Was leistet die Narratologie? Texte und Methoden, den 3.4. 2019 Jörg Schönert, Universität Hamburg • Internet-Portals der Forschungsgruppe "Narratologie" (NarrPort), Antragsteller Schönert. • Was ist und was leistet Narratologie? Anmerkungen zur Geschichte der Erzählforschung und ihrer Perspektiven. • „Erzählungen (Narrative) erscheinen dabei als prinzipielle Organisationsmuster für das Erzeugen und Vermitteln von Wissen, für Orientierungen in Gegenwart und Vergangenheit, für den Entwurf fiktiver Welten.“ Narrative sind „anthropologisch vorgegebene, kulturell entwickelte und diversifizierte Grundmuster, um sich in der Welt zu orientieren und Sinn zu erzeugen“. Narrative in Kontexten • Nicht mehr die Frage wie Erzählungen (bzw. Narrative) organisiert sind, sondern was sie leisten. • Welche Funktionen haben Narrative in Kontexten und Praxisbezügen? • https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=9336&ausgabe=200604 • (1.) als Teilaspekt einer umfassenden Texttheorie, • (2.) als Heuristik, d. h. Anweisung zur Gewinnung neuer Erkenntnisse, und ,Werkzeug' zur Textanalyse und Textinterpretation; • (3.) als systematisch entwickelter Deskriptionsmodus (der allerdings nicht frei von ,Interpretation' zu halten ist), • (4.) als interdisziplinäres Wissenssystem. • Theorie, Geschichte und praktische Analyse von Erzähltexten • (1) Erzähltheorie/narrative theory (hier eingeschlossen ist u. a. die Poetik des Romans): mit (möglichen) Basistheorien aus Philosophie, Anthropologie/Kulturtheorie, Kognitionstheorie, Kommunikationstheorie, Semiotik, Texttheorie, Linguistik; • (2) Geschichte des Erzählens/history of narratives (insbesondere Gattungsgeschichte der Erzählprosa): als historisch orientierte Narratologie; • (3) Erzähltextanalyse/analysis and interpretation of narratives: als angewandte Narratologie „The Narrativisation of the World“ Karlheinz Stierle: Die Struktur narrativer Texte. Am Beispiel von J. P. Hebels Kalendergeschichte „Unverhofftes Wiedersehen“. In: H. Brackert & E. Lämmert (Hgg.), Funk-Kolleg Literatur 1, Frankfurt a.M. 1977, S. 210-233. „The Narrativisation of the World“ in: Kuishma Korhonen, Hg., Tropes for the Past. Hayden White and the History/Literature Debate, Amsterdam 2006, S. 72–82 Lehrstuhl für Allgemeine Literaturwissenschaft und Neuere deutsche Literaturgeschichte Michael Scheffel • DIEGESIS ist die erste interdisziplinäre Zeitschrift für Erzählforschung, die alle Artikel und Rezensionen als Volltext online frei zugänglich publiziert. Das E-Journal wird von Mitgliedern des Zentrums für Erzählforschung (ZEF) der Bergischen Universität Wuppertal herausgegeben. eine sinnstiftenden Funktion von Erzählen? • Julia Abel, Andreas Blödorn, Michael Scheffel (Hg.): Ambivalenz und Kohärenz - Untersuchungen zur narrativen Sinnbildung • „Narrationen erscheinen insofern als Statthalter der Kohärenz inmitten einer als kontingent zu betrachtenden Wirklichkeit des Lebens. Tatsächlich aber sind Erzählungen selbst häufig durch Mehrdeutigkeit, Brüche und Widersprüche geprägt. Mit großer Konsequenz haben denn auch sprach- und textzentrierte Ansätze wie die Dekonstruktion immer wieder das Fehlen von Kohärenz in Erzählungen hervorgehoben.“ Ambivalenz, Kontingenz und Kohärenz bei Abel, Blödorn, Scheffel • „Die Beiträge des vorliegenden Bandes wollen sowohl die ‚Ambiguitätsvergessenheit' der neueren kulturwissenschaftlichen Forschung als auch die ‚Ambiguitätsversessenheit' unterschiedlicher Spielarten der Dekonstruktion vermeiden. Aus theoretischer und anwendungsbezogener Sicht widmen sie sich dem Problem narrativer Sinnbildung im Spannungsfeld von Ambivalenz und Kohärenz, um so die differenziertere Betrachtung eines komplexen Phänomens zu erreichen. Martin Dillmann: Poetologien der Kontingenz. Zufälligkeit und Möglichkeit im Diskursgefüge der Moderne • (Kölner Germanistische Studien. Neue Folge, Band 11. 2011) • Die Wahrnehmung einer Omnipräsenz des Zufälligen stellt traditionelle Formen wissenschaftlicher und literarischer Sinnstiftung infrage. Dies regt einerseits Katastrophendiskurse an, andererseits aber auch den Übergang zu einem Modus der Beobachtung zweiter Ordnung im Sinne Luhmanns. Das dadurch entworfene Bild der Welt als offener Spielraum von Möglichkeiten bildet die Basis für Experimente und Konzeptionen, in denen Kontingenz selbst zum Ausgangspunkt neuer Sinnstiftungsprojekte wird. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. • Man beobachtet die Aufzeichnungen eines Autors, Malers oder Fotografen, der damit seine eigenen Beobachtungen fixiert hat. Das Unvermittelte wird ersetzt durch das Vermittelte, dem man eher vertraut als den eigenen Sinnen. • Der Übergang von der Beobachtung erster Ordnung zur Beobachtung zweiter Ordnung ist nach Luhmanns Darstellung ein Wechsel vom Was-Fragen zum Wie-Fragen. Walter Sokel (1917-2014) • Laufbursche an der Wall Street • dank eines Empfehlungsschreibens von Thomas Mann ein Stipendium vom Office of International Education an der Rutgers University • an der Columbia University in Germanistik und Vergleichender Literaturwissenschaften: 1953 mit einer Dissertation über den literarischen Expressionismus • Ordinarius an der Stanford University ab 1964 • bis zu seiner Emeritierung 1994 als Commonwealth Professor für Germanistik und Anglistik an der University of Virginia Walter Sokel • Franz Kafka, Tragik und Ironie: zur Struktur seiner Kunst, München und Wien. Albert Langen Georg Müller, 1964 Das Verhältnis der Erzählperspektive zu Erzählgeschehen und Sinngehalt in „Vor dem Gesetz“, „Schakale und Araber“ und „Der Prozess“. Ein Beitrag zur Unterscheidung von Parabel und Geschichte bei Kafka, in: ZfdPh 86 (1967), p. 267‐ 300. Walter Sokel, 1967 • Die Erzählungen aus Kafkas „Durchbruchsperspektive“ vom September 1912 bis zum Prozess weisen die von Friedrich Beissner und Martin Walser für Kafka entdeckte Radikalität der „personalen Erzählsituation“ auf. • Unmittelbar erblickt der Leser die Hauptgestalt ebenso wenig, wie sie sich selbst erblicken kann (wenn wir von der Schlussszene der Verwandlung absehen) • vs. • Sehen und Erleben getrennt im gleichnishaften Erzählen Walter Sokel, […] Ein Beitrag zur Unterscheidung von Parabel und Geschichte bei Kafka • Zwischen die Hauptfigur der Legende, den Mann vom Lande, und den Leser schieben sich der Erzähler, die Romanfigur des Geistlichen, und der Zuhörer Josef K. damit wird die Perspektive des Lesers zweifach vom Gegenstand der Erzählung entfernt […] wird zum Gleichnis. • Jemand musste Josef K. verleumdet habe, denn ohne dass er etwas Böses getan HÄTTE, wurde er eines Morgens verhaftet. • Ein von Josef K. diestanzierter Erzähler, denn mit der Verhaftung wird berichtend etwas vorweggenommen, was K. erst einige Sätze später erfährt. • vs. • Der perspektivische Standpunkt Josef K.s, da das „hätte“ auf ein vermutendes Überlegen des Helden hindeutet und wohl bewusst dem berichtenden „hatte“ vorgezogen ist, das auf einen distanzierten Erzähler wiese. Dort sitzt er Tage und Jahre Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; das Gesetz soll doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt den Türhüter in seinem Pelzmantel genauer ansieht, seine große Spitznase, den langen, dünnen, schwarzen tatarischen Bart, entschließt er sich, doch lieber zu warten, bis er die Erlaubnis zum Eintritt bekommt. Der Türhüter gibt ihm einen Schemel und läßt ihn seitwärts von der Tür sich niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre. Er macht viele Versuche, eingelassen zu werden, und ermüdet den Türhüter durch seine Bitten. Der Türhüter stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielem andern, es sind aber teilnahmslose Fragen, wie sie große Herren stellen, und zum Schlüsse sagt er ihm immer wieder, daß er ihn noch nicht einlassen könne. In wen bekommt der Leser dabei den Einblick? • Welche Rolle bekommt das Adverb gewiss im Prozess? • K. wäre auch diese kleine Kanzel gewiß nicht aufgefallen, wenn nicht oben eine Lampe befestigt gewesen wäre, wie man sie kurz vor einer Predigt bereitzustellen pflegt. Sollte jetzt etwa eine Predigt stattfinden? In der leeren Kirche? K. sah an der Treppe hinab, die an die Säule sich anschmiegend zur Kanzel führte und so schmal war, als solle sie nicht für Menschen, sondern nur zum Schmuck der Säule dienen. Aber unten an der Kanzel, K. lächelte vor Staunen, stand wirklich der Geistliche, hielt die Hand am Geländer, bereit aufzusteigen und sah auf K. hin. In wen bekommt der Leser dabei den Einblick? Worauf bezieht sich gewiß? Es war aber nicht die Gemeinde, die der Geistliche anrief, es war ganz eindeutig und es gab keine Ausflüchte, er rief: „Josef K.!„ K. stockte und sah vor sich auf den Boden. Vorläufig war er noch frei, er konnte noch weitergehn und durch eine der drei kleinen dunklen Holztüren, die nicht weit vor ihm waren, sich davon machen. Es würde eben bedeuten, daß er nicht verstanden hatte oder daß er zwar verstanden hatte, sich aber darum nicht kümmern wollte. Falls er sich aber umdrehte, war er festgehalten, denn dann hatte er das Geständnis gemacht, daß er gut verstanden hatte, daß er wirklich der Angerufene war und daß er auch folgen wollte. Hätte der Geistliche nochmals gerufen, wäre K. gewiß fortgegangen, aber da alles still blieb, solange K. auch wartete, drehte er doch ein wenig den Kopf, denn er wollte sehn, was der Geistliche jetzt mache. Er stand ruhig auf der Kanzel wie früher, es war aber deutlich zu sehn, daß er K.'s Kopfwendung bemerkt hatte. Es wäre ein kindliches Versteckenspiel gewesen, wenn sich jetzt K. nicht vollständig umgedreht hätte. Er tat es und wurde vom Geistlichen durch ein Winken des Fingers näher gerufen. In wen bekommt der Leser dabei den Einblick? Worauf bezieht lange. Gewiß konnte der Geistliche in dem sich gewiß? Nun schwiegen beide Dunkel das unten herrschte, K. nicht genau erkennen, während K. den Geistlichen im Licht der kleinen Lampe deutlich sah. Warum kam der Geistliche nicht herunter? Eine Predigt hatte er ja nicht gehalten, sondern K. nur einige Mitteilungen gemacht, die ihm, wenn er sie genau beachten würde, wahrscheinlich mehr schaden als nützen würden. Wohl aber schien K. die gute Absicht des Geistlichen zweifellos zu sein In wen bekommt der Leser dabei den Einblick? Worauf bezieht sich „man muß nicht alles für wahr halten, • „Nein", sagte der Geistliche, gewiß? man muß es nur für notwendig halten." „Trübselige Meinung", sagte K. „Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht." K. sagte das abschließend, aber sein Endurteil war es nicht. Er war zu müde, um alle Folgerungen der Geschichte übersehn zu können, es waren auch ungewohnte Gedankengänge in die sie ihn führte, unwirkliche Dinge, besser geeignet zur Besprechung für die Gesellschaft der Gerichtsbeamten als für ihn. Die einfache Geschichte war unförmlich geworden, er wollte sie von sich abschütteln und der Geistliche, der jetzt ein großes Zartgefühl bewies, duldete es und nahm K.'s Bemerkung schweigend auf, trotzdem sie mit seiner eigenen Meinung gewiß nicht übereinstimmte. Sokel: K.s Ignoranz des Gesetzes, nicht seine Unschuld • Der Geistliche hat ihm mit dem Erzählen der Legend die Gelegenheit einer verstehenden Schau geboten. Doch josef K. bleibt dabei, sich mit dem Standpunkt des Mannes vom Lande zu identifizieren anstatt ihn zu durch schauen. […] Er ist nicht imstande, en abstand einzunehmen, der Grundlage der Erkenntnis ist. Eigentlicher Zuschauer und Erkennender kann also nur der Leser sein. […] Der undistanzierte unkritische Leser des Romans verfällt also demselben Irrtum wie Josef K. Als zuhörer der Legende. Geschichte narrartologischer Forschungen nach Schönert • 1: die Romankunst fokussiert (H. James, E. M. Forster, P. Lubbock), zwischen 1955-1965 proto-narratologische' Konzepte (E. Lämmert, K. Hamburger, F. Stanzel u.a.). • 2: strukturalistische Narratologien (R. Barthes, A. Greimas, C. Bremond, T. Todorov, G. Genette). • didaktisch orientierte Anwendungern unter Einschluss von Israel und den Niederlanden (M. Bal, Sh. Rimmon Kenan, D. Cohn, S. Chatman). • 3: (1980-1995) Kritik am engen (Wissenschafts-)Anspruch der Narratologie; es kommt zu ,Dekonstruktionen' der Narratologie, zugleich werden ,Narrative' für nicht-literarische Bereiche (u. a. Film, Historiografie, biblische Texte, Rechtspraxis) Geschichte narrartologischer Forschungen nach Schönert • 4. ,Renaissance'(reconsideration) der Narratologie: im Sinne einer kulturtheoretisch gerechtfertigten Universalisierung (M. Fludernik). • • Genettes Begriffs ergänzt • Neben der histoire (dem Was des Erzählten) wird Aufmerksamkeit auch auf den récit (das Wie des Erzählens), das ,emplotment' (H. White) gelenkt. Heute wird Historiografie weithin weder im Sinne eines dogmatischen Faktualismus noch eines bedingungslosen Fiktionalismus verstanden. • Stanzel vs. Petersen, Scheffel, Martinez • Franz Karl Stanzel (geb.1923), Anglist, Literaturwissenschaftler und Komparatist. • • Erzählsituationen: auktorial, personal, IchErzählsituation • Gerarde Genette (1930 –2018) • Discours du récit (Figures 3), Paris 1972 • Modus • - Fokalisierungstypen : die Frage "Wer nimmt wahr?" • Stimme des Erzählers: die Frage "Wer spricht?" • Ordnung chronologisch • mit Anachronien: Analepse und Prolepse Gerarde Genette • ´Frequenz´ • ´singulatives´ Erzählen (was einmal geschieht, wird einmal erzählt), ´repetitives´ Erzählen (was einmal geschieht, wird n-mal erzählt) und ´iteratives´ Erzählen (was n- mal geschieht, wird einmal erzählt) • Dauer • summary´ (1) viel ´histoire´ (Geschichte) bei relativ wenig Text erzählt. verschiedene Raffungsintensitäten. • ´Szene´ (2) bezeichnet er zeitdeckendes Erzählen, wie man es in Dialogen, tendenziell im Drama vorfindet. Die Zeit der ´histoire´ (Geschichte) entspricht in etwa der Länge des ´récit´ (Erzählung). • `Ellipse´ (3): unendlich viel Geschichte in unendlich wenig Erzählung Platz • ("drei Jahre später", "lange Jahre vergingen") • •