Filozofická fakulta Masarykova univerzita Brno Seminararbeit zu Heinrich Stillings Jugend. Eine wahrhafte Geschichte Vyučující: Dr. Mareček Vypracovala: Barbora Nosková Předmět: Deutsche Literatur 1700-1790 Dieses schmale Bändchen Heinrich Stillings Jugend. Eine wahrhafte Geschichte erschien im Jahre 1777 in Berlin. Es erzählte vom Leben eines Knaben, Sohn eines Schneiders und Schullehrers und Enkel eines Kohlenbrenners. Es war in erster Linie eine Milieuschilderung, ohne viel Handlung, die Darstellung einer Naturlandschaft, bevölkert von den Bauern und Handwerkern. Da lebten schon mehrere Generationen auch Stillings Vorfahren, die sich zu diesem Gebiet hingezogen fühlten. Der Autor Johann Heinrich1 Jung- Stilling wurde da in einem kleinen Dörfchen Tiefenbach geboren und erzogen, wo auch gegen Ende des 17. Jahrhunderts der Pietismus Eingang gefunden hatte. „Pietismus“ war eine religiöse Bewegung des deutschen Protestantismus, der zwar schon zwischen 1690 und 1740 einen Höhepunkt erreichte, beeinflusste jedoch sowohl das kirchliche als auch das literarische Leben noch in weiteren Jahren. Stillings Autobiographie reiht sich unter anderen zu den bedeutendsten pietistischen Werken. Pietistisch war nämlich auch die Atmosphäre im Elternhaus des Knaben Johann Heinrich. Der Pietismus der Bauern und kleinen Handwerker war aber von dem städtischen Pietismus etwas unterschiedlich und zwar herber und weltabgewandter. Der Mittelpunkt dieser Bewegung war die persönliche Bekehrung und die Umsetzung des Glaubens im täglichen Leben. Wichtig war die innige Frömmigkeit, tätige Christentum und Bewusstsein sozialer Verantwortlichkeit. Die Stillings Eltern waren überempfindsame religiöse Schwärmer und selbst Heinrich rückte in seiner Autobiographie das Religiöse an zentrale Stelle. Von den „Jünglingsjahren“ an versuchte er, seinen Lesern klarzumachen, dass Gott ihn nicht nur leite, sonder dass er ihn zu etwas ganz Besonderem auserwählt habe, dass er der Auserwählteste unter den Auserwählten sei. Die Grundstimmung der Stillingschen Frömmigkeit ist das Gefühl der göttlichen Nähe, der Geborgenheit im Schirm und Schatten des Höchsten. Die Frömmigkeit bildete zwischen den einzelnen Stillings Familienmitglieder ein festes Band. Sprach ich über Pietismus, muss ich noch erwähnen, dass diese Strömung bei der Entstehung von dem in Deutschland neu erschienenen Genre der Autobiographie stand. Die Autobiographie ist in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts durch zunehmende Subjektivierung und Historisierung geprägt. Höhepunkt dieser Entwicklung ist Goethes Dichtung und Wahrheit. Autobiographien sind zugleich Analysen der geistlichen und kulturellen Strömungen der Zeit. Autobiographie bedingt vor allem die Aufrichtigkeit des Verfassers, charakteristisch ist auch Authentizität was der Gefühle und Meinungen betrifft. Autobiographische Werken werden normalerweise in Ich- Form Erzählt. Henrich Stillings Jugend ist die Ausnahme. Man erzählt in der dritten Person mit offensichtlicher Freude an der Realität, an Menschen und Landschaft. Autor verzichtet darauf, eigene Erfahrungen zu schildern, die Hauptidee ist ein menschliches Porträt zu bilden. Es handelt sich um einen Erlebnisroman. Was noch auffällt, ist der Erzählstil, der eine Vermischung von epischen, dramatischen und lyrischen Elementen enthält. In Stillings Vokabular kommen oft die Ausdrücke vor, die zu den Schlüsselworten des Pietismus gehören: fließen, einstürmen, zerschmelzen, innig, unaussprechlich usw. Die meisten Ausdrücke, die ein Gefühl äußern, beziehen sich auf sein Herz, seine Seele und nicht „ auf sich“. Eigene pietistische Sprache ist charakteristisch auch durch Abstrakta auf -ung, -heit, -keit (z.B. Dämmerung, Neigung, Traurigkeit, Gewohnheit usw.). Stilling hat aber durch seinen wenig wertenden Schreibstil kaum Bezug zum Leser, trotzdem ist das Werk durch das farbige Bild der Menschen, Dörfer und Sitten in der Jugendgeschichte sehr fesselnd. Die dörflichen Sitten der Bauern vor allem, etwa bei einer Hochzeit, werden so detailliert geschildert, dass diese Passagen noch Heute fürs Studium der Volkskunst interessant sind (häufig sind auch verschiedene Lieder, Sagen und Mährchen). Stilling legt dem Leser eigentlich ein stark idealisiertes Bild der Menschen, ihres Lebens vor, trotzdem verlor dieses Werk nichts von dem Zauber der damaligen Zeit, die durch die Hauptpersonen, ihre Handlungen und Naturen gekennzeichnet ist, denn gemeinsames Charakteristikum aller pietistischen Lebensläufe ist eigentlich eine sorgfältige Seelenanalyse. Man erkennt sogar in den Hauptgestallten ähnliche Menschentypen, die auch z.B. im Buch Babička von Božena Němcová vorkommen. Mit besonderer Freude formt Autor die verschiedenen Charaktere, allen voraus das Porträt des beliebten Großvaters Eberhard. Das war ein Mann, realitätsnah, voll Selbstvertrauen, in Frieden mit sich und der Welt. Was er sagt, hat oft die Einfachheit und Zeitlosigkeit einer Sentenz. Ähnlich zeichnet Stilling das Bild der Großmutter Margarethe. Sie stellt auch eine starke Persönlichkeit dar, die die einzige ist, die den Kopf oben behält, als der tödliche Unfall ihres Ehemannes geschieht. Die Wesenzüge der Mutter kannte Stilling nur aus zweiter Hand, Sie war übersensitiv, sie weinte sehr und verfiel oft in eine sanfte Schwermut und wie man aus der Geschichte erfährt, „ der Knabe hatte und bekam der Mutter Gesichtzüge und ihr sanftes gefühliges Herz gänzlich“.[2] Das Bild des Vaters Wilhelm musste Stilling mit sich widersprechenden Gefühlen malen. Wilhelm war sehr scharf und er bestrafte Heinrich sehr oft mit der Rute. Er erlaubte nie dem Knaben mit anderen Kinder zu spielen, so kannte Heinrich keine Nachbarskinder und wusste so nur wenig von der Welt. Seine einzigen Beschäftigungen waren nur Beten, Lesen und Schreiben. Daneben machte die reine Natur um ihn die tiefsten Eindrücke in seinem offenen Herz. In den Jünglingsjahren steht der Satz: „ Ein Grundtrieb in seiner Seele…fing an, sich bei reifern Jahren zu entwickeln, und das war ein unersättlicher Hunger nach Erkenntnis der ersten Urkräfte der Natur.“ Die reine Natur wurde die einzige Zuflucht des jungen Knaben. Trotzdem verbesserte sich die Beziehung des Knaben und Vaters zueinander nach einem Ereignis. Einmal gingen die beiden in den Ruinen des Schlosses herum, als Henrich unter einem Stein ein Zulegmesserchen fand. Dieses Messerchen gehörte früher seiner Mutter, woran auch die auf der Klinge geschriebene Name Johanna Dorothea Catharina Stillings erinnerte. Der Schmerz vom Verlust der geliebten Person war für Wilhelm noch so stark, dass er zu schluchzen und zu heulen anfing, er nahm den Knaben in seine Arme und sagte ihm erstmals, dass er ihn liebt. Wilhelm wurde sich darüber klar, dass sie ihre Leben auf Kammer nicht beschließen können und versprach dem Knaben, dass er Schule halten wird und auch Henrich wird mit ihm gehen und ferner lernen… Von seiner Kindheit und Jugend hatte Stilling gelegentlich seinen Freunden erzählt. Einmal hatte er entschieden, die Geschichte zusammenzufassen. Dann war die Studienzeit in Straßburg der entscheidende Einschnitt in Stillings Leben. Dort begegnete er Herder, Lenz, aber vornehmlich Goethe. Er nahm nämlich 1777 das Manuskript von Stilling mit und brachte es in Druck. Vorher aber musste Goethe dieses Manuskript ein wenig für den Druck einrichten. Viel Seichtes wurde ausgemerzt, einige Stücke wurden sogar weggelassen, oder verändert (die vor allem religiöse Teile- sie erschienen im Text sehr häufig). Den ersten Teil veröffentlichte Goethe ohne Jungs Wissen („Heinrich Stillings Jugend“, daher erhielt Jung seinen Beinamen). Als „Henrich Stilling“ hatte er begonnen und er hielt dies Pseudonym für alle Teile der Lebensgeschichte. Der Erfolg des kleinen Büchleins übertraf alle Erwartungen. Zwei der von ihm bearbeiteten Sagen sind später unverändert von den Brüdern Grimm übernommen worden. Stilling stellte dem Leser eigentlich die Welt vor, die er für die richtige und echte hielt. Leben in einer Gemeinschaft, Gefühl der Zusammengehörigkeit, Menschen in Harmonie mit der Natur und endlich christliche Nächstenliebe. Das sind die wichtigsten Werte in seinem Leben. Die elberfelder Pietisten haben Stilling wegen seines niedrigen Ursprungs, seiner ärmliche Kleidung und gesellschaftliche Unsicherheit und Befangenheit zwar verspotten, trotzdem hat es Stilling gelungen, sich in der literarischen Welt durchzusetzen und er starb als eine große Autorität der neuen protestantischen Erweckungsbewegung. Literaturverzeichnis: Primäre Literatur: Johann Heinrich Jung- Stilling: Heinrich Stillings Jugend. Eine wahrhafte Geschichte. Stuttgart 1997. Sekundäre Literatur: Jorgensen, S.A.; Bohnen, Klaus; Ohrgard, Per: Geschichte der deutschen Literatur. Aufklärung, Sturm und Drang, frühe Klassik 1740-1789. München 1990 (Band VI). Metzler, J. B.: Deutsche Literaturgeschichte. Stuttgart 1993. Metzler- Literatur- Lexikon. Günther und Irmgard Schweikle, Stuttgart 1990. ________________________________ 1 In den Erstdrucken der vier ersten Bücher der Lebensgeschichte erscheint der Name Henrich, eine lebendige Nebenform für Heinrich. [2] J. H. Jung- Stilling: Heinrich Stillings Jugend. Eine wahrhafte Geschichte.