Victor Klemperer LTI Notizbuch eines Philologen Philipp Rečiam jun. Stuttgart I LTI Es gab den BDM und die HJ und die DAF und ungezählte andere solcher abkürzenden Bezeichnungen. Als parodierende Spielerei zuerst, gleich darauf als ein flüchtiger Notbehelf des Erinnerns, als eine Art Knoten im Taschentuch, und sehr bald und nun für all die Elendsjahre als eine Notwehr, als ein an mich selbst gerichteter SOS-Ruf steht das Zeichen LTI in meinem Tagebuch. Ein schön gelehrtes Signum, wie ja das Dritte Reich von Zeit zu Zeit den volltönenden Fremdausdruck liebte: Garant klingt bedeutsamer als Bürge und diffamieren imposanter als schlechtmachen. (Vielleicht versteht es auch nicht jeder, und auf den wirkt es dann erst recht.) LTI: Lingua Tertii Imperii, Sprache des Dritten Reichs. Ich habe so oft an eine Alt-Berliner Anekdote gedacht, wahrscheinlich stand sie in meinem schön illustrierten Glaßbrenner, dem Humoristen der Märzrevolution - aber wo ist meine Bibliothek geblieben, in der ich nachsehen könnte? Ob es Zweck hätte, sich bei der Gestapo nach ihrem Verbleib zu erkundigen? ... »Vater«, fragt also ein Junge im Zirkus, »was macht denn der Mann auf dem Seil mit der Stange?« ~ »Dummer Junge, das ist eine Balancierstange, an der hält er sich fest.« - »Au, Vater, wenn er sie aber fallen läßt?« - »Dummer Junge, er hält ihr ja fest!« Mein Tagebuch war in diesen Jahren immer wieder meine Balancierstange, ohne die ich hundertmal abgestürzt wäre. In den Stunden des Ekels und der Hoffnungslosigkeit, in der endlosen Öde mechanischster Fabrikarbeit, an Kranken- und Sterbebetten, an Gräbern, in eigener Bedrängnis, in Momenten äußerster Schmach, bei physisch versagendem Herzen - immer half mir diese Forderung an mich selber: beobachte, studiere, präge dir ein, was geschieht - morgen sieht es schon anders aus, morgen fühlst du es schon anders; halte fest, wie es eben jetzt sich1 kundgibt und wirkt. Und sehr bald verdichtete sich dann dieser Anruf, mich über die Situation zu stellen und die innere Freiheit zu bewahren, zu der immer wirksamen Geheimformel: LTI, LTI! Selbst wenn ich, was nicht der Fall ist, die Absicht hätte, das ganze Tagebuch dieser Zeit mit all seinen Alltagserlebnissen zu veröffentlichen, würde ich ihm dieses Signum zum Titel geben. Man könnte das metaphorisch nehmen. Denn ebenso wie es üblich ist, vom Gesicht einer Zeit, eines Landes zu reden, genauso wird der Ausdruck einer Epoche als ihre Sprache bezeichnet. Das Dritte Reich spricht mit einer schrecklichen Einheitlichkeit aus all seinen Lebensäußerungen und Hinterlassenschaften: aus der maßlosen Prahlerei seiner Prunkbauten und aus ihren Trümmern, aus dem Typ der Soldaten, der SA- und SS-Männer, die es als Idealgestalten auf immer andern und immer gleichen Plakaten fixierte, aus seinen Autobahnen und Massengräbern. Das alles ist Sprache des Dritten Reichs, und von alledem ist natürlich auch in diesen Blättern die Rede. Aber wenn man einen Beruf durch Jahrzehnte ausgeübt und sehr gern ausgeübt hat, dann ist man schließlich stärker durch ihn geprägt als durch alles andere, und so war es denn buchstäblich und im unübertragen philologischen Sinn die Sprache des Dritten Reichs, woran ich 18 19 mich aufs engste klammerte und was meine Balancierstange ausmachte über die Öde der zehn Fabrikstunden, die Greuel der Haussuchungen, Verhaftungen, Mißhandlungen usw. usw. hinweg. Man zitiert immer wieder Talleyrands Satz, die Sprache sei dazu da, die Gedanken des Diplomaten (oder eines schlauen und fragwürdigen Menschen überhaupt) zu verbergen. Aber genau das Gegenteil hiervon ist richtig. Was jemand willentlich verbergen will, sei es nur vor andern, sei es vor sich selber, auch was er unbewußt in sich trägt: die Sprache bringt es an den Tag. Das ist wohl auch der Sinn der Sentenz: Le style c'est Vkomme; die Aussagen eines Menschen mögen verlogen sein - im Stil seiner Sprache liegt sein Wesen hüllenlos offen. Es ist mir merkwürdig ergangen mit dieser eigentlichen (philologisch eigentlichen) Sprache des Dritten Reichs. Ganz im Anfang, solange ich noch keine oder doch nur sehr gelinde Verfolgung erfuhr, wollte ich sowenig als möglich von ihr hören. Ich hatte übergenug an der Sprache der Schaufenster, der Plakate, der braunen Uniformen, der Fahnen, der zum Hitlergruß gereckten Arme, der zurechtgestutzten Hitlerbärtchen. Ich flüchtete, ich vergrub mich in meinen Beruf, ich hielt meine Vorlesungen und übersah krampfhaft das Immer-leerer-Werden der Bänke vor mir, ich arbeitete mit aller Anspannung an meinem Achtzehnten Jahrhundert der französischen Literatur. Warum mir durch das Lesen nazistischer Schriften das Leben noch weiter vergällen, als es mir ohnehin durch die allgemeine Situation vergällt war? Kam mir durch Zufall oder Irrtum ein nazistisches Buch in die Hände, so warf ich es nach dem ersten Abschnitt beiseite. Grölte irgendwo auf der Straße die Stimme des Führers oder seines Propagandaministers, so machte ich einen weiten Bogen um den Laut- sprecher, und bei Zeitungslektüre war ich ängstlich bemüht, die nackten Tatsachen - sie waren in ihrer Nacktheit schon trostlos genug - aus der ekelhaften Brühe der Reden, Kommentare und Artikel herauszufischen. Als dann die Beamtenschaft gereinigt wurde und ich mein Katheder verlor, suchte ich mich erst recht von der Gegenwart abzuschließen. Die so unmodernen und längst von jedem, der etwas auf sich hielt, geschmähten Aufklärer, die Voltaire, Montesquieu und Diderot, waren immer meine Lieblinge gewesen. Nun konnte ich meine gesamte Zeit und Arbeitskraft an mein weit fortgeschrittenes Opus wenden; was das achtzehnte Jahrhundert anlangt, saß ich ja im Dresdener Japanischen Palais wie die Made im Speck; keine deutsche, kaum die Pariser Nationalbibliothek selber hätte mich besser versorgen können. Aber dann traf mich das Verbot der Bibliotheksbenutzung, und damit war mir die Lebensarbeit aus der Hand geschlagen. Und dann kam die Austreibung aus meinem Haus, und dann kam alles übrige, jeden Tag ein weiteres Übriges. Jetzt wurde die Balancierstange mein notwendigstes Gerät, die Sprache der Zeit mein vorzüglichstes Interesse. Ich beobachtete immer genauer, wie die Arbeiter in der Fabrik redeten und wie die Gestapobestien sprachen und wie man sich bei uns im Zoologischen Garten der Judenkäfige ausdrückte. Es waren keine großen Unterschiede zu merken; nein, eigentlich überhaupt keine. Fraglos waren alle, Anhänger und Gegner, Nutznießer und Opfer, von denselben Vorbildern geleitet. Ich suchte dieser Vorbilder habhaft zu werden, und das war in gewisser Hinsicht über alle Maßen einfach, denn alles, was in Deutschland gedruckt und geredet wurde, war ja durchaus parteiamtlich genormt; was irgendwie von der ei- st) 21 nen zugelassenen Form abwich, drang nicht an die Öffentlichkeit; Buch und Zeitung und Behördenzuschrift und Formulare einer Dienststeile - alles schwamm in derselben braunen Soße, und aus dieser absoluten Einheitlichkeit der Schriftsprache erklärte sich denn auch die Gleichheit der Redeform. Aber wenn das Heranziehen der Vorbilder für tausend andere ein Kinderspiel bedeutet hätte, so war es doch für mich ungemein schwer und immer gefährlich und manchmal ganz und gar tinmöglich. Kaufen, auch Ausleihen jeder Art von Buch, Zeitschrift und Zeitung war dem Sternträger verboten. Was man heimlich im Haus hatte, bedeutete Gefahr und wurde unter Schränken und Teppichen, auf Öfen und Gardinenhaltern versteckt oder beim Kohlenvorrat als An-heizmateriai aufbewahrt. Derartiges half natürlich nur, wenn man Glück hatte. Nie, in meinem ganzen Leben nie, hat mir der Kopf so von einem Buche gedröhnt wie von Rosenbergs Mythus. Nicht etwa, weil er eine ausnehmend tiefsinnige, schwer zu begreifende oder seelisch erschütternde Lektüre bedeutete, sondern weil mir Clemens den Band minutenlang auf den Kopf hämmerte. (Clemens und Weser waren die besonderen Folterknechte der Dresdener Juden, man unterschied sie allgemein als den Schläger und den Spucker.) »Wie kannst du Judenschwein dich unterstehen, ein solches Buch zu lesen?« brüllte Clemens. Ihm schien das eine Art Hostienentweihung. »Wie kannst du es überhaupt wagen, ein Werk aus der Leihbibliothek hier zu haben?« Nur daß der Band nachweislich auf den Namen der arischen Ehefrau ausgeliehen war, und freilich auch, daß das dazugehörige Notizblatt unentziffert zerrissen wurde, rettete mich damals vor dem KZ. Alles Material mußte auf Schleichwegen herangeschafft, mußte heimlich ausgebeutet wrerden. Und wie vieles konnte ich mir auf keine Weise beschaffen! Denn wo ich ins Wurzelwerk einer Frage einzudringen suchte, wo ich, kurz gesagt, fachwissenschaftliches Arbeitsmaterial brauchte, da ließen mich die Leihbüchereien im Stich, und die öffentlichen Bibliotheken waren mir ja verschlossen. Vielleicht denkt mancher, Fachkollegen oder ältere Schüler, die inzwischen zu Ämtern gekommen waren, hätten mir aus dieser Not helfen, sie hätten sich für mich als Mittelsmänner in den Leihverkehr einschalten können. Du lieber Gott! Das wäre ja eine Tat persönlichen Mutes, persönlicher Gefährdung gewesen. Es gibt einen hübschen alt-französischen Vers, den ich oft vom Katheder herab zitiert, aber erst später, in der kathederlosen Zeit, wirklich nachgefühlt habe. Ein ins Unglück geratener Dichter gedenkt wehmütig der zahlreichen amis que vent empörte, et il ventait devant ma porte, »der Freunde, die der Wind davonjagt, und windig war's vor meiner Tür«. Doch ich will nicht ungerecht sein: ich habe treue und tapfere Freunde gefunden, nur waren eben nicht gerade engere Fachkollegen oder Berufsnachbarn darunter. So stehen denn in meinen Notizen und Exzerpten immer wieder Bemerkungen wie: Später feststellen! ... Später ergänzen! ... Später beantworten! ... Und dann, als die Hoffnung auf das Erleben dieses Später sinkt: das müßte später ausgeführt werden ... Heute, wo dies Später noch nicht völlige Gegenwart ist, aber es doch in dem Augenblick sein wird, da wieder Bücher aus dem Schutt und der Verkehrsnot auftauchen {und da man mit gutem Gewissen aus der Vita activa des Mitbauenden in die Studierstube zurückkehren darf), heute weiß ich, daß ich nun doch nicht imstande sein werde, mei- 22 23 ne Beobachtungen, meine Reflexionen und Fragen zur Sprache des Dritten Reichs aus dem Zustand des Skizzenhaften in den eines geschlossenen wissenschaftlichen Werkes hinüberzuführen. Dazu würde mehr Wissen und wohl auch mehr Lebenszeit gehören, als mir, als (vorderhand) irgendeinem einzelnen zur Verfügung stehen. Denn es wird sehr viel Facharbeit auf verschiedensten Gebieten zu leisten sein, Germanisten und Romanisten, Anglisten und Slawisten, Historiker und Nationalökonomen, Juristen und Theologen, Techniker und Naturwissenschaftler werden in Exkursen und ganzen Dissertationen sehr viele Einzelprobleme zu lösen haben, ehe ein mutiger und umfassender Kopf es wagen darf, die Lingua Tertii Imperii in ihrer Gesamtheit, der allerarmseligsten und allerreichhaltigsten Gesamtheit, darzustellen. Aber ein erstes Herumtasten und Herumfragen an Dingen, die sich noch nicht fixieren lassen, weil sie noch im Fließen sind, die Arbeit der ersten Stunde, wie die Franzosen so etwas nennen, wird doch für die danach kommenden eigentlichen Forscher immer seinen Wert haben, und ich glaube, es wird ihnen auch von Wert sein, ihr Objekt im Zustand einer halb vollzogenen Metamorphose zu sehen, halb als konkreten Erlebnisbericht und halb schon in die Begrifflichkeit der wissenschaftlichen Betrachtung eingegangen. Doch wenn dies die Absicht meiner Veröffentlichung ist, warum gebe ich dann das Notizbuch des Philologen nicht ganz so wieder, wie es sich aus dem privateren und allgemeineren Tagebuch der schweren Jahre herausschälen läßt? Warum ist dies und jenes in einem Überblick zusammengefaßt, warum hat sich zum Gesichtspunkt des Damals so häufig der Gesichtspunkt des Fleute, der ersten Nachhit-lerzeit gesellt? Ich will das genau beantworten. Weil eine Tendenz im Spiel ist, weil ich mit dem wissenschaftlichen Zweck zugleich einen erzieherischen verfolge. Es wird jetzt soviel davon geredet, die Gesinnung des Faschismus auszurotten, es wird auch soviel dafür getan. Kriegsverbrecher werden gerichtet, »kleine Pgs« (Sprache des Vierten Reichs!) aus ihren Ämtern entfernt, nationalistische Bücher aus dem Verkehr gezogen, Hitlerplätze und Göringstraßen umbenannt, Hitler-Eichen gefällt. Aber die Sprache des Dritten Reichs scheint in manchen charakteristischen Ausdrücken überleben zu sollen; sie haben sich so tief eingefressen, daß sie ein dauernder Besitz der deutschen Sprache zu werden scheinen. Wie viele Male zum Exempel habe ich seit dem Mai 1945 in Funkreden, in leidenschaftlich antifaschistischen Kundgebungen etwa von »charakterlichen« Eigenschaften oder vom »kämpferischen« Wesen der Demokratie sprechen hören! Das sind Ausdrücke aus dem Zentrum - das Dritte Reich würde sagen: »aus der Wesensmitte« - der LTI. Ist es Pedanterie, wenn ich mich hieran stoße, kommt hier der Schulmeister ans Licht, der in jedem Philologen verborgen kauern soll? Ich will die Frage durch eine zweite Frage bereinigen. Was war das stärkste Propagandamittel der Hitlerei? Waren es Hitlers und Goebbels' Einzelreden, ihre Ausführungen zu dem und jenem Gegenstand, ihre Hetze gegen das Judentum, gegen den Bolschewismus? Fraglos nicht, denn vieles blieb von der Masse unverstanden oder langweilte sie in seinen ewigen Wiederholungen. Wie oft in Gasthäusern, als ich noch sternlos ein Gasthaus betreten durfte, wie oft später in der Fabrik während der Luftwache, wo die Arier ihr Zimmer für sich hatten und die Juden ihr Zimmer für sich, und im arischen Raum befand sich das Radio (und die Heizung und das Es- 1 ■ m. im 1 24 25 sen) - wie oft habe ich die Spielkarten auf den Tisch klatschen und laute Gespräche über Fleisch- und Tabakrationen und über das Kino führen hören, während der Führer oder einer seiner Paladine langatmig sprachen, und nachher hieß es in den Zeitungen, das ganze Volk habe ihnen gelauscht. Nein, die stärkste Wirkung wurde nicht durch Einzelreden ausgeübt, auch nicht durch Artikel oder Flugblätter, durch Piakate oder Fahnen, sie wurde durch nichts erzielt, was man mit bewußtem Denken oder bewußtem Fühlen in sich aufnehmen mußte. Sondern der Nazismus glitt in Fleisch und Blut der Menge über durch die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen, die er ihr in millionenfachen Wiederholungen aufzwang und die mechanisch und unbewußt übernommen wurden. Man pflegt das Schiller-Distichon von der »gebildeten Sprache, die für dich dichtet und denkt«, rein ästhetisch und sozusagen harmlos aufzufassen. Ein gelungener Vers in einer »gebildeten Sprache« beweist noch nichts für die dichterische Kraft seines Finders; es ist nicht allzu schwer, sich in einer hochkultivierten Sprache das Air eines Dichters und Denkers zu geben. Aber Sprache dichtet und denkt nicht nur für mich, sie lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches Wesen, je selbstverständlicher, je unbewußter ich mich ihr überlasse. Und wenn nun die gebildete Sprache aus giftigen Elementen gebildet oder zur Trägerin von Giftstoffen gemacht worden ist? Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da. Wenn einer lange genug für heldisch und tugendhaft: fanatisch sagt, glaubt er schließlich wirklich, ein Fanatiker sei ein tugendhafter Held, und ohne Fanatis- mus könne man kein Held sein. Die Worte fanatisch und Fanatismus sind nicht vom Dritten Reich erfunden, es hat sie nur in ihrem Wert verändert und hat sie an einem Tage häufiger gebraucht als andere Zeiten in Jahren. Das Dritte Reich hat die wenigsten Worte seiner Sprache selbstschöpferisch geprägt, vielleicht, wahrscheinlich sogar, überhaupt keines, Die nazistische Sprache weist in vielem auf das Ausland zurück, übernimmt das meiste andere von vorhit-lerischen Deutschen. Aber sie ändert Wortwerte und Worthäufigkeiten, sie macht zum Allgemeingut, was früher einem einzelnen oder einer winzigen Gruppe gehörte, sie beschlagnahmt für die Partei, was früher Allgemeingut war, und in alledem durchtränkt sie Worte und Wortgruppen und Satzformen mit ihrem Gift, macht sie die Sprache ihrem fürchterlichen System dienstbar, gewinnt sie an der Sprache ihr stärkstes, ihr öffentlichstes und geheimstes Werbemittel. Das Gift der LTI deutlich zu machen und vor ihm zu warnen - ich glaube, das ist mehr als bloße Schulmeistere!. Wenn den rechtgläubigen Juden ein Eßgerät kultisch unrein geworden ist, dann reinigen sie es, indem sie es in der Erde vergraben. Man sollte viele Worte des nazistischen Sprachgebrauchs für lange Zeit, und einige für immer, ins Massengrab legen. 26 27 Leben selber, im nüchternen Leben der nüchternsten Stadt, wirkte sie mit der Gewalt einer absoluten Neuheit. Und es ging eine Ansteckung von ihr aus. Brüllende Menschen drängten sich bis dicht an die Truppe, die wild ausgestreckten Arme schienen hineingreifen zu wollen, die aufgerissenen Augen eines jungen Menschen in der vordersten Reihe trugen den Ausdruck religiöser Ekstase.--- Der Tambour war meine erste erschütternde Begegnung mit dem Nationalsozialismus, der mir bis dahin trotz seines Umsichgreifens für eine nichtige und vorübergehende Verirrung unmündiger Unzufriedener gegolten hatte. Hier sah ich zum erstenmal Fanatismus in seiner spezifisch nationalsozialistischen Form; aus dieser stummen Gestalt schlug mir zum erstenmal die Sprache des Dritten Reichs entgegen. III Grundeigenschaft: Armut Die LTI ist bettelarm. Ihre Armut ist eine grundsätzliche; es ist, als habe sie ein Armutsgelübde abgelegt. »Mein Kampf«, die Bibel des Nationalsozialismus, begann 1925 zu erscheinen, und damit war seine Sprache in allen Grundzügen buchstäblich fixiert. Durch die »Machtübernahme« der Partei wurde sie 1933 aus einer Gruppen-zu einer Volkssprache, d. h., sie bemächtigte sich aller öffentlichen und privaten Lebensgebiete: der Politik, der Rechtsprechung, der Wirtschaft, der Kunst, der Wissenschaft, der Schule, des Sportes, der Familie, der Kindergärten und der Kinderstuben. (Eine Gruppensprache wird immer nur diejenigen Gebiete umfassen, für die der Zusammenhang der Gruppe gilt, und nicht die Ganzheit des Lebens.) Natürlich bemächtigte die LTI sich auch, und sogar mit besonderer Energie, des Heeres; aber zwischen Heeressprache und LTI liegt eine Wechselwirkung vor, genauer: erst hat die Heeressprache auf die LTI gewirkt, und dann ist die Heeressprache von der LTI korrumpiert worden. Deshalb erwähne ich diese Ausstrahlung besonders. Bis in das Jahr 1945 hinein, fast bis zum letzten Tag - das »Reich« erschien noch, als Deutschland schon ein Trümmerhaufen und Berlin umklammert war - wurde eine Unmenge Literatur jeder Art gedruckt. Flugblätter, Zeitungen, Zeitschriften, Schulbücher, wissenschaftliche und schöngeistige Werke. 30 31 In all dieser Dauer und Ausbreitung blieb die LTI arm und eintönig, und man nehme das »eintönig« genauso buchstäblich wie vorhin das »fixiert«. Ich habe, wie sich mir gerade die Möglichkeit des Lesens ergab - wiederholt verglich ich meine Lektüre einer Fahrt im Freiballon, der sich irgendeinem Winde anvertrauen und auf eigentliche Steuerung verzichten muß - bald den »Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts« und bald ein »Taschenjahrbuch für den Einzelhandelskaufmann« studiert, jetzt eine juristische und jetzt eine pharmazeutische Zeitschrift durchstöbert, ich habe Romane und Gedichte gelesen, die in diesen Jahren erscheinen durften, ich habe beim Straßenkehren und im Maschinensaal die Arbeiter sprechen hören: es war immer, gedruckt und gesprochen, bei Gebildeten und Ungebildeten, dasselbe Klischee und dieselbe Tonart. Und sogar bei denen, die die Schlimmstverfolgten Opfer und mit Notwendigkeit die Todfeinde des Nationalsozialismus waren, sogar bei den Juden herrschte überall, in ihren Gesprächen und Briefen, auch in ihren Büchern, solange sie noch publizieren durften, ebenso allmächtig wie armselig, und gerade durch ihre Armut allmächtig, die LTI. Drei Epochen deutscher Geschichte habe ich durchlebt, die Wilhelminische, die der Weimarer Republik und die Hitlerzeit. Die Republik gab Wort und Schrift geradezu selbstmörderisch frei; die Nationalsozialisten spotteten offen, sie nähmen nur die von der Verfassung gewährten Rechte für sich in Anspruch, wenn sie in ihren Büchern und Zeitungen den Staat in all seinen Einrichtungen und leitenden Gedanken mit allen Mitteln der Satire und der eifernden Predigt zügellos angriffen. Auf den Gebieten der Kunst und Wissenschaft, der Ästhetik und der Philosophie gab es keinerlei Beschränkung. Niemand war an ein bestimmtes Dogma des Sittlichen oder des Schönen gebunden, jeder konnte frei wählen. Man rühmte diese vieltönige geistige Freiheit gern als einen ungemeinen und entscheidenden Fortschritt der kaiserlichen Epoche gegenüber. Aber war die Wilhelminische Ära wirklich soviel unfreier gewesen? Bei meinen Studien zur französischen Aufklärungszeit ist mir oft eine entschiedene Verwandtschaft zwischen den letzten Jahrzehnten des ancien regime und der Epoche Wilhelms II. aufgefallen. Gewiß, es gab unter dem XV. und XVI. Ludwig eine Zensur, es gab für Königsfeinde und Gottesleugner die Bastille und sogar den Henker, es wurde eine Reihe sehr harter Urteile gefällt - aber auf die Dauer der Epoche verteilt, sind es nicht allzu viele. Und immer wieder, und oft fast unbehindert, gelang es doch den Aufklärern, ihre Schriften zu veröffentlichen und zu verbreiten, und jede an einem der Ihrigen vollzogene Strafe hatte nur eine Verstärkung und Ausbreitung des rebellischen Schrifttums zur Folge. Sehr ähnlich herrschte unter Wilhelm II. offiziell noch absolutistische und moralische Strenge, es gab gelegentliche Prozesse wegen Majestätsbeleidigung oder Gotteslästerung oder Verletzung der Sittlichkeit. Aber der wahre Beherrscher der öffentlichen Meinung war der »Simplizissi-mus«. Durch kaiserlichen Einspruch kam Ludwig Fulda um den Schiller-Preis, der ihm für seinen »Talisman« verliehen worden war; aber Theater, Presse und Witzblatt leisteten sich hundertmal schärfere Kritiken des Bestehenden als der zahme »Talisman«. Und in der unbefangenen Hingabe an jede aus dem Ausland stammende geistige Strömung, und ebenso im Experimentieren auf literarischem, philosophischem, künstlerischem Gebiet, war man auch unter Wilhelm IL unbehindert. Nur in den allerletzten Jahren des 32 33 Kaisertums zwang die Notwendigkeit des Krieges zur Zensur. Ich selber habe nach meiner Entlassung aus dem Lazarett lange Zeit als Gutachter für das Buchprüfungsamt Ober-Ost gearbeitet, wo die gesamte für Zivil und Militär des großen Verwakungsgebietes bestimmte Literatur nach den Bestimmungen der Sonderzensur durchgesehen wurde, wo es also um einiges strenger zuging als in den Inlandzensurstellen. Mit welcher Weitherzigkeit wurde hier verfahren, wie selten wurde selbst hier ein Verbot ausgesprochen! Nein, in den beiden Epochen, die ich aus persönlicher Erfahrung übersehe, hat es eine so weitgehende literarische Freiheit gegeben, daß die ganz wenigen Fälle des Mundtotmachens als Ausnahmen gelten müssen. Die Folge davon war, daß sich nicht nur die generellen Sparten der Sprache, als Rede und Schrift, als journalistische, wissenschaftliche, dichterische Form, frei entfalteten, daß es nicht nur allgemeine titerarische Strömungen gab wie Naturalismus und Neuromantik und Impressionismus und Expressionismus, sondern daß sich auf allen Gebieten auch völlig individuelle Sprachstile entwickeln konnten. Man muß sich diesen bis 1933 blühenden und dann jäh absterbenden Reichtum vor Augen halten, um ganz die Armseligkeit der uniformierten Sklaverei zu begreifen, die ein Hauptcharakteristikum der LTI ausmacht. Der Grund dieser Armut scheint am Tage zu liegen. Man wacht mit einer bis ins letzte durchorganisierten Tyrannei darüber, daß die Lehre des Nationalsozialismus in jedem Punkt und so auch in ihrer Sprache unverfälscht bleibe. Nach dem Beispiel päpstlicher Zensur heißt es auf der Titelseite parteibetreffender Bücher: »Gegen die Herausgabe dieser Schrift bestehen seitens der NSDAP keine Bedenken. Der Vorsitzende der parteiamtlichen Prüfungs- kommission zum Schutze des NS.« Zu Wort kommt nur, wer der Reichsschrifttumskammer angehört, und die gesamte Presse darf nur veröffentlichen, was ihr von einer Zentralstelle aufgegeben wird, höchstens, daß sie den für alle verbindlichen Text in bescheidenstem Maße variieren darf - aber dieses Variieren beschränkt sich auf die Um-kletdung der für alle festgelegten Klischees. In den späteren Jahren des Dritten Reichs bildete sich die Gewohnheit heraus, daß am Freitagabend im Berliner Rundfunk Goebbels' neuester »Reich«-Artikel einen Tag vor Erscheinen des Blattes verlesen wurde, und damit war jedesmal bis zur nächsten Woche geistig fixiert, was in sämtlichen Blättern des nazistischen Machtbereichs zu stehen hatte. So waren es nur ganz wenige einzelne, die der Gesamtheit das alleingültige Sprachmodell lieferten. Ja, im letzten war es vielleicht der einzige Goebbels, der die erlaubte Sprache bestimmte, denn er hatte vor Hitler nicht nur die Klarheit voraus, sondern auch die Regelmäßigkeit der Äußerung, zumal der Führer immer mehr verstummte, teils um zu schweigen wie die stumme Gottheit, teils weil er nichts Entscheidendes mehr zu sagen hatte; und was etwa Göring und Rosenberg noch an eigenen Nuancen fanden, das wurde von dem Propagandaminister in sein Sprachgewebe eingewirkt. Die absolute Herrschaft, die das Sprachgesetz der winzigen Gruppe, ja des einen Mannes ausübte, erstreckte sich über den gesamten deutschen Sprachraum mit um so entschiedenerer Wirksamkeit, als die LTI keinen Unterschied zwischen gesprochener und geschriebener Sprache kannte. Vielmehr: alles in ihr war Rede, mußte Anrede, Anruf, Aufpeitschung sein. Zwischen den Reden und den Aufsätzen des Propagandaministers gab es keinerlei stilistischen Unterschied, weswegen sich denn auch seine Aufsätze so 34 35 bequem deklamieren ließen. Deklamieren heißt wörtlich: mit lauter Stimme, tönend daherreden, noch wörtlicher: herausschreien. Der für alle Welt verbindliche Stil war also der des marktschreierischen Agitators. Und hier tut sich unter dem offen zutage liegenden Grund ein tieferer für die Armut der LTI auf. Sie war nicht nur deshalb arm, weil sich jedermann zwangsweise nach dem gleichen Vorbild zu richten hatte, sondern vor allem deshalb, weil sie in selbstgewählter Beschränkung durchweg nur eine Seite des menschlichen Wesens zum Ausdruck brachte. Jede Sprache, die sich frei betätigen darf, dient allen menschlichen Bedürfnissen, sie dient der Vernunft wie dem Gefühl, sie ist Mitteilung und Gespräch, Selbstgespräch und Gebet, Bitte, Befehl und Beschwörung. Die LTI dient einzig der Beschwörung. In welches private oder öffentliche Gebiet auch immer das Thema gehört - nein, das ist falsch, die LTI kennt sowenig ein privates Gebiet im Unterschied vom öffentlichen, wie sie geschriebene und gesprochene Sprache unterscheidet -, alles ist Rede, und alles ist Öffentlichkeit. »Du bist nichts, dein Volk ist alles«, heißt eines ihrer Spruchbänder. Das bedeutet: du bist nie mit dir selbst, nie mit den Deinen allein, du stehst immer im Angesicht deines Volkes. Es wäre deshalb auch irreführend, wollte ich sagen, die LTI wende sich auf allen Gebieten ausschließlich an den Willen. Denn wer den Willen anruft, ruft immer den einzelnen, auch wenn er sich an die aus einzelnen zusammengesetzte Allgemeinheit wendet. Die LTI ist ganz darauf gerichtet, den einzelnen um sein individuelles Wesen zu bringen, ihn als Persönlichkeit zu betäuben, ihn zum ge-danken- und willenlosen Stück einer in bestimmter Richtung getriebenen und gehetzten Herde, ihn zum Atom ei- nes rollenden Steinblocks zu machen. Die LTI ist die Sprache des Massenfanatismus. Wo sie sich an den einzelnen wendet, und nicht nur an seinen Willen, sondern auch an sein Denken, wo sie Lehre ist, da lehrt sie die Mittel des Fanatisierens und der Massensuggestion. Die französische Aufklärung des achtzehnten Jahrhunderts hat zwei Lieblingsausdrücke, -themen und -sünden-böcke: Priestertrug und Fanatismus. Sie glaubt nicht an die Echtheit priesteriicher Gesinnung, sie sieht in allem Kult einen Betrug, der zur Fanatisierung einer Gemeinschaft und zur Ausbeutung der Fanatisierten erfunden ist. Nie ist ein Lehrbuch des Priestertrugs - nur sagt die LTI statt Priestertrug: Propaganda - mit schamloserer Offenheit geschrieben worden als Hitlers »Mein Kampf«. Es wird mir immer das größte Rätsel des Dritten Reichs bleiben, wie dieses Buch in voller Öffentlichkeit verbreitet werden durfte, ja mußte, und wie es dennoch zur Herrschaft Hitlers und zu zwölfjähriger Dauer dieser Herrschaft kommen konnte, obwohl die Bibel des Nationalsozialismus schon Jahre vor der Machtübernahme kursierte, Und nie, im ganzen achtzehnten Jahrhundert Frankreichs nie, ist das Wort Fanatismus (mit dem ihm zugehörigen Adjektiv) so zentral gestellt und bei völliger Wertumkeh-rung so häufig angewandt worden wie in den zwölf Jahren des Dritten Reichs. 36 37 XIX Familienanzeigen als kleines Repetitorium der LTI Geburtsanzeige aus dem »Dresdner Anzeiger« vom 27. Juli 1942: Volker Y 21. 7.1942. In Deutschlands größter Zeit wurde unserm Thorsten ein Brüderchen geboren. In stolzer Freude Else Hohmann ... Hans-Georg Hohmann, SS-Untersturmführer d. Res. Dresden, General-Wever-Straße. Geburt, Zeugung, Tod: das Allgemeinste und animalisch Wichtigste in jedem Menschenleben, die natürliche Gliederung jedes Menschenlebens. Wie sich Trichinen in den Gelenken eines Verseuchten ansammeln, so häufen sich Charakteristika und Klischees der LTI in den Familienanzeigen, und was ich an vielen Stellen unter mancherlei Gesichtspunkten als einzelnes beobachten kann, treffe ich zusammengedrängt in den Familienanzeigen oft eines einzigen Tages an, ganz vollzählig freilich erst, nachdem der Krieg mit Rußland in Gang gekommen ist und auf keine Weise mehr als Blitzkrieg betrachtet werden kann. Es ist von Wichtigkeit, dieses Datum anzugeben, denn damals gingen Artikel durch die Presse, in denen die allzu weichherzige oder fassungslose Trauer um einen auf dem Felde der Ehre Gefallenen als unwürdig und beinahe unpatriotisch und staatsfeindlich bezeichnet wurde. Das hat zur Heroisierung und Stoisierung der Gefallenenanzeigen entschieden beigetragen. Die Geburtsanzeige am Anfang dieser Notiz fügt dem überkommenen Klischeeschatz ein lehrreiches Neues aus Eigenem hinzu. Daß die Kinder einen Nibelungen- oder einen nordischen Namen tragen, daß der SS-Vater seinem von Natur simpleren Vornamen wenigstens durch den Bindestrich einen volleren Teutschton verleiht, daß statt des Sterns oder des Wortes »geboren« die Lebensrune gesetzt ist, das alles sind nur gehäufte Anwendungen bereits üblicher Nazismen, und das sind auch in meinem Notizbuch nur Wiederholungen. Daß man in einer Straße wohnt, die zu Ehren eines noch vor dem Kriege verunglückten Fliegergenerals der Hitlerarmee umgetauft wurde, ist bloße Glückssache, nicht eigenes Verdienst. Und »Deutschlands größte Zeit« ist ein fast bescheidener Superlativ unter den Superlativen, die zur Vergottung der Hitlerära im Schwange waren. Aber Neues und Lehrreiches ist in der stolzen Freude gegeben. Worauf sind die glücklichen Eltern denn stolz? Zeugungsfähigkeit ist für ein SS-Ehepaar selbstverständlich - ihm wäre ja sonst gar nicht die Erlaubnis zur Eheschließung gegeben worden. Und ein zweiter Sohn ist auch noch kein Anlaß zum Stolzsein: es werden weitaus höhere Menschenileischlieferungen gerade von der SS erwartet, die man gern wie Rassepferde oder -hunde zu Zuchtzwek-ken verwendet. (Man hat ihnen ja auch wie Tieren ein Herdenzeichen eingebrannt.) Dann bleibt nur stolze Freude auf die »größte Zeit« übrig. Aber stolz kann man doch nur auf etwas sein, woran man aktiv mitwirkt, und hinter dem Namen des SS-Vaters fehlt der Rang in der Armee und sogar das übliche »zur Zeit im Felde«. Stolz dürfte nach dem Sittenkodex des Dritten Reiches höchstens die Frau sein, die den Tod eines für den Führer gefallenen Familienmitgliedes anzeigte. Stolze Freude ist in dieser Geburtsanzeige völlig sinnlos. 162 163 Doch gerade in solcher Sinnlosigkeit liegt das Lehrreiche. Es handelt sich nämlich ganz offenbar um eine mechanische Analogiebildung zur »stolzen Trauer« in den Gefallenenanzeigen. Mechanische Analogiebildungen legen Zeugnis ab für die Häufigkeit und das Ansehen oder die einprägsame Wucht ihrer Modelle. Dem SS-Ehepaar ist es gedankenlos selbstverständlich, daß man eine Familienanzeige mit dem Ausdruck des Stolzes unterzeichnet, und so kommt denn seine stolze Freude zustande. Wird die stolze Trauer nach dem angegebenen Zeitpunkt vielfach als obligatorisch betrachtet und bisweilen durch die Versicherung verstärkt, daß man auf Wunsch des im heldenhaften Kampf Gefallenen darauf verzichtet habe, Trauerkleidung anzulegen, so ist »sonnig« als stereotypes Schmuckbeiwort selbst älterer Menschen von Anfang des Krieges an äußerst verbreitet. Es scheint, als sei im Hitlerreich jeder Germane jederzeit sonnig, so wie die Hera des Homer immer rinder-äugig und der große Karl des Rolandsliedes immer weißbärtig ist. Erst als sich die Sonne des Hitlertums schon tief verhüllt hat, und als das Epitheton sonnig schon ebenso abgegriffen wie tragikomisch wirkt, wird es seltener. Völlig verschwindet es bis zuletzt nicht, und wo man es vermeidet, ersetzt man es gern durch »lebensfroh«. Ganz zuletzt noch zeigt ein Oberst der Reserve den Tod seines »strahlenden Jungen« an. Sonnig bezeichnet sozusagen eine gemeingermanische Eigenschaft, stolze Trauer gebührt sich für den Patrioten schlechthin. Aber auch das spezifisch Nazistische einer Gesinnung läßt sich innerhalb der Traueranzeige ausdrücken; ja hierbei gibt es feine Abstufungen, die nicht nur der höchsten Begeisterung einen Sonderausdruck zu verleihen, sondern sogar (was ungleich schwerer) kritisches Beiseitestehen anzudeuten vermögen. Das Gros der Gefallenen hat die längste Zeit über sein Leben gelassen »für Führer und Vaterland«. (Diese Analogie zu dem altpreußischen »Für König und Vaterland«, einschmeichelnd durch die Alliteration, war vom ersten Kriegstage an überall verbreitet; dagegen hat sich ein gleich nach Hitlers Regierungsantritt unternommener Versuch, den 20. April als »Führers Geburtstag« zu bezeichnen, nicht durchgesetzt. Wahrscheinlich hat diese Analogie zu »Königs Geburtstag« der Parteileitung zu monarchistisch geklungen, und so blieb es beim »Geburtstag des Führers«, den man allenfalls durch die Wortstellung »Des Führers Geburtstag« ein wenig veraltdeutschen durfte.) Höhere Wärmegrade des Nazismus geben sich kund in den Wendungen: »er fiel für seinen Führer«, und »er starb für seinen geliebten Führer«, wobei das Vaterland ungenannt bleibt weil es in Adolf Hitler selber dargestellt und beschlossen ist wie der Leib des Herrn in der geweihten Oblate. Und dies ist der Ausdruck höchster nazistischer Glut, daß man Hitler in unzweideutigen Worten an die Stelle des Heilands setzt: »Er fiel im festen Glauben an seinen Führer.« Wiederum, wenn man mit dem Nationalsozialismus gar nicht einverstanden ist, wenn man seiner Abneigung, vielleicht gar seinem Haß, Luft machen möchte, ohne doch nachweisbare Opposition zu treiben, denn soweit reicht der Mut nun doch nicht, dann formuliert man: »Für das Vaterland fiel unser einziges Kind«, und läßt den Führer beiseite. Das entspricht ungefähr der Briefunterschrift »Mit deutschem Gruß«, die in den ersten Jahren von halbtapferen Leuten als Ersatz für »Heil Hitler« gewagt wurde. Im gleichen Maße wie die Zahl der Opfer anstieg und die Hoffnung auf Sieg sich verringerte, scheinen mir auch die Ausdrücke der Führerverehrung seltener geworden zu 164 165 sein, aber beschwören möchte ich das nicht trotz mancher Zeitungsprobe. Es mag da nämlich der steigende Mangel an Menschen und Material mitwirken, der immer mehr zur Zusammenlegung von Zeitungen und zur Raumverengung der einzelnen Blätter zwingt, woraus sich für die Familienanzeigen die Notwendigkeit der knappsten (oft durch Wortabkürzungen bis zur Unkenntlichkeit verstümmelten) Fassungen ergibt. Zuletzt wird, wie bei einem teuren Kabeltelegramm, an jedem Wort, an jedem Buchstaben gespart. 1939, als der Tod fürs Vaterland noch eine neue und nicht gar so alltägliche Sache war, als noch Überfluß an Papier und Setzern herrschte, gab es Gefallenenanzeigen, die ein großes dick umrandetes Quadrat füllten, und wenn der Held im Privatleben etwa Fabrik- oder Ladenbesitzer gewesen war, dann ließ es sich seine Gefolgschaft nicht nehmen, ihm von sich aus einen besonderen Nachruf zu widmen. Eine solche zweite Anzeige neben der der Witwe war für die Angestellten einer Firma unumgängliche Pflicht, und so gehört denn auch das gefühlsverlogene Wort »Gefolgschaft« in mein Repetitorium. War der Verewigte gar ein wirklich großes Tier gewesen, hoher Beamter oder mehrfacher Aufsichtsrat, dann kam es vor, daß sein Heldentod, drei-, viermal und noch öfter untereinander angezeigt, wohl ein halbes Zeitungsblatt ausfüllte. Da war freilich für Ergießungen und ausgebreitete Phrasen Platz. Zuletzt aber blieb der einzelnen Familienanzeige selten mehr als zwei Zeilen der engsten Spalte. Auch der Rahmen um die einzelnen Anzeigen fiel fort. Wie in einem Massengrab lagen die Toten in einem einzigen schwarz umzogenen Viereck eng zusammengepackt. An einer ähnlichen, wenn auch nicht ganz so schlimmen Raumverengung litten in der letzten Kriegszeit auch die Geburts- und Eheanzeigen, von denen immer nur wenige einer grausam langen Totenliste gegenüberstanden. Unter ihnen fiel, gar nicht allzu selten, eine absonderliche Eheschließung auf, die ebensogut auf der Totenseite hätte mitgeteilt werden können: Frauen teilten die nachträglich vollzogene Vermählung mit dem gefallenen Verlobten mit. In einer furchtbaren Anklageschrift, furchtbar durch ihr phrasenlos aufgehäuftes Material, die schon 1944 im Moskauer Verlag für fremdsprachliche Literatur erschien, in der Gegenüberstellung: »Hitlers Worte und Hitlers Taten«, werden gerade solche Anzeigen wie diese aus dem »Völkischen Beobachter«: »Ich gebe meine nachträgliche Eheschließung mit dem gefallenen Obergefreiten, Bordfunker Robert Haegele, stud.-ing., Inh. des EK II, bekannt ...«, zu den besonderen »Ungeheuerlichkeiten in Hitlerdeutschland« gerechnet. So viel Tragik aber auch hierin sowie in mancher der hier ebenfalls erwähnten »Ferntrauungen« enthalten ist, ein besonderes Charakteristikum des Nazismus, eine besondere Sünde neben der allgemeinen Versündigung durch den Raubkrieg, eine besondere Hy-bris, wie sie in der religiösen Formel steckt; »Gefallen im Glauben an Adolf Hitler«, bedeuten sie nicht; denn hinter ihnen kann gerade das stehen, was man sonst fast überall in dieser Epoche vermißt: ein rein Menschliches, vielleicht die Sorge um die Zukunft eines Kindes, vielleicht die Treue zu einem geliebten Namen. Auch sind die zugrunde liegenden juristischen Möglichkeiten nicht erst vom Dritten Reich gegeben worden. Man kehrt auf das eigentlich nazistische Gebiet zurück durch eine Rahmenbetrachtung im buchstäblichen Sinn. Die Toten des letzten Kriegsjahres werden, wie gesagt, auch durch die Zeitung ins Massengrab gelegt. Genauer genommen handelt es sich dabei jedesmal um zwei Grab- 166 167 statten, unbildlich: um zwei Rahmungen; die erste und vornehmere ist für die Leichen vom Felde der Ehre bestimmt, ein Hakenkreuz schmückt ihre linke obere Ecke, und daneben steht etwa: »Für Deutschland fielen ...« Der zweite Rahmen umschließt die Namen derer, die nur eben ziviüstisch gestorben sind, ohne alles heroische Verdienst um das Vaterland. Es fällt aber auf, daß sich in den ersten Rahmen gleichfalls und immer mehr Zivilisten drängen, Männer, bei denen nur der bürgerliche Beruf, kein militärischer Rang angegeben ist, Greise und Knaben, die selbst für das Hitlerheer zu alt und zu jung sind, dazu Frauen und Mädchen jeden Alters. Das sind die Toten des Bombenkrieges. Wenn sie irgendwo auswärts ums Leben gekommen sind, dann darf der Ort angegeben werden: »Beim Angriff auf Bremen wurde unsere geliebte Mutter ...« Sind sie dagegen hier zugrunde gegangen, dann darf die Nachbarschaft nicht durch eingestandene Verluste beunruhigt werden. In diesem Fall heißt die stereotype Formel der LTI: »Durch tragisches Geschick büßten ihr Leben ein ...« Damit verzeichnet mein Repetitorium den lügnerischen Euphemismus, der im Gefüge der LTI eine so ungemeine Rolle spielt. Das Schicksal dieser Opfer war nicht tragischer als das Schicksal von Hasen, die eine Treibjagd zur Strecke bringt. Nach einiger Zeit sonderte man sie denn auch durch einen dicken Querstrich von den Toten der Front ab. Jetzt gab es also drei Leichenklassen. Gegen diese Herabsetzung der Bombentoten lehnte sich aber der Berliner Volkswitz energisch auf. Man fragte: »Was ist feig?« Und die Antwort lautete: »Wenn sich einer von Berlin weg zur Front meldet.« XX Was bleibt? »Und sie dann septembrisieren ...« So ähnlich muß der Vers gelautet haben. Im Jahre 1909, als ich noch ganz unwissenschaftlich mit allen zehn Fingern schrieb, stellte ich für einen Populärverlag einen kleinen Abriß und eine kleine Anthologie deutscher politischer Lyrik des neunzehnten Jahrhunderts zusammen. Die Zeile stand bestimmt in einem Herweghschen Gedicht: Irgendwer, der König von Preußen oder die Reaktion als allegorische Bestie würde der Freiheit oder der Revolution oder irgendwelchen Parteigängern der Revolution irgendwie das Handwerk legen »und sie dann septembrisieren«. Das Wort war mir fremd, philologisches Interesse hatte ich damals nicht - der berühmte Tobler hatte mir's gründlich ausgetrieben, und Voßler kannte ich noch nicht -, so begnügte ich mich mit einem Blick in den kleinen Daniel Sanders, der alle um 1900 zur Allgemeinbildung gehörigen Fremdwörter und Eigennamen in erstaunlicher Vollzähligkeit verzeichnete. Dort stand etwa: Politische Massenmorde begehen, wie sie während der Großen Französischen Revolution im September 1792 verübt wurden. Der Vers, das Wort prägten sich mir ein. Im Herbst oder Winter 1914 wurden sie mir ins Gedächtnis zurückgerufen, und jetzt hatte ich Geschmack an sprachlichen Fragestellungen. Die »Neue Freie Presse« in Wien schrieb, 168 169