I. Teil Als der Sommer kam, der die Welt verändern sollte, drapierte ich mein Bettzeug so, dass es aussah, als läge jemand darin, öffnete das Fenster und sprang in die Nacht. Das war keine große Sache; wir wohnten im Hochparterre. Unter dem Fenster wuchs schon kein Gras mehr deswegen. Auf der Straße roch es nach Gärten, die einen Tag voller Sonne hinter sich hatten, es war zwar erst Ende April, aber schon so warm, wie manchmal im Juli nicht, und auf den Serpentinen zur Grundstraße hinunter, wo S. schon stand und eine rauchte, eine Alte Juwel, die er mit dem Daumen und dem Zeigefinger hielt und mit dem Mittelfinger wegschnipsen würde, bevor er mir auf die Schultern haute, da wusste ich: Wenn jetzt das Leben enden müsste, dann von mir aus; besser konnte es gar nicht mehr werden. Wir würden sechzehn werden in diesem Sommer, erst S. und dann ich, und dann wäre der Spaß vorbei, da waren wir uns sicher. Dann entfiele der Kitzel, glaubten wir, die Furcht, einem Lada der Volkspolizei vor die Scheinwerfer zu geraten, wenn wir mit Wein und Whisky und Wermut aus dem Keller vom Vater auf dem Weg waren zu irgendwelchen Mädchen, in deren Zimmer wir einstiegen, weil die auch noch nicht schlafen wollten. Denn wir waren viel zu jung zum Schlafen damals, wir kamen gar nicht dazu, jedenfalls nicht in den Nächten. Dafür drückte uns dann tagsüber die Müdigkeit den Kopf auf die Schulbank. // 9 Mit mit ili« hRi Will«) Wlt km Sir Un il Sli 11,1 In Iii wi Iii di i'i cl Ii. „I Ii Iii B ii E N I e (I d r Der eine ging dann zum Beispiel mit dem Mädchen in dessen Kinderzimmer, und der andere schaute sich im Wohnzimmer der Eltern um; bei einigen lag das Westgeld ungelogen lose in den Schubladen. Wenn jemand was vermisst, soll er sich bitte melden, ich zahl das gern zurück. So viel war es ja auch gar nicht. Wenn man das bei bestimmten Leuten am Hauptbahnhof eins zu neun umtauschen kann, ist aber auch wenig viel. Wir waren inzwischen so weit, dass es für einen Bass, eine Gitarre und vielleicht sogar für einen Verstärker reichte. S. hatte Beziehungen. Beziehungen muss man haben, sagte er. Und ich fand das beeindruckend, dass das in beiden Richtungen galt: S. hatte immer Beziehungen mit Mädchen, S. hatte aber auch Beziehungen zu zwielichtigen Typen, die waren dann eher geschäftlicher Natur, und beide handhabte er, schien es mir, auf die gleiche umtriebige Weise. Jetzt am Samstag sollte das Ding über die Bühne gehen, wie er sich, zwischen zwei hektischen Zügen an der Alten Juwel, ausdrückte, denn S. und ich liebten gewisse Filme mit Ellen Dellen, die abends manchmal im Zweiten liefen.1 Polizisten nannten wir deswegen Flies und unsere Fußgängerzone die Rue. Aber da waren wir nicht die Einzigen. Die, die dort nach der Schule herumhingen, an den Springbrunnen, bis die Flies kamen und sich die Personalausweise zeigen ließen, die sagten alle Rue zu unserem Fußgängerboulevard. S. hatte seinen Ausweis schon oft vorzeigen müssen. Er hatte so seine Theorien darüber. Er glaubte, dass die Flies geheime Zeichen in den Papieren hinterließen, Zinken, die ihn als Staatsfeind auswiesen, der schon bald zur Gitarre greifen würde, um sie alle totzuschießen.2 Den Kauf der Instrumente konnte ich persönlich ebenfalls kaum 1 Alain Delon 2 Der Personalausweis, das kleine blaue Buch mit dem Foto drin, auf dem wir alle, als wir es mit vierzehn bekamen, noch wie Musterschüler in die Kamera lächelten, die meisten zum letzten Mal in ihrem Leben. erwarten, ich hatte bloß die Sorge, dass wir schon zu viel von dem Geld im Intershop auf den Kopf gehauen hatten, größtenteils für exotische Fertiggerichte und Zigaretten.3 Heute schäme ich mich offen gesagt vor allem dafür, und die einzige Erklärung, die ich dafür vorbringen kann, ist ebendiese: Wahnsinn aus Schlafmangel. Einmal war ich sogar beim Schwimmen fast eingenickt, am helllichten Nachmittag inmitten quiekender Kinder. Eine üppige Bademeisterin, die, soweit wir wussten, wasserscheu war und es nicht schätzte, wenn sie beim Plaudern und Rauchen gestört wurde, die aber, wie man zugeben musste, für ihr Alter immer noch gut genug aussah, um uns in unseren Tagträumen heimzusuchen mit ihrem Badeanzug, der schneeweiß war und aus Frottee, die hatte daraufhin jedenfalls eine Trillerpfeife aus den Tiefen ihres Dekolletes genestelt und ein Mal scharf hineingepustet. Später an diesem Nachmittag hatte sie S. dann noch des Bades verwiesen, und zwar für den gesamten Rest der Saison. War von der Längsseite ins Wasser gesprungen worden? Wurden Mädchen vom Beckenrand geschubst? Was auch immer: Auf jeden Fall flog S. raus, und wir gingen mit. So kam das, dass wir eben auch das Freibad nur noch nachts besuchten. Jetzt war die Saison noch gar nicht richtig losgegangen - und wir gingen gleich von vornherein nur noch nachts. Nachts war 3 »Nasi Goreng«, »Ernte 23«, »Reval«, »Marlboro«. Die Intershops waren ja im Prinzip nur dazu ins Leben gerufen worden, um das im Lande herumgeisternde Westgeld einzusammeln, die harten Währungen, die sogenannten Valuta, und Westzigaretten, die weniger kosteten als im Westen, waren immer schon attraktiv für rauchende Westbesucher gewesen. Insofern verhielten wir uns hier im Prinzip sehr staatsbürgerlich. Dass einem aber als Wechselgeld in diesen Läden keine West-Münzen zurückgegeben wurden, sondern pro West-Groschen je ein West-Schokoladentäfelchen, das war eine Sauerei, schon weil Zigaretten und Schokolade nicht gut zusammen schmecken. 10 11