das ergibt doch keinen Sinn«, fragte ich. »Alles ergibt einen Sinn. Man muß nur danach suchen. Ich kann es dir verraten, wenn du es nicht weitererzählst. Das ist ein Geheimnis.« Lothar zeigte auf die Wodkaflasche. »Aber vorher trinken wir noch einen. Schließlich sind wir nicht mal richtig per du, oder?« Lothar goß ein Gläschen ein und schob es mir zu. Dann goß er sich selber eins ein. »Ich kann Wodka nicht ausstehen«, warnte ich ihn. »Also, je besser ich dich kennenlerne, desto mehr glaube ich, daß aus dir ein erstklassiger Deutscher werden könnte.« »Und aus dir ein ganz guter Landsmann.« Er hob sein Gläschen: »Sag Lothar zu mir.« Ich hob meins und ahmte ihn nach: »Nenn mich Waldi.« Wir tranken. Es war kaum zu fassen. Mein erstes Gläschen Wodka im Leben trank ich mit einem Deutschen. Das würde mir nicht einmal Herr Kuka glauben. Ich stellte das Gläschen hin und wischte mir den Mund ab. »Na gut. Warum klaust du wirklich?« Lothar goß sich noch ein Gläschen ein und kippte es in einem Zug runter. Ich dachte, er will sich vor einer Antwort drücken, aber er stand auf und ging zum Fenster. Er winkte mich heran. »Komm her. Ich will dir was zeigen.« Ich ging hinüber und stellte mich vor das Fensterbrett. Draußen war eine sternenklare Nacht. Eine warme Brise wehte vom Prater herüber. In den mei- sten Wohnungen war das Licht schon ausgegangen. Lothar zeigte mit der Geste eines Reiseführers auf das Panorama vor uns. »Was siehst du, wenn du hier hinausschaust?« »Ich sehe Wien.« »Was noch?« »Wenn ich mich ein Stück hinauslehne, das Riesenrad.« »Niemand lehnt sich freiwillig hinaus, um das Ding zu sehen. Ich meine, was siehst du allgemein?« »Den Westen. Eine Welt, auf die ich schon neugierig war, als ich noch zur Schule ging.« Er tätschelte mir die Schulter. »Und das ist das, was mir so an euch Ostlern gefällt. Ihr würdet sogar auf einer Müllhalde Juwelen finden. Ich sehe nämlich nichts >Außergewöhnliches<, verstehst du? Für mich ist das alles nur ein See voller Fischer, die armen Lachsen nachjagen, um sie dann an die große Fabrik zu liefern.« Er legte sich die Hand ans Ohr: »Und hörst du wenigstens dieses Geräusch?« Ich horchte hinaus. Aber ich hörte nur die Straße. »Das ist der See, auf dem wir Westler herumschwimmen. Ich kann es auf den Tod nicht ausstehen. Es lullt uns alle gründlich ein. Aber man muß schon viel Glück haben, damit einem das klar wird. Weißt du, wie ich draufgekommen bin? Ich ging eines Tages in der Innenstadt in eine Boutique, um mir eine Mütze zu kaufen. Sie war sündhaft teuer, aber meine Eltern gaben mir genug Geld. Während ich die Mütze anprobierte, ging die Verkäuferin einen Moment lang nach hinten. Ich weiß nicht, warum, aber plötzlich 154 155 steckte ich die Mütze ein und verließ den Laden. Ich dachte, die Verkäuferin würde mir nachrennen oder die Polizei rufen, aber nichts passierte. Das verblüffte mich aber nicht so wie meine Hände. Sie zitterten nicht. Ich war überhaupt nicht nervös, verstehst du? Zuerst dachte ich, es wäre so wie beim ersten Flug mit dem Flugzeug, wo man auch keine Angst hat. Aber ein paar Tage später klaute ich wieder was, und das Ganze wiederholte sich. Kein Händezittern, nichts. Und da wußte ich, daß mit mir was nicht stimmt. Jeder, der klaut, sogar der beste Dieb, empfindet Angst. Da sagte ich zu mir: Jetzt klaust du so lange, bis du wieder normal bist. Bis dir eines Tages an der Kasse das Herz vor Angst in die Hose fällt.« Lothar sah hinaus: »Ich glaube, ich bin so ähnlich wie Schneewittchen. Bloß muß ich mir selber auf den Glassarg klopfen, um aufzuwachen. Die Stereoanlagen, Walkmen, Chanel No. 5: alles verzweifelte Klopfzeichen. Bolek versteht das nicht.« »Und wenn dir eines Tages die Polizei auf den Sargdeckel klopft?« Lothar tätschelte mir die Schulter: »Mal nicht gleich den Teufel an die Wand -« Er verstummte. Über uns hingen Millionen von Sternen. Sie schienen so nah, daß man mit Steinen nach ihnen hätte werfen können. Ich hörte noch immer nichts außer der Straße. »Ich muß morgen früh aufstehen«, sagte ich. »Ich gehe jetzt ins Bett. Gute Nacht.« »Gute Nacht. Ich bleibe noch eine Weile da.« Ich ging durchs Zimmer und öffnete leise die Schlafraumtür. »Waldemar?« rief Lothar leise. »Ja?« »Gut, daß du da bist. Große Dinge warten auf uns.« Ich nickte und verschwand im Schlafraum. Ich suchte im Dunkeln mein Bett, zog mir schnell den Pyjama an und legte mich hin. Im Bett an der Wand wälzte sich Bolek auf den Rücken. Er war durch mein Kommen kurz aufgewacht. »Waldi, schläfst du schon?« flüsterte er. »Ja. Fast.« »Hat er wieder von Schneewittchen erzählt?« »Ich dachte, es wäre ein Geheimnis.« »Nimm das nicht so ernst. Die Deutschen machen sogar aus dem Pinkeln eine Philosophie. Lothar klaut nun mal gern und weiß nicht, wie er es sagen soll. Ansonsten ist er ganz in Ordnung.« Bolek wälzte sich wieder zur Wand und begann zu schnarchen. Ich legte die Hände unter meinen Kopf und sah zur Zimmerdecke. Ich vermißte die Sterne, die ich im Bel-vedere immer vor dem Einschlafen gesehen hatte. Jetzt mußte ich mich aus einem Fenster lehnen, um sie zu sehen. Ich machte einen Vermerk in mein Reisetagebuch, das ich mir auf dem Arbeiterstrich geschworen hatte nicht mehr anzurühren: »Nach zwei Wochen Belvedere bin ich wieder unter einem Dach. Meine zwei Mitbewohner heißen Lothar und Bolek. Bolek arbeitet am Preßlufthammer und ist so stark, daß er mich mit bloßen Händen erwürgen könnte. Lothar ist der erste Deutsche, den ich jemals kennengelernt habe. Wenn alle Deutschen so sind, dann werde ich eines Tages sogar nach Deutsch- ±57 land auswandern. Er hat nicht nur originelle Ansichten, was die Aneignung fremden Eigentums angeht, er hält sich auch für Schneewittchen. Aber als er mir vorhin diese Geschichte mit dem Schlaf aufgetischt hat, hatte ich für einen Moment einen merkwürdigen Gedanken. Was wäre, wenn er recht hat? Was wäre, wenn ich auch schlafe und hierhergekommen bin, um daraus aufzuwachen? Aber ist das nicht ein Widerspruch? Wie kann man an einem Ort, wo alle schlafen, wach werden? Ich fürchte, von diesem Lothar könnte sogar Herr Kuka noch was lernen.« Ich schloß mein Tagebuch und wälzte mich auf die Seite. Dann schlief ich wie ein Murmeltier. 17 Um in der Garconniere wohnen zu bleiben, mußte ich noch eine wichtige Bedingung erfüllen. Ich mußte Frau Simacek gefallen. Sie war unsere Vermieterin, und sie entschied, wer für zweitausend im Monat das Bett haben durfte. Ich hätte eine Weile schwarz wohnen können, denn Frau Simacek wohnte am anderen Ende Wiens in einer Villa und kam nur einmal im Monat vorbei. Aber im Parterre wohnte das Hausbesorgerpaar Plachuta, deren Ahnen schon spionierten, als sich der Rest der Menschheit noch von Ast zu Ast hangelte. Als Frau Simacek zwei Tage, nachdem ich eingezogen war, bei uns anrief, wußte sie bereits, daß ich etwa eins achtzig groß war, merkwürdige Turnschuhe trug und erstaunlich kurz auf dem Klo saß. Das einzige, was sie nicht wußte, war, ob ich mir die Miete leisten konnte. Lothar erklärte ihr, daß ich aus reicher Familie kam, [ so daß Geld das kleinste meiner Probleme wäre. Darüber hinaus beschrieb er mich als einen ruhigen jungen Mann mit einem leichten Hang zur Melancholie und großer Abneigung gegen Wodka. Daraufhin konnte Frau Simacek nicht mehr erwarten, mich kennenzulernen, und kündigte sich für 158 159