CHRONOLOGIE DES STREITS MIT GOEZE 1774 Herbst: "Von Duldung der Deisten", das erste von Lessing herausgegebene ReimarusFragment mit kurzem VORWORT und NACHWORT. 1777 Januar/Februar: "Ein Mehreres aus den Papieren des Ungenannten, die Offenbarung betreffend". Weitere fünf Fragmente und Lessings "GEGENSÄTZE DES HERAUSGEBERS". September/Oktober: Johann Daniel Schumann: "Ueber die Evidenz der Beweise für die Wahrheit der christlichen Religion". Oktober/November: Lessing: "ÜBER DEN BEWEIS DES GEISTES UND DER KRAFT". [Gegen J.D. Schumann, ohne Angabe des Verfassers.] Oktober/November: Lessing: "DAS TESTAMENT JOHANNIS" [Ohne Angabe des Verfassers]. Wohl November/Dezember: Johann Hinrich Reß: "Die Auferstehungsgeschichte Jesu Christi gegen einige im vierten Beitrag zur Geschichte und Literatur ... gemachte neuere Einwendungen verteidiget". Dezember: Goezes erste Veröffentlichungen gegen Lessing, die Rezension von Schumanns "Ueber die Evidenz ... " im 55. u. 56. Stück der Hamburger "Freiwilligen Beiträge". Dezember: Schumann: "Antwort auf das aus Braunschweig an ihn gerichtete Schreiben über den Beweis des Geistes und der Kraft". 1778 Januar: Goezes Rezension vom 17. Dezember 1777 wird im Altonaer "Beitrag zum Reichs-Post-Reuter" abgedruckt. Januar: Lessing: "EINE DUPLIK". Januar: Goezes zweite Veröffentlichung gegen Lessing, die Rezension von Reß' "Die Auferstehungsgeschichte ... " im 61.-63. Stück der "Freiwilligen Beiträge". Februar: Reichshofratsbeschluss gegen Karl Friedrich Bahrdts "Neueste Offenbarungen Gottes ..." Anschließender Abdruck in Zeitungen. März: Lessings erste [anonym erschienene] Schriften gegen Goeze: "EINE PARABEL. Nebst einer kleinen Bitte und einem eventualen Absagungsschreiben an den Herrn Pastor Goeze in Hamburg". "AXIOMATA, wenn es dergleichen ... Wider den Herrn Pastor Goeze in Hamburg". März/April: Lessing: "ANTI-GOEZE ... D.i. Notgedrungene Beiträge zu den freiwilligen Beiträgen des Herrn Pastor Goeze". April: Friedrich Daniel Behn: Verteidigung der biblischen Geschichte von der Auferstehung Jesu ..." April: Goeze: "Etwas Vorläufiges gegen des Herrn Hofrats Lessings mittelbare und unmittelbare feindselige Angriffe ..." April: Lessing: "ANTI-GOEZE ... Zweiter" [ohne Verfasserangabe wie alle folgenden]. April: Johann Balthasar Lüderwald: "Die Wahrheit und Gewissheit der Auferstehung Christi". Mai: Albrecht Wittenbergs "Epigramm an Doktor Schrill" im 35. Stück des "Beitrags zum Reichs-Post-Reuter". April/Mai: Goeze: "Lessings Schwächen ... Das erste Stück". April/Mai: Lessing: Dritter bis sechster "ANTI-GOEZE". Im Anschluss an den dritten "ANTI-GOEZE" Lessings "ANTWORT AUF DIE ANZEIGE IM 30STEN BEITRAGE DES ALTONAER REICHS-POST-REUTERS". Mai: Auslieferung des letzten von Lessing herausgegebenen Reimarus-Fragments "Von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger". Mai: Lessing: ANTI-GOEZE ... SIEBENTER". Juni: Lessing: ANTI-GOEZE ... ACHTER". Juni: Goeze: "Lessings Schwächen ... Das zweite Stück". Juni/Juli: Lessing: ANTI-GOEZE ... NEUNTER bis "ANTI-GOEZE ... ELFTER Juli: Zensurmaßnahmen der herzoglichen Regierung. Juli: Briefe Lessings an den Herzog von Braunschweig über die Zensurmaßnahmen. Juli: Lessing: "GOTTH. EPHR. LESSINGS NÖTIGE ANTWORT ...". August: Bestätigung der Zensurmaßnahmen. August: Brief Lessings an den Herzog über Zensurmaßnahmen. "ANKÜNDIGUNG" zu "Nathan der Weise". August: Goeze: "Lessings Schwächen ... Das dritte Stück" (Letzte Schrift gegen Lessing). September/Oktober: Lessing: "DER NÖTIGEN ANTWORT ... ERSTE FOLGE" (letzte von Lessing [ohne Verfasserangabe] veröffentlichte Schrift gegen Goeze) 1797 Oktober: Abdruck eines Gerüchts über Geldspenden an Lessing im 85. und 86. Stück des "Wiener Diariums". Dezember: Nachdruck vom "Wiener Diarium" im 73. und 74. Stück der "Freiwilligen Beiträge". Dezember: Lessing: "NOCH NÄHERE BERICHTIGUNG DES MÄRCHENS VON 1000 DUKATEN ODER JUDAS ISCHARIOTTH, DEM ZWEITEN" (Lessings Gegendarstellung mit kurzem Überblick seiner Schriften gegen Goeze). (Aus: Gotthold Ephraim Lessing: Werke, hrsg. von Herbert G. Göpfert u.a. A. Bd.: Theologische Schriften III, Philosophische Schriften. Carl Hanser, München 1979, S. 587-589.) GOTTHOLD EPHRAIM LESSING Gegensätze des Herausgebers (1777) Und nun genug dieser Fragmente! - Wer von meinen Lesern mir sie aber lieber ganz geschenkt hätte, der ist sicherlich furchtsamer, als unterrichtet. Er kann ein sehr frommer Christ sein, aber ein sehr aufgeklärter ist er gewiss nicht. Er kann es mit seiner Religion herzlich gut meinen: nur müsste er ihr auch mehr zutrauen. Denn wie vieles lässt sich noch auf alle diese Einwürfe und Schwierigkeiten antworten! Und wenn sich auch schlechterdings nichts darauf antworten ließ: was dann? Der gelehrte Theolog könnte am Ende darüber verlegen sein: aber auch der Christ? Der gewiss nicht. Jenem höchstens könnte es zur Verwirrung gereichen, die Stützen, welche er der Religion unterziehen wollen, so erschüttert zu sehen; die Strebepfeiler so niedergerissen zu finden, mit welchen er, wenn Gott will, sie so schön verwahret hatte. Aber was gehen den Christen dieses Mannes Hypothesen und Erklärungen und Beweise an? Ihm ist es doch einmal da, das Christentum, welches er so wahr, in welchem er sich so selig fühlet. - Wenn der Paralyticus die wohltätigen Schläge des Elektrischen Funkens erfähret: was kümmert es ihn, ob Nollet, oder ob Franklin, oder ob keiner von beiden Recht hat? Kurz: der Buchstabe ist nicht der Geist; und die Bibel ist nicht die Religion. Folglich sind Einwürfe gegen den Buchstaben, und gegen die Bibel, nicht eben auch Einwürfe gegen den Geist und gegen die Religion. Denn die Bibel enthält offenbar Mehr als zur Religion gehöriges: und es ist bloße Hypothes, dass sie in diesem Mehrern gleich unfehlbar sein müsse. Auch war die Religion ehe eine Bibel war. Das Christentum war, ehe Evangelisten und Apostel geschrieben hatten. Es verlief eine geraume Zeit, ehe der erste von ihnen schrieb; und eine sehr beträchtliche, ehe der ganze Kanon zu Stande kam. Es mag also von diesen Schriften noch so viel abhängen: so kann doch unmöglich die ganze Wahrheit der Religion auf ihnen beruhen. War ein Zeitraum, in welchem sie bereits so ausgebreitet war, in welchem sie bereits sich so vieler Seelen bemächtiget hatte, und in welchem gleichwohl noch kein Buchstabe aus dem von ihr aufgezeichnet war, was bis auf uns gekommen: so muss es auch möglich sein, dass alles, was Evangelisten und Apostel aufgeschrieben haben, wiederum verloren gänge, und die von ihnen gelehrte Religion doch bestände. Die Religion ist nicht wahr, weil die Evangelisten und Apostel sie lehrten: sondern sie lehrten sie, weil sie wahr ist. Aus ihrer inneren Wahrheit müssen die schriftlichen Überlieferungen erkläret werden, und alle schriftliche Überlieferungen können ihr keine innere Wahrheit geben, wenn sie keine hat. Dieses also wäre die allgemeine Antwort auf einen großen Teil dieser Fragmente, - wie gesagt, in dem schlimmsten Falle. In dem Falle, dass der Christ, welcher zugleich Theolog ist, in dem Geiste seines angenommenen Systems, nichts Befriedigendes darauf zu antworten wisse. Aber ob er das weiß, woher soll er selbst die Erfahrung haben, woher sollen wir es ihm zutrauen, wenn es nicht erlaubt sein soll, alle Arten von Einfällen frei und trocken herauszusagen? Es ist falsch, dass schon alle Einwürfe gesagt sind. Noch falscher ist es, dass sie alle schon beantwortet wären. Ein großer Teil wenigstens ist eben so elend beantwortet, als elend gemacht worden. Seichtigkeit und Spötterei der einen Seite, hat man nicht selten mit Stolz und Naserümpfen auf der andern erwidert. Man hat sich sehr beleidiget gefunden, wenn der eine Teil Religion und Aberglauben für eins genommen: aber man hat sich kein Gewissen gemacht, Zweifel für Unglauben, Begnügsamkeit mit dem, was die Vernunft sagt, für Ruchlosigkeit auszuschreien. Dort hat man jeden Gottesgelehrten zum Pfaffen, hier jeden Weltweisen zum Gottesleugner herabgewürdigt. So hat der eine und der andere seinen Gegner zu einem Ungeheuer umgeschaffen, um ihn, wenn er ihn nicht besiegen kann, wenigstens vogelfrei erklären zu dürfen. Wahrlich, er soll noch erscheinen, auf beiden Seiten soll er noch erscheinen, der Mann, welcher die Religion so verteidiget, als es die Wichtigkeit und Würde des Gegenstandes erfordert.[...] (Gotthold Ephraim Lessing: Werke, hrsg. von Herbert Göpfert u.a. 7. Bd.: Theologische Schriften I und II, Carl Hanser, München 1979, S. 457-459) JOHANN MELCHIOR GOEZE (1717-1886) Etwas Vorläufiges gegen des Herrn Hofrats Lessings mittelbare und unmittelbare feindselige Angriffe [...] II. (1778) Im Verlage der Fürstl. Waisenhaus-Buchhandlung ist im vorigen Jahre an das Licht getreten: "Die Auferstehungsgeschichte Jesu Christi gegen einige im vierten Beitrage zur Geschichte und Literatur aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel gemachte neuere Einwendungen verteidiget". 8. von 11 Bogen. Die Erscheinung dieser Schrift ist ein abermaliger Beweis des Satzes: Es ist nichts so arg, das nicht etwas gutem dienen könnte. Die Fragmente eines Ungenannten, welche der Herr Hofrat Lessing durch den Druck der Welt mitgeteilet, sonderlich das fünfte unter denselben, in welchem der Verfasser die Wahrheit der Auferstehung Christi zu stürzen, und die Apostel als die ärgsten Betrüger und Lügner darzustellen sucht, sind gewiss das ärgste, das man denken kann. Nur derjenige kann Unternehmungen von dieser Art als etwas Gleichgültiges ansehen, der die christliche Religion entweder für ein leeres Hirngespinst, oder gar für einen schädlichen Aberglauben hält, und der nicht eingesehen hat, oder nicht einsehen will, dass die ganze Glückseligkeit der bürgerlichen Verfassung unmittelbar auf derselben beruhe, oder der den Grundsatz hat: Sobald ein Volk sich einig wird, Republik sein zu wollen, so darf es folglich die biblischen Aussprüche, auf welchen die Rechte der Obrigkeit beruhen, als Irrtümer verwerfen. Durch dieses arge Fragment ist die oben angeführte Schrift veranlasset worden, als welche, wenn Herr L. solches nicht zum Vorschein gebracht hätte, das Licht nie würde gesehen haben. [...] (Aus: Gotthold Ephraim Lessing: Werke, hrsg. von Herbert G. Göpfert u.a., s.o., 8. Bd., S. 102, 115- 116) JOHANN MELCHIOR GOEZE (1717-1886) Etwas Vorläufiges [...] VIII. (1778) Für dieses mal habe ich von dieser Sache meinen Lesern nichts zu sagen, als dass ich ihnen die Resultate aus dem vorhergehenden vorlege. Das Resultat aus dem fünften Fragmente ist dieses: Alle Christen sind von der Zeit an, da man angefangen die Auferstehung Christi zu glauben, bis auf den heutigen Tag, in Absicht auf die Religion, die elendesten Dummköpfe gewesen. Sie haben sich die Auferstehung Christi, die dümmste Lüge, die man denken kann, aufbürden lassen, da sie doch mit Händen hätten greifen können, wie ichs mit Händen gegriffen habe, dass die Jünger seinen Leib gestohlen, und hernach vorgegeben haben: Er lebe, und sei gen Himmel gefahren. Sie haben sich eine, auf diese grobe lüge gebauete Religion, bei welcher sie so viel Elend erdulden müssen, von jenen Lügnern und Leichenräubern als eine göttliche aufbürden lassen, und sie sind so blind gewesen, die in ihren Erzählungen so sichtbar liegende Widersprüche nicht zu sehen. Weg also mit der ganzen christlichen Religion! Das Resultat, das aus Herrn Lessings Gegensätzen und Duplik fließet, ist dieses: Alle Christen, welche bis auf den heutigen Tag die ganze Bibel als Gottes Wort angenommen haben, und noch annehmen, und den Verfassern der biblischen Bücher gleiche Untrüglichkeit in allen Stellen zuschreiben, sind Toren und Narren, da sie nicht einsehen, dass sich so viele Widersprüche in denselben finden. Christen! ihr müsset also erst unterscheiden lernen, was unter diesem Widersprechenden wahr oder falsch ist, und wenn ihr dazu nicht im Stande seid, so will ich euch künftig zu Hülfe kommen. Werfet also die Schale weg, und behaltet den Kern. Doch da ihr den Kern schon habt, da die christliche Religion bleiben wird, wenn auch alle Schriften der Evangelisten und Apostel verloren gingen; warum plagt ihr euch mit solchen Schriften? Weg also mit dem neuen Testamente! und das alte kann mitlaufen, ihr werdet dadurch noch weniger verlieren. Es ist doch aufs höchste nur ein Elementarbuch das für Kinder geschrieben ist, dessen sich aber erwachsene und verständige Menschen schämen müssen. Weg also mit der ganzen Bibel! Ich füge noch das Resultat, das aus meinen Aufsätzen fließet, hinzu. Es ist dieses: Christen, lasset euch nicht verführen! Fordert von dem Herrn Lessing, dass er euch erst bestimmt sage: was er durch christliche Religion versteht, weil ihr sonst Gefahr lauft, berückt zu werden. Fordert von ihm, dass er euch, bestimmt, mit eigentlichen Worten, ohne Bilder und Gleichnisse, sagen solle, was er in der Bibel für göttlich oder für menschlich hält, und seinen Aussprüchen die dazu gehörigen Gründe, aber wieder in eigentlichen Worten, beifüge. [...] (Aus: Gotthold Ephraim Lessing: Werke, s.o., 8. Bd., S. 190-191.) JOHANN MELCHIOR GOEZE (1717-1886) Lessings Schwächen (1778) Ich habe aber meine sehr gegründete Ursachen, warum ich, ehe ich auf dieser Bahn einen Schritt mit ihm weiter gehe, von ihm selbst eine völlig runde, und von aller Zweideutigkeit entfernte Erklärung, über die Fragen: was für eine Religion er durch die christliche Religion verstehe; und was für eine Religion er selbst als die wahre erkenne und annehme? fordere. Denn dass bey der Religion, die ich als die christliche bekenne und predige, die Bibel schlechterdings unentbehrlich sey, das kann ich beweisen, aber nicht dass solches auch von der Religion gelte, welche Herr Lessing die christliche nennet, und welche die seinige ist. Hier kann er gar leicht den Sieg behaupten. Allein alsdenn entsteht wieder die Frage: ist diese Religion die wahre christliche Religion? Auf diese kommt es vornehmlich an. Und wie ist es möglich, diese Fragen zu untersuchen und zu entscheiden, so lange Herr Lessing hier einer deutlichen und bestimmten Erklärung ausweicht, und wenn er sich hier als ein ehrlicher Mann erklären soll, den Lesern lauter blaue Dünste in die Augen bläset. (Goezes Streitschriften gegen Lessing, hrsg. von Erich Schmidt. Stuttgart 1893 [Deutsche LiteraturDenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts 43 bis 45, S. 124 f.]) LESSINGS "Nötige Antwort auf eine sehr unnötige Frage des Herrn Hauptpastors Goeze in Hamburg" (1778): [...] ich antworte auf die vorgelegte Frage so bestimmt, als nur ein Mensch von mir verlangen kann, dass ich unter der christlichen Religion alle diejenigen Glaubenslehren verstehe, welche in den Symbolis der ersten vier Jahrhunderte der christlichen Kirche enthalten sind. (P/O, Bd. 23, S. 259) s. Reklams Erläuterungen ... S. 95/96