Rafik Schami Ausflug mit Strafanzeige Es war Montagmorgen. Ein sonniger Tag kündigte sich an; aber die Leute waren sehr mißtrauisch, sie trugen ihre Regenschirme und hasteten wie die Ameisen in alle Himmelsrichtungen. Burhan wartete lange, bis die Verkehrsampel grün zeigte; erst dann rannte er über die Straße. Er spielte gegen einen unsichtbaren Gegner Karate — aber nur mit der rechten Hand. In der linken trug er eine Kaufhoftüte, in die er ein Heft, zwei Bleistifte und ein Buch verstaut hatte. Einen Schulranzen besaß er noch nicht. Die Lehrerin, die ihn mochte, hatte versprochen, ihm am Mittwochnachmittag einen zu schenken. Neben der Bäckerei kurz vor der Schule stand Carlos, der Spanier. Er stand jeden Morgen da und glotzte die Kuchen im Schaufenster an. Burhan verstand sich mit Carlos sehr gut, weil beide im Schulhof ähnliche Tricks beim Fangeries gebrauchten und sich hinterher darüber lustig machten, wie die deutschen Kinder aus der Fassung gerieten, da beide das Spiel nach immer neuen Regeln veränderten. Beide haben auch immer gelogen. Der eine sagte, das Spiel werde in Spanien so gespielt, der andere bestätigte das mit türkischer Erfahrung, obwohl beide weder Spanien noch die Türkei je gesehen hatten. "Beeil dich", sagte Burhan und stupste Carlos in den Rücken, der sich — erschrocken und verzweifelt wie immer — weiter den Schulweg entlangschleppte. An diesem Morgen stand der Hausmeister - dick wie immer - an der großen Tür und erteilte seine Befehle, aber die Schüler gingen an ihm vorbei, ohne ihn zu beachten. Sie wußten genau, daß er sich öfter aus dem Staub machte und ältere Schüler mit einer Dose Cola als Lohn die Tür bewachen ließ. Das Schlimme war, daß er nicht wußte, daß diese zwei, die gerade an ihm vorbeigingen, ihn durchschauten, sonst hätte er nicht so angeberisch und laut gesagt: "Na! Wieder ver- schlafen?" Carlos brachte sich erst mit zwei Schritten in Sicherheit, dann drehte er sich um und brüllte "Hanswurst". Der Hausmeister überhörte auch diese freundliche Bemerkung. Burhan wurde erst still, als er den Lehrer sah. Der war ein großer Mann mit grauem Haar und hagerem Gesicht. Am Freitag hatter er schon gesagt, jeder Schüler solle sich vorbereiten, um am Montag einen Ausflug zu beschreiben. Die Hoffnung von Burhan, daß der Lehrer vielleicht nicht kommen würde, war zerstört. Er- mochte diesen Lehrer nicht, weil er ihn öfter schlug. In der Klasse mochte Burhan halt lieber singen, und das konnte der Lehrer gar nicht verstehen. Oft nahm er sich vor, den Lehrer mit Karateschlägen außer Gefecht zu setzen, aber das würde er nie machen können; doch noch weniger konnte er aufhören zu singen. Nun sollte er ausgerechnet bei diesem Lehrer mit den häßlichen Augen erzählen. Burhan hatte am Tag zuvor seine Mutter gefragt, wie er so einen Ausflug erzählen sollte. Die Mutter hatte gemeint, er solle irgendwas erzählen. Sie glaubte ja immer, alles wäre so leicht. Burhan fragte den Vater, aber den sollte er in Ruhe lassen; er war gerade dabei, im Kartenspiel zu verlieren. Burhan wartete, bis die erste Runde gespielt war, und fragte dann nochmal. Er wußte nicht, daß der Vater sehr sauer war, und als er das Wort "Ausflug" aussprach, sagte der Vater, er solle ihn am Arsch lecken. Das aber konnte er dem Lehrer nicht sagen. "Was sind das für Eltern! Sie verstehen nichts von der Schule!" brüllte er und legte sich aufs Sofa. Da lag er lange und brütete vor sich hin, bevor ihm einfiel, was er dem Lehrer erzählen könnte. Dann erst schlief er ein. Als seine Mutter ihn aufweckte, hatte er gerade einen sehr schönen Traum gehabt: Er war auf einem Mofa gefahren und die Leute hatten mit Fähnchen in der Hand dagestanden. Dann war dieses Mofa noch höher als das Hochhaus in der Schillerstraße geflogen, und er hatte dort oben gesessen, und der Lehrer hatte ganz erstaunt auf ihn geblickt. . . Als er dies seiner Mutter erzählte, sagte sie, er spinne; er solle Heber sein Gesicht waschen und seine Hose zuknöpfen, und, und, und. .. 100 101 "Sie meckert ja immer", dachte Burhan unterwegs. Auf dem Weg zur Klasse hörte er jemand rufen "Was verkaufst'n heute?" Diese Stimme kannte er gut; es war die von Mahmud, dem Araber,der sich immer über die Tüte lustig machte, obwohl er selbst eine trug. Burhan drehte sich nicht um, sondern flüsterte wütend "Halt den Mund" und ging ins Klassenzimmer. Dort war Antonio schon mit Karl in eine Rauferei verwickelt. Antonio, der Italiener, war so klein und legte sich trotzdem immer wieder mit dem dicken, großen Karl an. Jedesmal überhörte er die Ratschläge von Burhan, dem Karl in die Hoden zu treten oder ihn mit der Hand — so wie Kung Fu — in den Bauch zu schlagen. Ruhig wurde die Klasse erst, als der Lehrer eintrat. Er stand da und blickte verzweifelt auf diese, schon am Montagmorgen abgekämpfte Armee, mit der man nichts anfangen konnte. Was hatte ihn nur an diese verdammte Sonderschule verschlagen. Er konnte diese Kinder nicht verstehen. Es waren vierzig, in ein kleines Zimmer gepferchte Teufel. Er hatte Mitleid mit ihnen, aber sie wollten nicht mal das. Streit schlichten durfte er auch nicht. Als er das vor kurzem versucht hatte, mußte er zu seiner Verzweiflung feststellen, daß alle seine Schlichtung nicht wollten; nicht einmal der geschlagene Antonio ließ sich überreden, den schlagenden Karl beim Direktor anzuzeigen. "Guck dir diese ungewaschenen Gesichter an", sagte er zu sich, und "Guten Morgen" zu den Schülern. "Guten Morgen" brüllten die Wilden zurück. "Nun möchten wir hören", sagte der Lehrer, "was Karl erlebt hat, nicht wahr Karl?" Karl hätte am liebsten "nein" gesagt, aber er hatte Angst; deshalb sagte er "Jawoll, Herr Lehrer". Dabei stand er ganz steif da, obwohl Mahmud ihn von hinten ins Bein zwickte. "Na, komm nach vorn und erzähl!" Karl war froh, diesen lästigen Mahmud loszuwerden, und beim Rausgehen versetzte er ihm noch einen Hieb, ohne daß der Lehrer etwas merkte. Mahmud tat so, als hätte der Hieb keine Wirkung auf ihn gehabt. Karl ging bis zur Tafel, dort drehte er sich um und fing an zu erzäh- 102 len. Er sei mit Vati und Mutti irgendwohin gefahren; die Bauern der Gegend wären so freundlich gewesen; alle hätten seine Eltern eingeladen; sie wären dann bei einem von denen zu Gast gewesen; er hätte mit seiner Schwester und den Dorfkindern den ganzen Tag auf der Wiese gespielt. . . Karl wurde immer lauter, aber Burhan hörte kaum zu; ihn beschäftigten die Fragen, wer der Nächste sein würde — Und wie sollte er dann anfangen. Auf beide Fragen fand er keine Antwort. . . die laute Stimme von Karl drang, seiner Beschäftigung ungeachtet, in den Kopf von Burhan; ". . . und dann hat mein Vater gesagt, jetzt werden wir zwei Spanferkel braten. . ." Burhan hörte wieder weg, er mag kein Schweinefleisch. Sein Vater sagt, es mache krank, und er wollte nicht krank werden. Nun schaute er zur Seite, wo sich Antonio, der in der dritten Reihe links saß, über Karl kaputtlachte. Er zeigte ihm gerade einen Vogel. Burhan dachte auch, daß Karl lügt, denn der Vater von Karl stand oft besoffen am Kiosk, und seine Eltern lebten ganz arm in diesem kaputten Viertel. Karl war noch in Schwung ". . . mein Vati sagte, solchen Ausflug sollte man öfter machen." "Sehr gut", lobte der Lehrer, und ohne eine Miene zu verziehen, sagte er: "Nun wollen wir Antonio hören, der sich die ganze Zeit so unverschämt lustig gemacht hat." Der Lehrer konnte Antonio nicht leiden, weil er in allen Stunden frech war - vor allem aber in der Religionsstunde Freitag nachmittags. "Das kommt von der Erziehung", sagte er sich, als Antonio schwerfällig seinen Platz verließ. Unterwegs war Antonio bemüht, sein Hemd in die Hose zu stopfen. Der Lehrer dachte, "man kann eigentlich nicht mehr erwarten, der arme Teufel ist halt Schlossersohn." Burhan mußte aufs Klo. Er hob die Hand, und der Lehrer war wieder mal erstaunt: "Wir sind gerade reingegangen. . ." "Ja, ich kann aber nicht mehr. . .", flehte Burhan den Lehrer an. Der erlaubte es schließlich, schüttelte jedoch ganz mißtrauisch den Kopf. Während Burhan die Tür hinter sich schloß, hörte er Antonio anfangen "Es war ein schöner Sonntag..." Burhan rannte über den Korridor. An der Treppe 103 sah er sich um, und da die Luft rein war, setzte er sich auf das breite Metallgeländer der Treppe und rutschte hinunter. Das konnte er gut, aber die Lehrer mochten es nicht. Unten links von der Treppe stieß er mit der Schulter die Toilettentür auf. Dann machte er die Hosenknöpfe auf und beobachtete seinen Harnstrahl. "Was erzählt Antonio wohl jetzt?" Er blickte auf die Wand. Dort entzifferte er den seit langem hingekritzelten Satz "Monika ist doof. Er kannte keine Monika, aber ihr ging's bestimmt besser als ihm in dieser verfluchten Schule. Schnell drückte er die Spülung und knöpfte die Hose wieder zu. Dabei dachte er an die Reklamen zum Sauberhalten von Toiletten, die jeden Abend im Femsehen gezeigt werden, und pfiff eine der Melodien, während er sich langsam die Treppe hochschleppte. "Was ist das für eine verdammte Schule." Carlos erzählte, sie sei für dumme Schüler gebaut. Er wisse das, weil sein Vater einmal auf seine Mutter geschimpft hatte, sie sei Schuld daran, daß er — Carlos — in dieser Schule gelandet sei. Burhan erreichte mit Mühe den Korridor; dort stand er eine Weile am Fenster und blickte auf den leeren Hof. Er beobachtete, wie eine Amsel lustig zwischen Hof und Mauer hin und her hüpfte. Sie hatte es gut, ohne Schule. Seine Gedanken wanderten zur nächsten Pause. Es wäre besser, wenn er nächstes Mal versuchen würde, auf die Mauer zu klettern; da würde ihn bestimmt keiner fangen, aber die Lehrer würden sicher Krach machen, dachte er bei sich und bewegte sich langsam auf die Klassentür zu. Er hörte jetzt deutlich Antonio erzählen: "... Und mein Vater und meine Mutter waren glücklich. Sie verabschiedeten sich von Frau Müller und sagten, bis zum nächsten Mal. Als wir zu Hause angekommen waren, gaben mir Vater und Mutter einen Kuß und ich ging schlafen." Burhan öffnete leise die Tür und wollte sich so unauffällig wie möglich auf seinen Platz verkriechen, aber der Lehrer ließ es nicht zu. "Gut", sagte er zu Antonio, und im selben Atemzug schrie er "Burhan". Burhan war erschrocken. Er blieb wie angewurzelt stehen. "Du brauchst dich nicht zu setzen". Burhan drehte sich um und kam wieder nach vorne. Die ganze Klasse glotzte ihn so dumm an. Er stand regungslos da. "Nun", sagte der Lehrer, "erzähl uns mal was". Burhan begann leise; die Klasse war unruhig, und der Lehrer sagte, er höre nichts. Burhan bekam einen roten Kopf. "Dieser schlimme Mahmud lacht schon wieder", dachte er und fing noch einmal an zu erzählen. "Es war Sonntag. Mein Vater sagte, wir müssen Essen einpacken und zum See fahren und dort den Tag verbringen. Er sagte, es gibt Sonne und es ist schön. Meine Mutter sagte, sie muß waschen und sie hat keine Lust. Mein Vater sagte, sie ist blöd; wenn alle Leute wegfahren, jammert sie immer, aber wenn er sagt, komm' wir gehn, macht sie Theater. . ." Burhan erzählte, für seinen Vater parteiergreifend, "Scheißwäsche, jetzt gehen wir, sagte mein Vater. Meine Mutter sagte, er soll allein gehen. . . Dann hat mein Vater ihr ein schlimmes Wort gesagt und sie weinte. Dann gingen wir; mein Vater hat immer geflucht und meiner Mutter gesagt, sie soll den Kaffee und den Zucker nicht vergessen, und sie soll auch sein Kissen mitnehmen. Meine Mutter sagte ja, ja. . . Als mein Vater das Auto fahren wollte, fing er an zu fluchen, weil das Auto nicht ansprang. Meine Mutter sagte, wir sollen nach Hause zurückgehen. Dann aber ging es doch und meine Muttei schwieg, bis wir ankamen. Dort am See war es schön. Meine Mutter legte eine Decke auf die Wiese, und ich habe ihr geholfen, die Sachen auf die Decke zu stellen. Mein Vater hat den Kassettenrecorder angemacht und auf laut gedreht. Er mag türkische Lieder... Türkische Lieder sind schön, soll ich eines singen?" Der Lehrer griff ein, "nein, nein, weiter erzählen!" ". . . Ja, ich nahm meinen kleinen Ball und ging spielen. Dabei sah ich ein Schild und darauf stand - Privat - Verboten - und noch irgendwas. Ich bin zu meinem Vater gegangen und habe ihm das gesagt. Er brüllte mich an, - verboten, verboten. - Du Idiot, - 104 105 sagte er zu mir und krempelte seine Hose hoch und ging seine Füße im Wasser kühlen. Meine Mutter sagte immer wieder, es ist heute so schön zum Waschen. Dann fing mein Vater laut zu lachen an über einen Mann, der da komisch in der Sonne lag. Meine Mutter lachte auch. Mein Vater sagte zu ihr "guck, er hat kein Haar an der Brust, keins an den Beinen, keinen Schnurrbart; er sieht aus wie ein gekochtes Huhn", und beide lachten. Der Mann hat nichts verstanden, weil sie türkisch sprachen; er sali uns aber ganz böse an. Dann kam er bis zum Zaun und sagte meinem Vater "Du gehen, hier privat". Mein Vater lachte und sagte "Du müssen nix atmen, Luft pirivat". Der Mann war ganz böse und sagte "Du nix verstehen, hier privat, verboten, verstehen?" Mein Vater sagte ihm "Ich nix toten, ich nix klauen, ich nur Sonne gucken. Sonne nix pirivat, Sonne nix verboten!" Der Mann ist gegangen, und mein Vater sagte auf türkisch "gekochtes Huhn"! Ich war stolz auf meinen Vater, er hat nie Angst, er ist stark. Er erzählte mir, einmal in der Türkei.. ." Der Lehrer war sehr nervös. "Nun komm aber zum Schluß!" Die Schüler lachten gemein, nur Antonio nicht. Burhan schrie "Warum nicht, ich. . .", aber keiner hörte zu. Der Lehrer klopfte auf den Tisch, "weiter, weiter, was habt ihr noch gemacht?" Burhan erzählte, indem er nur noch Antonio anblickte. ". . . Ja, ich habe dann meinen Ball genommen und unter den Bäumen allein gespielt. Da kam ein Hund und schnappte meinen Ball. Ich hab' dann einen Stein genommen und nach dem Hund geschmissen. Ich traf den Hund aufs Ohr — ich treffe Hunde immer — er ließ dann meinen Ball los — ich mag keine Hunde, mein Vater mag auch keine. . . Der Mann vom Hund kam zu meinem Vater und schimpfte. Mein Vater sagte, "Warum Hund Ball nehmen, Hund schuld". Der Mann sagte, ich soll mich entschuldigen. Mein Vater war böse und sagte "Du nix mit meinem Sohn sprechen". "Burhan, schlag den Hund", sagte er auf türkisch zu mir. Ich habe dann dem Hund einen Tritt gegeben — wenn ich das nicht gemacht hätte, hätte es Ohrfeigen gegeben. Der Mann war sehr, sehr böse und sagte "Hier nix Türkei! Hier Hund wie Mensch!" Mein Vater lachte und sagte "Scheißhund, Hund nix gut, Kind viel besser". Der Mann war wütend und sagte, er holt die Polizei. Mein Vater sagte "Du können alles holen, wir hier bileiben". Der Mann sprach mit seinem Hund und beide gingen. Meine Mutter sagte, wir sollen gehen; mein Vater schimpfte auf sie und auf den Hund. Ich war sehr stolz auf meinen Vater. Zwei Polizisten kamen, und mein Vater bekam Angst. Sie redeten viel, und mein Vater sagte immer "Kind nix Hund kaputt machen". Der große Polizist schüttelte den Kopf und schrieb in seinem Heft. Und dann gab er meinem Vater ein Papier, und sie gingen wieder. Mein Vater steckte das Papier in seine Tasche und sagte meiner Mutter, sie soll aufräumen, und wir fuhren nach Hause. Meine Mutter war gut gelaunt; sie sagte, jetzt kann sie waschen. Nur mein Vater und ich waren traurig. Er sprach kein Wort und rauchte viel. Zu Hause hat Der Lehrer unterbrach Burhan. "Schluß, genug! Das ist doch kein Ausflug! Es ist doch immer dasselbe mit dir, geh' auf deinen Platz!" Burhan wurde wieder rot; mit gesenktem Kopf ging er zu seinem Platz. Er hatte noch erzählen wollen, wie sein Vater zu Hause geheult hatte. Der Lehrer rief Mahmud zum Erzählen. Als Mahmud mit den Worten "Herr Meier kam zu uns und fragte meinen Vati, ob wir mit ihm im Garten feiern. . .", anfing zu erzählen, begann Burharm zu weinen. Leise, ganz leise weinte er vor sich hin, damit die Schüler es nicht merkten. 106 107