I Wenn sich nach langer Bewegungslosigkeit der Wind erhebt, ist die alte Straßenbahn bereits an der Endstation angekommen. Sie schwankt auf dem Hügel um die kahlen Neubauten, die die Stadt beschließen, fährt hinunter und beginnt den Rückweg. Im geometrischen Plan der Straßen und Gebäude bilden die wenig befahrenen, fast unnützen Gleise eine aufweichende Linie. Der Fahrer ist eine Studentin, die in den Ferien verdienen muß, die Nachtschicht verkürzt sie sich mit einem Wettlauf. Auf dem Hügel stellt sie die Bremse ein, springt ab und läuft den Berg hinunter, sie muß schneller als die Straßenbahn sein, um sie unten vor der nächsten Station zu erreichen. Erst dort steigen Leute ein, bergab fährt die Straßenbahn leer, kreischend umkurvt sie die Biegungen, und auf gerader Strecke nimmt sie Geschwindigkeit auf. Dreimal bergab schneiden die Gleise die Hauptstraße, die entlang das Mädchen hinunterläuft. Dann fährt die Straßenbahn hinter den Berg und schlängelt sich auf der anderen Seite hinab, bis sie den Rest zum Tal schief hinunterrast. Hier hat sich die Bremse soweit gelok-kert, daß das Mädchen einen großen Vorsprung braucht. Sie läuft auf glatten rotbraunen Fliesen, mit denen auch die umstehenden Gebäudewände belegt sind, sie erheben sich vom Pflaster ohne einen deutlichen Ansatz. Die Mauern stehen gegen den dunkelnden Himmel, der tief grau ist mit violetten Streifen am Horizont. Die Grenze bildet ein verglaster Rundgang, in dem sich die Dämmerung noch einmal spiegelt. Der ganze Bau hat die Gestalt eines Stellwerkturmes, oben breiter, mit einem fensterlosen Rumpf. Solche Türme gibt es auf jeder Seite drei, 7 verbunden mit Anbauten und umgeben von niedrigen Archivgebäuden. Es ist das neue Zentrum der Stadtverwaltung, abends verlassen. Das glatte Pflaster erinnert an den gekachelten Hof eines Reaktors, und das Mädchen läuft jedesmal mit Beklemmung vorbei. Hier ist Windstille und ein entferntes Sausen, wie unter einer Hochspannungsleitung. Alle hundert Meter eine elektrische Uhr, einundzwanzig Zifferblätter strahlen im Nebel, und wenn sie vorbei hastet, wird das Sausen und das Licht stärker. Es ist schon längere Zeit her, als der Bahnstrecke entlang Wald wuchs und oben auf dem Berg Ausflügler die Stadt besahen. Die Straßenbahn war oft voll, bei Schnee lief man am Hang Ski. Eine Seilbahn führte hier durch, die Endstation war ein kleines Gartenrestaurant, von wo aus man die ganze Stadt sehen konnte. Die Seilbahn wurde zuerst abgerissen, dann das Restaurant. Als man den Wald zu fällen begann, wurde der Berg zur Baustelle erklärt und die Bezeichnung entmutigte die Leute. Einige Jahre veränderte sich das Terrain, und man hat sich an den aufgewühlten, kahlen Hang gewöhnt, kaum einer ist sich sicher, wie der Berg vorher aussah. An die neuen Türme kann sich niemand gewöhnen. Im historischen Rahmen der Stadt wirken sie störend und wenn sie nicht Angst erweckten, wären sie mit ihrer stumpfen Form lächerlich. Oben auffällig ausgedehnt, sind sie wie riesige Satanspilze mit dunkelrotem Bein. Die vorteilhafte Lage des Berges erleichtert der Verwaltung die Kontrolle der Stadt, die Geräte auf den Türmen sind tagsüber in Betrieb und manche arbeiten automatisch auch nachts. Unter den Dächern wird registriert, verglichen, die Archive füllen sich. Wozu es gut sein wird, weiß niemand, die Zeitungen bringen keine Details. Jeder fühlt sich beobachtet, die Beklommenheit in der Stadt nimmt zu. Amtliche Bekanntmachungen sind bisher nur wenige erschienen, aber immer wird auf etwas gewartet, eine Katastrophe hängt in der Luft, und die Mehrheit erwartet sie gespannt. Die alte Straßenbahn wurde vergessen, sie klettert hier noch immer bergauf, um an der ehemaligen Endstation zu wenden. Der Verkehr beginnt eigentlich unten am Kai, bergauf fährt niemand mehr, nur manchmal, aber sehr selten, vergißt ein Betrunkener auszusteigen oder ein müder Arbeiter, der unterwegs eingeschlafen ist. Wenn sie der Fahrer nicht rechtzeitig bemerkt, bleiben sie sitzen und fahren mit ihm um den ganzen Berg, bis sie wieder dahin zurückkommen, wo sie aussteigen wollten. Manchmal weckt sie der Fahrer absichtlich nicht. Es ist für ihn eine willkommene Gesellschaft, niemand fährt auf den Berg gern allein. Es soll bald geändert werden, die Angestellten haben sich mehrmals gegen den anstrengenden Umweg ausgesprochen und die Direktion stimmt ihnen aus Rücksicht auf den Zustand der Wagen zu, man wartet aber noch auf die Bewilligung der Stadtverwaltung und auf der Strecke läßt man inzwischen Hilfskräfte fahren, die auf das Nebeneinkommen angewiesen sind. Die Verwaltung hat sich bisher nicht eindeutig geäußert. Die ratternde Straßenbahn belustigt die Beamten als harmlose Rarität, dazu könnte es ein Symbol guten Willens sein, ein Zeichen der Verbindung der Bürger mit ihrer Verwaltung - jeder kann herkommen. Der radikale Flügel, der sich in der letzten Zeit durchsetzt, ist aber Symbolen nicht geneigt und bereitet Veränderungen vor. Die Stillegung der Straßenbahn ist nur noch eine Frage von Tagen. Das Mädchen kürzt sich mit dem Nachtlauf die lange Zeit trotz der Angst, die in ihr die Türme 9 »Na, Junge, bist du noch nicht hoch?« Das Licht der Taschenlampe schneidet ihr in die Augen, sie will den Kopf fortdrehen, aber vor Schmerz kann sie es nicht. Sie hebt die Hand, und während sie die Augen abschirmt, faßt sie an eine klebrige Stelle über der Schläfe. Sie hält die Finger vor die Augen, kann aber nichts erkennen, das grelle Licht blendet. Gleichzeitig spürt sie einen Tritt ans Schienbein. »Na, wird's bald? Oder soll ich dir helfen? Mach, daß du aufstehst!« Sie versucht das scharfe Licht zu durchdringen und ins Dunkle zu sehen, wer spricht. Das Pflaster ist kühl, sie zittert vor Kälte, wie lange kann sie hier schon liegen? Als sie sich auf den Ellenbogen zu stützen versucht, fällt sie wieder mit der Kopfseite auf die Kachel, und vor Schmerz treten ihr Tränen in die Augen, das Licht trifft sie aber nicht mehr. Am Kopf hört sie Schritte, jemand packt sie grob an der Schulter und zerrt an ihr. Sie riecht einen faulen Atem und mit Mühe befreit sie sich, endlich steht sie, an einem Tor angelehnt, und nicht begreifend sieht sie einen grinsenden Polizisten, der mit einem Knüppel am Gürtel pendelt. »Los, Junge, deine Papiere, und keine Umstände!« Gut, daß sie stehen kann. Sie muß sich noch anlehnen, aber im Kopf sticht es nicht mehr so heftig, und sonst ist sie wahrscheinlich in Ordnung. Mit wem redet der Polizist? Sie will etwas sagen, aber die Zunge klebt ihr am Gaumen, und sie räuspert sich nur. Der Polizist packt ihren Arm: »Dann durchsuchen wir dich«, und fühlt ihr mit den Händen in die Taschen. »Nein!« schreit das Mädchen und reißt sich los. Der Polizist bleibt stehen. Wieder leuchtet er ihr ins Gesicht, fährt mit dem Lichtkegel an ihrem Körper entlang, langsam, kehrt mehrmals zurück, mit Wohlgefallen richtet er das Licht auf ihre Hose und zeichnet in der Luft einen riesigen imaginären Hintern nach. »So, das ist eine Überraschung. Was machst du hier, Kleine?« Er kommt näher. »Lassen Sie mich«, das Mädchen sieht sich nach einem Ausgang um. »Na na, mach keine Umstände, das hier ist ein bewachtes Objekt, wie kommst du hierher?« Der Polizist setzt einen scharfen Ton an und mustert sie mit Verdacht. »Oder willst du es uns erst auf der Station sagen? Wir lassen dich bei uns über Nacht und dann wirst du sprechen«, er hakt vom Gürtel einen Sender und schiebt die Antenne hoch. »Ich weiß nicht, wo ich bin«, sagt das Mädchen unsicher und sieht sich ratlos um. »Das erzählst du jemand anderm. Hier ist die Stadtverwaltung, verbotenes Gebiet. Und jetzt will ich hören, was du hier machst.« »Aber das ist kein verbotenes Gebiet. Dort fährt doch die Straßenbahn.« Der Polizist grinst: »Fuhr, fuhr. Von heute an fährt sie nicht mehr. Jetzt ist hier Eintritt verboten«, und er klatscht mit Befriedigung auf das Tor, daß das Blech rasselt. Das Mädchen wird durch die Erschütterung wach: Deshalb ist sie gestürzt - sie rannte in der Dunkelheit gegen das Tor, der Weg ist hier jetzt versperrt. Als sie sich an die Straßenbahn erinnert, stockt sie. Sie dreht sich zum Ausgang und tastet hastig nach der Klinke. »Nanu, du wirst mir doch nicht weglaufen?« Der Polizist greift ihr von hinten unter die Arme und reißt sie zurück. Er hält sie fest, sie kann sich nicht bewegen. »Lassen Sie mich bitte los, ich muß schnell fort, sonst fährt mir die Straßenbahn weg!« Der Polizist preßt ihr die Hände auf den Busen: »Ein Taxi möchtest du wohl nicht?« lacht er und knetet ihr dabei die Brüste. »Lassen Sie mich los! Lassen Sie mich los!« Sie dreht sich aus der Umarmung, versucht die Hände 12 13 von der Brust zu ziehen, aber der Polizist steht eng hinter ihr und läßt sich nicht wegschieben. Er preßt sich fest an sie mit dem Bauch, atmet ihr auf den Hals und stößt sie mit dem Becken mit einer harten Beule, die er ihr weiter zwischen die Beine zu schieben versucht. »Nein, loslassen, lassen Sie mich los!« Das Mädchen denkt nicht mehr an die entgleiste Straßenbahn, an Überfahrene, sie wehrt sich jetzt verzweifelt und stemmt sich gegen den Druck. »Hilfe, Hilfe!« ruft sie zaghaft, lauter zu schreien wagt sie nicht, es ist ihr schrecklich peinlich. Der Polizist hält ihr trotzdem den Mund zu, wodurch die Umklammerung nachgibt, das Mädchen kommt frei und stößt ihn heftig von sich. Der Täter sträubt sich — für den Polizisten eine übersichtliche, verständliche Situation. Er geht vor und schwenkt den Knüppel, nicht allzu stark, aber so, daß er die alte Wunde trifft und das Mädchen sich mit Stöhnen am Kopf fängt. Uber den Handrücken saust ihr noch ein Schlag, ermahnender — als Warnung, und der Schmerz bringt sie plötzlich in solche Wut, daß sie sich unerwartet gegen den Polizisten stürzt. Sie schlägt mit der Faust, tritt den Polizisten, vor Wut bleich und fast das Bewußtsein verlierend. Der Polizist läßt es sich in stumpfem Staunen gefallen, schlaff schlägt er die Schläge ab und weicht aus. Plötzlich brüllt er auf, weil das Mädchen sich in seine Hand verbissen hat. Jetzt kommt er zu sich, reißt die Hand zurück und brüllt noch einmal; die Wunde blutet, das Mädchen hat den Biß nicht gelockert. Nachdenklich nimmt sie ein Stück fremde Haut von ihrer Lippe ab und spuckt mit Ekel den Nachgeschmack aus. »Du Biest!« Der Polizist schlägt ihr ins Gesicht und stürzt sie zu Boden, haut den Knüppel über ihren Kopf und verdreht ihr die Hände im Rücken. »Na warte, das bezahlst du mir!« Etwas klickt, sie spürt einen kühlen Druck am Handgelenk und eine feste Umklammerung, plötzlich kann sie die Hände nicht auseinander nehmen. Sie reißt sie vergeblich, und in der Sekunde, als sie begreift, daß sie gefesselt ist, überkommt sie eine schreckliche Angst, größer als der Schmerz von der blutenden Stirn und den Knüppelschlägen. Sie ist gefesselt, sie kann überhaupt nichts machen. Bisher war ihr nicht eingefallen, daß ihr etwas passieren könnte. Der Polizist war ein Beschützer der öffentlichen Ordnung, er löste Unbehagen und Unsicherheit aus, wie die meisten Polizisten in der Stadt, besonders seitdem die Kontrolltürme standen. Sie waren selbstgefällig und brutal, aber das Mädchen hatte keine Erfahrungen und konnte nicht beurteilen, in welchem Maße. Am Anfang überwog bei ihr sogar ein gewisses Vertrauen in die Uniform, in die Legitimität des Dienstes und die Vorstellung eigener Schuld. Sie war überzeugt, daß der Polizist einen Verkehrsunfall untersuchte, sie hatte kaum wahrgenommen, was er sagte. Als er sie umpreßte, hörte die Uniform auf zu wirken, es war aber schon zu spät. Es überkommt sie ein solcher Schrecken, daß sie in letzter Hoffnung aus aller Kraft um Hilfe ruft in das leere düstere Dämmern. Der Polizist rammt ihr einen Lappen in den Mund und reißt ihr hastig die Hose ab. »Jetzt werden wir sehen, was für ein Weib du bist.« Aus dem verstopften Mund kommt ein unverständliches Pressen, ein unhörbares Heulen in den Augen, das ganze verspannte Gesicht schreit. »Nein! Nein!« Das stimmlose Pressen glüht in der Lunge, drückt in den Ohren, hinter der Stirn und in den 15 »Ich wollte ihm danken wegen der Straßenbahn, aber er war nicht mehr da.« »Nein, sein Bus fuhr schon, aber er hat dich noch gestreichelt, ehe er ging.« »Was? Aber da mußte ich schlafen.« Mara lacht. »Selbstverständlich, sonst würde er es sich nicht erlauben.« »Wieso habe ich es früher so wenig gemerkt?« Die Aufregung, die Jana von der allgemeinen Bedrohung ansteckt und in Widerstand versetzt, hat ihre eigene Angst verzehrt. Und dabei sieht sie durch das Fenster auf den Teil der Altstadt, der gleich unbewegt schön ist; die mittelalterlichen Kirchenspitzen und Häuserdächer, von der Sonne überschwemmt, zusammengeklebt über einem Durcheinander von schmalen Gassen, wo die Gaslampen an den durchgewölbten Lehmwänden sich zu den gegenüberliegenden Mauern neigen und abends sie durch fahles Licht verbinden. »Es ist noch nicht so schrecklich«, sagt Mara, »aber es wird schlimmer. Die, die ständig darin leben, merken es nicht. Jedesmal wenn ich komme, sehe ich, wie es fortgeschritten ist.« Jana schaut beängstigt zurück zur Altstadt. Von hier kann sie die Mauern nicht deutlich unterscheiden, sie wirken unverändert, aber wann hat sie sie zum letztenmal ganz aus der Nähe gesehen? Sie möchte sie gleich prüfen, die bröckelnden Stellen zusammenhalten, aber Handauflegen ist zu wenig. »Ich kann noch nicht abfahren«, sagt sie gequält, »es ist für mich jetzt nicht möglich, aber vielleicht wenn du fort bist, werde ich hier alles viel schwerer empfinden. Und wenn ich dann abfahre, wird es definitiv sein.« Mara sieht ihre fiebrige, wunde Stirn, ihre Schläfen und Augen, den rissigen Mund. Jana ist konsequent. Die ganze Polizei ist auf den Beinen, und sie kommt zerschlagen, krank zurück, um sie zu treffen; denn das erste Treffen mußte sie bestimmen. »Ich liebe dich.« »Ich dich auch, warum?« sagt Jana abwesend. »Nur so«, lächelt Mara, »und zwinge dich zu nichts«, sagt sie betont, damit Jana sie ganz versteht. »Du hast Zeit, komm, wann du willst. Es ist deine Entscheidung, du sollst nur wissen, daß du etwas hast, wohin du gehen kannst. Ich glaube, der Wein wird schon kühl sein«, sie steht auf. Jana ruckt aus den kleinmütigen Gedanken durch den Stich, daß sie Maras größte Nähe versäumt hat. Auf die wichtige Mitteilung legen sich schon nächste Worte, vernünftig und sachlich, der flüchtige Augenblick der Intimität wirkt nicht mehr. In einer wachsamen Unbeweglichkeit, ohne einen Blick auf Mara tastet sich Jana zu der Stelle, wo sie die Spur der Erklärung wieder finden könnte. Sie muß ihr noch sagen, was für sie diese Stadt bedeutet. »Wenn du einverstanden bist, werde ich noch ein paar Skizzen machen, solange es Licht gibt«, sagt Mara. »Ich möchte es auch versuchen.« »Gut, dann tragen wir den großen Tisch hinaus, es ist nicht mehr heiß draußen, und man sieht besser. Ich hole noch einen Satz Stifte.« »Und vergiß den Wein nicht«, Jana wartet schon ungeduldig auf die Feier. 5° 51 sich völlig schmerzlos bewegte, die langen Treppen, die sie in Erinnerung hatte, endeten früher. Svidors Name stand in auffällig kindlicher Druckschrift neben der Klingel, er erschien nach dem zweiten Klingeln. »Sie sind ..., ich weiß, kommen Sie herein.« Mit einem leichten Wink ließ er ihren Namen beiseite. Umständlich führte er sie ins Zimmer, dort blieb er schweigend stehen und sah sich nach seinen Regalen um. Er trat zurück, damit Jana an der Besichtigung teilnähme. Er wußte nicht, daß sie hier am Tag vorher alles in die Hände genommen hatte, daß sie die Hälfte seiner Bücher aus den Regalen herausgezogen und zwei davon zu Hause hatte. Sie bemerkte die Veränderungen, die Svidors Gegenwart verursacht hatte, Verschiebungen, in denen eine andere Art, Gegenstände zu behandeln und zu besitzen deutlich war, Irenes streunende Existenz war verdrängt und auch ihr gestriges Herumkramen und Blättern hatte in diesem andersartigen Chaos keine Spuren hinterlassen. Es war auch eine Aufbruchsstimmung bemerkbar. Irene fehlte hier, ohne sie war der ganze Besuch unsinnig. Svidor stand inmitten des Zimmers und hielt die Hand am Halstuch, als unterdrücke er ein Husten. Er riß sich aus seiner Haltung, wies auf einen Lehnstuhl und setzte sich gegenüber. Er warf ein Bein über das andere und umklammerte das Knie, daß die Knöchel weiß hervortraten. Jana sah das entblößte Schienbein gelblich knochig zwischen dem Sockenrand und dem hochgezogenen Hosenbein gegen sich gestreckt und blickte vorbei. Svidor sah sich inzwischen ihre Beine unverhohlen, mit Sachlichkeit an und ließ sich dabei Zeit. Jana wandte sich seinem Bein genauso auffällig zu, bis er damit zuckte. Sie mochte noch nicht gehen, sie hatte ihn sprechen wollen und war ihm noch eine Erklärung schuldig. Svidor stellte den Fuß auf den Boden und zwang sich zur Leichtigkeit. »Sie interessieren sich also für Philosophie?« fragte er amüsiert. Jana hatte sich das Treffen weniger gespannt vorgestellt, Irenes vermittelnde Teilnahme fehlte. Svidor erwähnte sie nicht, er machte den Besuch zu einer unpersönlichen Konsultation. Sie versuchte, die stumm ansteigende Feindlichkeit in neutrale Höflichkeit umzulenken. Selbst hatte sie jetzt keine Fragen. Sie nickte leicht. Svidor blieb am Thema: »Und was lesen Sie jetzt?« Es war ihm damit sehr ernst, während Jana sich fragte, ob es sie noch etwas anging. Sie fühlte sich freier als seit Tagen. Es ging hier nicht freundlich zu, aber die Auseinandersetzung war intellektueller Art - wenn auch von erstaunlich niedrigem Niveau -, es wurden keine Schläge verteilt. Sie konnte antworten und gehen. »Die Phänomenologie des Geistes<.« Svidor schnappte danach mit sichtlicher Freude, für ihn bedeutete es einen Anfang. »So, Sie lesen die Phänomenologien Und wie weit sind Sie schon?« »Ich lese zum zweitenmal die Vorrede.« »Und verstehen Sie es?« »Jetzt schon das meiste.« »Lesen Sie im Original oder in der Übersetzung?« »In der Übersetzung, und stellenweise vergleiche ich es.« Svidor nickte mehrmals mit dem Kopf, er lächelte, als hätte sich etwas für ihn bestätigt. »So, Sie verstehen es also«, er streckte sich im Stuhl. »Dann werde ich es wohl wie Sie lesen müssen, weil ich es zum Beispiel überhaupt nicht verstehe«, erklärte er siegreich. »Nun, das ist kein Wunder, es ist wirklich sehr 86 87 schwer«, sagte Jana ruhig, fast freundlich und stand auf. Svidor blieb nach vorn gebeugt sitzen, eine Weile schwieg er. Dann schnellte er hoch, als Jana schon an der Tür stand, riß vor ihr die Tür auf und begleitete sie ins Vorzimmer. Dort, die Hand auf der Klinke, wandte er sich zu ihr: »Ich werde Ihnen etwas sagen, Fräulein. Nur eine Frau verstand je etwas von Philosophie, das war im Mittelalter, in Spanien. Und die ließ man von vier Paar Bullen zerreißen!« Er preßte die Worte mit solchem Haß, daß das Urteil aus seinem Mund völlig natürlich erschien. Es gab keinen wesentlichen Unterschied zwischen ihm und dem Beamten. Beide hatten Drohungen bereit, der Beamte unverschlüsselt und schneller. In Jana hob sich ein alter Ekel, aber nur kurz, im Grunde war sie nicht getroffen. »Nehmen Sie es nicht so schwer«, sagte sie und ging. Sie lief die Treppe hinunter, schmerzlos, ergriff einen zufälligen Rhythmus, der sich nach ein paar Stufen ergab, und vervollständigte ihn zu einem tönenden, fünf Stockwerke langen Steptanz. Später dachte sie, daß sie den Namen der Frau gern gewußt hätte. 9 Solche Sentenzen mußte sich Svidor nicht ausdenken, er sammelte mit Vorliebe Beispiele von bestraften Frauen und verwendete sie öffentlich, um auf die Mängel der Demokratie zu weisen - die Mathematikerin Hypatia, vom alexandrinischen Pöbel ermordet. Irene freute sich offen über den Verlauf des Treffens. Als sie Jana ausrichtete, daß Svidor sie für äußerst arrogant halte, konnte sie auch die eigenen Erfahrungen mit ihm einbringen. Svidor war verärgert, sie hatte ihm im voraus gesagt, daß Jana es ihm zeigen würde, weil er gefragt hatte, ob sie hübsch sei. »Ich dachte, er wäre klüger«, sagte Jana. »Weshalb verkehrst du überhaupt mit ihm?« »Es ist ein Spiel. Einmal bestellte er mich zu einer bestimmten Zeit, ich ging früher hin und traf ihn im Bad mit einem Flakon in der Hand mit übergekämmter Glatze in seinem Bordeaux-Morgenrock. Es war bei uns zu Hause wieder nicht auszuhalten. Na, und dann zog ich mich aus. Schön langsam, und ließ es auf ihn wirken. Ich habe Professionalität, in der Garderobe darf es samt Schminken nicht länger als zehn Minuten dauern, dann drängen schon die nächsten. Aber wenn ich mir Zeit lasse, kann ich es ausspielen.« Sie war wieder ganz bei der Sache, unpersönlich, sie bezog es nicht auf sich, als hätte sie die Atmosphäre der engen Garderoben angezogen — den Schweiß, die Schminke, die übereinandergeworfe-nen Tiegel und Perücken, vervielfacht in einer Reihe von Spiegeln, um die sie Jana an der Schule immer beneidet hatte. Irene schilderte ihren Auftritt, die metronomische 88 89