Österreichische Literatur der Ersten Republik Die großen Autoren Musil, Canetti und Broch sollen nächste Woche ausführlicher behandelt werden. Heute also zuerst zu den Bedingungen, die das literarische Leben in Österreich von dem in der Weimarer Republik unterscheidet. Es ist vor allem das Gefühl, in einem Staat zu Leben, den keiner wollte. Die Monarchie hatte 51 Mill. Einwohner, das neue Deutsch-Österreich, wie der Staat hieß, nur 6,5 Mill. Im Friedensvertrag von Saint Germain wurde jedoch der Anschluß an Deutschland verboten. Der Prozentsatz derjenigen, die sich doch mit der Weimarer Republik identifizierten war, in Deutschland größer als die Zahl der Österreicher, die der Monarchie nicht nachgetrauert hätten. Nach der tiefen Wirtschaftskrise und der Inflation, die mit Deutschland durchaus vergleichbare Größe annahmen, war die Zeit der scheinbaren Stabilität noch kürzer. Schon am 15. Juli 1927 kam es zum Brand des Justizpalastes, bei dem 85 Demonstranten und 4 Polizisten beim Eingriff der Polizei getötet wurden. Nach diesem Ereignis, daß auf den Konflikt der paramilitärischen Organisationen Heimwehr und Republikanischer Schutzbund zurückzuführen war, hat sich die Lage nicht mehr beruhigt: die Spannung zwischen der rot regierten Hauptstadt und dem schwarz Regierten Land ließ nicht nach. Viele Autoren schrieben weiter so, als ob sie das neue Staatsgebilde nicht zur Kenntnis genommen hätten. Auch Franz Blei verharmloste diesen Einschnitt in seiner Autobiographie aus dem Jahre 1930 Erzählung eines Lebens: „Dieser Weg in Zukunft ging, da er um den Ring herumzog, im Kreise, wahrhaft im Kreise Das gute österreichische Revolutiönchen strich in einem so sanften Winde, daß es ihren Trägern die Mäntel ganz von selber und ohne ihr Zutun und allgemein ungemerkt auf die andere Seite drehte“. Wenn man vom Habsburgischen Mythos in der Österrichischen Literatur spricht, meint man Hofmannsthal, Kraus, Musil, Stefan Zweig, Hermann Broch, Franz Werfel und den Kronzeugen der gleichnamigen Arbeit von Claudio Magris aus dem Jahre 1963 – Joseph Roth, also Autoren, die sich auch außehalb Österrichs durchgesetzt haben. Sozialgeschichtlich gesehen gab es aber doch einen gravierenden Einschnitt im Jahre 1918: U. a. haben sich die Einkommensverhältnisse der Arbeiter verbessert, in der Zeit der Krise kam es zur Verelendung des Mittelstandes. Es wäre aber falsch, dieses Verelendung als Folge des Machtaufstiegs der Sozialdemokratie zu deuten, wie es z. B. Strobl in seinem Roman Wie haben gebauet tut. Es zeigt sich, daß die ästhetisch weniger wertvolle Literatur die aktuellen sozialen Verhältnisse deutlicher hervortreten läßt, sei es auch ein Zerrbild dieser Verhältnisse. Eine Schicht, die besonders gehässig die neuen politischen Entwicklungen verfolgte, war der ehemalige Offiziersstand, der bis 1918 wie eine Klammer die Monarchie zusammenhielt. Schreibende Offiziere durfte es offiziell nicht geben, weil ihnen die Schriftstellerei zu Erwerbszwecken untersagt war, sie spielten aber dennoch in der Monarchie eine wichtige Rolle, wie die Geschichte der Zeitschrift Muskete belegt. Viele mußten nach 1918 ihre Uniform ablegen, das Symbol ihrer Identität. Der Zauber der Uniform überlebte vor allem in der Operette, in der die Veränderungen seit 1918 kaum wahrzunehmen sind. Nicht zufällig bezeichnete Broch in seinem Roman Passenow oder Die Romantik die Uniform als die zweite, dichtere Haut des Menschen. Viel an dem Aggressionspotential, das den Krieg überlebt hat, ist in dieser Literatur enthalten, wie z. B. der Roman Repablick von Karl Paumgartten[1] belegt (1925): aus der Monarchie würde nur der Abschaum der fremden Völker aufgenommen. Das Thema Uniform prägt auch literarisch wertvollere Bücher: Franz Werfels Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig aus dem Jahre 1920. Karl Duschek könnte an seinem Vater, einem General, Rache nehmen. Da dieser aber ohne Uniform nur im Schlafrock ein wehrloser Greis ist, verzichtet er darauf. In historischer Verkleidung begegnet uns dieses Thema auch in Musil Portugiesin (1924, Drei Frauen).Herr von Ketten erkrant nach dem Krieg gegen den Bischof von Trient nach einem Fliegenstich. Während des langen Leidens wird ihm seine Frau untreu, Herr von Ketten, der seine Frau überwachen möchte, erklimmt eine hohe, als unüberwindlich geltende Felswand. Die sportliche Leistung ist eine Ersatzhandlung für eine militärische Tat, durch die er seine wieder gewonnene Vitalität bestätigt. Der Wiener Roman, der nach dem schon längst anachronistisch gewordenen Typ des Kriminalromans Eugen Sues *Die Geheimnisse von Paris aus den 40er Jahren des 19. Jhs verfaßt wurde, wurde durch die Bestseller Hugo Bettauers[2] repräsentiert: 1923/24 Der Kampf um Wien: nur wer Wien hat, dieses Kronjuwel, hat Mitteleuropa: das wissen die Slaven, die Magyaren, Monarchisten und Republikaner, Reaktion und Anarchisten. Die Rettung Wiens erfolgt durch amerikanisches Kapital. 1924 Das entfesselte Wien 1924 Die freudlose Gasse (1925 von G. W. Pabst verfilmt, hier debütierte Greta Garbo als Kollegin von Asta Nielsen). Die Film und der Roman haben nur das Thema einer von Inflation und Hunger gezeichneten Großstadt gemeinsam, von Bettauers Romanhandlung weicht das Drehbuch deutlich ab. Gestalten dieser Romane sind Schieber[3], Verbrecher, Kokotten, Inflationskönige, heruntergekommene Offiziere. Bettauers Held ist der weltgewandte Journalist, der alles ins rechte Lot bringt. Wer war dieser Bettauer? Herausgeber der erotischen Wochenschrift Sie und Er Sexualaufklärer, der im März 1925 von einem rechtsgerichteten Zahntechniker ermordet wurde. Der Attentäter gab an, er habe die Jugend vor diesem Verführer schützen wollen. Es ist charakteristisch für die Verschiedenheit Deutschlands und Österreichs, daß hier ein jüdischer Journalist, weder ein Außenminister wie Rathenau (June 24, 1922) noch ein Finanzminister wie Erzberger (Aug. 26, 1921, Baden) zum Ziel des Attent§ters wird. Reaktion der Presse: nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig.: er sei ein Opfer der Geister geworden, die er rief, für die Nationalsozialisten war er ein Symbol der Schmutzliteratur. (Alfred Rosenberg: ein Musterbeispiel jüdischer Zersetzungstätigkeit) In der Wanderausstellung Der ewige Jude, 1938, wurde er als Vater der erotischen Revolution bezeichnet. Wie eng der Antisemitismus Laszivität als jüdisches Gift auffasste, zeigte im Jahre 1921 der Skandal um die Aufführung von Schnitzlers Reigen in Wien und Berlin. Ein anderer Roman von Hugo Bettauer ist 1922. Die Stadt ohne Juden: Auf Antrag der Christlichsozialen müssen alle Juden Wien verlassen. Dann fehlen nicht nur Intellektuelle und Künstler, sondern auch fähige Liebhaber und vor allem finanzkräftige Wirtschaftstreibende. Die Vertriebenen werden zurückberufen. Die Währung steigt. Der Roman ist eine lockere Satire. Durch die karikaturistische Darstellung wird der brutale Umgang verharmlost. Die antisemitischen Vorurteile werden durch den Roman bestätigt, obwohl sich Bettauer dagegen zu wehren glaubte. Der Roman zeichnet Personen aus dem polit. u. kulturellen Leben der Zeit erkennbar nach, u. a. den antisemitischen Wiener Bürgermeister Karl Lueger, den Sozialdemokraten u. späteren Wiener Bürgermeister Karl Seitz (1923-34), den Prälaten Ignaz Seipel, Chef der christlich-sozialen Regierung, u. den Schriftsteller Arthur Schnitzler. Ein anderer Zeitroman, in dem Wien als Ort des Verderbens erscheint, stammt aus dem rechten Lager: 1920 Strobl: Gespenster im Sumpf - eine negative Utopie, eine Dystopie, die im Jahre 1950 spielt; die Stadt wird von einem Klüngel, der roten Hand, regiert, die Lebensmittel, die auf einem Floß von der Außenwelt geschickt werden, sind Anlass zu einer Rauferei, sonst sind die Armen nur Erdenfresser. Der Untergang Wiens wird mit dem Weltuntergang gleichgesetzt. Eine apokalyptische Grundstimmung hat auch das Lesedrama Die letzten Tage der Menschheit von Karl Kraus, der Strobl hasste und in seiner Glosse Mephysik der Schweißfüße karikiert hat. Der Epilog von KKs DlTdM heißt Die letzte Nacht. Zur Fratze verzerrt erscheint hier das österreichische Antlitz … Die imago imperatoris ist zum Schreckbild geworden. Felix Salten hatte 1908 anlässlich des 60. des Regierungsjubiläums das Antlitz des Kaisers zum österreichischen Antlitz erklärt. Der Österreicher sollte sich durch das Kaiserhaus repräsentiert fühlen. Ein ehemaliger Mitstreiter von Karl Kraus war Fritz Wittels[4], 1880 – 1950, Autor von Nachruf für Habsburg, 1919 So haben sie uns erzogen: die Kaiserin Maria Theresia ist die Stammmutter der Frau Sopherl vom Naschmarkt … Die gutherzige, eheliche Kinder gebärende, wirtschaftliche, klerikale und beschränkte Frau auf dem Throne lebt in hunderttausend Wiener Frauen bis auf den heutigen Tag. Sie füllen die Kirchen, und eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass irgend eine schwungvolle Idee in diesen dumpfen Guglhupfgehirnen Anklang fände. … Franz Josef mit seinem kinnfreien Kaiserbart wurde von zahllosen Gastwirten, Schuldienern, Hausbesorgern nachgeahmt. Auch bei Karl Kraus ist Franz Josef mit seinem kinnfreien Kaiserbart ein Symbol der Monarchie, das von vielen nachgeahmt wird: 290, KK DlTdM Der Herr der Hyänen Schwarzer, graumelierter, ganz kurzer Backen- und Kinnbart, der das Gesicht wie ein Fell umgibt und mit eben solcher Haarhaube verwachsen erscheint; energisch gebogene Nase; große gewölbte Augen mit vielem Weiß und kleiner stechender Pupille. Die Gestalt ist gedrungen und hat etwas Tapirartiges. …die rechte [Hand] weist mit gestrecktem Zeigefinger, auf dem ein Brillant funkelt, auf die Hyänen. Habt acht! Und steht mir grade! Ich komme zur Parade, und es gefällt mir gut. Ihr habt die Schlacht gewonnen! Nun ist die Zeit begonnen! Nun zeiget euren Mut! … Und der es einst vollbrachte, an seinem Kreuzt verschmachte, wert, dass man ihn vergisst. Ich tret´an seine Stelle, die Hölle ist die Helle! Ich bin der Antichrist. … 293 Der alte Pakt zerreiße! So wahr ich Moritz heiße, der Wurf ist uns geglückt! Weil jener andre Hirte sich ganz gewaltig irrte! Ich heiße Benedikt! 304 Eine Stimme von oben Wir haben alles reiflich erwogen und sind in die Defensive gezogen. Wir sind entschlossen, euern Planeten mit sämtlichen Fronten auszujäten 306 Buschräuber hinter dem Ideale, Glücksritter in einem Jammertale, gepanzert mit Bildung, gewandt und gelehrt, überbewaffnet und unterernährt, von Gnaden ihrer Maschine mächtig, hochmütig und dennoch niederträchtig, von sich überzeugte Untertanen, erbaute Erbauer von Bagdadbahnen, Hochstapler der Höhen und Schwindler der Tiefen, Hyänen, die Leben und Tod beschliefen, Flieger, die an dem irdischen haften, Sklaven der neuesten Errungenschaften, in Tort[5] und Technik bestens erfahren, elektrisch beleuchtete Barbaren… Wir vom Mars sind gar nicht eroberungssüchtig. Doch greift man was an, so greift man es tüchtig. Zum Heil des Alls und all seiner Frommen haben wir eure Methoden angenommen. Die Stimme Gottes Ich habe es nicht gewollt Klingt Karl Kraus´ Lesedrama als Stellungnahme gegen die Kirche und Religion aus, die im Weltkrieg die Waffen der beiden Bündnisse segneten, soll der barocke Ordo-Gedanke, die Ordnung als Ausrichtung alles "Irdischen" auf die göttliche Vorstellung als Endzweck, eine neue österreichische Tradition bilden. Ein Versuch dem Staat, den keiner wollte, eine neue Identität zu bilden, stellen ab 1920 Salzburger Festspiele dar. Die Barockstadt schien die Barocktradition der theresianischen Zeit gut aufgehoben zu haben, der Gegenwart sollte das Bild einer Ordnung entgegengehalten werden, wie sie in der von Max Reinhardt 1922 in der Salzburger Kollegiatskirche uraufgeführt: Hofmannsthal verarbeitet hier Calderóns Fronleichnamsspiel Das große Welttheater Der Meister (Gott) läßt sich von der unverständigen Welt ein Schauspiel bereiten. Auf die Frage des Widersachers, wie ein von Anfang bis Ende vom Meister vorbestimmtes Spiel noch unterhalten könne, wird er belehrt, die Kreaturschaft des Menschen bestehe in jenem Funken von Freiheit, in der Wahl zwischen Gut und Böse. Tod als Bühnenmeister, unverkörperte Seelen mit der Rolle des Königs, der Weisheit, der Schönheit, des Reichen, des Bauern und des Bettlers belehnt. Das Spiel im Spiel inszeniert den sozialen Konflikt, den der Bettler so formuliert: Ihr habt, und ich hab nicht – das ist die Red Das ist der Streit und das, um was es geht! Während er die Axt zum Schlag gegen jede, nicht nur diese Ordnung erhebt, vollzieht sich in einer momentanen Entrückung die unglaubliche Handlung: Er lässt die Axt sinken und zieht als weiser Eremit in den Wald zurück. Die Welt lässt ihr Lied von der vergänglichen Zeit ertönen, und alle Spieler verspüren den nahenden Tod, der sie einzeln abruft. Aber nur Weisheit und der Bettler gehen ihm gelassen entgegen. Das Urteil über die Seelen durch die Engel des Meisters. Vor allem der frühere Bettler und die Weisheit haben im Spiel bestanden und werden in den Palast des Meisters eingelassen. Umsturz des Bestehenden, Ansichreißen der Gewalt; und was dann? aufs Neue Gewalt! Der Anspruch auf natürliche Gleichheit des Schicksals als Teufelswerk dargestellt. Das politische Programm des Festivals tritt noch deutlicher in Max Mells[6] Apostelspiel *1924 uraufgeführt, 1928 bei den Salzburger Festspielen). Versspiel in Knittelversen Die naive Frömmigkeit eines Bauernmädchens vermag zwei Gesellen von Raub und Mord abzuhalten. Einer von ihnen trägt einen gelbbraunen russischen Militärmantel, um die antibolschewistische Tendenz des Stückes zu unterstreichen, obwohl sie sich Petrus und Johannes nennen. Sie sind entschlossen, die 15-jährige Magdalene, ihren Großvater zu ermorden und den Bergbauernhof, wo sie Abendessen und Nachtquartier bekommen haben, niederzubrennen. Der Großvater, der noch am Anfang von ihnen verlangt hat, das Mädchen wegen ihrer übertrieben frommen Einfalt zu verspotten: Einzig die Liebe zeige den Weg zum wahren Leben. Ödön von Horváth (1901 – 1938) Prof. Schmidt-Dengler verwendet als Folie, vor der er seine Anmerkungen zu Horváths Geschichten aus dem Wiener Wald entwickelt, folgenden Schlagertext von Beda, eigentlich Fritz Löhner: Und wieder geh´ich durch die engen Gassen, wo scheu geduckt die alten Häuser steh´n; die Biedermeierhöfe sind verlassen, die kleinen Fenster trüb herniederseh´n. Zwei müde Weiblein steh´n auf der Pawlatschen mit Einkaufstaschen, die so mager sind wie ihre Wangen, seufzen schwer und tratschen; beim Brunnen spielt ein bleiches Wienr Kind. Da hält ein Werkel vor dem alten Haus, ganz leise lockt ein Lied vom Johann Strauß, und wie ein Leuchten aus versunkner Welt der holde Klang das trübe Bild erhellt. Noch rauscht der Wienerwald auf sanften Hügeln, noch blüht der Wein, wo einst Beethoven schritt; noch klingt Musik auf zarten Elfenflügeln, und tausend junge Herzen singen mit. Doch nagt das Heut´, wo man fürs Morgen borge, ums goldne Kalb tanzt man im fremden Takt; die Armut reicht die hand der Mutter Sorge, und magre Kinderfüßchen trippeln nackt. … Wien, Wien, Wien sterbende Märchenstadt, die noch im Tod für alle ein freundliches Lächeln hat. Wien, Wien, Wien, einsame Königin im Bettlerkleid, schön auch im Leid bis du, mein Wien! /zit. nach Hans Christian Worbs: Der Schlager. Bremen 1963./ Die verhängnisvolle Verquickung von Jazz und dem goldenen Kalb: Jazz ist das Zeichen des Verfalls, dessen Opfer die vornehme Wiener Gesellschaft ist. Felix Dörmann: Jazz (1924)die verhängnisvolle Verbindung von Jazz und Vergötzung des Geldes. Jazz ist das Zeichen des Verfalls. Die Klischees, die man in dem Schlager vorfindet, verwendet auch Ödön von Horváth in seinem wohl populärsten Volksstück Geschichten aus dem Wiener Wald aus dem Jahre 1931. Im Unterschied zum zitierten Schlager läßt er sie aber nicht unbewußt auf den Adressaten wirken, sondern macht sie bewußt, indem er zeigt, daß die Figuren von ihnen abhängig sind und ihr Leben danach gestalten. Die bewußt kitschig mit Versatzstücken der Wiener Gemütlichkeit arrangierte Idylle, die eher mit theatralischen Mitteln verfremdet wird (Überspielen, Karikieren der Figuren), wird durch den Tod des Kindes und die Resignation der gebrochenen Heldin plötzlich ernst. Marianne, die Tochter eines Spielwarenhändlers, genannt „Zauberkönig,“ schlägt die vom Vater vorgesehene Verbindung mit dem Metzger Oskar aus. Sie möchte nicht nach dem kleinbürgerlichen Muster heiraten und leben, sie fürchtet sich vor einem solchen Klischee, sie will aus der Enge ihres Milieus hinaus, läßt sich aber mit einem abenteuerlichen Nichtsnutz Alfred ein, der sie dann mit ihrem Kind in Stich läßt, sie wird also Opfer einer anderen Klischeevorstellung von einem jungen Mann aus der eleganten Welt, oder war sich eine Kleinbürgerstochter darunter vorstellt. Da sie keinen Beruf erlernt hat, muß sie jetzt den Lebensunterhalt verdienen, indem sie in lebenden Bildern ihren Körper zur Ware macht. Nachdem sie von ihrem Vater nach der Vorstellung wiederholt beleidigt worden ist und einen betrunkenen reichen Amerikaner, der sie als Hure kaufen wollte, bestohlen hat, kommt sie in Untersuchungshaft. Ihr Kind muß jetzt doch zu Alfreds Mutter und Großmutter in die Wachau. Die Affenliebe der Großmutter zu ihrem Enkel Alfred, der nur Billiard spielt und bei Pferdewetten Schulden macht, führt dazu, daß die Großmutter Alfreds das neugeborene Kind im Kinderwagen in der Nacht heimlich ans offene Fenster schiebt und in den Zug stellt, damit es sich erkältet und stirbt, Lungenentzündung endete damals meistens mit dem Tod des Kindes. Die zu einer bedingten Strafe verurteilte, gebrochene Marianne erfährt, daß ihr Kind tot ist, ihr Vater eine Schlaganfall gehabt hat. Auf Anregung der ehemaligen Geliebten Alfreds Valerie, einigen sich die beiden Männer, daß Oskar Marianne heiratet, wenn jetzt das Hindernis – das Kind - nicht mehr da ist. Was ist eigentlich ein Volksstück? Was ist es in der Auffasung von Horváth? In Wien kam es anläßlich der österr. Erstaufführung von Geschichten aus dem Wiener Wald 1948 zu einem Theaterskandal, die Presse sprach von einer »giftigen Verhöhnung des Wienerischen«. Von seinen Anfängen war Volksstück mit Mimus[7] u. Stegreiftheater, über Zauber- spiel, Lokalposse, Lebensbild verbunden; , Programmat. u. ernstes V. des 19. Jh. wurde im 20. Jh. zum sog. ›kritischen‹ V. umformt. . V. beschränkt sich nicht darauf, (Rezeptions-)Form der Komödie zu sein; die Begriffsbestimmung muß von seiner Herkunft aus der Institution Volkstheater (zumeist kommerzielle ›Unternehmen‹) ausgehen. V. kann ein Stück von dem, über das, für das Volk sein, es kann auf der themat. Ebene Probleme des Volkes erfassen oder unterhaltend u. belehrend auf das Volk wirken. Es steht im Kontext anderer Unterhaltungsformen, ferner von ›Trivialliteratur‹ u. ›Populärer Kultur‹. Je nach Intention haben sich zwischen Unterhaltung u. ›Aufklärung‹ oder Kritik viele Spielformen des Volkstheaters herausgebildet, daß V. immer im Gegensatz zu einem ›anderen‹ Theater - des Hofes, des bürgerl. Theaters im 19. Jh., des Bildungstheaters usw. - steht. Mit seiner Tendenz zur Parodie (im weitesten Sinne, v. a. die Stoffbearbeitung betreffend) ist es als Opposition zur jeweils herrschenden Theaterpraxis zu sehen, wenngleich es auch von der Gesellschaft ›konsumiert‹ wird, gegen die es gerichtet scheint. V. zeichnet sich in diesem Kontext u. a. durch folgende Merkmale aus: Betonung der ›Körper- lichkeit‹ (es geht im Volksstück nie allzu fein zu )u. theatralische Effekte, Offenheit für Schaubarkeit, Spiel mit Fiktion, Gesangseinlagen, lokale/regionale Bindung, niederer Stil u. Stilmischung, Alltags- u. Wirklichkeitsnähe, Neigung zu Sentimentalisierung u. Normenstabilisierung, aber auch zu Provokation bestehender Normen. Wegen ihrer dramaturgischen Offenheit (dem Spiel mit Illusion u. konkreten Bezügen zu Zeit u. Publikum), ihrer Aggressivität, wurde die Posse abgewertet, man sprach ihr die Fähigkeit ab, das ›bürgerliche‹ Leben widerzuspiegeln. Sie sei destruktiv, ziehe alles in den Schmutz, statt - wie vom ›wahren‹ V. gefordert - erzieherisch zu wirken u. Ideale darzustellen. Den von der Posse ausgesparten Bereich ›positiver‹ u. ernster Darstellung besetzte das ›Lebens-, Charakter- oder Genrebild‹, das, den Forderungen zeitgenöss. Kritik entsprechend, in einer Mischung von Ernst u. Komik ein getreues Abbild wirkl. Lebens geben sollte. Es beginnt die Ausformung jenes Volksstücktyps, der als Synthese von Posse u. Rührstück eine ästhetische Aufwertung erfährt, z. T. aber In den 20er Jahren arbeiten Bertolt Brecht, Marieluise Fleißer, Horváth, Georg Kaiser u. Carl Zuckmayer an der Volksstückerneuerung, indem sie die sozialen Implikationen von Region, Geschichte u. ›Volk‹ dem Publikum bewußtmachen wollen. Zuckmayers Fröhlicher Weinberg (Bln. 1925) gewinnt die - auch sprachliche - Vitalität des alten V.s zurück; mit dem Hauptmann von Köpenick (ebd. 1931) stößt er zum zeitkrit. V. vor. Fleißer geht in den ›Ingolstädter Stücken‹ von der beengenden Lebensform der Provinz aus, die sich v. a. in der ›geliehenen‹ Sprache u. Sprachnot der Figuren äußert. Ihre Dramen sind ›umgekehrte‹ V.e, die Figuren negative Helden. Die Wiederentdeckung der Sprache als Indikator gesellschaftl. Bewußtseins u. Instrument krit. Analyse macht auch die Qualität der V.e Horváths aus. Wenn er vom ›alten‹ V. spricht, das er zgl. zerstören u. erneuern will, meint er das nach Anzengruber sentimentalisierte V. Gerade durch die Bewußtmachung der Klischees u. die Einbeziehung der Zeitwirklichkeit. Neben Horváth wären mit ähnl. Inten- tionen Elias Canetti (Hochzeit. Bln. 1932), Ernst Krenek (Kehraus um St. Stephan. 1930), Jura Soyfer (Der Lechner Edi schaut ins Paradies. Entstanden 1936) zu nennen. Brechts akzentuierte dabei den Klassenstandpunkts in seinem V. Herr Puntila und sein Knecht Matti (entstanden 1940). Nach 1945: Ulrich Becher u. Peter Preses (Der Bockerer. Wien 1946 von Antschel verfilmt), Carl Merz u. Helmut Qualtinger (Der Herr Karl. Ebd. 1961), Inwieweit im V. der Gegenwart (etwa bei Peter Henisch, Peter Turrini, Felix Mitterer u. anderen) ›Spuren‹ des (Wiener) Volkstheaters zu finden oder Momente der Funktionsgeschichte des V.s aktualisiert sind, ist noch zu erforschen. In Bayern Franz Xaver Kroetz, Rainer Werner Fassbinder. Ein Paar Worte zu Horváth: Horváth, Ödön (Edmund) von, * 9. 12. 1901 Sušak/Fiume (Rijeka), † 1. 6. 1938 Paris; Der aus ungar. Kleinadel stammende Vater H.s gehörte dem ungar. diplomat. Korps an, die Mutter stammte aus Broos in Siebenbürgen. H. wuchs in Belgrad, Budapest u. ab 1909 München auf. Ab 1919 hörte H. an der Universität München germanistische u. philosophische Vorlesungen. Sein Interesse dafür erlahmte aber bald, als die schriftstellerische Tätigkeit in den Vordergrund rückte. Ab Ende 1923 hielt sich H. hauptsächlich in Berlin auf, zeitweise auch in der elterl. Villa im bayerischen Murnau am Staffelsee, SW von München. Das Jahr 1929 brachte für H. auch ökonomische Absicherung: Der Ullstein Verlag zahlte ihm für seine »gesamte schriftstellerische Produktion« eine monatl.Garantiesumme. Die Angriffe rechter Kritikerkreise gegen ihn verstärkten sich ab 1931 nach einem Prozess, in dem H. als Zeuge die Aktion eines Murnauer NS-Schlägertrupps bloßstellte. Die auf Vorschlag seines Freundes Carl Zuckmayer erfolgte Zuerkennung des Kleist-Preises im Herbst 1931 ließ einen Teil der dt. Presse vollends »vor Wut und Haß« zerspringen. Nach Januar 1933 wurde jedoch das bereits zur Uraufführung angenommene Stück Glaube Liebe Hoffnung. Ein kleiner Totentanz in fünf Bildern (Ffm. 1973) abgesetzt, auch andere geplante Aufführungen seiner Werke fanden nicht mehr statt. Eine Hausdurchsuchung der SA in Murnau war schließlich letzter Anstoß für H., Deutschland zu verlassen. Anfang März 1933 fuhr er als ungarischer Staatsbürger nach Salzburg, dann nach Wien. H. unternahm jedoch immer wieder Reisen ins »Reich« - vielleicht, weil er die Hoffnung auf Publikationsmöglichkeiten noch nicht aufgegeben hatte: So verweigerte er mit dem Hinweis auf deren polit. Charakter die Mitarbeit an der Exilzeitschrift »Die Sammlung« u. wurde im Sommer 1934 auf eigenen Antrag in den nationalsozialistischen Reichsverband Deutscher Schriftsteller aufgenommen (bis Febr. 1937). 1936 wurde H. die Aufenthaltserlaubnis für das Deutsche Reich entzogen. Von der Öffentlichkeit kaum beachtet, nur in einem kleinen Freundeskreis verkehrend (v. a. Csokor u. Lernet-Holenia), stürzte sich H. in Wien in schriftstellerische Arbeit. Zunehmende Resignati- on, Depressionen u. finanzielle Probleme ließen jedoch seine Arbeitskraft 1937/38 entscheidend erlahmen. Kurz nach dem »Anschluß« verließ er Wien; über Budapest, Teplitz-Schönau, Prag, Zürich, Brüssel u. Amsterdam führte H.s Weg der Emigration nach Paris (28. 5. 1938). Drei Tage später, am Abend des 1. 6. 1938, wurde H. auf den Champs-Elysées von einem herabstürzenden Ast getötet. 1924-1926 publizierte H. im »Simplicissimus« u. in der »Berliner Volkszeitung« einen Teil der Sportmärchen (Ffm. 1972. U. d. T. Rechts und Links. Sportmärchen. Bln. 1969) - kurze Prosatexte, die sich einfühlsam mit der wachsenden gesellschaftl. Bedeutung des Sports, dessen Ritualen auseinandersetzen und sie den traditionellen religiösen Vortstellungen gegenüberstellen. S. 12 – 13: Vom artigen Ringkämpfer, Vom unartigen Ringkämpfer; Sein erstes Drama, das Volksstück Revolte auf Côte 3018 (Urauff. Hbg. 1927. Erstdr. in: GW 1, 1970), arbeitete er nach der ablehnenden Kritik um. Die neue Fassung erhielt den Titel Die Bergbahn (Urauff. Bln. 1929). Mit dem Konflikt zwischen kapitalkräftigen Unternehmern u. einfachen Arbeitskräften beim Bau der österr. Zugspitzbahn greift H. hier ein sozialpolit. Thema in einer Radikalität auf, wie sie das »Volksstück«, das er »formal und ethisch« zerstören u. dessen »neue Form« er finden wollte, bisher nicht kannte. H.s Sympathien für die sozial Schwächeren, seine offenkundige polit. Tendenz brachten ihm den Vorwurf der »Hetzdramatik« ein, der sich noch verschärfte, als 1929 sein Stück Sladek der schwarze Reichswehrmann, eine »Historie aus dem Zeitalter der Inflation« uraufgeführt wurde (urspr. Fassung: Sladek oder Die schwarze Armee. Erstdr. beider Fassungen in: GW 1, 1970. Ffm. 1974). Als Schwarze Reichswehr bezeichnete man die als Vaterländischen Verbände getarnten Reservetruppen der Reichswehr, die wegen der durch den Versailler Vertrag limitierten Truppenstärke nicht offiziell ausgewiesen werden durften. Abtrünnige dieser Verbände wurden häufig Opfer von Fememorden, wie darüber Die Weltbühne im Jahre 1925 schrieb. Franz, ein linker Journalist untersucht die Vorgänge und stößt bei einer Versammlung von Hakenkreuzlern auf Sladek, einen Arbeitslosen. Er wird von seiner Wirtin ausgehalten und wenn sie droht, ihn lieber zu verraten als an die Schwarze Armee zu verlieren, bringt er sie mit seinen Kumpanen um. Franz und Sladek kommen beide vors Gericht – Franz wegen versuchten Landesverrats, weil er über die Vorgänge schrieb, wie Mertens in der Weltbühne, Sladek wegen Mordes. Sladek wurde dann amnestiert und reist nach Südamerika aus. In der zweiten Fassung, die erst (damals) aufgeführt werden durfte, fällt Sladek im Kampf, als die regulären Truppen die Schwarze Reichswehr entwaffnen. Ein Primitiv mit analogisierenden Denkmustern: Ohne Mord gibt es kein Leben, geht es nicht weiter, ein durch den Ersten Weltkrieg Entwurzelter, ein Prototyp des Mitläufers. Den ersten großen Bühnenerfolg feierte H. 1931 mit dem Volksstück Italienische Nacht (Bln. 1931. Erstfassung u. d. T. Ein Wochenendspiel. Ffm. 1971), dessen Grundidee darin besteht, daß ein Wirt sein Lokal gleichzeitig an den republikan. »Schutzverband« u. an die »Hakenkreuzler« vermietet. Dies gibt dem Autor Gelegenheit, gegen polit. Phrasendrescherei von rechts u. links vorzugehen. Der Marxist Martin warnt die Republikaner vor einem nationalsozialistischen Überfall. Der republikanische Stadtrat will die Gefahr allerdings nicht wahrhaben: von einer akuten Bedrohung der demokratischen Republik kann natürlich keineswegs gesprochen werden … solange es einen republikanischen Schutzverband gibt … solange kann die Republik ruhig schlafen! Die Arbeit an seinem erfolgreichen Volksstück Kasimir und Karoline (Ffm. 1972) beendete H. etwa im April 1932. Schauplatz dieser »Ballade vom arbeitslosen Chauffeur Kasimir und seiner Braut« ist das Münchner Oktoberfest, dessen Vergnügungsrummel kontrapunktisch die allmähl. Trennung der »höher« hinaufstrebenden Karoline von ihrem treuen Bräutigam begleitet. Sie fährt mit einem Kommerzienrat im Auto weg, das gerade vorher Franz, ein Bekannter Kasimirs, ausgeraubt hat, während Kasimir mit seiner Freundin Schmiere gestanden hat. Der ertappte Franz wird abgeführt und Kasimir tröstet sich mit der allein gebliebenen Erna. Die Wirkung des Stückes geht auf den schnellen Wechsel kontrastreicher Szenen zurück: der 117 kurzen Szenen, die häufig nur aus einem kitschig süßen Schlager oder einem kurzen Dialog der gehässigen und hilflosen Figuren bestehen und derben Dialekt und den präzise nachgebildeten schnoddrigen oder grotesken Jargon der Halbgebildeten aufeinader anprallen lassen. Tritt das Moment der sozialen Anklage in Kasimir und Karoline etwas zurück, so formuliert das ebenfalls 1932 fertiggestellte Stück Glaube Liebe, Hoffnung Ein kleiner Totentanz in fünf Bildern wiederum den »gigantischen Kampf zwischen Individuum und Gesellschaft«. Elisabeth will ihren Körper dem Anatomischen Institut verkaufen. Der Oberpräparator behauptet, daß es nicht möglich ist, aber leiht ihr die Summe, die sie angeblich für ihren Gewerbeschein braucht. Als er feststellt, daß sie damit nur eine Strafe bezahlt hat und daß ihr Vater nicht Zollinspektor, wie er dachte, sondern nur Versicherungsinspektor ist, zeigt er sie als Betrügerin an. 14 Tage Gefängnis muß sie absitzen. dann lernt sie den Polizisten im Wohlfahrtsamt kennen, zieht als seine Braut zu ihm, verheimlicht ihm aber daß sie vorbestraft ist. Als sich das bei einer Polizeirazzia herausstellt, trennt er sich von ihr, um seine Karriere nicht zu gefährden. Sie will sich ertrinken, wird noch gerettet, aber während sich niemand um die unterkühlte Elisabeth, sondern nur um den heldenhaften Retter kümmert, stirbt sie. Nach 1933 schreibt er keine Volksstücke mehr. Die 1933 entstandene Komödie Die Unbekannte aus der Seine (GW 2, 1971) trägt deutl. Züge einer veränderten Perspektive des Autors nach der Machtergreifung, die Verunsicherung, die Hinwendung zum Irrationalen. Die Welt des Kleinbürgertums, die selbst durch den Mord an einem alten Uhrmacher nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen ist u. in einem Akt der Verdrängung den Mörder zum Geschäftsnachfolger des Ermordeten werden läßt, kontrastiert H. mit der mysteriösen Titelheldin, die aus unerfüllbarer Liebe Selbstmord begeht. Die Stücke Figaro läßt sich scheiden und Don Juan kommt aus dem Krieg wurden in der Tschechoslowakei 1937 uraufgeführt. Geschichtlich-geselschaftliche Konflikte als zeitlos dargestellt. Die Entwicklung Figaros vom Sympathisanten des Umsturzes über den konformistischen Kleinbürger im Exil führt Horváth bis zu einer Rückkehr aus dem Exil in das Heimatland, in dem die Revolution menschenfreundlichere Züge angenommen hatte. 1937 entstehen die Exilromane Jugend ohne Gott (Amsterd. 1938) - noch zu Lebzeiten H.s von der Kritik enthusiastisch begrüßt - u. Ein Kind unserer Zeit (Amsterd. 1938. U. d. T. Zeitalter der Fische. Wien 1953); beide sind geprägt vom Widerstand gegen den Faschismus: In der Kriminalerzählung Jugend ohne Gott, die die Aufdeckung eines Mords unter Schülern zum Inhalt hat, stellt H. den »gottlosen«, von der Ideologie des Faschismus bereits durchdrungenen Jugendlichen die Gestalt des Lehrers gegenüber, der sich für die »Wahrheit«, u. damit für Humanität, Gerechtigkeit u. Bildung entscheidet - letztlich also auch für Gott, der diese Werte repräsentiert. Zum »Klassiker« der Moderne avancierte er allerdings erst 1967-1972, als im Gefol- ge der Studentenbewegung das politisch-aufklärerische Theater eine neue Blüte erlebte, die schließlich auch zur Rehabilitierung der Volksstücke H.s führte. An den Theatern u. auf dem Buchmarkt, unterstützt von einer enthusiastischen Kritik, setzte ein wahrer H.-Boom ein. H.s populärstes Volksstück Geschichten aus dem Wiener Wald (Bln. 1931): Um die Hauptfigur Marianne, Tochter des spießigen »Zaunkönigs«, [8] bilden sich Paare u. gehen wieder auseinander; sie selbst wird in diesem Spiel Opfer u. Frau des ungeliebten Fleischermeisters Oskar. Die bewußt kitschig mit Versatzstücken der Wiener Gemütlichkeit arrangierte Idylle ist eine tödliche. Roth, Joseph * 2. 9. 1894 Brody/Galizien, † 27. 5.1939 Paris; Der ohne seinen Vater, einen Juden chassid. Glaubensrichtung, in Galizien aufgewachsene R. besuchte die jüd. Gemeindeschule, 1905-1913 das dt. Gymnasium in Brody. Nach der Matura studierte er Germanistik u. Philosophie in Lemberg u. Wien. Während seines Kriegsdienstes 1916-1918 in Galizien veröffentlichte er erste Gedichte u. Feuilletons in Prager u. Wiener Tageszeitungen. Im Dez. 1918 kehrte R. nach Wien zurück, wo er 1922 Friederike Reichler heiratete, die 1928 an Schizophrenie erkrankte. Seit Frühjahr 1919 verfaßte er über 100 Beiträge für den linksliberalen »Neuen Tag«, arbeitete ab 1920 an der »Arbeiter-Zeitung« mit, die 1923 das Spinnennetz (Köln 1967) abdruckte, am »Berliner Börsenkurier«, am »Vorwärts« (Vorabdruck der Rebellion. Bln. 1924), ab 1923 am »Prager Tagblatt«. 1923 schaffte er den Sprung ins renommierte Feuilleton der »Frankfurter Zeitung« (1924 Vorabdruck des Romans Hotel Savoy. Bln. 1924). Als deren Feuilletonkorrespondent bereiste er 1925 Frankreich, 1926 die Sowjetunion (Artikelfolge Reise in Rußland) u. Albanien, Italien u. Polen. Nach der Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten u. der damit verbundenen Niederlage der fortschrittlich-republikan. Kräfte begann der politisch engagierte, linksliberale Journalist zu resignieren u. die Grenzen seiner aufklärerischen Arbeit zu erkennen. In rascher Folge entstanden die Zeitromane Die Flucht ohne Ende (Mchn. [Bln.] 1927), dessen Vorrede als Manifest der Neuen Sachlichkeit gilt, Zipper und sein Vater (ebd. 1928), Rechts und Links (Bln. 1929), Der stumme Prophet (Köln 1966; aus dem Nachl.) u. Perlefter. Die Geschichte eines Bürgers (ebd. 1978). Mit den Romanen Hiob (Bln. 1930) u. Radetzkymarsch (ebd. 1932), die sich thematisch von der unmittelbaren Zeitgeschichte entfernen u. sich dem mythisierten Entwurf der untergegangenen Welt der habsburgischen Monarchie u. der galiz. Juden zuwenden, gelang ihm ein später literar. Durchbruch. Anfang 1933 ging R. nach Paris ins Exil. Die Enttäuschung über die Sozialdemokratie führte ihn ähnlich wie Kraus dazu, im austrofaschistischen Ständestaat das kleinere Übel u. in der Restauration der Monarchie eine Garantie des Fortbestands eines unabhängigen Österreich zu sehen (vgl. seine Beiträge zum »Christlichen Ständestaat« ab 1935 u. in der Artikelserie Schwarz-Gelbes Tagebuch 1939). Der verabscheuten Gegenwart setzte er in den Romanen der 30er Jahre die geschichtslose, von Armee u. Beamten verkörperte Ordnung der Monarchie entgegen, wobei die nostalg. Evokation eines versunkenen Universums keineswegs eine präzise Diagnose der Psychopathologie der Figuren verhindert. Reisen nach Wien, ein längerer Aufenthalt in Amsterdam u. Ostende unterbrachen sein Pariser Exil, wo er in der Verzweiflung über die polit. Entwicklung u. private Schicksalsschläge immer mehr dem Alkohol verfiel. Obwohl nach 1918 einer der angesehensten Feuilletonisten, setzte R.s Wiederentdeckung nach 1945 mit großer Verspätung ein: Hermann Kesten gab 1956 die erste unvollständige Werkausgabe heraus. Er zeichnet zgl. auch für das Klischee verantwortlich, das R. als Chronisten des Zerfalls der Habsburgermonarchie rezipierte u. einem organolog. Modell zufolge dem Autor auch Wachstum u. Reife zuschrieb, die seine Meisterwerke hervorgebracht hätten. Das Fragmentarische seiner frühen Werke schien R. selbst in einer Rezension mit dem Titel Die gesprengte Romanform (in: Literarische Welt, 12. 12. 1930. Auch in: Werke 4) zu rechtfertigen. Das »Bekenntnis zur gesprengten oder gebrochenen Form des Romans, will sagen, zu der stillschweigend anerkannten These, daß der überlieferte Roman mit der ›geschlossenen Handlung‹ unmöglich geworden sei«, dürfte auch für R.s Frühwerk Gültigkeit haben. Fragmente seien alle, fährt R. fort, »die Gestalten und ihre Darstellungen, die Zeit und ihre Zeitbilder. Auf die psychologische Konsequenz darf man sich kaum mehr verlassen, geradezu verkehrt manifestieren sich die alten Gesetze der menschlichen Seele.« Dieses antipsycholog. Konzept des fragmentar. Romans entspringt nicht einem unbegründeten Innovationsbedürfnis, sondern versucht, der veränderten Realität auch formalgerecht zu werden. An die Stelle von Entwicklungen treten beim frühen R. Brüche, schlagartige Verwandlungen der Figuren. Die Auflösung der fest umschriebenen sozialen Identitäten mündet in eine Aufsplitterung des Subjekts in vielfältige, situationsangepaßte Verhaltensweisen, die der »Überlebenskampf« diktiert. Diesen flexiblen Gestalten stehen die stat. Figuren gegenüber, die sich weigern, einmal übernommene Identitäten aufzugeben. Mit dem Trauma des verabschiedeten Offiziers Lohse, seiner mißlungenen Rückkehr in eine zivile Existenz, mit dem damit verbundenen Machtverlust setzt sich R.s erster Roman Das Spinnennetz auseinander. Ohne Identifikation mit der Macht, ohne heteronome Determination u. angewiesen auf ein externes Über-Ich, ist er lebensunfähig. Unterdrückung der eigenen Wunschproduktion u. Vernichtung des anderen, der dem Krieg ein Ende setzen möchte, gehören untrennbar zusammen. R. war wohl einer der ersten Schriftsteller, die diesen tödl. psych. Mechanismus des autoritären Charakters erkannten u. beschrieben. Lenz ist in diesem Roman die Gegenfigur zum faschistischen Lohse u. entzieht sich einer eindeutigen Identität. Er läßt sich nicht für die im Namen von Ideologien ausgeübte Herrschaft instrumentalisieren. In seiner scheinbaren Unterstützung Lohses - er arbeitet als Spitzel - stecken der Gestus der Verweigerung u. die abgrundtiefe Skepsis gegen Heilslehren u. abstrakte Begriffe. Mit Lenz ist eine paradigmat. Figur geschaffen, die in fast allen Romanen R.s der 20er Jahre eine zentrale Stellung einnimmt: Ähnlich wie Nikolaus Brandeis in Rechts und links empfindet Friedrich Kargan, Der stumme Prophet, die Diskussionen über »Proletariat, Autokratie, Finanz, herrschende Klasse, Militarismus« als »verworrenen Lärm ohne Sinn«, als simple Formeln: »Das Leben steckt in den Begriffen wie ein ausgewachsenes Kind in zu kurzen Kleidern.« Ebenso lebenswichtig wie für Lohse ist die Macht für die Hauptfigur der Rebellion, Andreas Pum. Während jener die Macht, die er im Frieden verloren hat, zurückerobert, ist der einfache Soldat u. Invalide im Kriegsspital damit zufrieden, ihr gehorsamer Untertan zu sein. Den Kontakt zur Obrigkeit stellen die symbolischen Vermittlungen (die Kriegsauszeichnung u. später eine Drehorgellizenz) her. Pum identifiziert die staatl. Obrigkeit schlechthin mit Gott. Als ihm nach dem Streit mit dem saturierten Spießer Arnold die Drehorgellizenz entzogen wird, zerbricht er, da er starr an seiner Identität des von den Behörden ausgezeichneten u. geachteten Invaliden festhält. Die Hauptfigur aus Hotel Savoy, Gabriel Dan, ebenfalls ein Heimkehrer, zeichnet sich durch jene Flexibilität aus, über die Lenz verfügt, u. ist der diametrale Gegenentwurf zu einem Pum oder Lohse. Als Taglöhner, Arbeiter, Nachtwächter, Kofferträger u. Bäckergehilfe schlägt er sich durch. Seine Verweigerungshaltung entspringt einem emphat. Lebensbegriff, den auch Brandeis aus Rechts und Links vertritt: »Mancher starb, weil er nichts erlebt hatte, und war sein Leben lang nur einer gewesen.« Politisch ist R. in seiner Prosa nicht dort, wo sich scheinbare »Aussagen« aus dem Text herauspräparieren lassen, sondern in der exakten, analyt. Beschreibung der Psychosen der in der Monarchie sozialisierten Heimkehrergeneration. Diesen Figuren stellt R. die Verwandlungskünstler gegenüber, Gegenfiguren, die nicht an realistischen Ansprüchen gemessen werden dürfen, sondern als Negation ihrer lebensverneinenden u. lebensvernichtenden Antagonisten zu sehen sind. Mit dem äußerst erfolgreichen Hiob restauriert R. den von ihm selbst verabschiedeten Roman mit einer geschlossenen Handlung. Der moderne »Hiob«, der fromme u. gottesfürchtige Mendel Singer, verliert nach zahlreichen Schicksalsschlägen, vor denen er, seinen kranken Sohn zurücklassend, nach New York flüchtet, seinen Glauben u. damit seine Existenzgrundlage. Das Leiden an der Diskrepanz zwischen der sich auflösenden Welt des Schtetls, mit der R. sich in seinem Essay Juden auf Wanderschaft (Bln. 1927) auseinandergesetzt hatte, u. seinem Weltverständnis interpretiert Singer als Strafe Gottes. Dessen geballtem Unglück vermag der Erzähler nur eine Finalisierung entgegenzusetzen, die den Wirklichkeitsbezug auf radikale Weise zugunsten des Märchens verabschiedet. In Radetzkymarsch, dessen Titel auf ein Musikstück von Johann Straß anspielt (»Marseillaise des Konservativismus«), evoziert R. den Niedergang der Habsburgermonarchie von der Schlacht von Solferino bis zum Tod Kaiser Franz Josephs anhand mehrerer Generationen der Offiziers- u. Beamtenfamilie Trotta. Konvention u. Tradition, die Übermacht väterl. Autorität definieren eine Identität, der der Leutnant Carl Joseph nicht gewachsen ist. Seine Existenz ist gekennzeichnet von Leere, Schulden u. Affären, ebenso unrühmlich ist sein Tod. Trotz der unverkennbaren, wenn auch ironisch gebrochenen Sympathie des Erzählers für seine erstarrten u. oft unzeitgemäßen Figuren werden die Symptome der Auflösung u. des Niedergangs der mythisierten Ordnung des Vielvölkerstaats in den Erzählungen Das falsche Gewicht (Amsterd. 1937) u. Die Geschichte von der 1002. Nacht (Bilthoven 1939) schonungslos geschildert, einer Ordnung, die als Gegenentwurf zum Faschismus fungiert. Die Kapuzinergruft (ebd. 1938) führt in die verhaßte Gegenwart zurück, in der sich der Ich-Erzähler, ein Verwandter der Trottas, nicht mehr zurechtfindet u. sich beim »Anschluß« die Frage stellt: »Wohin soll ich, ich jetzt, ein Trotta?« Relativiert die Skepsis des literar. Frühwerks das Engagement des »roten Joseph«, so wird die monarchistische Publizistik der 30er Jahre durch die späten Romane zwar nicht revoziert, aber immerhin als melancholisch-verzweifelte Flucht in eine Vergangenheit decouvriert, die das geringere Übel zu sein schien. Im Roman Moos auf den Steinen von Gerhard Fritsch ist der literar. Einfluß R.s deutlich spürbar; Ingeborg Bachmann setzte den »Trottas« u. damit R. in der Erzählung Drei Wege zum See ein literar. Denkmal. In den Kindheitsmustern von Christa Wolf wird die Lektüre des Hiob zu einer zentralen Erfahrung bei der Aufarbeitung der Vergangenheit. ________________________________ [1] Paumgartten, Karl, eigentl.: Karl Huffnagl, auch: Nor de Gal, Z. A. Springh, Buso, La Hire, Nithart Stricker, * 18. 12. 1872 Wien, † 5. 3. 1927 Wien; Ab etwa 1900 schrieb er für deutsch-nationale Zeitungen u. Zeitschriften Beiträge; ein adäquates Forum für seine zeit- u. gesellschaftskrit. Gedichte, Satiren u. Anekdoten fand er jedoch erst ab 1905 in der »Muskete«, zu deren Stammautoren er bald zählte. Einen bevorzugten Angriffspunkt bildeten hier moderne Autoren (Bahr, Wedekind), was nicht zuletzt Karl Kraus zur namentl. Attacke gegen den sich hinter Pseudonymen verbergenden P. bewog (siehe »Fackel«, Nr. 381 bis 383). Anfang 1919 war sein Kampf gegen die »immer tiefer eindringende semitische Lebensanschauung« in der unter einer neuen Leitung stehenden »Muskete« nicht mehr gefragt. P. wurde aus der Redaktion entlassen [2] * 18. 8. 1872 Wien, † 26. 3. 1925 Nachdem er die Korruption des Direktors der Berliner Hoftheater aufgedeckt hatte, der darauf Selbstmord beging, mußte B. Preußen verlassen. Über Hamburg ging B. 1904 wieder nach New York u. war als Reporter der »Deutschen Zeitung« u. als Schriftsteller tätig. Seine Fortsetzungsromane erschienen zunächst im New Yorker »Morgenjournal« u. wandten sich gezielt an den Leserkreis der Einwanderer (Kampf um's Glück. Wien 1926). 1910 kehrte B. nach Wien zurück. Zwischen 1920 u. 1924 verfaßte er eine Reihe von Kriminalromanen (u. a. Faustrecht. Wien 1919. Hemmungslos. Wien 1920). Ab 1924 gab B. gemeinsam mit Rudolf Olden Sie und Er. Wochenschrift für Lebenskultur und Erotik heraus, in der er eine liberale Einstellung zur Sexualität, Straffreiheit für Homosexualität u. Abtreibung propagierte. Murray G. Hall: Der Fall B. Wien 1981. [3] šmelinář [4] Er veröffentlichte 1907/1908 wissenschaftliche Artikel u. Erzählungen in der »Fackel«, in denen er Kraus Theorien über Sittlichkeit u. Sexualität untermauerte u. das zeitgenöss. Frauenbild der Wiener Intellektuellen mitgestaltete. Nach einem Vortrag W.' am 12. 1. 1910 über die Fackel-Neurose kam es zum Bruch mit Kraus u. zu dessen Verhöhnung in dem Schlüsselroman Ezechiel der Zugereiste (Bln. 1910). [5] Tort, der; -[e]s [frz. tort = Unrecht < spätlat. tortum, zu lat. tortus = gedreht, gewunden, adj. 2. Part. von: torquere, Tortur] (veraltend): Kränkung, Verdruss: jmdm. einen T. antun, zufügen; jmdm. etwas zum T. tun; den T. tue ich mir nicht an (dieser Mühe unterziehe ich mich nicht). [6] Der auf konservativem, kulturpessimistischem Grund stehende M. wandte sich Anfang der 30er Jahre zusehends dem deutschnationalen bzw. völk. Lager zu: Im Herbst 1933 unterzeichnete auch er den Aufruf der Deutschen Akademie der Dichtung zum Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund u. eine Unterstützungserklärung für den »Volkskanzler Adolf Hitler«. 1936 wurde er Vorsitzender des Bundes der deutschen Schriftsteller Österreichs, dessen Zweck es war, der Reichsschrifttumskammer in die Hände zu arbeiten u. den »Anschluß« vorzubereiten. 1940 ersuchte er um Aufnahme in die NSDAP. Im gleichen Jahr erhielt er den Grillparzer-Preis, 1941 den Preis der Stadt Wien. [7] Brocket, 61-62: krátké scénky, mimetický tanec, napodobování zvířat, ptáků, zpěv, akrobacii, žonglování apod. The Greco-Roman mime was a farce that stressed mimetic action but which included song and spoken dialogue. The preliterary form can only be guessed at, and even the surviving fragments of the playlets of Epicharmus, a 5th-century-BC writer of comedies, yield only the scanty information that his mimes were concerned with scenes of daily life or with mythological travesty. [8] Zaunkönig: Regulus (1)]: 1. Goldhähnchen Králíček, nejmenší pták Evropy