Helmut Arntzen: Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften Seit 1918 arbeitet Musil daran, Anfang 1929 beginnt er mit der Reinschrift, 1930 erscheint der erste und der zweite Teil. Der an der traditionellen Romanform des 19. Jhs orientierter Leser wird dadurch irritiert, daß die Stränge aller Teilgeschichten fallengelassen werden und die Geschichte Ulrichs sich in Exkursen zu verlieren scheint. Eine Befriedigung bieten geistreiche Bemerkungen, Pointen, die zitierfähig sind. Ulrich ist nicht einfach eine Figur im Sinne der Mimesis, ein empirisch und psychologisch bestimmtes Individuum, sondern nur ein Name, hinter dem sich ein Bewußtsein als historischer Zustand und als geschichtlicher Prozeß verbirgt. Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht - Wege zu Musil – 254-255 Isothere ? Mißverhältnis zwischen einer quasi präzisen Erfassung der Realität und der „altmodischen“ Feststellung: ein schöner Augusttag 1913. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien. Absichtlich widersprüchliche Formulierungen nehmen die Schreibweise, die sich nicht eindeutig festlegen läßt, vorweg: Die Städte lassen sich an ihrem Gang erkennen wie Menschen. /…/ Die Überschätzung der Frage, wo man sich befinde, stammt aus der Hordenzeit, wo man sich die Futterplätze merken mußte. /…/ Es lenkt von wichtigerem ab. Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muß es auch Möglichkeitssinn geben (Kap.4) 261-263 Kakanien, (8. Kap.), Dort in Kakanien Mann ohne Eigenschaften, !!! 32- 35 Dort in Kakanien /…/ gab es auch Tempo, aber nicht zuviel Tempo. Natürlich rollten auf diesen Straßen Automobile; aber nicht zu viel Automobile! Man bereitete die Eroberung der Luft vor, auch hier; aber nicht zu intensiv. /…/ Man hatte keinen Weltwirtschafts- und Weltmachtehrgeiz; man saß im Mittelpunkt Europas, wo die alten Weltachsen sich schneiden; die Worte Kolonie und Übersee hörte man an wie etwas noch gänzlich Unerprobtes und Fernes. Man entfaltete Luxus; aber beileibe nicht so überfeinert wie die Franzosen. Man trieb Sport; aber nicht so närrisch wie die Angelsachsen. Man gab Unsummen für das Heer aus; aber doch nur gerade so viel, dass man sicher die zweitschwächste der Großmächte blieb. Auch die Hauptstadt war um einiges kleiner als alle andern großen Städte der Welt, aber doch um ein Erkleckliches größer, als es bloß Großstädte sind. Und verwaltet wurde dieses Land in einer aufgeklärten, wenig fühlbaren, alle Spitzen vorsichtig beschneidenden Weise von der besten Bürokratie Europas, der man nur einen Fehler nachsagen konnte: sie empfand Genie und geniale Unternehmungslust an Privatpersonen, die nicht durch hohe Geburt oder einen Staatsauftrag dazu privilegiert waren, als vorlautes Benehmen und Anmaßung. Aber wer ließe sich gerne von Unbefugten dreinreden! Und in Kakanien wurde überdies immer nur ein Genie für einen Lümmel gehalten, aber niemals, wie es anderswo vorkam, schon der Lümmel für ein Genie. Österreich, mit einem Namen, den es mit feierlichem Staatsschwur abgelegt hatte, aber in allen Gefühlsangelegenheiten beibehielt, zum Zeichen, dass Gefühle ebenso wichtig sind wie Staatsrecht und Vorschriften nicht den wirklichen Lebensernst bedeuten. Es war nach seiner Verfassung liberal, aber es wurde klerikal regiert. Es wurde klerikal regiert, aber man lebte freisinnig. Geistiger Umsturz (Kap.15) – Charakteristik der Zeit um die Jahrhundertwende: Wege zu M 299 300/301 Es entwickelten sich Begabungen, die früher erstickt worden waren oder am öffentlichen Leben gar nicht teilgenommen hatten. Sie waren so verschieden wie nur möglich, und die Gegensätze ihrer Ziele waren unübertrefflich. Es wurde der Übermensch geliebt, und es wurde der Untermensch geliebt; es wurde Gesundheit und die Sonne angebetet, und es wurde die Zärtlichkeit der brustkranken Mädchen angebetet; man begeisterte sich für Heldenglaubensbekenntnis und das soziale Allemannsglaubensbekenntnis; man war gläubig und skeptisch, naturalistisch und preziös, robust und morbid; man träumte von alten Schloßalleen, herbstlichen Gärten, gläsernen Weihern, Edelsteinen, Haschisch, Krankheit, Dämonien, aber auch von Prärien, gewaltigen Horizonten, von Schmiede- und Walzwerken, nackten Kämpfern, Aufständen der Arbeitssklaven, menschlichen Urpaaren und Zertrümmerung der Gesellschaft. Dies waren freilich Widersprüche… , aber sie hatten einen gemeinsamen Atem; würde man jene Zeit zerlegt haben, so würde ein Unsinn herhausgekommen sein wie ein eckiger Kreis, der aus hölzernen Eisen bestehen will, aber in Wirklichkeit war alles zu einem schimmernden Sinn verschmolzen. Im ersten Teil des ersten Buches, dem diese Textproben entnommen ist, sieht man, wie die Universalien dieses Werkes über den Figuren, dem Besonderen, Oberhand gewinnen. Ulrich ist nicht vor allem Figur eines Romans im Sinne der Mimesis, sondern ermöglicht die Darstellung eines Bewußtseins (als historischen Zustand und uns als geschichtlichen Prozesses), das sowohl die Person Ulrich, den Typus Mann ohne Eigenschaften und die Kategorie Möglichkeit repräsentiert. Der zweite Teil des ersten Bandes – S. 83 ff. – behandelt die Parallelaktion. Reichsgraf Leinsdorf und Ermelinda Tuzzi, die Frau eines Sektionschefs im Außenministerium. 202, Der Roman stellt dar, daß alles Handeln in Wahrheit Sprechen ist und also die Romanhandlung notwendig immer mehr in Gespräche übergeht. Gleichzeitig wird deutlich, wie die Gespräche der Parallelaktion nur Gerede bleiben und dass das Gerede die universelle Erscheinung der Wirklichkeit der Epoche ist. Worüber Leinsdorf, Diotima und Arnheim[1] immer sprechen mögen, es ist Gerede sowohl im Sinne einer Reihung von Leerformeln, die nur die Funktion haben, den Schein von Reflexion und Gespräch aufrechtzuerhalten.. Leinsdorf spricht immer von Besitz und Bildung, Arnheim von Seele und Geschäft. Scheinbar ein neuer Handlungsstrang ist die Geschichte des Mörders Mosbrugger. Das Bild der Anstalt, in der Clarisse, ihr Bruder, der General Stumm von Bordwehr und Ulrich ihn besuchen, verwandelt sich in das Bild der Parallelaktion. Die satirische Kraft der Figurendarstellung liegt in der Art, wie im Roman mit dem Zitat gearbeitet wird. Das Fremde soll substituieren das Eigene, das nicht mehr vorhanden ist., das Herbeizitieren des Fremden erweist sich als Unfähigkeit eigenen Sprechens. Das Paradoxe liegt darin, daß gerade dieser Mörder einer Prostituierten, dessen Worte Hmhm, soso sind, in seinem Bewußtsein reflektiert, daß jeder von denen (den Wissenschaftlern) sprach, wie es ihm paßte, und das es dieses Sprechen war, was ihnen die Kraft gab, mit ihm umzugehen, wie sie wollten (235). Während alle die Sprache instrumentalisieren, wie es ihnen paßt, und glauben sie zu beherrschen, sieht Mossbruggers wildes Denken ein, daß die Sprache das Beherrschende ist. Der General Stumm ist nicht nur deshalb ein Außenseiter innerhalb der Parallelaktion, weil er Vertreter der Kriegsministeriums in einem Unternehmen ist, in dessen Lexikon das Wort Frieden eine besondere Rolle spielt, sondern vor allem infolge seiner Naivität, die sich noch nicht die Überredungsfunktion der Sprache zu eigen gemacht hat, und alles wörtlich und ernst nimmt, was aus dem Munde der Akteure kommt. Seine Naivität spiegelt diese Welt wie bei einer anderen komischen Figuren der Weltliteratur Sancho Pansa. Clarisses eigentümliches Sprechen stützt sich auf Nietzsche-Zitate und –Parahrasen. Ulrich zwingt kurzfristig die anderen Figuren, aus der Monotonie des Geredes der Parallelaktion auszubrechen und auf sein Sprechen einzugehen. Er hat die Funktion eines Katalysators, auf den das Bewußtsein der anderen reagiet, sei es nur dadurch, daß ihnen ihr Gerede als dieses bewußt wird. Das Beherrschende an der Sprache erfährt auch Ulrich, als er sich nach einem Erlebnis sehnt. In seiner Begegnung mit Bonadea in Diotimas Schlafzimmer, die nur auf ein neues sexuelles Erlebnis hinauszulaufen scheint, begreift Ulrich die Sprachlichkeit allen Erlebens. Er schaut in den Winterabend hinaus, und es kommt ihm vor, „die Stadt sei in sie (in eine mildkalte Oktobernacht nämlich) eingehüllt wie in eine ungeheure Wolldecke. Dann fiel ihm ein, daß man ebensogut von einer Wolldecke sagen könnte, sie sei wie eine Oktobernacht.“ (580) Ulrichs Weg in den anderen Zustand ist der Weg zu einer neuen Sprache, die im Begreifen eines eigenen Sprechens als dessen beginnt, das nicht Meinungen anhäuft, sondern das Leben als Gleichnis begreift. Zur Trennung von der Welt als gängiger Kommunikation, als Universum der Sprachspiele, kommt es in einem langen Prozeß, der mit dem Tod des Vaters endet. Der dritte Teil heißt Ins Tausendjährige Reich (Die Verbrecher) Die Zwillingsschwester Agathe ist eine Metamorphose Ulrichs: eine traumhafte Wiederholung und Veränderung seiner selbst (694), eine vernachlässigte Möglichkeit seiner selbst Das Neue wird nur in Gesprächen sichtbar, wird als Sprechen bestimmt. Das Neue dieser Gespräche äußert sich formal darin, dass das epische Präteritum über wenige Kapitel hin vom Präsens abgelöst wird. Mittelpunkt ihrer Gespräche und der Veränderung des üblichen Sprechens durch Korrekturen bildet die Moral, als das Allgemeine und Verbindliche, das sich nur im Einzelfall realisiert. Sie stellen fest, daß „jeder Satz der europäischen Moral auf einen solchen Punkt führt, wo es nicht weitergeht (749), auf den Punkt von formulierter Allgemeinheit zur realisierter Individualität. Die Aporie führt bei Ulrich zu einem rigorosen Sprachzweifel. Moral fixiert eine „innere Bewegung“, aber das Fixierte sei von dieser Bewegung „völlig verschieden“. Er demonstriert, dass wir moralische Sätze nicht wörtlich nehmen dürfen. Dass nicht nur der Gegensatz von Innerem, von Unbestimmten, sprachlich kaum Umzusetzenden und dem Äußeren, Bestimmten, als Sprache oder Moral Existierendem liegt, sondern dass in der Sprache selbst eine Dichotomie liegt: 749: Und so will jedes Wort wörtlich genommen werden, sonst verwest es zur Lüge, aber man darf keine wörtlich nehmen, sonst wird die Welt ein Tollhaus! Irgendein großer Rausch steigt als dunkle Erinnerung daraus auf, und man kommt zuweilen auf den Gedanken, dass alles, was wir erleben, losgerissene und zerstörte Teile eines alten Ganzen sind, die man falsch ergänzt hat. Ulrich äußert sich so, als zeige sich die Verwirklichung des anderen Zustands darin, dass etwas, das konventionell amoralisch sei, eine neuen moralische Bedeutung gewinne. Und Agathe schlägt konsequent vor, das Testament des Vaters zu fälschen, ihrem konventionell guten Ehemann Hagauer sein Erbteil zu nehmen und es Ulrich zu geben. Alle gelangen so an einen Punkt, wo es keinen Ausweg mehr zu geben scheint: die Geschwister, Clarisse, die Parallelaktion. Agathe scheint im Selbstmord die einzig mögliche Tat zu erblicken. 220 Aber selbst diese Tat wäre in einer Welt aus Gerede leicht nur noch ein Zitat der Verzweiflung. Ironischerweise wird sie von dem Pädagogikprofessor Lindner und von dessen Sprechen ins Leben zurückgeholt. Im ersten Teil war das Gerede Topos[2] eines chaotischen wie nichtigen allgemeinen Bewusstseinzustandes, dem Ulrich als Ironiker zusah und den er nur kommentierte. Jetzt muß Ulrich erfahren, wie aus dem Gerede etwas Neues, der Krieg wird. Ulrich kann sich nicht vorstellen „wie es weitergehen wird“ (1039). Ulrich und Agathe verlassen endgültig einen historisch sozialen Zusammenhang, den General Sturm von Bordwehr kommentiert: 1040. das Beste wäre schon, wenn über alle diese Unlösbarkeiten einmal ein rechter Trottel käme, ich meine so eine Art Jeanne d´Arc, der könnte uns vielleicht helfen. Und Graf Leinsdorf sagt – auf Anregung der Drangsal eine neuen Sitzung an, bei der der Feuermaul irgendein langes Gedicht von sich vorlesen wird, da wird es ruhiger zugehen. Damit endet drittes Teil des zweiten Buches. Der Rest erschien erst postum: zuerst 1943 als Privatdruck, erweitert 1952 als eine neue Ausgabe von Adolf Frisé. 222 Lindner scheint der tätig gute Mensch zu sein, der das Gerede der Parallelaktion überwunden hat. Er ist der Tugut der ersten Sitzung der Parallelaktion. (1049) Er verdrängt, daß auch sein Wohltun ein sprachlich Vermitteltes ist , also nichts Unmittelbares., er spricht also in Zitaten, auch wenn er mit sich selbst redet. Sein Problem, daß er sein eigenes Denken und Tun nicht als Uneigentliches, als Zitat erkennen will und daß dadurch beides Phrase wird. 224 Indem Ulrich die Erfahrung des anderen Zustandes als Gleichnis bezeichnet, hebt er die sprachliche Vermitteltheit als jene Erfahrung hervor und eröffnet damit die Möglichkeit, die Dichotomie von anderem Zustand und kritischer Sprachreflexion aufzuheben. 1084 f. Das gesprochene Wort verliert seinen Eigensinn und gewinnt Nachbarsinn. /…/ Die Nacht schließt alle Widersprüche in ihre schimmernden Mutterarme, und an ihrer Brust ist kein Wort falsch und keines wahr. Sprache ist nicht bloßes Verstandesmedium, sie besitzt Zauberkraft. 226 Im Garten erlebt Ulrich den „uralten Zauber, daß der Besitz des richtigen Wortes Schutz vor der ungezähmten Wildheit der Dinge gewährt. (1088). Mit der Benennung wird die Welkt auf eine magische Weise erschaffen. Dennoch ist das Benennen noch kein Begreifen. Sprache kann nur das Einzelne des Erlebnisses und der Erfahrung nur streifen, so dass dieses unvergleichbar, welteinsam bleibt. (1090). Die Kluft zwischen dem Allgemeinen und dem Vergleichbaren und dem Eigentlichen tut sich wieder auf, die nur in annäherndem Denken vorstellbar ist. Die Tatparole der Parallelaktion führt zum Krieg, die Tat Clarisses, die in der Befreiung Moorsbruggers vielleicht sich gezeigt hätte, ist Wahnsinnstat., auch der Inzest der Geschwister in der Reise ins Paradies ist als eine scheiternde Tat konzipiert worden. Der Roman scheint nur die latente Katastrophe des Geredes und die offenbare der metasprachlichen Tat zu kennen, die Sprachlichkeit des sich nicht begreifenden Sprechens und die Sprachlosigkeit der sprachverwerfenden, Chaos erzeugenden Tat. Die Reduktion des Romans auf diese Formel würde ihn aber mit einem Lehrbuch gleichsetzten. Das, was ist, ist die Epoche als bloß geredetes Sprechen. Der Widerstand ist das widersprechen als Versuch zu einem anderen Sprechen zu kommen, das ein „anderer Zustand“ wäre. Der Romanschluß wird unter dem Stichwort Utopie der induktiven Gesinnung skizziert. (1882 ff.). Musils später Wunsch, das Lehrmoment im Buch zu verstärken, eine praktische Formel aufzustellen (1837) widerstritte dem Anliegen, das Problem als literarische Darstellung vorzulegen. Grundlegend sollte die Vorstellung von den toten und lebenden Gedanken sein , die man schon in einem Tagebuch-Heft etwa um 1900 findet: Jeder Mensch ist ein Friedhof seiner Gedanken 230 Meinungen liegen in der Mitte zwischen Begründung und Willkür (1128) In unserer bisherigen Empirie verkümmert das, was unter lebenden Gedanken vorzustellen ist, zu privater Subjektivität. Ein lebender Gedanke ist einer, der zum Mittelpunkt einer augenblicklichen Kristallisation unseres ganzen Wesens zu werden scheint (1917) 233 Literatur ist insgesamt das ständige Gleichnis von der Sprachlichkeit der Wirklichkeit und damit von der eigenen Gleichnishaftigkeit. An das Isis-Osiris-Gedicht erinnert. Es enthält in nucleo den Roman. Man hat dem Roman Perversität vorgeworfen: Entgegnung: Das Archaische und das Schizophrene äußern sich künstlerisch übereinstimmend, trotzdem sind sie total= verschieden. Ebenso [...] kann das Geschwistergefühl pervers, und es kann Mythos sein. Tagebuch Heft 34, 1930-1938, in: Robert Musil, Tagebücher. Hrsg. v. Adolf Frisé. Hamburg 1976, hier 847. Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. Erstes und Zweites Buch. Neue durchgesehene und verb. Ausg. hrsg. v. Adolf Frisé. Hamburg 1978. 1. Struktur: Von der Satire zur Utopie Erstes Buch Zweites Buch I, 1-19: Eine Art Einleitung I, 20-123: Seinesgleichen geschieht II, 1-38: Ins Tausendjährige Reich (Die Verbrecher) „Eine Art Ende“ (nach mündlicher Auskunft Musils) Als Buch 1930 erschienen II, 1-38 wurden 1933 gedruckt II, 39-58 ‚Druckfahnenkapitel‘, II, 60/63 Varianten bzw. Fortsetzungen Ulrich Parallelaktion Die ‚vergessene Schwester‘ 2. Erzählperspektive Ulrich agiert in der Tradition der ‚freischwebenden Intelligenz‘ (Karl Mannheim). Er ist sozial und ideologisch nicht gebunden und kann in der privilegierten Position des neutralen Beobachters verharren. Radikalisiert wird dieses Verhalten durch seine lockere und sich gegen Ende lösende Verbindung zur Wirklichkeit; er gelangt zu einem hypothetischen, ganz dem ‚Möglichkeitssinn‘ verpflichteten Lebensstil. Ulrich repräsentiert Wahrnehmung und Reflexion und kommt damit der Erzählperspektive des Textes am nächsten. In einer selbstreflexiven, ganz auf Ulrich fokusierten Passage wird die lineare Narration verabschiedet; an seine Stelle tritt, weil der zu repräsentierenden Wirklichkeit wesentlich angemessener, ein simultanes, flächiges Erzählen. Ziel ist aber wiederum nicht die mimetische Reproduktion, sondern die Evokation des Möglichen in seiner unerlebten, extremen Form: „[...] Am Land kommen die Götter noch zu den Menschen,“ dachte er, „man ist jeG. M. Rösch / Roman im 20. Jahrhundert I - VL 10: Der Mann ohne Eigenschaften 2 mand und erlebt etwas, aber in der Stadt, wo es tausendmal so viel Erlebnisse gibt, ist man nicht mehr imstande, sie in Beziehung zu sich zu bringen: und so beginnt ja wohl das berüchtigte Abstraktwerden des Lebens.“ Aber indem er das dachte, wußte er auch, daß es die Macht des Menschen tausendfach ausdehnt, und wenn es selbst im Einzelnen ihn zehnfach verdünnt, ihn im ganzen noch hundertfach vergrößert, und ein Rücktausch kam für ihn nicht ernsthaft in Frage. Und als einer jener scheinbar abseitigen und abstrakten Gedanken, die in seinem Leben oft so unmittelbare Bedeutung gewannen, fiel ihm ein, daß das Gesetz dieses Lebens, nach dem man sich, überlastet und von Einfalt träumend, sehnt, kein anderes sei als das der erzählerischen Ordnung. [...] Es ist die einfache Reihenfolge, die Abbildung der überwältigenden Mannigfaltigkeit des Lebens in einer eindimensionalen, wie ein Mathematiker sagen würde, was uns beruhigt; die Aufreihung alles dessen, was in Raum und Zeit geschehen ist, auf einen Faden, eben jenen berühmten ‚Faden der Erzählung‘, aus dem nun also auch der Lebensfaden besteht. (Kap. 122 / 649, 650) Die Integration der zahlreichen Zeitdiskurese verlangt Bewußtseinsstrom, Dialoge und Exkurse (meist als Essays gestaltet), so daß die Handlung des Romans kaum voranschreitet. In der Technik der ‚verdeckten‘ Montage und Zitatverwendung ist Musils Roman mit Manns Werken sehr vergleichbar. Der Zauberberg hat den gleichen Anspruch, in „textbeherrschenden reflexiven Passagen ... die Facetten des Zeitgeistes abzubilden“ (W. Riedel, s. Literatur, hier 269). 3. Thematische Felder 3. 1. Die ‚Parallelaktion‘: Personifizierte Kritik an der Vorkriegsgesellschaft Die Zeitstruktur liefert bereits eine ironische Perspektive auf die dargestellte Gesellschaft. Zum siebzigjährigen Thronjubiläum von Kaiser Franz Josef I. im Jahr 1918 wird eine großartige Feier geplant, die aber in Konkurrenz gerät zum dreißigjährigen Thronjubiläum von Kaiser Wilhelm II. Vor dem Wissenshorizont der Leser relativieren sich diese Daten (1914 bricht der Erste Weltkrieg aus; Franz Josef stirbt 1916, der deutsche Kaiser dankt 1918 ab). Die Figuren sind zu großen Teilen als Sprachrohre epochentypischer Meinungen und Konstellationen anzusehen. Beispiele: Graf Leinsdorf vertritt die feudalkonservativen Ideen (Ständestaat, Landleben) aus der Vormärz-Zeit, anachronistisch gepaart mit ökonomischen Interessen (bes. am Beginn von Kap. 24). Hans Sepp vertritt einen christlich inspirierten, antisemitischen Nationalismus, dessen Positionen aus den Schriften von Oswald Spengler und Ludwig Klages amalgamiert sind. Leo Fischel und Paul Arnheim vertreten das jüdische Großbürgertum; dabei ist die Figur von Arnheim durch die Aussagen wie die körperliche Repräsentation problemlos auf den Industriellen und Schriftsteller Walther Rathenau zu beziehen. Im Ehekonflikt von Walter und Clarisse werden die gegnerischen Positionen ‚Wagner contra Nietzsche‘ inszeniert. Für zahlreiche Figuren sind Urbilder unter den Zeitgenossen Musils auszumachen; jedoch erhalten diese Figuren, indem ihnen vielfältige Themen zugeordnet werden, im Kontext des Romans eine sehr komplexe Funktion, die über die biographischen Anspielungen hinausgeht (zahlreiche Hinweise dazu bei Corino, s. Literatur). G.M. Rösch / Roman im 20. Jahrhundert I - VL 10: Der Mann ohne Eigenschaften 3 3. 2. Mathematik Ulrich werden drei Berufe zugeschreiben: Soldat bzw. Fähnrich bei einem Reiterregiment, dann Ingenieur, zuletzt Mathematiker. Mit ihnen werden Grundprobleme des Romans verbunden, so Ratio und Gefühl, von Regelsystem und intuitivem Einfall. Diese Entwicklung vollenden kann jedoch nur die Dichtung, d.h. die Erfindung, die jedoch zugleich gestalten und analysieren soll. Es geht in der Wissenschaft so stark und unbekümmert und herrlich zu wie in einem Märchen. Und Ulrich fühlte: die Menschen wissen das bloß nicht; sie haben keine Ahnung, wie man schon denken kann; wenn man sie neu denken lehren könnte, würden sie auch anders leben. (Kap. 11 / 41) Literatur und Mathematik berühren sich in der Vorstellung der Wahrscheinlichkeit, über deren mathematische Verwendung, die Stochastik, sich Musil wiederholt Notizen macht. Die Mathematik ist einerseits eine Orientierung für konkrete Existenzfragen, indem sie Prognosen erlaubt; andererseits kann sie aber Spiel um ihrer selbst willen sein, ohne sich erklärend oder ordnend auf Wirklichkeit zu beziehen. In den beiden letzten Beschäftigungen des Protagonisten liegt zugleich eine Aussage über die Erzählkonzeption des Romans. Gesetz der grossen Zahlen. Beispiele: [...] Jedes Jahr [...] begeht ungefähr der gleiche Bruchteil der Menschheit Selbstmord. Das Geschlechtsverhältnis der Geborenen ist eine der konstantesten Verhältniszahlen. [...] Verbrechen wie Diebstahl, Notzucht haben alljährlich annähernd die gleiche Häufigkeit. Wichtigkeit: Auf der Tatsache des G d g Z. ruht die Möglichkeit wirtschaftlichen und staatlichen Lebens. Wäre sie nicht, würde in einem Jahr gar nichts geschehn, im nächsten nichts sicher sein, [...] Vgl. Tagebuch Heft 10, 1918-1921, in: Robert Musil, Tagebücher. Hrsg. v. Adolf Frisé. Hamburg 1976, hier 465. Eingeführt wird diese Idee im Roman als Gegenstand des Gesprächs zwischen Ulrich und Gerda Fischel, vgl. Kap. 103. 3. 3. Wahnsinn und Mythos (1) Clarisse und Moosbrugger Für beide Figuren gibt es authentische Vorbilder, deren Schicksale in Grundzügen im Roman wiederkehren. Für den Fall des Christian Moosbrugger nahm Musil Details aus zwei Prozessen: Der mehrfache Mörder Christian Voigt wurde im Oktober 1911 zum Tod verurteilt, dann jedoch zu schwerem Kerker begnadigt; er starb 1938 in Nürnberg. 1924 ergänzte Musil sein Material um die Berichte über den Massenmörder Fritz Haarmann. Der Wahn Moosbruggers ist nach dem Muster des primitiven und magischen Denkens gestaltet, in dem es keine Trennung zwischen Ich und Welt gibt (Kap. 87). Clarisse wird im Roman zur psychotischen Frau, deren Reden den Zustand von Ekstase und dionysischer Raserei evozieren sollen. Ihre Sehnsucht nach Erlösung gehört zu den von Nietzsche übernommenen Elementen. Im Bewußtseinsstrom (Kap. 97) werden in der Erinnerung traumatisierende erotische Erlebnisse in der Pubertät angedeutet, die auch Meingast einschließen; auch die Umstände ihrer Verheiratung (Kap. 38, bes. 147) und der Konflikt mit ihrem Mann (er möchte mit ihr G.M. Rösch / Roman im 20. Jahrhundert I - VL 10: Der Mann ohne Eigenschaften 4 ein Kind, sie hingegen möchte von Ulrich schwanger werden, vgl. Kap. 123, bes. 657) deuten auf ihre fragile Identität, die stark androgyne Züge hat. Aber Clarisse brachte nun nicht mehr hervor, was sie soeben noch hatte sagen wollen, obwohl es in ihr klar zutage lag. Die Doppelworte waren Zeichen dafür, verstreut in der Sprache wie Äste, die man knickt, oder Blätter, die man auf den Boden streut, um einen heimlichen Weg finden zu lassen. [...] Eine doppelte Sprache bedeutet aber ein doppeltes Leben. Die gewöhnliche ist offenbar das der Sünde, die geheime das der Lichtgestalt. So war zum Beispiel ‚schnell‘ in seiner Sündengestalt die gewöhnliche aufreibende, alltägliche Eile, in der Lustgestalt schnellt davon aber alles und federte in lustvollen Sprüngen. (Zweites Buch, Kap. 26) Zusammen mit ihrem Bruder Siegmund und dem Propheten Meingast bildet sie eine Gruppe zur Rettung Moosbruggers (Zweites Buch, Kap. 19 und 26); dessen Begnadigung soll im Zuge der Kaiserfeiern erfolgen, daher besuchen General Stumm, Clarisse und Ulrich das Nervenkrankenhaus (Zweites Buch, Kap. 33). Eine messianisch gefärbte Erwartung verbindet sich auch mit der Parallelaktion (vgl. Kap. 107, 108) (2) Ulrich und Agathe In der auf den Kaiser bezogenen Parallelaktion erweist sich, daß die ganze Gesellschaft patriarchalisch strukturiert ist. Ulrich steht zunächst in patriarchalischen Konstellationen. Er ist Soldat und pflegt Liebesverhältnisse, in denen die Frauen (bes. Bonadea) von ihm abhängig sind. Ebenso hat er sich gegen seinen leiblichen Vater wie gegen den stellvertretenden Vater Arnheim durchzusetzen. Dieser bietet ihm die Tätigkeit als persönlicher Sekretär an, vgl. Kap. 121, bes. 640. Mit dem Tod des Vaters endet daher die patriarchalische Phase seiner Existenz. Die Geschwister- und Zwillingsliebe wird dagegen konzeptualisiert als Alternative zum (außer-)ehelichen bzw. sexuellen Begehren, wie es in den Beziehungen Bonadea / Ulrich (auch Ulrich / Gerda Fischel in Kap. 119) und Diotima / Arnheim gestaltet und der Lächerlichkeit preisgegeben wird. (3) Paradies und Regression Elemente aus verschiedenen Religionen sind diese Liebe eingelegt. Bilder vom christlichen Paradies wie Beschreibungen mystischer Einswerdung dienen dazu, um den nicht da gewesenen ‚anderen Zustand‘ zu veranschaulichen und erzählerisch zu vermitteln. Der Mythos aus Platons Symposion vom ursprünglich ganzen Menschen, der in zwei Hälften getrennt wurde, ist mitgedacht. Ebenso wird der Mythos von den göttlichen Zwillingen Isis und Osiris gegenwärtig gehalten, die sowohl Geschwister wie auch Liebende sind und durch Sonne und Mond repräsentiert werden. Auf den Blättern der Sterne lag der Knabe Mond in silberner Ruh, Und des Sonnenrades Nabe Drehte sich und sah ihm zu. Von der Küste blies der rote Wind, Und die Küsten leer von Segeln sind. Und die Schwester löste von dem Schläfer Leise das Geschlecht und aß es auf. Und sie gab ihr weiches Herz, das rote, Ihm dafür und legte es ihm au. Und die Wunde wuchs im Traum zurecht, G.M. Rösch / Roman im 20. Jahrhundert I - VL 10: Der Mann ohne Eigenschaften 5 Und sie aß das liebliche Geschlecht. Isis und Osiris (1923), in: Robert Musil, Gesammelte Werke I: Prosa und Stücke. Kleine Prosa. Aphorismen. Autobiographisches. Hrsg. v. Adolf Frisé. Hamburg 1978, hier 465. Das utopische Element liegt in der Aufhebung der sexuellen Differenz, für die (schon seit Goethes frühem Drama Die Geschwister) häufig die Zwillings- und Geschwisterexistenz als Symbol dient Indem Agathe und Ulrich, wiewohl Schwester und Bruder und nicht gleichaltrig, vom Erzähler als ‚Zwillinge‘ eingeführt werden (Zweites Buch, Kap. 1, bes. 657: Sie tragen beide ähnliche, androgyne Kleidung), sind in ihrer Beziehung diese mehrfachen mythischen Konnotationen präsent. Sie trachteten beide nicht verlegen zu werden. [...] Ulrich lächelte unbeholfen, als Agathe, mit dem Licht des Vorraumes hinter sich, in der geöffneten Tür wie eine von batistenem Rauch leicht umhüllte Silberstatue anzusehen war; und sie verlangte mit einer Stimme, deren Unbefangenheit sie viel zu stark ansetzte, nach Strümpfen und Kleid, die sich aber erst im nächsten Zimmer vorfanden. Ulrich führte seine Schwester dahin, und sie schritt zu seinem heimlichen Entzücken ein wenig zu knabenhaft aus, mit einer Art Trotz selbst davon kostend, so wie es Frauen leicht tun, wenn sie sich nicht von ihren Röcken geschützt fühlen. (Zweites Buch, 24, hier 898) Der Erzähler setzt diese Mythen aber im Kontext des Romans kritisch ein: Einerseits deutet er mit ihnen eine Abwendung von der (ohnehin ironisch gezeichneten) Gegenwart an. Die Moderne wird abgelöst vom Mythos; jedoch vollzieht sich dieser Prozeß unter der Gefahr der Regression. Auf der Ebene konkreter Lebenspraxis wenden sich Agathe und Ulrich zurück in ihre Kindheit, um von da ein die Entwicklung von der Unschuld über den Sündenfall noch einmal zu durchleben. Dieser Inzest als a-soziales und a-moralisches Verhalten wird jedoch nicht mehr gestaltet, er bleibt lediglich im weiteren Horizont des Denkbaren und Möglichen. 4. Romancharakteristika: Erzählperspektive – Psychologisierung – Fähigkeit zur Integration anderer Gattungen oder Wissensbestände – Selbstreflexion des Textes Die narrative Perspektive ist die eines auktorialen Erzählers, der ironisch zu seinen Figuren steht. Beispiele dafür sind die Charakterisierung Diotimas (z.B. Kap. 25, 94) oder Arnheims (z.B. Kap. 95, 96) und der Parallelaktion. Regelmäßig wechselt die Perspektive hin zum fokusierten Erzählen, z.B. als innerer Monolog oder Bewußtseinsstrom (vgl. Ulrichs Blick auf Arnheim in Kap. 43). Fragt man nach dem zeithistorischen Horizont oder der Überschreitung der Gattungsgrenzen, dann bietet Der Mann ohne Eigenschaften zahllose Ansatzpunkte. Welches Material in der langen Fertigstellung schon allein der publizierten Kapitel von Musil verarbeitet wurde, läßt sich in Grundzügen durch den Kommentar zum Roman ermessen. Selbstreflexiv wird der Text mehrfach, indem Figuren – besonders Ulrich, aber auch Arnheim – einschlägige Beobachtungen über den Stellenwert und den Prozeß des Schreibens zugeordnet werden. G.M. Rösch / Roman im 20. Jahrhundert I - VL 10: Der Mann ohne Eigenschaften 6 Musil hat die Psychoanalyse nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern auch durch seine Lektüre weiter verfolgt. Vor allem die Figuren des Mörders Moosbrugger und der Clarisse werden mit authentischen psychopathologischen Zügen ausgestattet. ________________________________ [1] Tycoon /tajku:n/ - Magnat [2] Masc.