NEUE HISTORISCHE LITERATUR Kontroversen sind ein integraler Bestandteil der Wissenschaft. Dennoch handelt es sich um eine seltene Ausnahme, wenn in der Historischen Zeitschrift einer Rezension die Gegendarstellung des Rezensierten unmittelbar folgt. Sie rechtfertigt sich durch den Umstand, daß hier die Wissenschaftlichkeit des rezensierten Buches selbst in Frage gestellt wird. Deshalb soll dem Autor die Möglichkeit gegeben sein, Stellung zu nehmen. L. G. Von Fakten zu Motiven Johannes Frieds Beschreibung der Ursprünge Deutschlands* Von Gerd Althoff Aus mehreren Gründen durfte man auf den ersten Band der Propyläen Geschichte Deutschlands gespannt sein. Einmal schließt er die Reihe der drei Mittelalterbände ab, die in Umkehrung der Chronologie erschienen. Die Bände von Peter Moraw zum Spät- und von Hagen Keller zum Hochmittelalter haben sich inzwischen einen festen Platz in der Mediävistik und weit darüber hinaus erobert und gelten zu Recht als maßgebliche neuere Gesamtdarstellungen der jeweiligen Epoche.1 ) Zum anderen - und fast noch wichtiger - ist die Diskussion um die An* Johannes Fried, Der Weg in die Geschichte. Die Ursprünge Deutschlands bis 1024. (Propyläen Geschichte Deutschlands, Bd. 1.) Berlin, Propyläen 1994. 922 S., 248,- DM. ') Peter Moraw, Von offener Verfassung zu gestalteter Verdichtung. Das Reich im späten Mittelalter von 1250 bis 1490. (Propyläen Geschichte Deutschlands, Bd. 3.) Berlin 1985; Hagen Keller, Zwischen regionaler Begrenzung und universalem Horizont. Deutschland im Imperium der Salier und Staufer 1024-1250. (Propyläen Geschichte Deutschlands, Bd. 2.) Berlin 1986. Bereitgestellt von | UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich Angemeldet Heruntergeladen am | 15.04.19 08:40 108 Historische Zeitschrift Band 260 (1995) fänge der deutschen Geschichte, die eigentlich nie verstummt war2 ), durch das voluminöse Buch von Carlrichard Brühl neu belebt, um nicht zu sagen angeheizt worden3 ). Brühl diagnostizierte dort, wo die ältere wie die herrschende Lehre die Anfänge einer deutschen Geschichte markierte, nichts als Fränkisches und postulierte den vielgesuchten Anfang irgendwo im 11. Jahrhundert, ohne allerdings genauer zu sagen, was in dieser Zeit denn nun an spezifisch Deutschem neu zu beobachten sei.4 ) Um diese bereits von verschiedenen Generationen kontrovers diskutierte Frage nach den Anfängen der deutschen Geschichte kam der Autor dieses Propyläen-Bandes nicht herum - der Titel beweist es. Johannes Fried hat sich der so gegebenen Herausforderung gestellt und das Problem wie seine Lösung in zwei Kapiteln dargeboten, die das Werk wie ein Rahmen umschließen („Was heißt deutsch?" S. 9-28, „Noch einmal: Was ist deutsch?" S. 853-860). Unpathetisch, geradezu erfreulich nüchtern ist das Fazit: „Die Deutschen wurden Deutsche, ohne darauf zu achten. Ihr neuer Name schlich sich in ihren Sprachgebrauch ein; sie gewöhnten sich unmerklich an ihn, bis sie sich Jahrhunderte später zu ihm bekannten." Dem Fazit wie seinen Begründungen kann man nur lebhaft zustimmen. Die Ethnogenese der Deutschen ist gekennzeichnet, was man schon öfter betont hat, durch einen langgestreckten Verlauf; sie weist eine Fülle von Knotenpunkten vor allem im 9. und 10. Jahrhundert auf, ohne daß einer oder wenige als entscheidende hervorstächen; sie war kein bewußter oder gar geplanter Vorgang, mit dem sich etwa ein deutsches Volk einen deutschen Staat geschaffen hätte. Gentiles Bewußtsein - Sachse oder Bayer, Franke oder Alemanne zu sein - bestimmte auch im 10. und 11. Jahrhundert weitgehend die Identität der werdenden Deutschen. Vom Königtum gingen durchaus unbeabsichtigt - die entscheidenden Integrationswirkungen aus, sei es durch die Italienpolitik mit den Erlebnissen der,Fahrt über Berg', sei es durch die zahllosen Hoftage mit ihren vielfältigen intergentilen Kontaktmöglichkeiten, sei es durch Amtervergabe an stammesfremde Bischöfe und Herzöge. Dies alles wird in den zwei angesprochenen Kapiteln souverän abgehandelt und im gesamten Buch im- 2 ) Vgl. die umfangreichen Literaturhinweise bei Fried, 867f. 3 ) Carlrichard Brühl, Deutschland - Frankreich. Die Geburt zweier Völker. Köln/ Wien 1990. 4 ) Diese Frage wird in dem Buch zwar noch kurz vor dem Ende (S. 715 ff.) angesprochen, ohne jedoch das, was dcutsch inhaltlich ausmacht, zu beschreiben. Bereitgestellt von | UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich Angemeldet Heruntergeladen am | 15.04.19 08:40 Buchbesprechungen Allgemeines 109 mer wieder in Erinnerung gerufen. Es sollte Ausgangspunkt zukünftiger Diskussionen zu diesem Thema sein. Doch was dieser 26seitige Rahmen umschließt, ist nicht weniger als ein 825 Seiten langer Text. Die Frage nach dem, was deutsch heißt oder bedeutet, ist also keineswegs die einzige, sicher auch nicht die Hauptthematik des Buches. Das Leitthema wird jedoch erst nach einem zweiten Rahmen angeschlagen. Dieser zweite Rahmen besteht aus den Kapiteln „Land und Leute" (S. 29-161) und „In der Gemeinschaft der Völker" (S. 737-852). Ersteres bietet Hinführungen zum Thema wie den Überblick über die Geschichte des Raumes, der später zu Deutschland werden sollte. Es bietet instruktive Überlegungen zur anthropologischen Dimension des Themas, klärt Bedingungen menschlichen Verhaltens in archaischen Zeiten, beschreibt die Eigenarten sozialer Gruppen und die Spielregeln ihrer Interaktion. Gerade was im Kapitel „Menschen im werdenden Deutschland" (S. 92-161) behandelt wird, sei jedem empfohlen, der weiß oder wissen will, wie schwer es ist, sich dem Mittelalter ohne anachronistisches Vorverständnis zu nähern. Letzteres Rahmenkapitel thematisiert Bereiche und Fragen, die im Mainstream der beiden Hauptteile unberücksichtigt blieben: „Fernhandel und Städte", „Kirche und Frömmigkeit", „Geistige Kultur". Auch wenn in diesen Kapiteln viele interessante Beobachtungen und neue Perspektiven enthalten sind, stehen sie ein wenig unverbunden neben dem, was das eigentliche Leitthema des Buches ist. Auch ist kaum zu begründen, warum gerade diese Themen und nur sie mehr essayistisch angesprochen wurden. Eine ganze Reihe anderer Themen wären gleichfalls denkbar und sind auch bereits vermißt worden.5 ) Auch der Inhalt dieses zweiten Rahmens führt aber nicht zur Kernthematik, die in diesem Buch ganz im Vordergrund steht, von der auch jede Auseinandersetzung mit ihm ausgehen muß. Sie findet sich vielmehr erst in den zwei Hauptkapiteln „Die Voraussetzungen der Einheit" (S. 162-365) und „Das Werden der Einheit" (S. 366-736). Unter diesen Überschriften werden a) die Merowinger- und Karolingerzeit bis zum Tode Ludwigs des Frommen, b) die Krise des Karolingerreiches und die Ottonenzeit im wesentlichen der Chronologie folgend dargeboten. Das Überraschende und gewiß auch Faszinierende aber ist, daß die 5 ) Vgl. etwa die Rezension des Buches von Friedrich Prinz in „Die Zeit" (Nr. 27 v. 1. Juli 1994, S. 62), der aus seiner Sicht der Dinge eine ganze Reihe von Themen als fehlend empfand. Bereitgestellt von | UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich Angemeldet Heruntergeladen am | 15.04.19 08:40 110 Historische Zeitschrift Band 260(1995) Darbietungen dieser Kapitel ganz auf eine Leitthematik konzentriert sind, wie sie in dieser Dichte und Konsequenz noch nie abgehandelt worden ist. Es geht Fried vorrangig um die Darstellung des Verhältnisses von Königtum und Adel, um die Herausbildung eines Dualismus zwischen Kaiser und Reich, vertreten durch seine weltlichen und geistlichen Fürsten. In der Tat ist dieser werdende Dualismus grundlegend für das Verständnis früh- und hochmittelalterlicher Staatlichkeit. Und gewiß liegt der Schlüssel zum Verständnis der früh- und hochmittelalterlichen Geschichte des zunächst fränkischen, dann deutschen Reiches in der Beobachtung der Entwicklung dieses Verhältnisses und der ihm zugrundeliegenden Regeln, die nirgendwo schriftlich fixiert sind. Gleichwohl beanspruchten sie die Verbindlichkeit von Rechtsgewohnheiten und prägten das öffentliche Leben und die Politikfelder der fraglichen Zeit. In entscheidenden Fragen bestimmten die geistlichen und weltlichen Großen mit ihrer praktizierten Gruppensolidarität Möglichkeiten und Grenzen königlicher Herrschaftsausübung, und ihr Ideal war nicht der König, der seine Macht und ihre Grundlage stetig steigerte, sondern derjenige, der seine Getreuen förderte, wo er nur konnte. An diesem Ideal haben sie ihre praktische Politik erfolgreich ausgerichtet. Nun ist dieses Thema natürlich schon vielfach behandelt worden; seine Forschungsgeschichte ist zugleich der Beweis für die Zeitgebundenheit der Wissenschaft vom Mittelalter.6 ) Fried geht seinen Weg in genauer Kenntnis der einschlägigen Vorarbeiten und auf der Basis ausgezeichneter Quellenkenntnisse. Seine Prämisse spiegelt die Einschätzung moderner Forschung: Zwar billigt er dem Königtum den Charakter einer integrierenden Zentralgewalt zu, doch stehen die Fürsten gleichberechtigt neben diesem. Für alte, aber immer noch vertretene Wertungen, die die Fürsten als Totengräber einer starken Zentralgewalt 6 ) Vgl. etwa den Überblick Uber die einschlägige Forschung bei Jürgen Hannig, Consensus fidelium. Frühfeudale Interpretationen des Verhältnisses von Königtum und Adel am Beispiel des Frankenreiches. (Monographien zur Geschichte des Mittelalters, 27.) Stuttgart 1982, 6 ff., mit besonderer Berücksichtigung der Karolingerzeit; für die spätere Zeit vgl. Hagen Keller, Grundlagen ottonischer Königsherrschaft, in: Karl Schmid (Hrsg.), Reich und Kirchc vordem Investiturstreit. Vorträge beim wissenschaftlichen Kolloquium aus Anlaß des 80. Geburtstags von Gerd Tellenbach. Sigmaringen 1985, 17-34, und clers., Zum Charakter der .Staatlichkeit' zwischen karolingischer Reichsreform und hochmittelalterlichem Herrschaftsausbau, in: FMSt 23, 1989, 248-264. Bereitgestellt von | UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich Angemeldet Heruntergeladen am | 15.04.19 08:40 Buchbesprechungen Allgemeines 111 sahen, bleibt so wenig Raum.7 ) Die Schwäche des Königtums wird vielmehr im Einklang mit zeitgenössischen Vorstellungen darauf zurückgeführt, daß es Dienst reich belohnen, die Gefolgsleute und Vasallen ,ehren' mußte, was seine Ressourcen langfristig strapazierte und überforderte. Fried schreibt die Geschichte dieses Dualismus unparteiisch als die Geschichte eines Machtkampfes verschiedenster Adelsgruppen untereinander und mit den Königen, bei dem es um Rang und damit um Einfluß, um Errichtung von Bündnissystemen und genealogischen Netzwerken, um Ausschaltung von Gegnern und Förderung von Freunden ging und bei dem nahezu alle Mittel angewandt wurden. Das Königtum förderte bestimmte Gruppen und distanzierte, d.h. beleidigte dadurch andere. Auf diesem Klavier subtil zu spielen machte erfolgreiche Königsherrschaft aus, die selten war. Gnade vor Frieds Augen finden eigentlich nur Karl der Große und Heinrich I. Letzterer mit der Einschränkung, er sei ein „Genie des Zauderns" (S. 462) gewesen. Otto der Große dagegen „wurde, so läßt sich zugespitzt sagen, der große König und Kaiser, als der er in die Geschichte einging, weil er über Kinder regierte" (S. 517). Dies zugleich und ohne Zustimmung als Beispiel für Frieds Hang zu überpointierter Wertung. Frieds Stil ist ausgesprochen suggestiv. Extrem kurze Sätze jagen einander. Lange Folgen von Fragen erzeugen Spannung und zwingen zum Mitdenken. Die Wertungen sind pointiert. Als Laie wie als Fachmann verfolgt man die Darstellung mit Spannung. Und doch stellt sich mit zunehmender Lektüre Unbehagen ein, das sich nicht nur stellenweise zu energischem Widerspruch steigert. Die grundsätzliche Frage ist wohl: Welche Ansprüche stellt man an dieses Buch? In meinem Verständnis: Es soll die wissenschaftliche Summe einer Epoche einem breiteren, interessierten Publikum bieten. Dies erfordert eine allgemeinverständliche Darstellung unter Berücksichtigung der neuesten Forschungsergebnisse; c* erlaubt keine Konzessionen zu Lasten der wissenschaftlichen Substanz. Durch die Tatsache, daß das Buch ohne Anmerkungen geschrieben ist und Kontrollen allenfalls dem Fachmann über die kapitelweise und alphabetisch geordnete Literatur ermöglicht, verbietet sich jede Spekulation, jede phantasievolle Ausschmückung. Gefordert ist vielmehr eine deutliche Markierung, wo die Sicherheiten 7 ) Vgl. neuerdings Egon lioshof. Königtum und Königsherrsehaft im 10. und 11. Jahrhundert. (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 27.) München 1993. Bereitgestellt von | UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich Angemeldet Heruntergeladen am | 15.04.19 08:40 112 Historische Zeitschrift Band 260 (1995) aufhören und die Thesen oder gar Vermutungen anfangen. Gegen diese Grundregeln verstößt Fried jedoch fast permanent und ich denke bewußt. Er läßt dem Leser keine Chance zu merken, wo der unsichere Teil seiner Argumentation beginnt, wo kühne Spekulation dem Autor die Feder führte und wo er sich nachgerade über gegenteilige Quellenaussagen hinwegsetzte. In Frieds Diktion ist nahezu alles in gleicher Weise sicher, die gut bezeugte, quellennahe Schilderung und die Spekulation im quellenfreien Raum, die sich allenfalls auf Plausibilitäten stützt. Dieser generell gemeinte Vorwurf läßt sich aus Platzgründen natürlich nur exemplarisch belegen. Deshalb sei unterstrichen, daß die folgenden exempla Ausdruck eines durchgängig zu beobachtenden Trends sind. Auf S. 333 schildert Fried die Endphase der Regierung Karls des Großen. Ein Auszug: „Das Unrecht schwoll an, der Zorn Gottes, so mußte man es deuten, traf Karls Reich. Unglücksfälle häuften sich, die Kaisersöhne starben vor der Zeit, Pippin 810, Karl 811, beängstigende Zeichen erschienen am Himmel. Galt es ihm, dem Kaiser? Drohten die Himmlischen? Karls Schlag gegen die Dänen, zu dem er damals ausholte, ging ins Leere. Auf dem Rückmarsch strauchelte sein Pferd, und er stürzte zu Boden. Erschrocken erhob er sich. Es war ein böses Vorzeichen, das Einhard im nachhinein erkannte. Todesahnung überfiel Karl, wiewohl er sich nicht zu ihr bekannte, wie Einhard gleichfalls festhielt. Karls Unruhe wuchs. Was war falsch?" Dieses psychologisierende Gemälde der Stimmung Karls basiert auf Einhards Biographie des Kaisers (cap. 32), wo die zitierten und weitere Unglücksfälle berichtet werden. Eingeleitet wird das Kapitel von Einhard mit der Aussage: „Mehrfach hatten Vorzeichen auf das Herannahen seines Todes hingewiesen, so daß nicht bloß andere, sondern auch er selbst ihn kommen fühlte." Doch beendet Einhard seine Schilderung der Unglückszeichen mit dem Satz: „Aber alle diese Vorzeichen ließ er nicht gelten oder verachtete sie, als ginge ihn keines von ihnen irgend etwas an." Diese Nachricht Einhards widerspricht m. E. all dem, was Fried über Karls Unruhe und Erschrecken so suggestiv darbietet. Die hier von Fried angewandte Methode sei noch an einem zweiten Beispiel belegt: „Der Kaiser spürte den Wandel. Zweifel stiegen auf, das Rechte getan zu haben; die Sorge wuchs, vor Gott nicht bestehen zu können. Karl sah viel Schatten, wenig Licht. Als die Sonne 810 in rascher Folge, zweimal binnen Jahresfrist sich verfinsterte, dazu der Mond, erschrak er zutiefst. War es Warnung? Ankündigung des Letzten Gerichts? Auch das hielt der Kaiser für möglich" (S. 335). Von der zitierten SonnenfinsterBereitgestellt von | UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich Angemeldet Heruntergeladen am | 15.04.19 08:40 Buchbesprechungen Allgemeines 113 nis berichten neben Einhard auch die Reichsannalen. Deren Schilderung hat Fried fast wörtlich zitiert. Nur fehlt in der Quelle jeder Hinweis, daß das Geschehen auf Karl Eindruck gemacht habe. So kann man m. E. allenfalls im historischen Roman Stimmung erzeugen, nicht in der hier vorliegenden Textsorte, auch wenn in berühmten und vielgelesenen Mittelalter-Darstellungen des 19. und 20. Jahrhunderts von Giesebrecht bis Hampe immer wieder in vergleichbarer Weise dramatisiert wurde. Ein zweiter grundsätzlicher Einwand gegen Frieds Darstellungstechnik ergibt sich aus seiner Vorliebe, von Fakten auf Motive zu schließen. Dies ist ein grundsätzliches Problem jedweder historischen Rekonstruktionsarbeit, tritt aber in quellenarmen Zeiträumen besonders gravierend auf, da dort über weite Strecken allenfalls dürre Fakten und keineswegs die Motive der politisch Handelnden überliefert sind. Um so mehr Vorsicht ist daher bei der Motivsuche eigentlich geboten. Gegen diese fundamentale Regel aber wird häufig, nicht nur in diesem Buch, verstoßen. So versucht Fried das Faktum zu erklären, warum mehrere Bischöfe 983/84 nicht den dreijährigen Otto III., sondern Heinrich den Zänker bei seinem Versuch unterstützten, die Königsherrschaft zu übernehmen. Die Quellen sagen über die Motive der einzelnen Bischöfe nichts, dennoch strahlt Frieds Darstellung ihrer Motive große Sicherheit aus: „Nicht privater Haß, wie moderne Historiker annehmen, sondern Theophanus Einfluß auf Otto II. in den Wochen um die katastrophale Schlacht bei Cotrone führte zur Aversion gegen Theophanu. Die Griechin erwies sich gerade in Italien als so kraftvolle, tatsächlich lenkende Mitkaiserin, daß die Aussicht auf ihre Regentschaft die leidgeprüften Bischöfe erschreckte. Stieg in Dietrich, der sich im geschichtsträchtigen Metz zweifellos Zugang zu karolingischen Annalen verschaffen konnte, die Chimäre jener byzantinischen Kaiserin Irene auf, mit der Karl der Große zu tun hatte und die ihren einzigen Sohn hatte blenden lassen, um im Besitz der Macht zu bleiben? Ganz offensichtlich fürchtete er, Theophanus .Teilhaberschaft am Reich (consortium imperii) ' könnte in entfesseltes Weiberregiment münden und jene Politik fortsetzen, die soeben Otto II. in den Untergang getrieben hatte. ... Hinzu trat wohl noch eine bedrückendere Sorge. Denn die Bischöfe legten Theophanu gewiß nicht nur die kriegerische Italien-Politik im allgemeinen, vielmehr ihre spezielle Inanspruchnahme dabei zur Last; sie waren allzu unmittelbar betroffen, als daß sie nicht widerstreben mußten" (S. 563 f.). Was hier geboten wird, sind im Falle des Bischofs Bereitgestellt von | UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich Angemeldet Heruntergeladen am | 15.04.19 08:40 114 Historische Zeitschrift Band 260 (1995) Dietrich von Metz ziemlich wilde Spekulationen, im allgemeineren Teil Plausibilitätserwägungen, die auf zu vielen Imponderabilien gründen, um sie ernsthaft als die hinter den Fakten stehenden Motive anbieten zu können. Im Grunde weiß dies auch Fried ganz genau: Zumindest schreibt er zwölf Seiten später: „Hatte Theophanu bestimmte Ziele, übergreifende Konzeptionen? Man kann es nur ahnen." Dem ist vorbehaltlos zuzustimmen. Damit aber erübrigen sich alle seitenlang ausgebreiteten Überlegungen über die Gründe für Widerstände gegen Theophanu, die aus ihren angeblich zu erwartenden politischen Plänen resultieren. Oder sie hätten als das deklariert werden müssen, was sie sind: als Mutmaßungen im quellenfreien oder fast quellenfreien Raum. Von Fakten auf Motive schließt Fried auch bei der Behandlung des Kampfes gegen adlige Nahehen, zu dem sich im beginnenden 11. Jahrhundert Kaiser Heinrich II. und Bischöfe energisch bereit fanden. Betroffen wurden vor allem Angehörige der Konradiner. Für Fried sind diese Aktivitäten Ergebnis reiner Machtpolitik Kaiser Heinrichs II., der die Konradiner mit der Waffe des kanonischen Rechts zu entmachten versucht habe: „So aber war, was Heinrich II. und Adalbero [sc. Bischof von Metz] inszenierten [sc. die Synode], nichts weiter als Agitation. Sie sollte Unfrieden stiften. ... Heinrich war ein König, der konfrontierte, nicht befriedete, der Gräben aufriß, nicht zuschüttete. Er bediente sich aller Mittel, von der List über den Verrat bis zur nackten Gewalt und mit besonderer Vorliebe des kanonischen Rechts" (S. 623). Nun kann es gewiß sein, daß dem Kaiser der Gedanke einer Entmachtung der Konradiner nicht fern lag, doch ihm dieses Motiv als vorrangig beim Kampf gegen Nahehen zu unterstellen, der anderenorts gerade als „Mönchskaiser" und als „idealer König des ottonisch-salischen Reichskirchensystems" ob seiner Bildung, seiner Frömmigkeit und seines Reformeifers gefeiert wurde8 ), bedürfte zumindest eingehender Begründungen und der Nachweise, die es aber nicht gibt. Einige Seiten weiter ist denn auch Fried vom Eifer des Kaisers für elementare kirchliche Fragen, hier die Klosterreform, überzeugt: „Vielleicht offenbarte sich hierin seine Persönlichkeit am hellsten" (S. 631). Wiedas bei dem, der doch keine Skrupel hatte, Synoden für machtpolitische Ziele zu in- strumentalisieren? *) Vgl. Hartmut Hoffmann, Mönchskaiser und rex idiota. Studien zur Kirchenpolitik Heinrichs II. und Konrads II. (Monumenta Germaniae Histórica, Studien und Texte, 8.) Hannover 1993. Bereitgestellt von | UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich Angemeldet Heruntergeladen am | 15.04.19 08:40 Buchbesprechungen Allgemeines 115 Ausgeprägt und, wie ich meine, zu ausgeprägt ist auch Frieds Neigung, anstelle problematischer oder bisher nicht verständlicher Quellenaussagen Erklärungen zu setzen, die durch keinerlei Quellen gestützt werden. Auf diese Weise hat er etwa der Königserhebung Heinrichs I., deren Schilderung in der ,ottonischen' Historiographie er mißtraut, gänzlich neue Details hinzugefügt: „Die Konradiner stritten um die Nachfolge Konrads. Heinrich griff irgendwie ein und vermochte sie, wohl einzeln, für sich zu gewinnen ... Eine allgemeine Königswahl Heinrichs durch Franken und Sachsen gab es vermutlich nie. Heinrich trat als König auf, ihm huldigten erst einzelne, dann alle Franken; den Anfang machte Eberhard. Der Salbung bedurfte Heinrich nicht. Er begann offenbar als König in Sachsen und schob sein Königtum allmählich in einen nach Konrads I. Tod königsfreien Raum vor" (S. 462). All dies stammt, sofern nicht doch Angaben des abgelehnten Widukind von Corvey verwendet werden, aus quellenfreiem Raum. So aber kann und darf man in quellenarmen Zeiten Rekonstruktionsversuche nicht anlegen, sonst wird eine Grundbedingung von Wissenschaftlichkeit, die Nachprüfbarkeit der Ergebnisse, verletzt. Ähnlich weit von den Quellenaussagen entfernt sind auch Frieds Deutungen der convivía Heinrichs I. im Jahre 931 mit fränkischen Grafen und Bischöfen, die außergewöhnlicherweise in deren Häusern stattfanden: „Wann sonst dienten einzelne Große ihrem Herrn als ihrem Gast? Das einzigartige Geschehen verlangte einen einzigartigen Anlaß. Er dürfte in Ottos vorzeitiger Königserhebung zu suchen sein. Die Großen anerkannten den Herrn, indem sie ihn bewirteten; so entsprach es durchaus fränkischem Brauch" (S. 479). Nun wird in der zugrundeliegenden Quellenaussage nur von Heinrich I. gesprochen, eine Teilnahme Ottos an den convivía gar nicht erwähnt. Fried unterstellt also implizit, der Autor der Quelle, immerhin der spätere Erzbischof Adalbert von Magdeburg, habe bei seiner Nachricht den, um den es bei den convivía eigentlich ging, zu erwähnen vergessen. Auch mit der Einschränkung „dürfte" darf m.E. eine solch vage Vermutung, gegen die eigentlich alles spricht, dem Leser nicht zugemutet werden. Noch bei zwei anderen Gelegenheiten bieten convivía Ausgangspunkte ähnlicher Spekulationen. Bei den Treffen der .Aufständischen' gegen Otto den Großen in Saalfeld, die Ottos des Großen Bruder Heinrich und Liudolf veranstalteten, soll es sich um „eine Art Königswahl" (S. 496 u. 510) gehandelt haben. In den zugrundeliegenden Nachrichten der Quellen ist davon nicht die Rede. Im Falle Liudolfs versicherte Bereitgestellt von | UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich Angemeldet Heruntergeladen am | 15.04.19 08:40 116 Historische Zeitschrift Band 260 (1995) dieser nach dem Treffen glaubwürdig, nichts gegen den König selbst im Sinne zu haben, sondern Beleidigungen des Herzogs Heinrich von Bayern rächen zu wollen. Außerdem war er zu diesem Zeitpunkt designierter Nachfolger seines Vaters. Was sollte da ein Gegenkönigtum? Aber auch allgemein ist die Organisationsform der coniuratio und die Bedeutung von convivía für diese Form der Bindung so häufig bezeugt und so gut erforscht, daß nicht der geringste Grund besteht, von convivía auf Königserhebungen rückzuschließen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die hier postulierte Verbindung von convivium und Königserhebung einen ganz anderen Fall stützen soll, den Fried vor einigen Jahren behandelt hat: die angebliche Königserhebung Boleslaws Chrobry durch Otto III. mit anschließendem dreitägigen convivium.9 ) Der Freizügigkeit im Umgang mit Quellenaussagen entspricht ein Hang zu überpointierter Wertung, die nicht selten den Eindruck aufdrängt, als habe die Vorliebe für die griffige Formulierung die Sache in den Hintergrund gedrängt. Ludwig das Kind wird als „debil" und als „hinwelkender Jüngling" (S. 450) bezeichnet. Konrad I. nahm „ein tristes Ende" (S. 452); Ottos III. Programm der Renovado war die „stolze Summe eines Enkels von Banausen" (S. 469). Ludwig der Jüngere „lernte aus der Geschichte und deshalb ging sie über ihn hinweg" (S. 411 ); Bischof Liutward von Vercelli „wurde gleichsam sein eigenes Opfer" (S. 427); Konrad Kurzbold war „vielleicht homosexuell" (S. 499). Nichts ist dagegen einzuwenden, die mittelalterliche Geschichte in attraktivem sprachlichen Gewände darzubieten, doch sollten die Pointen nicht zu Lasten der sachlichen Aussage gesetzt werden. Insgesamt ist hier ein Buch entstanden, zu dessen Lektüre man jedem, der sich intensiver mit dieser Zeit beschäftigen will, nur zuraten kann, vor dem man gleichfalls aber nachdrücklich warnen muß. Es ist ein Buch, das kritischer Auseinandersetzung bedarf. Aufs Examen hin lernen sollte man mit diesem Buch nicht. Traditionskritik und Rekonstruktionsversuch sind die zwei zentralen Tätigkeitsbereiche der Historiker. Gerade in quellenarmen Zeiten legt die Zunft zu Recht Wert auf strenge Methodik und auf Nachprüfbarkeit der Rekonstruktionsarbeit. Diese Prinzipien werden in dem Buch allzu häufig zugunsten spekula- 9 ) Vgl. Johannes Fried, Otto III. und Boleslaw Chrobry. Das Widmungsbild des Aachener Evangeliars, der „Akt von Gnesen" und das frühe polnische und ungarische Königtum. (Frankfurter Historische Abhandlungen, Bd. 30.) Stuttgart 1989. Bereitgestellt von | UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich Angemeldet Heruntergeladen am | 15.04.19 08:40 Buchbesprechungen Allgemeines 117 tiver Innovation, hypothesenfreudiger Dramatisierung des Geschehens verletzt. Solche Grenzübertritte sind dem Leser nur dann erkenntlich, wenn er selbst Spezialist ist - und für diesen ist das Buch wohl nicht geschrieben. Sie sind als Arbeitshypothesen im wissenschaftlichen Erkenntnisprozeß unverzichtbar, als Wesensmerkmale von Darstellungen mit Hand- und Lehrbuchcharakter gefährden sie die Grundlagen der wissenschaftlichen Verständigung. Bereitgestellt von | UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich Angemeldet Heruntergeladen am | 15.04.19 08:40 HISTORISCH-POLITISCHE MITTEILUNGEN Archiv für christlich-demokratische Politik Die soeben erstmals erschienenen Historisch-Politischen Mitteilungen aus dem Archiv für Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung bieten ein Forum für Forschungen und Darstellungen zur Geschichte der christlich-demokratischen Bewegungen und Parteien und ihrer Vorgeschichte im Kontext der geistigen, politischen und sozialen Entwicklungen des 19. und 20. Jahrhunderts. Der thematische Schwerpunkt liegt auf Deutschland und Europa. Doch sollen auch andere Weltteile - insbesondere Lateinamerika - Berücksichtigung finden. Der wissenschaftliche Teil mit Aufsätzen, Miszellen und Literaturberichten wird ergänzt durch einen Dokumentationsteil und archivalische Nachrichten. Aus dem Inhalt von Heft 1/1994: R. Morsey: Die Deutschlandpolitik Konrad Adenauers G. Heydemann: Deutschlandpolitische Neuansätze der 60er Jahre Oi. Hacke: Die deutschlandpolitischen Konzeptionen von CDU und CSU in der Oppositionszeit M. Kittel: Die Hakenkreuzschmierereien 1959/60 M. Rißmann: Zur Rolle der Ost-CDU im politischen System der DDR M. Agethen: Unruhepotentiale und Reformbestrebungen an der Basis der Ost-CDU im Vorfeld der Wende M. Richter: Zur Entwicklung der Ost-CDU im Herbst 1989 W. Becker: Die europäische Einigung und die Unionsparteien f.-D. Durand: Christliche Demokratie und europäische Integration R. Schreiner: Die Europapolitik der CDU im Hinblick auf Frankreich Ol. Hermann: Religion und Politik bei Antonio Rosmini G. Buchstab: Parteiarchive in Europa U. Wengst: Die CDU aus der Nähe betrachtet R. Schreiner: Organisation und Zusammenschlüsse christlich-demokratischer Parteien seit 1945 Herausgegeben von der Konrad-Adenauer-Stiftung 1. Jahrgang 1994. VI, 270 Seiten. Englische Broschur. Erscheinungsweise: jährlich DM/sFr 38 - / ö S 2 9 7 - ISSN 0943-691X BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN Theodor-Heuss-Str. 76, D - 51149 Köln BÜHLAU Bereitgestellt von | UZH Hauptbibliothek / Zentralbibliothek Zürich Angemeldet Heruntergeladen am | 15.04.19 08:40