Theresa May: Abhängig von der Opposition Die britische Regierungschefin hat realisiert, dass sie mit ihrer Partei allein beim Brexit nicht weiterkommt. Jetzt muss sie auf Labour hoffen. Warum so spät? Eine Analyse von Bettina Schulz, London 2. April 2019, 21:29 Uhr 291 Kommentare Theresa May - »Wir brauchen eine weitere Verlängerung von Artikel 50«Die britische Regierungschefin Theresa May will die EU um eine erneute Verlängerung der Brexit-Frist bitten. Sie solle so kurz wie möglich und lang wie nötig sein. © Foto: Jack Taylor/AFP/Getty Images Zehn Tage bis zum ungeordneten Brexit – und Theresa May ändert noch einmal ihre Strategie. Nach einer siebenstündigen Sitzung mit ihrem Kabinett hat die britische Regierungschefin am Dienstagabend angekündigt, bei der EU eine kurze Verlängerung der Austrittsfrist beantragen zu wollen. Außerdem will sie das Gespräch mit der oppositionellen Labour-Partei suchen, um einen ungeordneten Austritt am 12. April doch noch zu verhindern. Das Kabinettstreffen hatte ihr wohl gezeigt, dass es unter ihren Ministern und den Abgeordneten der Konservativen Partei zum Brexit keine Einigung geben wird. Dem Vernehmen nach waren sogar 14 Kabinettsmitglieder gegen eine erneute Verlängerung der Frist nach dem 12. April, also im Prinzip für einen No-Deal-Austritt. Nur zehn der Anwesenden folgten ihr. Der Blick von May fällt damit notwendigerweise auf die Opposition. Mit ihrer eigenen Partei allein kommt die Regierungschefin nicht weiter: Ein Drittel der konservativen Parlamentarier sind ideologische Ultra-Brexit-Anhänger, die immer noch von einem Austritt ohne Vertrag träumen und sich auf keinen Kompromiss einlassen wollen – "selbst wenn man mir die Pistole in den Mund hält", wie es einer von ihnen vor dem Parlament formulierte. Die EU-Anhänger unter den Tories sind ebenfalls nicht bereit, das Abkommen von May zu akzeptieren. Dreimal hat sie auf dieser Grundlage mit ihrem Deal im Parlament verloren. Es muss also eine andere Lösung her. Vorschläge gibt es genug, sowohl von Labour als auch vom rebellierenden Parlament. Misstrauen gegen die politische Erklärung May hat mit der EU den rechtlich bindenden Austrittsvertrag ausgehandelt, der im Prinzip die Vergangenheit betrifft, die britischen Schulden bei der EU begleicht, die Rechte der Bürger klärt und die Notsituation der irischen Grenze behandelt. Dieser Vertrag ist fest formuliert, er kann nicht geändert werden. Wie es in Zukunft zwischen Großbritannien und der EU weitergeht, welche Art Handelsabkommen beide Seiten vereinbaren werden, steht allerdings in einer eher vage formulierten politischen Erklärung. Hier setzt das Misstrauen der moderaten Abgeordneten ein: Sie fürchten, dass der Brexit ein Freifahrtschein für die Hardliner in der Tory-Partei sein könnte, später Handelsbeziehungen durchzudrücken, die den Briten zwar ihre "Souveränität" wiedergeben, die aber wirtschaftlich schädlich sein könnten und Probleme für die irische Grenze aufwerfen würden. Die rebellierenden Abgeordneten im Unterhaus unter Führung des Konservativen Oliver Letwin haben in den vergangenen Tagen daher Alternativen für einen eher weichen Brexit formuliert. Auch am Mittwoch soll es wieder eine Debatte um eine mögliche Zollunion oder eine Kombination von Zollunion und Binnenmarkt geben. Oppositionsführer Jeremy Corbyn selbst hatte ebenfalls eine Zollunion mit der EU vorgeschlagen. All diese Modelle (Norwegen, Zollunion, Europäische Freihandelsassoziation plus Zollunion) sind aber keine Alternative zu dem bereits ausgehandelten Austrittsvertrag. Sie alle basieren darauf, dass Großbritannien zunächst einmal – mit dem Austrittsvertrag – die EU verlässt. Warum so spät? Da May in ihrer Partei bisher nicht ausreichend Stimmen erhält, um den Austrittsvertrag fristgerecht bis zum 22. Mai ratifizieren zu können, geht sie nun auf Stimmenfang bei der Opposition. Dafür muss sie sich einem weichen Brexit öffnen. Dem also, was die Opposition, die rebellierenden Abgeordneten und die unter Protest ausgetretenen Parlamentarier ihrer Partei lange gefordert haben. Erst am Montag war der konservative Abgeordnete Nick Boles vor dem gesamten Parlament zurückgetreten, als zahlreiche konservative Abgeordnete wieder jeden Kompromiss im Parlament sabotierten. Doch warum ist May nicht schon früher auf Labour zugegangen? Weil sie weiß, dass dies ihre Partei spalten könnte: Die Basis ist mehrheitlich strikt gegen eine Zollunion mit der EU, für eine freie, unabhängige Handelspolitik und eher für einen No-Deal-Austritt. Die Regierungschefin weiß, dass ihre Politik zur Zerreißprobe der Konservativen führen wird. Sie weiß aber auch, dass sie selbst, die diese Politik zu verantworten hat, ohnehin bald gehen muss. May wird sich bei Labour-Chef Corbyn nun darum bemühen, eine Einigung mit Blick auf eine künftige Zollunion, eine Ankoppelung an den Binnenmarkt, möglicherweise gar eine Volksabstimmung zu erzielen. Schlägt das fehl, soll das Parlament über die Alternativen abstimmen. Sie will diese Einigung dann nächste Woche der EU präsentieren, um eine erneute Fristverlängerung zu erreichen. Die EU ist skeptisch, da May zunächst hat durchblicken lassen, dass sie nicht bereit ist, das Land auf die EU-Parlamentswahl vorzubereiten. May hatte keine andere Wahl Diesen Schritt hätte die Regierungschefin niemals unternommen, wenn Großbritannien in wenigen Tagen nicht der ungeordnete Austritt blühen würde. Und dies massenweise Rücktritte aus ihrem Kabinett und der Partei provoziert hätte, vielleicht sogar ein Misstrauensvotum der Opposition und eine Neuwahl, die die Konservativen verloren hätten. Sie hatte keine andere Wahl, auch wenn ihre Entscheidung vom Dienstag einen Großteil der harten Brexit-Anhänger verprellt und der ohnehin zerstrittenen Partei gefährlich schadet. Und Corbyn? Er hat angekündigt, mit May sprechen zu wollen. Doch auch er muss den Brexit liefern, steht seinen Wählern in der Pflicht. Ein "weicher Brexit" wäre vernünftig, für die Wirtschaft besser als ein Brexit ohne Zollunion und ohne Binnenmarkt. Er öffnet zudem die Möglichkeit, die nordirische DUP an Bord zu holen, denn je mehr sich Großbritannien an die EU hält, desto obsoleter ist der verhasste Backstop. Rechtlich bindend ist derzeit allerdings nichts, was in die politische Erklärung geschrieben wird. Es gibt keine Sicherheit, dass sich eine künftige Regierung an die Einigung wird halten müssen. Das ist ein Knackpunkt, der geklärt werden muss. Und wer weiß, ob sich May und Corbyn überhaupt werden einigen können – oder welche Bedingungen Corbyn stellt, um May aus dem Desaster zu helfen. Die moderaten Abgeordneten werden am Mittwoch erst mal allein weitermachen, auf Nummer sicher gehen. Sie werden versuchen, einen No-Deal-Austritt unmöglich zu machen. Die Labour-Abgeordnete Yvette Cooper hat eine entsprechende Gesetzesinitiative eingebracht. In einer Anstrengung sollen das Unterhaus und Oberhaus ein Gesetz verabschieden, das die Regierung zwingen würde, bei der EU um eine Fristverlängerung nach Artikel 50 zu bitten, damit Großbritannien nicht am 12. April automatisch – oder per dummem Zufall – aus der EU fliegt.