Heinrich Boll selbst nannte im »Nachwon, 1985« zur zweiten Auflage seinen Roman-ein historisches Zeitdokument der Bundesrepublik der Adenauer-Ära: »Nachgeborene - und darunter verstehe ich schon die jungen Deutschen, die Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre geboren sind, heute also zwischen 25 und 27 Jahre alt sind - Nachgeborene werden kaum begreifen, wieso ein solch harmloses Buch seinerzeit einen solchen Wirbel hervorrufen konnte. Lernen können sie an diesem Buch, wie rasch in unseren Zeiten ein Roman zum historischen Roman wird; lernen auch - und das wäre möglicherweise das einzig >zeitlose< an diesem Roman -, wie Verbandsdenken sich anmaßt, im Namen ganzer 'Bevölkerungsgruppen zuispre-cheh, zu urteilen. [■■0 . -' Es mag sein, daß dieser Roman schon nach wenigen Jahren, vielleicht jetzt Schon als eine ironisch-satirische Zeitskizze erscheinen wird, der historische. Augenblick seines Erscheinens wird interessant bleiben wegen der Reaktion der.Mili-tanz-Wortführer-Katholiken. Zugegeben: das Jahr 1963 war für die Demonstrativ-C-isten ein hartes Jahr. Es erschien Carl Amerys; »Kapitulation«, Hochhuths »Stellvertreter* und das im Jahre 2 des zweiten Vatikanischen Konzils. Einem der Kapitel von Carl Amerys >Die Kapitulation! steht ein Motto voran, das man ebenfalls einmal genauer hätte betrachten können, bevor man in blinde Wut verfiel: »Das Christentum ist in den Untergang des Bürgertums hineingezogen, und es ist sicher, daß aus dieser Schicht keine Rettung mehr kommen kann< (Robert Gro-sche'). Und man muß wissen - wer weiß das noch - daß Gro-sche keineswegs ein >Linker<, nicht einmal andeutungsweise >linksverdächtiger< Prälat war: er war konservativ, aber klug genug, die Zeichen der Zeit zu erkennen." [•; -J . ... Einer der kirchlich orientierten Kritiker befürchtete 1963, mein Buch könnte in die Hände von Abiturienten geraten. Nun, was damals befürchtet wurde, ist inzwischen eingetreten, und ich frage mich, ob heute 19- bis 20jährige Abiturienten in die Mentalität der Adenauer-Ära zurückzuversetzen sind, um die Historizität des Romans zu erkennen.« Heinrich Boll: Ansichten eines Clowns. Roman. Mit Materialien und einem Nachwort des Autors. Köln: Kiepenheuer 8c Witsch, 1985. ■:. S.411, 415. - © 1985 Verlig Kiepenheuer 6c witsch GmbH & Co. KG, Köln. -i .... ... > | h < 1, Katholizismus . . : > \ Ein wesenUicherBestandteil der Ansichten eines Clowns ist die Kritik, die Boll seinen Ich-Erzähler Hans Schnier an der katholischen Kirche äußern läßt. Ein Thema, das im Werk des Katholiken Boll immer wieder auftaucht, ein Thema, das nicht nfa seine Romane und Erzählungen durchzieht,-sondern das er auch essayistisch und publizistisch aufgreift, So beschreibt er in dem »Brief an einen jungen Katholiken«'von 1958 (iii: H. B., Werke. Essayistische Schriften und Reden U 1952-1963, Köln-1978, S. 261-276), im Zusammenhang mit der deutschen Wiederbewaffnung, das Versagen des Katholizismus in Vergangenheit und Gegenwart, die falschen Moralvorstellungen, die ästhetisierenden Tendenzen; die »Fast-Kongruenz von CDU und Kirche« — Themen, die in den Ansichten eines Clowns wiederkehren. Ebenfalls 1963 wie der Roman erschien Carl" Amerys Auseinahdersetjung mit dem Milieu des deutschen Katholizismus mit einem Nachwort von Boll: C. A., Die Kapitulation oder Deutscher Katholizismus heute, Reinbek bei Hamburg 1963. Im Nachwort betont Boll die politische Seite seiner Katholizismuskritik: »Das Buch eines deutschen Katholiken über den deutschen Katholizismus, dazu bedarf es einiger Vorbemerkungen. Was ein deutscher Katholik ist, läßt sich einigermaßen klar definieren: wer katholisch getauft, nicht exkommuniziert ist, seiner deutschen Staatsangehörigkeit nicht verlustig ging oder sich ihrer nicht entledigte. Der deutsche Katholizismus, wie er hier verstanden wird, existiert in Gremien, Komitees, auf Konferenzen. Es gibt nicht die Einheit: deutsche Katholiken - deutscher .Katho.lizisrnus: gäbe es sie, dann hätte Reinhold Schneider auf einem Katholikentag seine Rede gegen die Wiederaufrüstung halten dürfen. An keiner Person besser als an der.Reinh.old Schneiders läßt, sich nachweisen, wie schnöde der deutsche. Katholizismus an deutschen Katholik ken zu handeln vermag. Reinhold Schneider hatte alles, was »man« sich nur wünschen konnte: er war auf eine ritterliche Weise konservativ, er war ein Dichter des inneren Widerstands, gelobt, geehrt und vorgezeigt, als er aber die ersten Anzeichen der Kapitulation des deutschen Katholizismus vor dem Nachkriegsopportunismus angriff, zeigte sich, welcher Natur seine Partner gewesen waren: er wurde denunziert und diffamiert. Freilich, da »funktionierte« einer nicht; den man behaglich als konservativen Katholiken für sich beansprucht hatte. Wo blieb der Schutz der Hirten und Oberhirten? Der deutsche Katholizismus ist auf eine heillose Weise rftit jener Partei und ihren Interessen verstrickt, die sich als einzige das C (für christlich) angesteckt hat. (Man möge mir verzeihen, daß ich SU und DU hier nicht so strikt voneinander trenne, wie es gerechterweise wohl nötig wäre.) Der fast schon wehmütige Ruf der CDU nach Kontakt mit den Intellektuellen, d. h. nach solchen, die ihr widersprechen, kommt vielleicht schon aus der lähmenden Langeweile einer mit Funktionärsvokabeln überfütterten Schar. Carl Amerys Versuch ist keine Kündigung des Gesprächs, auch keine Bitte um ein solches, pathetisch ausgedrückt ist es eine Stimme der Generation, die ungefragt (wir waren 15,16 Jahre alt, als die von unseren Vätern gewählten katholischen Parteien Hitler ermächtigten) für die Kapitulation des deutschen Katholizismus mitverantwortlich wurde, mitgebüßt hat und in einen zweideutigen Zustand geriet. Es ist nicht ganz sauber, wenn der deutsche Katholizismus heute, dreißig Jahre später, seine Widerstandskämpfer, die unzähligen Tapferen vorzeigt; der Widerstand eines Katholiken, auch eines katholischen Priesters, war Privatsache. Der deutsche Katholizismus ist in einer geschickten Lage: Wird er nach seiner Loyalität gefragt, zeigt er das Konkordätvor, dessen unselige Folgen Carl Amery exakt beschreibt; wird er. um seiner Loyalität willen angegriffen, zeigt er die katholischen Widerstandskämpfer vor, aber ich wiederhole: Widerstand war Privatsache; der offizielle Status war der des Konkordats: Freilich hat er die geschickte Lage mit anderen Gruppen gemeinsam. Es ist die Wahl zwischen den unzähligen Namenlosen, die Widerstand geübt haben, und Franz von Papen', eine Wahl, die nicht schwerfallen sollte.« '■'- ' Heinrich Boll: Nachwort zu Carl Amery, »Die Kapitulation«. In;.H. B.: Werke. Essayistische Schriften und Reden 1. 1952-19JJ3. Hrsg. von Bernd Balzer. Köln: Kiepenheuer & Witsch', [1978]. S. 540-543. - © 1978: Verlag Kiepen-i heuer 6c Witsch GmbH & Co. KG, Köln, i . I 2. Politik Die Auseinandersetzung mit dem Katholizismus verbindet sich mit der Kritik an der bundesdeutschen Gesellschaft: Kritik an dem Verdrängen der Vergangenheit, daran, daß ehemalige Nationalsozialisten nach einem - oft wenig überzeugenden Gesinnungswandel - kulturell und politisch wichtige Positionen einnehmen konnten, Kritik auch an der Wirtschaftswundergesellschaft und den restaurativen Tendenzen, der fünf ziger und sechziger Jahre. Peter von Matt charakterisiert 1990 Bolls Roman in einer vergleichenden Studie (mit de Bruyns Buridans Esel, 1968) als literarisch mißglückte und psychologisch nicht plausible Geschichte eines Liebesverrats, die inmitten der Kritik an bundesrepublikanischen Institutionen angesiedelt ist. Für ihn liegt die Stärke des Romans in seinem Charakter als »Manifest einer Überzeugung«, er fragt nach den Gründen für Bolls leidenschaftliches, »anklägerisches Ethos«: »Attackiert wird die Ordnung, die im westlichen Deutschland nach Krieg und Faschismus eingerichtet wurde, insbesondere das schleichende Staatskirchentum, das sich durch die Vernetzung von Religion und Partei installierte. Dieses stellt der Roman als Verrat am ursprünglichen Christentum hin. [...] Kirchenvertreter, Politiker und Wirtschaftsführer bilden die Komplizenschaft der Institutionen. [...] Die spontane Ehe des Clowns mit Marie [...] ist die Gegenaktion gegen allen offiziellen Staat, alle offizielle Kirche und alle offizielle Wirtschaft im westlich-kapitalistischen Sinn. Tief verletzt von der Entwicklung, die die Bundesrepublik genommen hat, will er [Boll] ihre Ordnung insgesamt anklagen. Er hat deren Anfänge erlebt und die Hoffnungen, die sich damals, gleich nach dem Krieg, mit der Aufgabe einer neuen Einrichtung des Ganzen verbanden. [...] Darauf beruht sein Schmerzgefühl, es hätte so nicht herauskommen müssen. Und nur weil dieses Schmerzgefühl da ist, entwik-kelt sich auch die unbändige Aggressivität.« Peter von Matt: Die Ehe als politisches Sinnbild im Nachkriegsroman. Zu Bolls Ansichten eines Clowns und de, Bruyns Buridans Esel. In: Günter de Bruyn: Materialien 2U Leben und Werk. Hrsg. von Uwe wittstock. Frankfurt a. M.: Fischer, 1990. S. 126, 127. - © 1990 S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main. Gesellschaftssatire weitet sich durch Schniers Unfähigkeit, vergessen zu können, zu einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit aus. Dabei kommt der Familie des Clowns eine Schlüsselrolle zu. Jochen Vogt bezieht sich bei seiner Analyse des Romans 1978 auf die sozialpsychologischen Thesen von Alexander und Margarete Mitscherlich (Die Unfähigkeit zu trauern, München 1967) und auf Wolf Lepe-nies (Melancholie und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1969), um das Verhalten Schniers zu beleuchten: »Sozialer und epischer Ort für die Entfaltung dieser Thematik ist Schniers elterliche Familie. Sie ist ein Machtzentrum der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, repräsentiert selbst ökonomische Macht (Schwerindustrie) und steht in ständigem Kontakt mit den Repräsentanten und dienstbaren Ideologen anderer Machtgruppen: der stäatstragenden Partei und der katholischen Kirche. So wird sie zum Ort der Gesellschaftssatire. Andererseits aber ist die Familie Schnier geeignet, die erzählerische Analyse auch historisch zu vertiefen, was vor allem durch Hans Schniers erinnernde Rückgriffe auf seine Kindheit unter der Herrschaft des Faschismus geleistet wird. Daß die alten Nazis sich zu neuen Opportunisten und Demokraten gemausert haben, ist ein Thema aus »Billard um halbzehn<, das hier wieder aufgenommen wird [...]. Auffällig ist, daß der Erzähler solche Wandlung besonders scharf seinen Eltern, in erster Linie seiner Mutter vorwirft. [••■] Vergessen, nicht vergessen können - das sind die Stichworte, mit denen ein zentraler sozialpsychologischer Mechanismus getroffen wird. Frau Schniers Verhalten ist typisch für >den Sprung, den so viele vom Gestern ins Heute taten. Es war eine blitzartige Wandlung, die man nicht jedermann so mühelos zugetraut hätte«.2 Ermöglicht wird diese Wandlung durch die Abwehr der Erinnerung an die schuldhafte Vergangenheit, durch Verleugnung aller >Anlässe für Schuld, Trauer und Scham*. In diesem Fall wird die Trauer selbst als >Schmerz um den Verlust eines Wesens« abgewehrt, mit dem man >in einer tiefer gehenden mitmenschlichen Gefühlsbeziehung verbunden war«. Dies Ausweichenvor der Erinne-rungs- und Trauerarbeit aber bewirkt, nach der Sozialpsy-chologischen Theorie von Alexander und Margarete Mitscherlich, daß man sich >ungebrochen der Gegenwart und ihren Aufgaben hinzugeben« vermag. Ebendies wirft Schnier seiner Mutter und, in variierter Form, den meisten Stützen der neuen Gesellschaft vor. Dadurch paßt er selbst nicht ins Muster der Restauration, die sozialpsychologisch auf kollektiver Verleugnung der Mitschuld basiert. Indem er stellvertretend die Trauerarbeit übernimmt, auch provozierend die Erinnerungslosen an ihre Vergangenheit mahnt, wird er als Querulant stigmatisiert: Außenseiter, radikaler Vögel« VA/S (z> [S. 34]. Er ist geradezu »geschlagen« mit, Erinnerung, und zwar (ähnlich wie der Publizist Boll) mit einer konkreten, bildhaften Erinnerung. Daß er in ihr, daß er mit seiner Trauer - die die Trauer aller sein müßte - allein bleibt, macht ihn zugleich zum Melancholiker [vgl. S. 15, 189, 191]. Die Gesellschaft wehrt Trauer, und Melancholie ab, weil sie handlungsunfähig machen würden - und Handlungsfähigkeit für die gesellschaftliche Restauration nötig ist; Schnier, der Erinnerung und Trauer zuläßt, gerät damit in Handlungsunfähigkeit und Melancholie. »Melancholie ist ein Zustand der Psyche. Er bildet sich aus [,..], wenn Resignation den Charakter der End>gültigkeit< angenommen hat [...]. Melancholie erscheint als dauerhaft und nicht auflösbar; [....] besonders jene Form [...], die gleichsam die verfestigte Reaktionsform auf »etwas« ist, was dem Menschen »zustößt«. In Begriffen der Psychopathologie wäre hier von exogener Melancholie zu sprechen. Handlungshemmung ist Ursache oder Folge, manchmal beides zugleich [...]. Damit zusammenhängend wuchert der Refle-xionsdrang.«3 Die sozialpsychologische Charakterisierung trifft Schnier, wenn man seine verbalen Aggressionen als melancholische Ersatzaktivität versteht. Dadurch wird noch der Romanschluß, scheinbar Zeichen einer endgültigen Resignation, auch zum Zeichen der Provokation. Das verweist wiederum darauf, daß der Clown nicht nur in seiner Trauerarbeit Stellvertreter ist, er vertritt auch gesellschaftlich oppositionelles Verhalten. Daß dies so ist und nicht anders sein kann, reflektiert noch einen gesellschaftlichen Tatbestand: den Ausfall einer politisch kraftvollen Opposition im CDU-Staat und die stellvertretende Opposition, die der Publizistik (man denke an den Spiegel) und der Literatur bis in die sechziger Jahre zukam, ja zugeschrieben, aufgebürdet wurde. »Die Literatur sollte eintreten für das, was in der Bundesrepublik nicht vorhanden war, ein genuin politisches Bolls Angriff auf die Kirche? Zeichnung zu einer Besprechung des Romans in der Münsteraner Studentenzeitschrift »Semester,Spiegel' vom Juni 1966 ; : .3. Literarästhetische.und-historische Aspekte , Obwohl inhaltliche und weltanschauliche Gesichtspunkte in der kritischen Auseinandersetzung mit Bolls Roman dominieren, finden auch in engerem Sinn ästhetisch-hteraturkriti-sche Fragen Beachtung. Erst der neueren Forschung erschließen sich die, teilweise unveröffentlichten, Vorarbeiten zu Bolls Roman, die auf eine sorgfältige Uterarische Komposition hinweisen. Karl Heinz Götze führt in seiner Interpretation 1993 aus: »Wie wenig naiv, wie ästhetisch reflektiert die Optik der Ansichten eines Clowns entwickelt wurde, erschließt sich der Forschung erst allmählich durch die Analyse der unmittelbaren Vorarbeiten zum Roman; Boll selbst hat schon 1970 aus Anlaß der Uraufführung der Bühnenfassung des Romans und erneut 1971 darauf hingewiesen, daß die Einstellung der Zeitschrift Labyrinth, zu deren Herausgebern er zählte, zur Vorgeschichte seines Romans gehört: Seine damalige Erklärung zur Einstellung der Zeitschrift Labyrinth' [1962] enthalte den < »Plot für den Roman. Es ist eigentlich die Geschichte von Theseus und Ariadne: Theseus im Labyrinth, Ariadne schneidet den Faden ab und da sitzt er da. , Und das Labyrinth, und das kann ich in dem Fall wirklich sagen [...] ist der politische deutsche Katholizismus.«5 Daß dieser Zusammenhang von der Kritik zunächst nicht gesehen wurde, kann ihr wohl kaum angelastet werden, denn strukturell sind die Gemeinsamkeiten zwischen dem Theseus-Mythos und dem Clown-Roman doch wenig ausgeprägt. Schließlich ist es Theseus, der wegen der Götter die Königstochter Ariadne verläßt und als Königstochter wurde zudem 1 Marie nun gewiß nicht angelegt. Freilich hat Boll im Vorlauf zu Ansichten eines Clowns auch mit einer Konstellation experimentiert, in der die Frau zur Verräterin an ihrer noblen Herkunftsklasse wird, sich in einen Studenten aus einer Arbeiterfamilie verliebt und diesem bei der Rache an seinem Professor hilft. Diese Anordnung wurde als die Erzählung Keine Trane um Schmeck (1962) durchgespielt. ; Schließlich sind da die unveröffentlichten Vorarbeiten unter dem Titel »Augenblicke«, die wohl im wesentlichen mit der gleichen Fabel arbeiten, aber als Erzählung aus der Perspektive von Marie konzipiert sind, während der Clown in die DDR gegangen ist, Dorothee Römhild, die Einsicht in die »Augenblicke« nehmen konnte, beschreibt als Haupteffekt des Perspektivwechsels die Überführung der »intuitiv-emotionalen Gesellschaftskritik Maries« in die »reflektierende Gesellschaftsanalyse des subversiven Künstlers«6. Es ist zu vermuten, daß es eben dieser Perspektivwechsel war, der dem Text um den Preis narrativer Monophonie die Eindeutigkeit, Streitbarkeit und Radikalität verliehen hat, der ihn für ein ganzes Land zum Anstoß machte.« Zu Romanform und Erzählweise der Ansichten eines Clowns schreibt C. A. M. Noble 1975 in einer Studie: »Boll kommt hier seiner Vorstellung eines Romans, der idealerweise in einer Minute spielen müßte, näher als je zuvor. Die Hauptfigur erscheint zugleich als Ich-Erzähler, weil Boll als Autor vollständig zurücktritt. Das eigentliche Geschehen - es ist kaum als Handlung zu bezeichnen - verläuft innerhalb von nur ungefähr zwei Stunden an einem Märztag des Jahres 1962. Der geld- und arbeitslose, von seiner Geliebten verlassene Clown führt in dieser stark reduzierten Zeitspanne wegen seiner Notlage im wesentlichen Telefongespräche, die zusammen mit assoziativen Erinnerungen die eigentliche Erzählzeit des Romans gliedern. Die eigentlich erzählte Zeit von 1945 bis 1962 wird in einem über dreihundert Seiten langen Ich-Monolog aufgenommen, in dem Verschiedenes gemischt wird: Gegenwärtiges und Vergangenes, Gespräche und Arguhiente, Reflexionen, Anmerkungen und natürlich Ansichten. Somit wird die augenblickliche Bewußtseinslage der Hauptfigur von höchster Bedeutsamkeit für die Romanstruktuierung: das auf den Innenraum reduzierte Heldenbild bewegt sich im Bereich der zufälligen Bewußtseinsinhalte, die selber in den Vordergrund treten und die äußere Realität der Umwelt wie der Figur selbst nur in den Umrissen erscheinen lassen. Die Zeit, die das Mittel chronologisch gegliederten Vorgehens hätte Sein können, vermag deshalb nicht mehr die Rolle eines ordnenden Prinzips zu spielen; Bolls durchaus komplexer Auffassung der Zeit zufolge - er sieht in ihr »Augenblick, Ewigkeit, Jahrhundert« - läßt sich der Roman strukturell nur durch Hilfsmittel aufbauen. Abgesehen von der realen Ebene, der Gegenwart, und der »Reflektiv- oder Erinnerungsebene«7 bezeichnet Boll als dritte strukturierende Schicht die Motive; und in den Ansichten wird das Motiv der Untreue Maries und ihrer Entscheidung, einen anderen zu heiraten, durch wiederholtes Reflektiertwerden zum die Struktur des Romans bestimmenden Angelpunkt der Aufzeichnungen. In diesem wieder-holten Augenblick aus dem Erlebnis des Clowns und in'der Wiederholung des Erlebnisses als Augenblick erkennt man die tiefere Bedeutung von Bolls Aussage, daß der ideale Roman »in einer Minute« spielen müßte: der Reduzierung der Zeit auf einen Augenblick, was endgültig die Auflösung des Romans bewirken könnte, erscheint als Gegengewicht das mehrfache Wiedererleben, des Augenblicks als einer Art novellistischen Höhepunkts, der zugleich Ausgangs- und Zulaufepunkt der Aufzeichnungen bildet, ohne jedoch dabei für mehr als eine sehr offene und ungeometrische Form zu sorgen. Seiner Methode nach zeigt dieser Roman aus all diesen Gründen einen Hang zum Skizzenhaften. • l [:..] . »I • • :U,V..."<.....■■■■ ■ ., Die experimentelle, kaleidoskopische Romanform der Ansichten spiegelt die Offenheit von Schniers Weltsicht. Das Werk geht einen Schritt weiter als die »Gleichzeitigkeit«, von Billard um halbzehn: statt noch verhältnismäßig thematisch geordnete Episoden in entsprechende Kapitel einzubauen, wechseln Szenen und Einfälle schnell wie etwa bei Musil, für den die Offenheit der Weltsicht sich in keine geschlossene Kunstform übertragen ließ. Im fünften Kapitel der Ansichten zum Beispiel sind Gegenwartsbeschreibung und Erinnerung, Vorstellung und Ansichten, Aussage und Gespräch, Wirklichkeit und Phantasie so durcheinander gemischt, daß das Montageprinzip kaum mehr überschaubar ist.« Es hegt nahe, die Figur des Clown als Bild für.den Künstler aufzufassen. Auf Parallelen in der soziologischen und philosophischen Literatur verweisen Richard Hinton Thomas und Wilfried van der Will in ihrer aus dem Englischen übersetzten Studie Der deutsche Roman und die Wohlstandsgesellschaft (1969): »Der Soziologe Ralf Dahrendorf hat im Erscheinungsjahr der Ansichten eines Clowns den zeitgenössischen Intellektuellen mit dem Hofnarren verglichen.8 »Der Narr«, so Dahrendorf, »ist gerade dadurch bestimmt, daß er aus jeder Rolle fällt. Es ist seine Rolle, keine Rolle zu spielen: »Was sich gehört« und »wie man sich benimmt« ist genau das, was der Narr eben nicht tut.« Er ist »kritisches Gewissen« der Herrschenden, »kritischer Stachel« der Gesellschaft, Seine Macht hegt in der »Freiheit von der Hierarchie sozialer Ordnungen daß er von außen und von innen spricht, dazugehört und doch nicht dazugehört«. Als Narr hat der heutige Intellektuelle die 1 flicht; »alles Unbezweifelte anzuzweifeln, über alles Selbstverständliche zu erstaunen, alle Autorität kritisch zu relativieren, alle jene Fragen zu stellen, die sonst niemand zu stellen wagt«. Er bedenkt zu jeder Position »deren Gegenteil«. In einem Interview mit Klaus Harprecht im Zweiter. Deutschen fernsehen sagte Heinrich Boll am 6. Juli 1967: »Ich glaube, daß kein Buch so mißverstanden worden ist wie KT "™ Clowns Es war eigentlich nur eine Liebe gesch.chte, wirklich nicht mehr. Es ist hier auf eine Weise polit,S1ert worden in diesem Land, wie in keinem Land der Welt, noch nicht einmal in der Sowjetunion.«