Karl Riha Kabarett Das Cabaret ist, als neue Literatur-Institution, erst um die Jahrhundertwende auch in Deutschland populär geworden. Für Emmy Hennings (1885 bis 1948), die «Schleswiger Chansonette», wie sie Walter Mehring (1896 bis 1982) ihrer Herkunft nach genannt hat, gründete Hugo Ball (1886 bis 1927) im Schweizer Exil 1916 das Züricher Cabaret Voltaire; es wurde die Keimzelle der Dada-Bewegung. Als «eine neue Gattung von Versen ohne Worte», also in seiner Reduktion auf den reinen Klang, markierte das dadaistische Lautgedicht Protest gegen den verrotteten Sprachzustand der Zeit und - analog zur Karl Kraus (1874 bis 1936) - speziell gegen «die durch den Journalismus verdorbene und unmöglich gewordene Sprache»; aus der Vortragsform heraus entwickelt, entzog es sich jedoch auch dem Kabarett, überschritt jedenfalls die Grenzen, die ihm vor allem dann gesetzt waren, wenn es sich nicht mehr um Aktionen im engeren Künstlerzirkel, sondern vor einem breiteren Publikum handelte. Die eigentliche Brücke von der Dada-Bewegung zum diterarischen Kabarett>, das nach dem Ersten Weltkrieg in besonderer Weise eskalieren und eine zentrale Tendenz der Literatur der Weimarer Republik abgeben sollte, schlug deshalb erst Walter Mehring, der Momente der Dada-Poetik wie das der Montage übernahm und auf das Chanson oder Couplet - die lyrischen Hauptformen der Brettlkunst - anwendete, so etwa in berlin simultan (1919), das im Untertitel ausdrücklich als «erstes Original-dada-couplet» ausgewiesen ist. Mit der Widmung ist Richard Huelsenbeck (1892 bis 1974) - der Herausgeber des Dada-Almanachs von 1920- angesprochen, der als Leitfigur des Berliner Dadaismus (während seiner Mitarbeit an satirischen Zeitschriften wie Der blutige Ernst, 1919) die kabarettistische Tonlage vorformuliert hatte - als Beispiel Schieber-Politik (1919): Hindenburg kommt mit Jebimmel, Ludendorff ist auch schon da, 220 Und det janze Volksjetümmel Krächzt een fröhlichet Hurra! Karl Riha Rev’luzion war mal ’ne Sache, Sehr gesunken: Wert gering. Königstreu is was zu machen; Jott im Himmel save the king. Nach dem Titel seines ersten Gedichtbandes von 1919, dem Kurt Tucholsky (1890 bis 1935) «ein neues Lebensgefühl, einen neuen Rhythmus» attestiert hatte - «wenn die neue Zeit einen neuen Dichter hervorgebracht hat: hier ist er» gründete Mehring 1920 sein eigenes Politisches Cabaret. Zur Eröffnung des von Max Reinhardt (1873 bis 1943) initiierten Kabaretts Schall und Rauch hatte er erklärt: «Dem deklarierten Notstand zum Trotz mangelt es nicht an Motiven, an ; Ausschweifungen in den Preislagen jeder Geschmacklosigkeit; Hochstapelei in Sach- und Ewigkeitswerten; Schmalz und Weltanschauung; Pornographie, Vaterlandsliebe und Hurrahsozialismus; Lust- und Fememord; Landsknechtstum im Solde jeder Demagogie». Der ganze «Troß der Apokalyptischen Reiter» sei «zu haben so harlekinesk in unserem grauen Alltag wie im finstersten Mittelalter»; deshalb auch das Bekenntnis zum «Schutzpatron» Frangois Villon (d. i. Frangois de Montcorbier oder des Loges, 1431/32 bis 1463?) und den Parolen «seiner saufenden, raufenden, hurenden, dichtenden Spießgesellen»: «(Nichts ist von Wert als nur: sein Leben zu gemessen»). Ganz modernistisch führte Mehring aber auch Schlagerelemente, die Rhythmen und Synkopen des Jazz in die Kabarettlyrik ein, eine Art «Sprachen-», zur Darstellung des Großstadtwirrwarrs mit seinem Plakatgeschrei, seinem Durcheinander an Kauflockung, Straßenlärm, Zeitungssensation. In den Gedichten des Ketzerbreviers von 1921 sind es Partikel aus Kirchengesang, Gebet und liturgischem Ritual, aus denen sich das zeitkritisch-aggressive Chanson konstituiert; ähnlich wie später Bertolt Brecht (1898 bis 1956) in seiner Hauspostille (1927) nutzt der Autor die religiösen Formeln, um zu den Tugenden der Undemut und der Revolte aufzurufen, der radikalen Freiheit des einzelnen. Bezeichnend für die Richtung des Protests sind bekenntnishafte Sätze wie: «Jeder Staat ist eine legalisierte Interessengemeinschaft, die sich gegen das Individuum verschworen hat» oder «Ich deklariere das Ich-Selbst als einzigen Real- Wert». A uf der Landstraße ist ein Part in Mehrings szenischem Satirikon Europäische Nächte von 1924 überschrieben; der Autor schlüpft hier in die Gestalten der Tramps oder Vagabunden und stilisiert sie zu Inkarnationen einer absoluten Freiheit - der Welt, Gott und dem Teufel gegenüber! Kabarett 221 Sie gerieren sich als trotzige Abenteurer, voll Spott auf sich selbst und die Gefahren, denen sie sich aussetzen, ruhelose Antibürger, in jeder Verkleidung, in jedem Land, also nirgendwo zu Haus, Besitzlose, aber Kenner des Todes, der einer aus ihrer Sippe ist, «ein Prolet»: Den Himmel hoch, Europa untern Füßen, Wir wandern, keinem Menschen untertan, Um bald als Freund den ew’gen Jud zu grüßen, Bald den Zigeuner auf dem Wiesenplan, Uns kann kein Seemann von Sedijk beflunkern, Uns kann kein Pfaffvom Bayernland bekehrn, Uns wird kein General mit Ordensklunkern Den süßen Tod fürs Vaterland beschern! Was nützt es, daß Ihr ewig hetzt und schreit: Wir komm’n zurecht Der Weg ist weit. Wir haben Zeit! Halleluja! Wir Kinder der Chausseen, Wir ziehn fürbaß und nehmen stets fürlieb! Wir fragen nicht, wohin die Wege gehen, Und segnen das Geschick, das uns vertrieb. Ob sich die Völker in den Haaren liegen, Ob die Philister oder Kaffem siegen: Wir stehn nicht stramm und schreien nicht Hurra Hallelu-ja! Hallelu-ja! Hallelu-ja! Lyrisches Rollenspiel ist auch bei anderen Autoren der Zeit zu beobachten, die aus dem diterarischen Kabarett) herkommen oder für es arbeiten, am deutlichsten ausgeprägt bei Hans Bötticher, der sich 1919-zunächst für sein Hör- und dann auch für sein Lesepublikum - in Joachim Ringelnatz (1883 bis 1934) und als dieser wiederum in den schwankenden Seemann Kuttel Daddeldu - so der Titel seines Gedichtbandes von 1920 - verwandelte. «Für einen Freischoppen am Abend, dann für zwei Mark, wovon er aber einen Schoppen selbst bezahlen mußte, und schließlichfür zwei Mark und einen Schoppen» hatte Bötticher-Ringelnatz 1909 als im München-Schwabinger Künstlerlokal Simpl debütiert; hierher kehrte er nach dem Ersten Weltkrieg, an dem er als Marineleutnant teilgenommen hatte, zurück; gleichzeitig wurde er fürs Berliner Schall und Rauch entdeckt, wo er mit satirischen Turngedichten (1920) und eben mit seinen Liedern aus Kuttel Daddeldu Erfolg hatte. Die Nähe zur Theaterbühne, die das von Natur aus hat, ließ den Autor quasi als Kleindramatiker agieren: Mit Seemannsmütze und Seemannspullover drapiert, tingelte Ringelnatz in den späteren zwanziger Jahren quer durch Deutschland und entwickelte dieses sein Kostüm zu einer Art literarischem Markenartikel. - Seiner Substanz nach war der verqueren Schicksalen ausge­ 222 Karl Riha setzte Matrose eine modernisierte Version des altfranzösischen Vaganten Villon, dessen Signifikanz für den aktuellen Zustand der Welt Mehring herausgestellt hatte; mit seiner , den er 1925 - nach fünfundzwanzigjährigem Schweigen - als «sehr alten Mann» noch einmal in einer großen Pariser Singspielhalle «zwischen dressierten Pferden und englischen Clowns und Tänzerinnen» auftreten sah. Er öffnete dem zeitkritischen, entschieden in die Tagespolitik sich einmischenden Chanson Zeitung und Zeitschrift zu seiner Verbreitung, war die ganzen zwanziger und frühen dreißiger Jahre hindurch ein scharfer Beobachter der -Szene und rezensierte auch alle wichtigeren Einzel- und Sammelpublikationen auf diesem Gebiet, so etwa Eric Singers (1896 bis 1960) Bänkelbuch von 1929. In ihm kamen neben den älteren, schon bekannten Namen gerade auch solche jüngeren Autoren zu Wort, die sich erst im Laufe der zwanziger Jahre unter die Kabarett-Lyriker gemischt hatten, zum Beispiel - Jahrgang 1899 (1928) - Erich Kästner (1899 bis 1974), der mit eigenen Gedichtbüchern wie Herz auf Taille (1928) oder Lärm im Spiegel(1929) für die generelle Literatur-Wende in die neue Sachlichkeit steht, die auch die Chanson- und Couplet-Lyrik erfaßte und ihr neue Ausdruckswerte gab. Kästners meinte «Umgang mit den Freuden und Schmerzen der Gegenwart», also ein stärkeres Herangehen an die alltägliche Wirklichkeit der breiten Bevölkerungsschichten, die Gefühlslage des Kleinbürgers, der Angestellten mit der sie festlegenden Entfremdung, dem sie charakterisierenden Sentiment, der ihr eigenen Melodramatik. An die Stelle einer herausfordernd, betont zynisch formulierten Gefühlskälte tritt daher bei Kästner das elegische Erlebnis des Absterbens der Gefühle und des sie tragenden inneren Lebenszusammenhanges; so etwa in Sachliche Romanze (1929) - schon der Titel ist ein Pro­ gramm: Als sie einander acht Jahre kannten (und man kann sagen: sie kannten sich gut), kam ihre Liebe plötzlich abhanden, wie andern Leuten ein Stock oder Hut. Aus der privaten Sphäre öffnet sich jedoch die Perspektive - bei gleichbleibender Distanziertheit und Ironie - auch in größere soziale und öffentliche Bereiche wie die der Büros, die der Großstadt etc. - Nach dem alltäglichen Stenotypistinnen-Utensil benannte Mascha Kaleko (1912 bis 1975), die als Autorinnen-Pendant solcher Kabarett- und Zeitungslyrik zu nennen wäre, ihr Lyrisches Stenogrammheft. Verse vom Alltag (1933). Tucholsky glaubte - bei aller Sympathie für den jüngeren Schriftstellerkollegen - in den Gedichten Kästners «eine gewisse Enge der Opposition» zubemerken: Der Autor sei «ehrlich», heißt es, «sauber, nur scheint mir manchmal die Skala nicht sehr weit, und er macht es sich gewiß nicht leicht. (...) Da pfeift einer, im Sturm, bei Windstärke 11 ein Liedchen.» 224 Karl Riha Gegen dieses - an sich zutreffende - Urteil ist festzuhalten, daß sich Kästner mit der wachsenden faschistischen Eskalation im Lande sehr wohl zu einem couragierten Sprecher der demokratischen Opposition entwickelte und die von Deutschland ausgehende Kriegsgefahr in seinen Gedichten scharf geißelte: Kennst du das Land, wo die Kanonen blühen du kennst es nicht, du wirst es kennen lernen. Auch Kästners Bücher wurden deshalb 1933- nicht anders als die Schriften Tucholskys und all der anderen - von den Nationalsozialisten auf den Scheiterhaufen geworfen und unter dem Bannspruch «Gegen Dekadenz und moralischen Verfall, für Zucht und Sitte in Familie und Staat» den Flammen anheimgegeben. Kästner blieb in Deutschland, «um Augenzeuge zu werden». Ringelnatz starb 1934. Tucholsky rettete sich nach Schweden - und gingdort in den Freitod: «Die Welt,für die wirgearbeitet haben, und der wir angehören, existiert nicht mehr», schrieb er. Brecht und Mehring exilierten ebenfalls - und überlebten. Mit der Zerstörung der Literatur insgesamt war jedoch auch das Kabarett als spezifische literarische Institution der Weimarer Republik ruiniert. Mit ihmverschwand ein satirisches Oppositionspotential von Gewicht, ein medialer Ort, an dem sich ein kritisches Bewußtsein artikulieren und als Vortragskunst mit entsprechenden Interpreten und Interpretinnen - wie Gussy Holl (1888 bis 1948) oder Trude Hesterberg (1897 bis 1967) - eine faszinierende literarische Gestalt gewinnen konnte. Bezeichnenderweise nannte sich eines der wenigen Kabaretts, das die ersten Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft überleben sollte, nicht Wilde Bühne oder Pistole, sondern - in Ausschilderung der realen Verhältnisse - Die Katakombe. Witz, Satire, aggressives Rollenspiel, ironische Pointe mußten sich fortan mimikryhaft verbergen. Die äußerste Grenze «des gerade noch Erlaubten» zu wahren, die «Narrenkappe des wortkargen Scherzes» und die «Tarnkappe der vielsagenden Pause» aufzuziehen, also die Angriffsspitze «unsichtbar» zumachen- so Werner Finck (1902bis 1978) -, wurde taktisches Postulat. Aber Joseph Goebbels (1897bis 1945) deklarierte mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs selbst noch diese «politische Witzemacherei» endgültig zu einem auszurottenden «liberalen Überbleibsel»: «Wir wissen», verkündete er 1939, «daß jetzt die deutsch-feindlichen Zeitungen in Paris, London und New York für unsere armen Conferenciers eintreten werden. (...) Uns berührt das innerlich nicht mehr.»