ZEITSCHRIFT FÜR HISTORISCHE FORSCHUNG Vierteljahresschrift zur Erforschung des Spätmittelalters u. der frühen Neuzeit Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? Herausgegeben von Johannes Kunisch, Klaus Luig, Peter Moraw, Heinz Schilling, Bernd Schneidmüller, Barbara Stollberg-Rilinger Beiheft 35 Herausgegeben von Barbara Stollberg-Rilinger Duncker & Humblot • Berlin Inhaltsverzeichnis Barbara Stollberg-Rilinger (Münster): Einleitung: Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?........................ 9 I. Konzepte und Begriffe Andreas Suter (Bielefeld): Kulturgeschichte des Politischen - Chancen und Grenzen ...................... 27 Gerhard Göhler (Berlin): Symbolische Politik - Symbolische Praxis. Zum Symbolverständnis in der deutschen Politikwissenschaft.................................................... 57 Reinhard Blänkner (Frankfurt [Oder]): Historizität, Institutionalität, Symbolizität. Grundbegriffliche Aspekte einer Kulturgeschichte des Politischen ................................................. 71 Rainer Walz (Bochum): Der Begriff der Kultur in der Systemtheorie ..................................... 97 Rudolf Schlögl (Konstanz): Interaktion und Herrschaft. Probleme der politischen Kommunikation in der Stadt ............................................................................... 115 Frank Becker (Münster): Begriff und Bedeutung des politischen Mythos .................................. 129 Kevin Sharpe (London): Politische Kultur, Autorität und Schrift im England der Frühen Neuzeit ...... 149 II. Fallstudien Birgit Emich (Freiburg): Frühneuzeitliche Staatsbildung und politische Kultur. Für die Veralltäg-lichung eines Konzepts............................................................ 191 Achim Landwehr (Düsseldorf): Das gezählte Volk. ,Bevölkerung' als Gegenstand einer Kulturgeschichte des Politischen......................................................................... 207 8 Inhaltsverzeichnis Antje Flüchter (Münster): Konfessionalisierung in kulturalistischer Perspektive? Überlegungen am Beispiel der Herzogtümer Jülich-Berg ................................................ 225 Silvia Serena Tschopp (Augsburg): .Rhetorik des Performativen' und .innere' Nationenbildung. Die vaterländische Festkultur im jungen schweizerischen Bundesstaat........................ 253 Ute Daniel (Braunschweig): Einkreisung und Kaiserdämmerung. Ein Versuch, der Kulturgeschichte der Politik vor dem Ersten Weltkrieg auf die Spur zu kommen ..................... 279 Thomas Groflbölting (Münster): Le memorie della repubblica. Geschichtspolitik in Italien nach dem Zweiten Weltkrieg .......................................................................... 329 Thomas Mergel (Bochum): Wahlkampfgeschichte als Kulturgeschichte. Konzeptionelle Überlegungen und empirische Beispiele.......................................................... 355 377 Autorenverzeichnis ..................................................•............... Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? Einleitung Von Barbara Stollberg-Rilinger, Münster Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? Mit dieser Titelfrage handelt man sich auf den ersten Blick mindestens drei Probleme ein: Es ist bekanntlich alles andere als eindeutig und unumstritten, was das Politische, als auch, was Kultur, als schließlich auch, was Kulturo/eschic/Ue ist - um so mehr gilt das für eine „Kulturgeschichte des Politischen". Nun kann es bei einer Arbeitstagung wie der, deren Beiträge hier dokumentiert sind, selbstverständlich nicht darum gehen, sich auf eine autoritative Definition dieser komplexen Begriffe zu einigen oder für ein bestimmtes geschichtswissenschaftliches Konzept hegemoniale Geltung zu beanspruchen. Sinn der Veranstaltung war vielmehr eine Bestandsaufnahme, welche geschichtswissenschaftlichen Ansätze derzeit unter diesem Etikett firmieren, worin fundamentale Gemeinsamkeiten, aber auch, worin Unterschiede liegen, welche theoretischen Konzepte prominent dazu herangezogen werden, welche Gegenstandsbereiche damit erschlossen werden und welche noch zu erschließen sind. Dahinter stand die Frage, auf welche Weise und mit welchem Ergebnissen die sogenannte kulturalistische Wende für die Politische Geschichte fruchtbar gemacht worden ist und zukünftig noch gemacht werden kann1. Schließlich ging es auch darum, zur Klärung einiger verbreiteter 1 Zur „Neuen Kulturgeschichte" programmatisch zuerst Lynn Hunt (Hrsg.), The New Cultural History (Studies on the History of Society and Culture, 6), Berkeley 1989; der umfassendste und am besten orientierende Überblick bei Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselworte, Frankfurt a. M. 2001; zuletzt Lutz Raphael, Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, München 2003, 228-247; Martin Dinges, Neue Kulturgeschichte, und Roger Chartier, New Cultural History, beide in: Kompass der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch, hrsg. v. Günther Lottes, Göttingen 2002,179-192 bzw. 193-205; vgl. ferner die Sammelbände: Wolfgang HardtwigI Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.),Kulturgeschichte heute, Gottingen 1996; Thomas Mergel I Thomas Welskopp (Hrsg.), Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft. Beiträge zur Theoriedebatte, München 1997; Christoph Conrad IMartina Kessel (Hrsg.), Kultur und Geschichte, Stuttgart 2000. Zum größeren Kontext der Kulturwissenschaften zuletzt Ansgar Nünning / Vera Nünning (Hrsg.), Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische Grundlagen - Ansätze - Perspektiven, Stuttgart/Weimar 2003 (darin insbes. Ute Daniel, Kulturgeschichte, 186-204); Heinz-Dieter Kittsteiner, Was sind Kulturwissenschaften? 13 Antworten, Paderborn 2004; Lutz Wusnert Gisela Wunberg 10 Barbara Stollberg-Rilinger Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? 11 Mißverständnisse beizutragen, mit denen gerade eine Kulturgeschichte des Politischen immer noch konfrontiert ist. Kulturgeschichte und Politische Geschichte sind bekanntlich lange Zeit als Gegensatz aufgefaßt worden; die Kulturgeschichte verstand sich geradezu als Gegenveranstaltung zur Politischen Geschichte2. Das ist inzwischen nicht mehr der Fall - zumindest nicht aus der Perspektive der Neuen Kulturgeschichte, allerdings wohl doch immer noch aus der Perspektive der konventionellen Politik- und Verfassungsgeschichte3. Die Formulierung „Kulturgeschichte des Politischen" jedenfalls hebt diesen Gegensatz auf und setzt damit stillschweigend schon voraus, daß Kultur nicht im engeren Sinne verstanden wird als ein sektoraler Gegenstandsbereich neben anderen - also als das, was eben nicht Politik, Ökonomie, soziale Ordnung, Religion usf. ist, daß ihr also nicht ein gewissermaßen feuilletonistischer, klas-sisch-bildungsbürgerlicher Begriff von Kultur zugrundeliegt4. Vielmehr haben die unter dem Etikett „Kulturgeschichte des Politischen" versammelten Ansätze gemein, daß sie von einem weiten, sozialanthropologischen Kulturbegriff ausgehen, wonach Kultur über die fundamentale Fähigkeit des Menschen zur Symbolerzeugung definiert wird und die Gesamtheit der symboli- (Hrsg), Kulturwissenschaften. Forschung - Praxis - Positionen, Wien 2002; Friedrich JaegerIBurkhard Liebsch (Hrsg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, 3 Bde., Stuttgart/Weimar 2004. 2 Zur Geschichte der älteren Kulturgeschichte v.a. Stefan Haas, Historische Kulturforschung in Deutschland 1880-1930. Geschichtswissenschaft zwischen Synthese und Pluralität, Köln [u. a.] 1994; Friedrich Jaeger, Bürgerliche Modernisierungskrise und historische Sinnbildung. Kulturgeschichte bei Droysen, Burckhardt und Max Weber, Göttingen 1994. Schon die ältere „Kulturgeschichte" stellte keineswegs ein einheitliches Paradigma dar, sondern umfaßte verschiedene Richtungen, die sich vor allem über die Abgrenzung von der etablierten Historie definierten. 3 Vgl. z. B. Winfried Schulze, Die frühe Neuzeit zwischen individueller Erfahrung und strukturgeschichtlichem Zugriff. Erfahrungen, Defizite, Konzepte, in: Menschen und Strukturen in der Geschichte Alteuropas. Festschrift für Johannes Kunisch, hrsg. v. Helmut Neuhaus/Barbara Stollberg-Rilinger (Historische Forschungen, 73), Berlin 2002, 71-90, hier 83, wonach die Kulturgeschichte zu der Geschichte der politischen Institutionen und Mechanismen (hier: des Alten Reiches) geradezu „quer stehe". -Vgl. auch den aktuellen Bericht von Philipp Menger über die von Thomas Nicklas und Hans Christoph Kraus organisierte Tagung „Geschichte der Politik - Alte und neue Wege" (1.-3. 10. 2004), im Internet unter http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=655. Dort wird die Befürchtung geäußert, daß die kul-turalistischen Ansätze „in ihrer radikalen Variante die Redundanz der Politikgeschichte propagierten und, in ihrer weniger radikalen Form, immer noch danach trachteten, sich die Politikgeschichte einzuverleiben". 4 Auch diese Position wird nach wie vor vertreten, etwa (allerdings nicht konzeptionell explizit ausgeführt) im „Archiv für Kulturgeschichte" oder bei Michael Maurer (Hrsg.), Aufriß der Historischen Wissenschaften, Bd. 3: Sektoren, Stuttgart 2004. - Der bildungsbürgerliche Kulturbegriff, halbherzig verbunden mit dem Verständnis von Kultur als materieller Kultur des einfachen Volkes zuletzt noch bei Peter C. Bartmann, Kulturgeschichte des Heiligen Römischen Reiches 1648-1806, Köln 2001. sehen Hervorbringungen - von der Sprache über die Institutionen und Alltagspraktiken bis zur Wissenschaft - umfaßt. Dabei wird der dialektische Charakter des symbolischen Weltbezugs betont: Das kulturelle Bedeutungsgeflecht ist den einzelnen als objektives und kollektives immer schon vorgegeben, ebenso wie es umgekehrt von den einzelnen stets aufs Neue reproduziert und modifiziert wird5. Um Mißverständnissen vorzubeugen, scheint es sinnvoll, zwischen zweierlei Ebenen der Symbolisierung zu unterscheiden6; Auf der einen Ebene handelt es sich um die fundamentale Konstituierung der sozialen Welt durch Symbolsysteme im weitesten Sinne, allen voran die Sprache. Darauf zielt der weite Symbolbegriff etwa von Ernst Cassi-rer. Auf der anderen Ebene handelt es sich um Symbolik im engeren Sinne, sozusagen um Symbole zweiter Ordnung (Walz), also eine besondere Spezies von Zeichen, die in verdichteter (verbaler, visueller, gegenständlicher oder gestischer), nichtdiskursiver Form über sich selbst hinaus auf etwas anderes, auf einen größeren Zusammenhang verweisen, also sprachliche Metaphern, Bilder, Artefakte, Gebärden, komplexe symbolische Handlungssequenzen wie Rituale und Zeremonien, aber auch symbolische Narrationen usf. Da Symbole keine Entitäten sind, sondern in einer Beziehung zwischen Entitäten bestehen, kann grundsätzlich alles zum Symbol werden. Das hier skizzierte Kulturverständnis hat zur Folge, daß alle Geschichte Kulturgeschichte ist bzw. als solche thematisiert werden kann. Wird das Konzept für Historiker damit unbrauchbar, weil es keinen Gegenstands- 5 Vgl. die Ausführungen von Walz im vorliegenden Band, 97 ff. - Grundlegend dafür Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Darmstadt 1997; Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur, Bonn 1956; ders., Mensch und Institutionen, in: ders., Anthropologische und sozialpsychologische Untersuchungen, Hamburg 1986, 69-77; Alfred Schütz, Strukturen der Lebenswelt, 2 Bde., Neuwied 1974; vgl. Karl-Siegbert Rehberg, Weltrepräsentanz und Verkörperung. Institutionelle Analyse und Symboltheorien - eine Einführung in systematischer Absicht, in: Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, hrsg. v. Gert Melville, Köln [u. a.) 2001; ders., Die stabilisierende „Fiktionalität" von Präsenz und Dauer. Institutionelle Analyse und historische Forschung, in: Institutionen und Ereignis, hrsg. von Bernhard Jussen/Reinhard Blän-kner, Göttingen 1998, 381-407; vgl. auch den nützlichen Überblick von Dirk Hülst, Symbol und soziologische Symboltheorie. Untersuchungen zum Symbolbegriff in Geschichte, Sprachphilosophie, Psychologie und Soziologie, Opladen 1999. - Die Neue Kulturgeschichte nahm allerdings den Umweg über die Rezeption ethnologischer Ansätze insbesondere von Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a. M. 1983; vgl. dazu zuletzt den Überblick von Christoph lamme, Symbolische Bedeutungsansprüche der Kulturen, in: Handbuch der Kulturwissenschaften (Anna. 1), Bd. 1, 207-218. 6 Vgl. im vorliegenden Band die Vorschläge von Gerhard Göhler, 61 f., und aus systemtheoretischer Perspektive von Rainer Walz, 110 f.; vgl. auch die Überlegungen von Rudolf Schlögl, Symbole in der Kommunikation. Zur Einführung, in: Die Wirklichkeit der Symbole, hrsg. v. dems. / Bernhard Giesen/Jürgen Osterhammel (Historische Kulturwissensehaften, 1), Konstanz 2004, 9-40. 12 Barbara Stollberg-Rilinger bereich ausschließt? Darauf ist geantwortet worden, daß die Neue Kulturgeschichte eben nicht von bestimmten Gegenständen her zu definieren ist, sondern von einer spezifischen Perspektive auf alle möglichen Gegenstände7. Diese Perspektive besteht im wesentlichen darin, historische Phänomene immer als Ergebnisse von (impliziten oder expliziten) Sinnzuschrei-bungen, Geltungsbehauptungen und Deutungskonflikten der Akteure zu beschreiben. Es ist eine Perspektive der Fremdheit, ein „ethnologischer Blick", der seine Gegenstände zunächst einmal grundsätzlich als deutungsbedürftig wahrnimmt und gerade das scheinbar Selbstverständliche nicht als selbstverständlich hinnimmt. Es erscheint dann als die wesentliche Leistung des kulturalistischen Ansatzes, daß er die Hermeneutik auf dem Umweg über die Ethnologie in die Geschichtswissenschaft „reimpor-tiert" und die „die Erkenntnis von der Unhintergehbarkeit hermeneuti-scher Zugänge zur Geschichte" in einem fundamentalen Sinne neu belebt hat8. Daß dieser ethnologische Blick nun zunehmend auch auf Gegenstände der klassischen Politik- und Verfassungsgeschichte geworfen wird - zuerst auf die der Vormoderne, aber inzwischen zunehmend auch auf die der Moderne -, ist offensichtlich durch verschiedene gesellschaftliche Umstände begünstigt, wenn nicht sogar überhaupt erst ermöglicht worden. Erstens stirbt das Bildungsbürgertum als normsetzende soziale Formation bekanntlich aus und mit ihm auch das konventionelle Verständnis von Kultur als dem Schönen, Wahren und Guten jenseits der ökonomischen und machtpolitischen Zwänge". Zweitens hat die gegenwärtige Medienrevolution 7 So Daniel, Kompendium Kulturgeschichte (Anm. 1), 8 ff.; vgl. etwa auch Raphael, Geschichtswissenschaft (Anm. 1), 229. 8 Daniel, Kulturgeschichte, in: Konzepte der Kulturwissenschaften (Anm. 1), 199; Thomas Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in; Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), 574-607; ders,, Kulturwissensehaft der Politik; Perspektiven und Irends, in; JaegerI Liebsch, Handbuch der Kulturwissenschaften (Anm. 1), Bd. 3, 413-425; ähnlich Achim Landwehr, Diskurs - Macht - Wissen. Perspektiven einer Kulturgeschichte des Politischen, in; AKG 85 (2003), 71-117; vgl. auch Rainer Walz, im vorliegenden Band, 102 ff., der dies mit Luhmann als „Reflexivwerden der Politik" beschreibt; ferner - für die angelsächsische Debatte - Kevin Sharpe, ebd. 167. - Eine eigene Position vertritt Wolfgang Reinhard, Was ist europäische politische Kultur? Versuch zur Begründung einer politischen Historischen Anthropologie, in; Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), 593-616; er nennt Kultur im weitesten Sinne ein „erlerntes Programm zur Regelung von Verhalten samt dem Niederschlag dieses Verhaltens in Objektivationen wie Texten, Bau- und Kunstwerken, Institutionen"; wobei dieses Verhalten keineswegs auf Symbole zu reduzieren sei. Stärker als andere Kulturwissenschaftler betont er, daß Praxis durchaus auf rationalem Interessenkalkül beruhe - „aber seltener mittels umfassender theoretischer Entwürfe als vielmehr kraft Bewährung in der Praxis auf politischen Machtmärkten" (ebd. 596). y Norbert Schindler spricht in diesem Zusammenhang treffend von der „bürgerlichen Zwei-Reiche-Lehre"; Norbert Schindler, Jenseits des Zwangs? Zur Ökonomie Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? 13 nicht nur den Blick für das Nichtdiskursive und fnszenatorische in der Politik geschärft, sondern - viel grundsätzlicher - die desillusionierende Erkenntnis von der Unhintergehbarkeit medialer Konstruktionen begünstigt. Drittens geht die Epoche der souveränen Staatlichkeit offensichtlich zu Ende, so daß deren Kategorien nicht mehr als Fluchtpunkte historischer Beschreibung dienen und in radikalerer Weise als bisher einem kulturrelativistischen Blick unterzogen werden können - ähnlich wie die gesamte christliche Kulturtradition, die für die jüngere Generation von Historikern weithin fast ebenso fremd geworden ist wie die Kulturen der Ndembu oder Bororo. Schließlich ist auch die grundlegend gewandelte berufliche Identität der jüngeren Historiker in Rechnung zu stellen10: Nur wenige können und wollen sich heute noch hinreichend mit den politischen Akteuren identifizieren, um diesen die Legitimationsmuster und Sinnstiftungsangebote zu liefern, deren sie so dringend bedürfen. Doch auch der ideologiekritische Gestus ist mit den Gewißheiten, die er voraussetzte, weithin geschwunden. Angesichts tiefgreifender sozialer Unsicherheit, total destruierter Fortschrittserwartungen und der alltäglichen Erfahrung pluralistischer Beliebigkeit liegt ein Verhältnis zur Politik nahe, das antiidentifikatorisch und dekonstruktivistisch, nicht kontinuitätsstiftend und traditionsbewußt ist. Damit unterscheidet sich die neue Kulturgeschichte des Politischen von älteren Arbeiten zur Politischen Kultur, auch wenn diese es zumindest teilweise mit denselben Gegenständen zu tun hatten, nämlich mit Herrschaftsund Staatssymbolen, Festen und Feiern, Mythen und Metaphern. Das Anliegen einer Kulturgeschichte des Politischen ist also die Dekon-struktion jedes überhistorisch-universalisierenden und essentialistischen Verständnisses politischer Handlungsformen und Institutionen, Wertvorstellungen und Motive. Der Weg dazu führt über die Rekonstruktion von Diskursen, Praktiken und Objektivationen, in denen sich die zeitgenössischen Bedeutungsstrukturen greifen lassen, ohne die wiederum die zeitgenössischen Macht- und Herrschaftsstrukturen nicht angemessen zu verstehen sind. Die skizzierte Auffassung von Kultur im allgemeinen prägt entsprechend das Verständnis des Politischen im besonderen: Auch dafür läßt sich eine essentialistische oder gar normative Definition nur mehr schwer geben. Als hinreichend formale, weithin 'konsensfähige und heuristisch nützliche Definition kann diejenige gelten, wonach Politik es zum einen des Kulturellen inner- und außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft, in: ZfVolkskun-de 81 (1985), 192-219. "Vgl- z. B. die Überlegungen von Valentin Groebner, Welche Themen, wessen Frü-fte Neuzeit? Kulturbegrifi und Gegenwartsbezug, in: Zwischen den Disziplinen? Per-7 Mnf Frulmeuzeitforschung, hrsg. v. Helmut Puff / Christopher Wild, Göttingen 2003, 21 -36. - Eine Ausnahme macht derzeit vielleicht der Europa-Diskurs- hier erscheint es für manche Historiker durchaus verlockend, die dringend geforderten imnstiftungsleistungen zu liefern. 14 Barbara Stollberg-Rilinger stets mit dem Ganzen und zum anderen mit Entscheidungen zu tun hat: Das Politische ist danach der Handlungsraum, in dem es um die Herstellung und Durchführung kollektiv verbindlicher Entscheidungen geht11. Diese Definition schließt nicht aus, daß der Raum des Politischen historisch jeweils ganz unterschiedlich (und mit einem unterschiedlichem Ausmaß an struktureller Autonomie) abgegrenzt und ausgestaltet worden ist. Nicht nur ist die Frage, welche Materien jeweils als politisch im genannten Sinne ausgegeben und durchgesetzt werden, selbst Gegenstand von Aushandlungsund Deutungskämpfen12. Sondern noch viel fundamentaler: Was dieses kollektive politische Ganze jeweils ausmacht, auf das sich Entscheidungen beziehen, ist nicht nur historisch variabel, es ist seinerseits immer schon das Ergebnis von Bedeutungszuschreibungen. Politische Einheiten, kollektive Akteure wie Kommune, Staat, Kirche, Reich, Volk oder Nation haben insofern den Charakter handlungsleitender Fiktionen, als sie erst durch Repräsentationsprozesse - im doppelten Sinne des Begriffs: sowohl durch institutionalisierte Zurechnungsverfahren als auch durch symbolische Verfahren der Darstellung und Verkörperung - zur Existenz gelangen13. 11 Vgl. Gerhard Göhler, Der Zusammenhang von Institution, Macht und Repräsentation, in: Institution - Macht - Repräsentation. Wofür politische Institutionen stehen und wie sie wirken, hrsg. v. dems./Rudolf Speth, Baden-Baden 1997, 11-62; oder Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2000. - Auf die Unterscheidung zwischen der „Politik" und dem „Politischen" wird hier kein größeres Gewicht gelegt; die Bezeichnung „das Politische" wird lediglich deswegen bevorzugt, weil sie nicht die Existenz eines ausdifferenzierten Funktionssystems „Politik" suggeriert, das erst mit dem modernen Staat gegeben ist. - Anders allerdings Thomas Mergel im vorliegenden Band, 361 f. 12 Vgl. zum Begriff des Politischen im vorliegenden Band Landwehr, 210 f.; Mergel, 361 f.; Blänkner, 77 ff.; vgl. auch die sehr weite Definition im Programm des Bielefelder SFB „Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte"; dazu Ute Frevert, Neue Politikgeschichte, in: Kompass der Geschichtswissenschaft (Anm. 1), 152-164. 13 Vgl. etwa Pierre Bourdieu, Sozialer Raum und „Klassen". Zwei Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1985, 37 ff. Hasso Hofmann, Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis zum 19, Jahrhundert, Berlin 1974; Rehberg, Die stabilisierende „Fiktionalität" (Anm. 5); ferner Horst Jürgen Belle, Symbolbegriff und Handlungstheorie, in: Kölner Zs. für Soziologie und Sozialpsychologie 20 (1968), 17-37; Rudolf Speth, Symbol und Fiktion, in: Institution - Macht - Repräsentation (Anm. 11), 65-142. - Für die Frühe Neuzeit Barbara Stollberg-Rilinger, Die zeremonielle Inszenierung des Reiches, oder: Was leistet der kulturalistische Ansatz für die Verfassungsgeschichte? In: Imperium Romanum - irreguläre Corpus - Teutscher Reichs-Staat, hrsg. v. Matthias Schnettger, Mainz 2002, 233-246; dies., Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Begriffe - Thesen - Forschungsperspektiven, in: ZHF 31 (2004), 489-527; demnächst dies., Herstellung und Darstellung politischer Einheit. Instrumentelle und symbolische Dimensionen politischer Repräsentation im 18. Jahrhundert, in; Herrschafts(re)präsentationen. Zur symbolischen Konstitution des Politischen, hrsg. von Jan Andres [u. a.J (im Druck). Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? 15 Die so verstandene Kulturgeschichte des Politischen hat nicht nur Mißverständnisse provoziert, sondern auch eine Reihe ernst zu nehmender Vorwürfe auf sich gezogen, die einer ausführlichen Richtigstellung nach wie vor bedürfen. Die gängigsten Vorwürfe, mit denen sich auch die Beiträge dieses Bandes implizit oder explizit auseinandersetzen, sollen hier noch einmal rekapituliert und beantwortet werden. > 1. Ein alter Vorwurf - und ein immer noch begegnendes Mißverständnis, das erst vor kurzem wieder polemisch überspitzt formuliert worden ist -lautet, eine politische Geschichte, die sich als Kulturgeschichte verstehe, behandele bloße Oberflächenphänomene und dringe nicht zum „Eigentlichen" der Politik vor: nämlich zu Macht, Gewalt und Interesse als anthropologischen Grundkonstanten des politischen Handelns, „so wie sie waren und wie sie sind". Vor allem aus der Perspektive der traditionellen Politikgeschichte wird gern unterstellt, die Kulturgeschichte begnüge sich mit Belanglosigkeiten: „Vor einer Kriegserklärung verstummt die Frage nach den Gamaschenknöpfen Sieht man einmal von aller verzerrenden Polemik ab, so bleibt als Kern die Auffassung, die Kulturgeschichte des Politischen beschäftige sich mit effektvollen Inszenierungen und ornamentalen Äußerlichkeiten, die nicht w So Thomas Nieklas, Macht - Politik - Diskurs. Möglichkeiten und Grenzen einer Politischen Kulturgeschichte, in: AKG 86 (2004), 1-25. „Die Macht mit allen Formen ihrer Ausübung" entziehe sich vollständig der „konstruktivistischen Bearbeitung", sie sei „das unheimliche Band, das alle Primaten umschlingt" (ebd., 5). - Der Verfasser diskreditiert sein Anliegen durch ungewöhnlich überzogene polemische Verzerrung und leistet damit jener „Vergiftung" der Geschichtswissenschaft Vorschub, die er den Vertretern der Politischen Kulturgeschichte seinerseits vorwirft (ebd., 3). So ist z. B. die Rede von deren ,,habituelle[m] Ritus der Rebellion" und von ,,elegische[m] Epigonentum", an dem das historische Denken selbst zugrunde zu gehen drohe. Der traditionellen Politikgeschichte wird offenbar die „harte Aufbauarbeit am historischen Kontext" und die „gewissenhafte Interpretation" „auf der Basis historischer Quellen" vorbehalten, während die Kulturgeschichte durch Metaphern wie „Fallenstellerei nach den Symbolen", „Beschwörung" u.a. mit dem Ruch des handwerklich Unseriösen umgeben wird (ebd., 20). „Der verfremdende Blick des in theoretischer Einseitigkeit verhärteten Kulturalisten führt zur Verarmung und am Ende zur Sprachlosigkeit" (ebd., 19). Der klassische Politikhistoriker hingegen zeichnet sich gleichermaßen durch moralische wie kognitive Qualitäten aus: Er weiß „den Ernst der Welt zu ertragen" und wiederholt - man darf erganzen: im Gegensatz zum Kulturhistoriker - nicht mehr die „Märchen seiner Amme" (ebd., 21). - Die Vorstellung von einer „fruchtbaren Zusammenarbeit", die Nicklas anschließend den nach diesen Anwürfen vermutlich nicht mehr sonderlich kooperationsbereiten Kulturhistorikern großzügig anbietet, ist dann allerdings von eklatanten Mißverständnissen geprägt. Der Kulturgeschichte werden nach wie vor die „Randbereiche des Politischen", äußerliche Zeichen („Signa extranea") und dergleichen zugewiesen. Politische Sprachen, Wahrnehmungen und Sinnwelten, „Erlebnisse" und „Bilder in den Köpfen" werden als legitime Gegenstände einer Politischen Kulturgeschichte zwar akzeptiert, aber grundsätzlich als Epiphä-nomene aufgefaßt. Eine argumentative Auseinandersetzung mit den theoretisch-konzeptionellen Fundamenten der Kulturgeschichte findet nicht statt. 16 Barbara Stollberg-Rilinger nur über das wahre Wesen des Politischen nichts aussagten, sondern schlimmer noch: es geradezu verschleierten. Diese Charakterisierung trifft für weite Bereiche vor allem der älteren Politischen Kulturforschung zweifellos zu. Für diesen Zweig der Politikwissenschaft waren im wesentlichen zwei Ansätze prägend: zum einen das klassische civic cuiture-Konzept im Anschluß an Gabriel Almond und Sidney Verba, das einen ausgeprägt normativen Grundzug aufwies und dem es um die Frage ging, wie ein dem modernen demokratischen Rechtsstaat gemäßer staatsbürgerlicher Habitus zustandekomme, und zum anderen das Konzept der „symbolischen Politik" im Anschluß an Murray Edelman, der das Symbolische in einem ideologiekritischen Sinne als mediale Inszenierung der politischen Elite gegenüber der uninformierten Masse zu entlarven suchte16. Beide Konzeptionen beruhen auf der Annahme, daß man die Darstellung und Wahrnehmung des Politischen von den „eigentlichen" Maehtstrukturen und Entscheidungspro-zessen unterscheiden, mithin Form und Inhalt voneinander trennen könne -so als wären nicht auch die Strukturen immer schon von Wahrnehmungsmustern durchdrungen, ebenso wie umgekehrt die Wahrnehmungsmuster in objektiven Gegebenheiten wurzeln16. Von einem solchen Verständnis ihres Gegenstandes haben sich die Vertreter einer kulturalistisch orientierten Politikgeschichte mehrfach ausdrucklich distanziert. Ihnen geht es, wie auch die Beiträge des vorliegenden Bandes dokumentieren17, vielmehr gerade darum, Gegenüberstellungen wie die von „symbolischer" und „realer" Politik, von Schein und Sein, Form und Inhalt, von Deutungssystemen einerseits und Macht-, Herrschafts- und Interessenstrukturen andererseits aufzubrechen und zu zeigen, welch fundamentale Rolle symbolische Praktiken und diskursive Strukturen schon bei der Konstitution von politischen Institutionen, Ordnungskategorien, Geltungs- und nicht zuletzt Herrschaftsansprüchen spielen. Das bedeutet selbstverständlich nicht, daß es keine bewußt kalkulierten Inszenierungen seitens politischer Akteure gäbe, die der 15 Gabriel A. Almond I Sydney Verba, The Civic Culture: Political Attitudes and Democracy in Five Nations, Princeton 1963; Murray J. Edelman, Politik als Ritual. Die symbolische Funktion staatlicher Institutionen und politischen Handelns, Frankfurt a. M. 1976 (Orig.ausgaben 1967 und 1971); für die deutsche Forschung vor allem zum einen Karl Rohe, Politische Kultur und ihre Analyse, in: Historische Zeitschrift 250 (1990), 333-346; zum anderen Ulrich Sarcinelli, Symbolische Politik, Opladen 1987; Rüdiger Voigt (Hrsg.), Symbole der Politik - Politik der Symbole, Opladen 1989; plakativ Thomas Meijer, Die Inszenierung des Scheins. Voraussetzungen und Folgen symbolischer Politik, Frankfurt a. M. 1992; vgl, zur Forschungsgeschichte Mergel, Kulturgeschichte der Politik (Anm. 8). 16 So Bourdieu, Sozialer Raum (Anm. 13), hier 18. - Vgl. auch Christoph Wul]IMichael Göhlich!Jörg Zirfas (Hrsg.), Grundlagen des Periormativen. Eine Einführung in die Zusammenhänge von Sprache, Macht und Handeln, Weinheim/München 2001; Hans-Georg Soeffner/Dirk Tänzler (Hrsg.), Figurative Politik. Zur Performanz der Macht in der modernen Gesellschaft, Opladen 2002. 17 Vgl. im vorliegenden Band vor allem Göhler, 60 ff.; Mergel, 363 ff; Landwehr. 210 ff; Suter, 27 ff.; Sharpe, 160 ff. Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? 17 Verschleierung dienen, oder daß diese nicht Gegenstand der Kulturgeschichte des Politischen seien. Es bedeutet vielmehr, daß es keine völlig „nackte", „unverschleierte" soziale Realität gibt, die nicht immer schon durch die Sinnzuschreibungen und Bedeutungskategorien in den Köpfen aller Beteiligten (nicht nur des „Volkes", sondern auch der politischen Akteure selbst) auf die eine oder andere Weise strukturiert wäre. Daß gerade das Verständnis von Macht und Herrschaft (man könnte hinzufügen: selbst von Gewalt'8) nicht ohne die Analyse kollektiver Vorstellungen und Zuschrei-bungen auskommt, hat übrigens schon Thomas Hobbes mit großer Klarheit ausgesprochen: „Im Ruf von Macht stehen ist Macht19." Allen denjenigen, die die kulturalistische Politikgeschichte gegen eine Geschichte der „wahren Macht" ausspielen wollen, ist entgegenzuhalten, daß sie ohne den Blick für das Imaginäre von Macht und Herrschaft deren eigener Aura aufsitzen, anstatt sie zu analysieren. 2. Aus ganz anderer Perspektive ist ein ähnlicher Vorwurf gegen die Behandlung von Kultur als Bedeutungssystem erhoben worden - ein Vorwurf, der zwar nicht ausdrücklich auf die Kulturgeschichte des Politischen bezogen, aber von dieser besonders ernst zu nehmen ist. Auch dabei wird das Anliegen der Kulturgeschichte verkürzt und behauptet, es gehe ihr um „nichts als Bedeutungen". So hat zuletzt Gadi Algazi polemisch von „Kulturkult" gesprochen: Man übertrage hermeneutische Verfahren, die bisher auf die „bildungsbürgerlichen Monumente der Hochkultur" angewandt worden sind, auf die Kultur im allgemeinen und reduziere damit Geschichte auf beliebige „Lektüren" vergangener „Texte"20. Dabei unterlege man alltäglichen kulturellen Praktiken subtile tiefere Bedeutungen, die den Beteiligten nicht bewußt gewesen seien und um die es ihnen gar nicht gegangen sei, weil sie „den Zwängen des Alltags und der Dringlichkeit ihrer Bedürfnisse ausgeliefert" gewesen seien. Kultur, so schlägt Algazi stattdessen vor, müsse als System von Handlungsrepertoires aufgefaßt werden, die der Praxis bestimmte Optionen - „Modelle, Scripts, templates und fertige Elemente" - für das Handeln eröffneten und andere nicht. So sinnvoll dieser letzt- 13 Vgl. dazu die Argumentation von Thomas Mergel im vorliegenden Band, 363 f. Vgl. Bourdieu, Grundlagen einer Theorie der symbolischen Gewalt. Kulturelle Reproduktion und soziale Reproduktion, Frankfurt a. M. 1973. 19 Thomas Hobbes, Leviathan, hrsg. und eingel. von Iring Fetscher, Frankfurt a. M. [u. a.] 1966, Kap. 10, 6R (Hervorhebung B. Stollberg-Rilinger). Vgl. dazu Landwehr, in diesem Band 213; exemplarisch Sharpe, ebd., 180 ff.; Barbara Stollberg-Rilinger, Höfische Öffentlichkeit. Zur zeremoniellen Selbstdarstellung des brandenburgischen Hofes vor dem europäischen Publikum, in: Forschungen zur brandenburg-preußi-schen Geschichte, N.F. 7, 1997, 1-32; grundlegend Bourdieu, Sozialer Raum (Anm. 13); zuletzt Albrecht Koschorke [u. a.], Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft. Texte, Bilder, Lektüren, Frankfurt a. M. 2002. -y Gadi Algazi, Kulturkult und die Rekonstruktion von Handlungsrepertoires, in: L'Homme 11 (2000), 105-119. - Ähnliche Vorwürfe und Mißverständnisse seitens der englischen Historiker diskutiert Sharpe, unten 156 ff., 174 ff. 2 Zeitschrift für Historisch Forschung, Beiheft 35 18 Barbara Stollberg-Rilinger genannte Vorschlag ist21, um den heterogenen, dynamischen und offenen Charakter jeder Kultur herauszustellen, so klar verfehlt der erhobene Vorwurf die Konzeption der kulturalistischen Politikgeschichte. Das läßt sich gerade an einem von Algazi gewählten Beispiel zeigen. „Wer vor der Ampel steht, hat (... ] für Hermeneutik keine Zeit, muß auf Signale reagieren und nicht .Symbole' interpretieren. Wer im Fluß des Alltags lebt, muß mit den Wirkungen von Handlungen rasch fertig werden und hat für die Ermittlung ihres vermeintlichen tieferen Sinns nicht die nötige Muße"22, heißt es bei Algazi, der damit die „gelehrte Sinnproduktion" und ihre kunstvolle her-meneutische Dechiffrierung durch den Historiker gegen die alltägliche Praxis und ihre Zwänge ausspielt. Daß dies die Kulturgeschichte des Politischen nicht trifft, liegt nach dem bisher Gesagten auf der Hand. Gerade eine Verkehrsampel, um bei Algazis Beispiel zu bleiben, führt ja die fundamentale Ordnungsleistung von Symbolisierungen, deren selbstverständliche, unthematisierte Geltung und zugleich ihre handlungsleitende Wirkung schlagend vor Augen (auch wenn natürlich die meisten politischen Symbole nicht von der gleichen autoritativen Unzweideutigkeit sind wie ein Ampelsignal). Wer vor einer roten Ampel stehenbleibt, der „versteht" sie ja, und dieses Verstehen impliziert, daß er sie als Bestandteil einer bestimmten institutionellen Ordnung mit allgemeinem autoritativem Anspruch und dem dazugehörigen Sanktionsapparat dechiffriert. Jedes Mitglied der betreffenden Kultur leistet diese Deutung normalerweise, ohne dies zu reflektieren23, und kann die Bedeutung des Ampelsignals zur Prämisse seines Handelns machen - d. h. ihm in Abschätzung möglicher Konsequenzen folgen oder auch nicht. Für den Historiker, der sich dem kulturellen Symbolsystem zuwendet, bedarf es hingegen erst einer hermeneutischen Reflexionsbemühung, um die in dem Ampelsignal steckenden Leistungen an Symbolisierung und Komplexitätsreduktion zu rekonstruieren, und genau darum geht es der Kulturgeschichte des Politischen. 3. Ein weiterer Vorwurf gegen die Kulturgeschichte im allgemeinen und die des Politischen im besonderen lautet, sie vernachlässige langfristige historische Prozesse zugunsten einer mikrohistorischen Filigranperspektive. Daran ist sicher richtig, daß die Neue Kulturgeschichte mit einer tiefen Skepsis gegenüber herkömmlichen Modernisierungstheorien einhergegangen ist und sich zum Ziel gesetzt hat, die traditionellen „Großen Erzählun- zi Der sich übrigens weitgehend mit dem klassischen Kulturbegriff von Talcott Parsons deckt; vgl. dazu Walz, in diesem Band 98 f.; in ähnlichem Sinne auch Suter, in diesem Band 42 ff. 22 Algazi, Kulturkult (Anra. 20), 109 f. 23 Die Existenz kultureller Bedeutungssysteme heißt nicht, daß der Umgang der einzelnen damit nicht „praktischen, vorreflexiven und impliziten Charakter" haben kann und in der Regel auch hat; vgl. dazu Bourdieu, Sozialer Raum (Anm. 13), 18; ähnlich z.B. auch Reinhard, Europäische politische Kultur (Anm. 8), 596. Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? 19 gen" zu dekonstruieren. Man hat dabei gelegentlich das Kind mit dem Bade ausgeschüttet und, um teleologische Projektionen zu vermeiden, um jede Art von Prozeßkategorie einen Bogen gemacht. So berechtigt daher dieser Vorwurf im einzelnen sein mag, die Blindheit für Prozesse folgt nicht notwendig aus der methodischen Grundkonzeption. Wie Rainer Walz in seinem Beitrag theoretisch und Rudolf Schlögl in seinem Beitrag am Beispiel der frühneuzeitlichen Stadt zeigen, ist die Kulturgeschichte des Politischen beispielsweise mit dem systemtheoretischen Evolutionsmodell nicht nur problemlos vereinbar, sie erhält damit auch einen Schlüssel zur Erklärung zahlreicher vormoderner politischer Phänomene, die auf die mangelnde Ausdifferenzierung des Politischen als gesellschaftliches Funktionssystem zurückgeführt werden können24. Die Systemtheorie stellt vor allem einen geschärften Kommunikationsbegriff zur Verfügung und rückt den Wandel der Kommurükationsmedien als Faktor strukturellen historischen Wandels ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Auch die Beschreibung makrohistorischer Prozesse wie der Staatsbildung und der Konfessionalisierung bedarf der Ergänzung durch eine kulturalistische Perspektive, wie die Beiträge von Birgit Emich im Anschluß an die Patronageforschung und von Antje Flüchter im Anschluß an die jüngere Debatte über Normsetzung und Normdurchsetzung in der Frühen Neuzeit zeigen25. 4. Schließlich wirft man der Kulturgeschichte des Politischen gelegentlich vor, sie lasse keinen Spielraum für unvorhergesehene, kontingente Ereignisse, die ihrerseits die Strukturen verändern. In dem Bemühen, handlungsleitende Bedeutungssysteme zu rekonstruieren, beschreibe sie „semantische Mauern, die die Akteure ein Leben lang gefangen halten25." Das ist insofern nicht ganz unberechtigt, als man bei der Untersuchung von Diskursen und Ritualen gemeinhin eher deren überindividuelle, ordnungsstiftende, stabilisierende und komplexitätsreduzierende Wirkung in den Vordergrund stellt27. Unausgesprochene Diskursregeln grenzen das „Sagbare" ein; Ritua- 24 Vgl. Schlögl, im vorliegenden Band, 115 ff.; Walz, ebd., 10G ff.; ferner Frank Bek-ker (Hrsg.), Geschichte und Systemtheorie. Exemplarische lallstudien, Prankfurt a.M./New York 2004; Uwe Goppold, Präsenz und Entscheidung. Politische Kommunikation frühneuzeitlicher Städte zwischen Ritualen und Verfahren, Diss. phil. Konstanz 2003; Barbara Stollberg-Rilinger, Einleitung, und Michael Sikora, Vom Sinn des Verfahrens, beide in: Vormoderne politische Verfahren, hrsg. v. Barbara Stollberg-Rilinger, Berlin 2001 (ZHF, Beiheft 25), Berlin 2001. 25 Flüchter 225 ff.; Emich, 191 ff., im vorliegenden Band; vgl. Jürgen Schlumbokm, Gesetze, die nicht durchgesetzt wurden - ein Strukturmerkmal des frühneuzeitlichen Staates?, in: Geschichte und Gesellschaft 23 (199V), 647-663; Achim Landwehr, „Normdurchsetzung" in der Frühen Neuzeit? Kritik eines Begriffs, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 48 (2000), 146-162. Lothar Schilling, Les effets des lois de police et l'evolution de la gouvernementalite pendant la premiere modenüte, in: Les sciences camerales, hrsg. v. Pascale Laborier u.a., Amiens 2005. 2S So Suter, im vorliegenden Band, 55. 20 Barbara Stollberg-Rilinger lisierungen reduzieren die unübersehbare Vielfalt der Handlungsmöglichkeiten; Symbolisierungen umgeben soziale Strukturen mit einer „Aura der Notwendigkeit", die sie der Disposition der einzelnen entzieht28. Das ist indessen keinesfalls absolut und rigide zu verstehen. So wie die Grammatik jeder Sprache durch die Praxis weiterentwickelt wird, indem sie Regelverstöße und Varianzen integriert, ist jedes kulturelle Bedeutungssystem grundsätzlich offen für Veränderung durch kreative Abweichungen, Umdeutun-gen, nicht zuletzt auch durch Konflikte, in denen sich neue Deutungsansprüche durchsetzen. Schon die unvermeidliche Unscharfe jedes Kommunikationsvorgangs, der stets so viele Deutungsnuancen erlaubt, wie es Teilnehmer an dem kommunikativen Geschehen gibt, sorgt dafür, daß grundsätzlich immer Spielraum für Wandel gegeben ist - auch wenn dieser Spielraum eben keineswegs immer genutzt wird28. In aller Regel sorgen kulturelle Symboli-sierungen gerade dafür, daß die unterschiedlichen Deutungen der Beteiligten unsichtbar bleiben. Man kann eine der besonderen Leistungen politischer Symbole, Mythen und Rituale gerade darin sehen, daß sie hinter ihrer eigenen Vieldeutigkeit divergierende Positionen und Interessen wie hinter einer Konsensfassade verschwinden lassen. Das kann im Interesse einzelner erzwungen sein, es kann aber auch im stillschweigenden Interesse aller Beteiligten liegen. Besonders erklärungsbedürftig, aber auch für Historiker besonders aufschlußreich sind allerdings alle die Fälle, in denen konkurrierende Deutungen aufeinandertreffen, hegemoniale Zuschreibungen nicht mehr akzeptiert werden und offene Deutungskonfliktc ausbrechen30. 27 So spricht z. B. Landwehr im vorliegenden Band, 222, von dem „petrifizierten Diskurs" des traditionellen Drei-Stande-Schemas, das der Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit Zwang angetan und neuen Deutungen im Weg gestanden habe. Indirekt wird damit die Möglichkeit einer Auseinanderentwicklung von Struktur und Semantik eingeräumt. Erklärungsbedürftig ist dann allerdings, wie das Ereignis der Französischen Revolution den erstarrten Diskurs hat aufbrechen können. Vgl. dazu die konzeptionellen Überlegungen von Suter im vorliegenden Band, 51 ff., und für die Debatte um den englischen Bürgerkrieg Sharpe, unten 157. 28 Vgl. zur Diskurstheorie etwa Achim Landwehr, Geschichte des Sagbaren. Einfuhrung in die Historische Diskursanalyse, Tübingen 2001; zur Ritualtheorie Andrea BeUigarIDavid Krieger (Hrsg.), Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch, Opladen 1998; Christoph Wulf /Jörg Zirfas (Hrsg.), Eituelle Welten (Paragrana, 12), Berlin 2003; dies. (Hrsg.), Die Kultur des Rituals. Inszenierungen. Praktiken. Symbole, München 2004; zur Institutionentheorie Rehberg, Wcltrepräsentanz (Aran. 5); ders., Die stabilisierende „Fiktionalität" (Anm. 5). 2S Vgl. dazu erhellend Bourdieu, Sozialer Raum (Anm. 13), bes. 16 ff. .™ Vgl. Suter, 27 ff., Becker, 133 ff., oder Daniel, 279 ff., im vorliegenden Band. -Solche Deutungskonflikte stehen im Zentrum verschiedener Teilprojekte des Mün-steraner SFB 496; vgl. etwa die Sammelbände von Gerd Althoff (Hrsg.), Zeichen -Rituale - Werte. Symbolische Kommunikation vom Mittelalter bis zur Französischen Revolution, Münster 2004; Christoph Dartmann/ Marian Füssel/Stefanie Rüther (Hrsg.), Raum und Konflikt. Zur symbolischen Konstituierung gesellschaftlicher Ordnung in Mittelalter und Früher Neuzeit, Münster 2004; Marian Füssel I Thomas Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? 21 Nicht zufällig hat die neue Kulturgeschichte des Politischen einen ihrer wichtigsten Impulse von der Forschung zur Französischen Revolution erhalten31. Die fundamentale Bedeutung von Vorstellungen, Zuschreibungen und symbolischen Praktiken für jede politisch-soziale Ordnung zeigt sich ja besonders deutlich an der Geschichte von Revolten, Konflikten und Herrschaftsumbrüchen: Jeder Prozeß der Delegitimation einer Ordnung kulminiert schließlich darin, daß das Imaginäre der Herrschaft plötzlich thematisiert und sichtbar gemacht, ihr die Aura der objektiven Faktizität, Notwendigkeit und Naturgegebenheit genommen wird, indem man die herrschenden Rituale entweiht, die Bilder zerstört und die Symbole verbrennt, so daß der König auf einmal nackt erscheint. Solche Umbruchphasen machen die Konstruiertheit der Ordnung auch deshalb so deutlich, weil das Neue seinerseits symbolisch-rituell durchgesetzt, verankert und auf Dauer gestellt werden muß. Der ethnologische Kulturbegriff verdankt sich schließlich selbst der historischen Erfahrung des Kultur- und Herrschaftsumbruchs: Es ist kein Zufall, daß Emile Dürkheim die Feste der Französischen Revolution vor Augen hatte, als er die gememschaftsstiftende und kategorienbildende Wirkung von sakralen Ritualen beschrieb32, oder daß Mary Douglas ihre Ritualtheorie unter dem Eindruck der bilderstürmerischen 68er-Bewc-gung formulierte33. So schloß sich gewissermaßen der Kreis, als die Historiker wiederum von den Ethnologen zu lernen begannen, wie politisch-soziale Ordnungsstrukturen symbolisch konstituiert, stabilisiert, tradiert und verändert werden. Die Kulturgeschichte des Politischen nimmt also für sich in Anspruch, die Perspektiven von Mikro- und Makrohistorie zu integrieren, zwischen Struktur und Semantik zu vermitteln, anstatt polarisierender Gegenüberstellungen dialektische Wechselwirkungen zu rekonstruieren. Ihre spezifische Leistung könnte darin bestehen, den Bestand ebenso wie den Wandel von Herrschaftsstrukturen, Normen, Regelsystemen usw. gewissermaßen unter die Lupe zu legen, auf das Niveau des individuellen sinnhaften Handelns und der konkreten Kommunikationsakte hinunterzuverfolgen und dabei zu beobachten, wie sie sich in ein kompliziertes Geflecht wechselseitiger Gel-tungszuschreibungen, -ansprüche und -Zurückweisungen auflösen. Ob dieser Anspruch erfüllt wird, müssen die konkreten Einzelstudien zeigen. Weller (Hrsg.), Ordnung und Distinktion. Praktiken der sozialen Repräsentation in der ständischen Gesellschaft, Münster 2005. 31 Lynn Hunt, Symbole der Macht - Macht der Symbole. Die Französische Revolution und der Entwurf einer politischen Kultur, Frankfurt a. M. 1989; dies., New Cul-tural History (Anm. 1). - Zum Reflexivwerden von Kultur in der Moderne vgl. auch Walz, in diesem Band 100 f. 32 Emile Dürkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a.M. 1981. 33 Mary Douglas, Ritual, Tabu und Körpersymbolik. Sozialanthropologischc Studien zur Industriegesellschaft und Stammcskultur, Frankfurt a. M. 1974. 22 Barbara Stollberg-Rilinger Den hier vorgelegten Beiträgen ist der konstruktivistische Blick auf das Politische gemeinsam. Sie zeigen auf sehr vielfältige Weise - teils theoretisch, teils praktisch an konkreten Beispielen -, wie kulturalistische Konzepte für die Geschichte des Politischen fruchtbar gemacht werden können, welche unterschiedlichen politischen Gegenstände mit welchem Gewinn aus dieser Perspektive betrachtet werden können und wo offene Fragen liegen. Klassische Gegenstände der Politischen Kulturgeschichte („Symbolik zweiter oder dritter Ordnung" im Sinne von Walz34) thematisieren Silvia Serena Tschopp mit dem Schweizer Nationalfest, Thomas Großbölting mit der demokratischen Erinnerungspolitik im modernen Italien, Frank Becker, der den politischen Mythos im allgemeinen behandelt, und Ute Daniel, die die Entstehung eines solchen Mythos, nämlich des kollektiven Wahrnehmungsmusters von der „Einkreisung Deutschlands" vor dem Ersten Weltkrieg, analysiert. Gemeinsam ist diesen Beiträgen unter anderem das Interesse an den spezifischen Leistungen und der Eigendynamik, die die jeweiligen Kommunikationsformen und -medien entfalten. Will man nicht den Ähnlichkeiten aufsitzen, die Rituale kollektiver Erinnerung vom Alten Orient bis zur Moderne auf den ersten Blick aufzuweisen scheinen, so muß man nach den gewandelten Rahmenbedingungen fragen und genau hinschauen, in welchem Verhältnis etwa rituelle und schriftliche Formen der Kommunikation in einer bestimmten Kultur zueinander stehen. Inwiefern verändern die gesteigerten medialen Möglichkeiten und die gestiegene gesellschaftliche Komplexität den Charakter und die Funktion eines politischen Rituals? Die Rolle von Schriftlichkeit, genauer: schriftlicher Techniken der Sammlung, Archivierung und Auswertung von Wissensbeständen für den strukturellen Wandel und die Möglichkeit des Neuen erörtern anhand unterschiedlicher Beispiele sowohl Andreas Suter und Rudolf Schlögl als auch Kevin Sharpe35. Die Möglichkeiten epochenübergreifender vergleiche und genauer historischer Differenzierungen sind in dieser Hinsicht allerdings von der Kulturgeschichte des Politischen bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Viele Beiträge thematisieren Gegenstände aus dem Bereich dessen, was bisher eher der klassischen Politik- und Verfassungsgeschichte vorbehalten war, nämlich Verfahren und Institutionen der Entscheidungsbildung, Herrschaftshandeln, gewaltsame Konflikte: so Antje Flüchter über die landesherrliche Gesetzgebung im konfessionellen Zeitalter, Birgit Emich über die Integration eines Territoriums in einen neuen Herrschaftsverband, Andreas Suter über die Handlungs- und Kommunikationsformen im Schweizer Bauernkrieg, Rudolf Schlögl über die Struktur politischer Entscheidungs-prozesse in frühneuzeitlichen Städten, Achim Landwehr über die Verfahren 34 Walz, unten 110 f. 35 Im vorliegenden Band Suter, 37 ff.; Schlögl, 119 ff.; Sharpe, 180 ff. Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? 23 der Bevölkerungsstatistik, Ute Daniel über die zwischenstaatlichen Beziehungen am Vorabend des Ersten Weltkriegs, Thomas Mergel über die bundesrepublikanischen Parlamentswahlen. Wenn dabei stets eine kulturalistische Perspektive eingenommen wird, so bedeutet das, daß politische Handlungsmodi und -kategorien nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden, sondern auf die ihnen zugrundeliegenden wechselseitigen Kommunikationsprozesse, Zuschreibungen und Deutungen hin befragt werden. Trotz dieser Gemeinsamkeiten machen die hier versammelten Beiträge indessen auch deutlich, aus welch unterschiedlichen Quellen die konzeptu-ellen Anregungen für die Kulturgeschichte des Politischen geschöpft werden. So ist in letzter Zeit die soziologische und politikwissenschaftliche Institutionentheorie von der Geschichtswissenschaft mit Gewinn aufgegriffen worden36, die im vorliegenden Band von Gerhard Göhler und Reinhard Blänkner vertreten wird und die ihrerseits auf eine Reihe einflußreicher Konzepte rekurriert: neben Ernst Cassirers und Charles S. Peirces Symboltheorien und Hannah Arendts Begriff des Politischen ist das nicht zuletzt die staatsrechtliche Integrationslehre Rudof Smends, deren Bedeutung für ein kulturalistisches Konzept von Verfassungsgeschichte noch kaum ansatzweise untersucht ist. Von der Frage, inwiefern die Systemtheorie Luhmanns mit einer Kulturgeschichte des Politischen vereinbar ist, war schon die Rede. Andreas Suter ruft unter anderem den oft übersehenen Anteil der klassischen Koselleckschen Begriffsgeschichte an der kulturalistischen Wende in Erinnerung. Suter beruft sich darüber hinaus auf die praxeologischen, Struktur und Ereignis verbindenden Konzepte von Marshall Sahlins und Anthony Giddens. Achim Landwehr stützt sich auf die Diskurstheorie Fou-caults; Silvia Serena Tschopp macht die ethnologische Ritualtheorie und den theaterwissenschaftlichen Performanzbegriff für die Untersuchung nationaler Festkultur fruchtbar; Thomas Großbölting knüpft an die Theorie der Erinnerungskultur im Sinne von Jan und Aleida Assmann an; Antje Flüchter greift das juristische Konzept der „symbolischen Gesetzgebung" auf. Kevin Sharpe empfiehlt der bisher offenbar ziemlich theorieresistenten englischen Politikgeschichte teils dieselben, teils andere theoretische Anregungen, als sie in der deutschen Debatte vorherrschen: Neben Vätern der Postmoderně wie Nietzsche oder Saussure sind es vor allem Derrida, Fou-cault, Chartier, Geertz und der New Historicisjn Stephen Greenblatts, die er für das Verständnis von Herrschaft und Schriftlichkeit im frühneuzeitlichen England fruchtbar zu machen sucht. Bei dieser Vielfalt der theoretischen Anregungen überrascht es nicht, daß nicht alle hier versammelten Ansätze untereinander kompatibel sind. Nicht 36 So vor allem von dem Dresdner SFB „Institutionalität und Geschichtlichkeit"; vgl. nur Rehberg, Weltrepräsentanz (Anm. 5); aber auch darüber hinaus, z. B. Blänkner/ Jussen (Hrsg.), Institutionen und Ereignis (Anm. 5); Gerhard Göhler (Hrsg.), Institutionenwandel, Opladen 1997. 24 Barbara Stollberg-Kilinger alle Autoren verstehen unter Kultur, Politik und Kulturgeschichte das gleiche37. Die Frage, die sich am Ende der hier dokumentierten Arbeitstagung stellte, war: Braucht man für all das, was hier vorgestellt wurde, ein gemeinsames Etikett namens „Kulturgeschichte des Politischen"? Oder provoziert das nicht nach wie vor mehr Mißverständnisse, als daß es die Orientierung erleichtert? Fördert es nicht womöglich eine unproduktive, Erkenntnissen im Weg stehende und zu Polemik verleitende Lagerbildung38? Auch das soziale Feld der Historiker wird bekanntlich von Deutungskämpfen strukturiert. Etiketten dienen der leichteren Orientierung und Zuordnung -aber sie sollten nicht die Wahrnehmung von Unterschieden verhindern und vor allem nicht die Verständigung über methodische Grundannahmen ersetzen. Dem sollte die Debatte über das Etikett dienen, die der Arbeitstagung den Titel gab. Dabei stellte sich unter anderem heraus, daß sich über den Begriff der Kultur viel leichter Konsens erzielen ließ als über den Begriff des Politischen oder den des Symbols. Jedenfalls waren aber zumindest unter den Autoren der hier versammelten Beiträge der Kern der gemeinsamen methodischen Prämissen und vor allem das Abgrenzungsbedürfnis gegenüber traditionellen Ansätzen groß genug, um ein einheitliches Etikett - sei es nun „Kulturgeschichte des Politischen" oder „Neue Politikgeschichte" -weiterhin sinnvoll erscheinen zu lassen. 37 Um nur ein Beispiel zu nennen: Schwer vereinbar ist etwa die Begriffsverwendung von Göhler und Emich: Während Göbler die Begriffe „Wert" und „Integration" normativ besetzt - Werte stiften kollektive Integration verwendet Emich die gleichen Begriffe rein deskriptiv: Die Werte, die sie den Akteuren (jedenfalls im konkreten Falle Ferraras) zuschreibt, sind weitgehend mit deren materiellen Interessen identisch und wirken gerade umgekehrt desintegrierend. Wo Emich mithin die politische Kultur Ferraras beschreibt, müßte Göhler geradezu die Abwesenheit jeder politischen Kultur konstatieren. 38 Vgl. den Tagungsbericht von Menger, Geschichte der Politik (Anm. 3), wo die Furcht vor der „Marginalisierung bewährter Forschungsfelder und klassischer Ansätze" artikuliert wird. - Das Problem der konventionellen Politikhistorie besteht indessen darin, daß sie sich auf die kulturalistischen Theorieansätze eben nicht einlassen will und sie daher nicht überzeugend widerlegen kann. Ähnliches beobachtet Sharpe für England, vgl. unten 155 ff.