Ludwik Fleck Erfahrung und Tatsache Gesammelte Aufsätze Mit einer Einleitung herausgegeben von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle In den letzten zehn Jahren hat das Interesse der Wissenschaftsforschung } an den erkenntnistheoretischen Schriften des polnischen Mikrobiologen und Mediziners Ludwik Fleck (1896-1961) deutlich zugenommen. Die in diesem Band gesammelten Aufsätze zeigen, wie sich Flecks Ansätze aus der Auseinandersetzung mit rivalisierenden Auffassungen über die wissenschaftliche Erkenntnis entwickelt haben, wobei seine unorthodoxe Auffassung über den eigentümlichen Charakter der medizinischen Forschung das primäre Paradigma von Wissenschaft blieb, an dem er seinem Begriffhchkeit weiter entwickelte. Fleck verdient damit nicht nur unser i Interesse als Innovator, der eine uns nunmehr schon vertrautere Aufras- ; sung der Wissenschaft antizipiert hat, sondern seine Schriften dokumen- | tieren zugleich eine aufschlußreiche Verbindung von wissenschaftlichem j und philosophischem Denken, von einzelwissenschaftlicher Analyse und [ allgemeiner Wissenschaftstheorie. \- Ebenfalls von Lothar Schäfer und Thomas Schnelle eingeleitet und her- ! , ausgegeben liegt seit 1980 auch Flecks Hauptwerk im Suhrkamp Verlag \ vor: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache (ge- '■■ - , bunden und als stw 312). Stlrlfkämp Ludwik Fleck, »Zur Frage der Grundlagen der medizinischen Eri kermtnis«, in: Klinische Wochenschrift 14:35 :n5j259 (19^ jb). Ludwik Fleck, «Zur Krise der »Wirklichkeit-«, in: Die Natur-wissend schaften 17:23 :Ai 5-430 (1929b). (In diesem Band S. 46, Hrsg.) Der Mangel an mathematischer Bildung gibt sich durch nichts so auffallend zu erkennen, wie durch maßlose Schärfe im Zahlenrechne« (Gauß). Schauen, sehen, wissen* Viele irrige Meinungen zerstreut die Psychologie des Wahrnehmens und die Soziologie des Denkern Um zu sehen, muß man zuerst wissen Wir blicken von nahem auf die erste Abbildung. Was sehen wir? Aus dem schwarzen Hintergrund tritt das Bild einer grauen, gekräuselten Fläche hervor. Einige Stellen sehen wie unebene Falten aus, andere wie dichtliegende Warzen, eine Stelle erinnert an Wellen einer trüben Flüssigkeit, andere an Rauchschwaden (vielleicht weil das Bild an dieser seitlichen Stelle unscharf ist). Es gibt eine Stelle ähnlich eines krausen Fells, aber ein Fell ist das nicht, weil keine Haare zu sehen sind. Was ist das also? Die Haut einer Kröte unter der Lupe oder Fragment aus einer Kultur jenes berühmten Pilzes, dem wir Penizillin verdanken? Vielleicht ist es eine Nahaufnahme des Nackens eines alten Gebirglers? * (»Patrzec, widziec, wiedziec«, Problemy, vol. 2, S. 74-84, 1947). Ubersetzt von Thomas Schnelle. 147 Nein, das ist eine hervorragende Photographie einer Wolke von der Art der durch die Meteorologen bekannten Zirrokumulus, Wir blicken jetzt ein zweites Mal auf diese Abbildung, aber indem wir uns von ihr fernhalten. Wenn wir schon wissen, was das ist und wie man darauf schauen muß, sehen wir sofort die ungeheure Tiefe des Himmels, die große bauschige Wolke, deren veränderliche Struktur, im einzelnen an begrenzten Steilen unwichtig, als Ganzheit an einen Schafpelz erinnert. Um zu sehen, muß man wissen, was wesentlich und was unwesentlich ist, muß man den Hintergrund vom Bild unterscheiden können, muß man darüber orientiert sein, 2u was für einer Kategorie der Gegenstand gehört. Sonst schauen wir, aber wir sehen nicht, vergebens starren wir auf die allzu zahlreichen Einzelheiten, wir erfassen die betrachtete Gestalt nicht als bestimmte Ganzheit. So ist es nicht nur unter den künstlichen Bedingungen des Experiments, das wir gerade durchgeführt haben, sondern bei jeder, der einfachsten und der kompliziertesten Wahrnehmung. Ein Passant, der auf irgendeinen Vorfall auf der Straße schaut, eine Person, die sich ein Kunstwerk im Museum anschaut, ein Gelchr- \ ter, der irgendein naturwissenschaftliches Phänomen untersucht, - ein Soziologe, der den Erscheinungen des sozialen Lebens nach-* ssürt, ein Arzt, der einen Kranken beobachtet, ein Bauer auf dem \ Feld, ein Handwerker in der Werkstatt - alle müssen lernen» die \ mehr oder weniger komplexen Gestalten unserer Welt 2u sehen.. Ein sehr wichtiger Umstand ist, daß wir mit dem Erwachen der ■ Bereitschaft, bestimmte Gestalten wahrzunehmen, die Fähigkeit ; verlieren, andere wahrzunehmen. In demselben Museum sieht ein Künstler etwas völlig anderes als ein dort Dienst tuender Detek-f tiv. Man kann diese beiden Welten nicht gleichzeitig sehen, weil ' die Beobachtungen des Künstlers eine Stimmung verlangen, die f: verschwindet, wenn man sich auf die Bereitschaft zu polizeilichen i Beobachtungen umstellt, und umgekehrt. In einer Menschen-r menge macht ein Arzt völlig andere Beobachtungen als z. B. eine f Modepuppe. Also kann man in derselben Menge von Elementen I verschiedene Gestalten wahrnehmen. i Die Psychologie lehrt, daß jede Wahrnehmung vor allem das l Sehen irgendwelcher Ganzheiten ist, man aber ihre Elemente erst ! danach sieht. Manchmal können sie sogar unerkannt bleiben. Ei-j nen bekannten Menschen oder eine bekannte Blume erkennen wir I auf den ersten Blick, oft hingegen sind wir im allgemeinen nicht i imstande, die von den anderen unterscheidenden Merkmale anzu-I geben. Wir sehen sofort, daß jemand heute einen traurigen Aus-[ druck hat, aber wir sind nicht imstande, zu sagen, welches Detail seiner Gesichtszüge sich verändert hat. Wir sehen, daß sich das allgemeine Aussehen irgendeines Zimmers geändert hat, aber wir I wissen nicht, welche Möbel umgestellt wurden. Noch mehr: I Trotz vieler verschiedener Einzelheiten kann eine identische Gestak als spezifische Ganzheit entstehen: z.B. erscheinen einem ! Europäer alle Chinesen gleich, obwohl sie mit Sicherheit individuelle Unterschiede besitzen. Das Wort «Vater«, ausgesprochen j von der piepsigen Stimme eines Kindes und vom Säuferbaß eines I Seemannes, braucht nicht einen einzigen gemeinsamen Ton zu j haben, ist aber trotzdem dasselbe Wort. Eben genau solche Ganzheiten, die sich den sinnlichen Wahr-' nehmungen direkt aufdrängen, in hohem Maße unabhängig von ihren Bestandteilen, nennt die Psychologie »Gestalten«, unabhängig vom Sinn, der sie vermittelt. Also kann es visuelle Gestalten \ geben, z. B. ein Kreuz, ein Buchstabe, eine Ziffer, oder auditive, I z. B. eine bestimmte Melodie, ein Wort, oder Geruchsgestalten, 149 z. B. der Geruch von Gewürzläden, der Geruch von Bahnhofen. Die Frage des Gestaltsehens ist am besten am Sehen eines Buchstabens zu betrachten. Der lateinische Buchstabe A kann eine sehr unterschiedliche Gestalt haben, d. h. trotz der Änderung vieler Einzelheiten hört er nicht auf, der Buchstabe A zu sein. Wir sagen, daß man die Gestalt transponieren kann, siehe Abb. 2-S. Ahnlich kann man eine Melodie in verschiedenen Tonarten abspielen, selbst so, daß sich alle Töne geändert haben, und dennoch bleibt die Melodie dieselbe. Grundsätzlich setzt sich der Buchstabe A aus zwei Schenkeln, die oben zusammenlaufen, und einem Querstrich zusammen. Das sind die Hauptmerkmale. Die Schenkel können von gleicher oder verschiedener Länge sein, können gerade oder krumm sein (Nebenmerkmale) - aber sie müssen oben zusammenlaufen oder fast zusammenlaufen. Sonst geht das A in H über (konkurrierende Gestalt). Wenn die Tendenz der Schenkel zusammenzulaufen durch ihre Neigung zueinander angezeigt ist, ruiniert eine nicht allzugroße Abbildung 2 Lücke die Gestalt nicht: Wir vervollständigen sie unwillkürlich. Genauso ruinieren auch unnötige Zusätze in gewissen Grenzen die Gestalt nicht: Wir abstrahieren von ihnen, ergänzen die Gestalt im negativen Sinne. Der Querstrich kann in verschiedener Höhe der Schenkel sein, aber keinesfalls in jeder: Wenn er das untere Ende der Schenkel erreicht, verändert sich das A in ein Dreieck. Wenn er das obere Ende erreicht, hon der Querstrich AAAAA Abbildung 3 auf, Querstrich zu sein, weil er nicht quer zu den Schenkeln läuft und die Gestalt ruiniert, obgleich keine neue bekannte Gestalt 150 I entstanden ist. Wenn die Schenkel krumme Linien darstellen, j dann muß der Querstrich für das sich nach oben erweiternde A I hoch oben liegen. Unten gezeichnet ruiniert er die Gestalt, obwohl er keine andere bekannte Gestalt erzeugt. Im sich nach oben verengenden A kann der Querstrich hingegen ohne Schaden für die Gestalt tief liegen. Abbildung 4 Jede Gestalt besitzt nicht nur positive Merkmale, sondern auch negative, nämlich das Fehlen von gewissen für eine konkurrierende Gestalt Hauptmerkmalen; das A wagt nicht, unten am rechten Schenkel einen kleinen Haken zu haben, weil es sich für unsere Augen in ein A1 verändert. Bereits eine kleine Verdickung im Buchstaben L verändert ihn in ein t oder Y. Ein O verändert sich durch ein minimales Aufbiegen oben in eine 6. Abbildung 5 Das Fehlen dieser Aufbiegung ist Hauptmerkmal, auf das wir sorgfältig, wenn auch unbewußt achten. Die Gestalt »Schlitten« kann eine sehr unterschiedliche Gestalt und sehr viele zusätzliche Einzelheiten haben, aber sie kann keine Räder haben, weil sie so Gestalt eines Wagens wird. Eine Wüste kann sehr mannigfaltiges Aussehen und viele verschiedene Einzelheiten haben, es aber nicht wagen, Bäume zu haben. Also muß man, um eine Gestalt herauszukönnen, ebenso die konkurrierenden Gestalten kennen. Aber die Grenzen möglicher Transpositionen sind nicht nur durch die Merkmale konkurrierender Gestalten abgesteckt, sondern gewisse Grenzen sind ebenso durch den charakteristischen Stil der Gestalt selbst diktiert, z. B. jenes ausgebauchte A mit dem Quer- 151 strich unten oder das A mit dem Querstrich am Gipfel. Im Buchstaben E kann es der mittlere Strich nicht wagen, länger als der untere oder obere zu sein, aber er kann kürzer sein3 (siehe Abb. y), im Buchstaben B kann der untere Bogen größer als der obere sein, es aber nicht wagen, kleiner zu sein usw. Zahlreiche Veränderung Abbildung 7 gen von Nebenmerkmalen, von denen jede für sich unschuldig ist, zerstören, zusammen ausgeführt, die Gestalten ebenso. Die Transposition von Gestalten zeigt also spezifische Gesetze auf, und man muß - wenn man sie nicht klar kennt - diese Gesetze zumindest herausfühlen. Die Kenntnis einer Gestalt schafft die Disposition, sie wahrzunehmen (Wahrnehmungsbereitschaft), deren Stärke bei verschiedenen Menschen verschieden ist, abhängig unter anderem vom Ausbildungsgrad auf diesem Gebiet. Wenn eine Gestalt in der Umgebung einer konkurrierenden Gestalt auftritt (Kontext), vergrößert sich die Disposition und wir erkennen die Gestalt leichter heraus, der Bereich möglicher Dispositionen ist größer, Lücken vervollständigen wir leichter (siehe Abb. 8). Der Kontext wird zur übergeordneten Gestalt, die die Bereitschaft vergrößert, die untergeordneten Gestalten zu sehen, er kann jedoch zu einer so übermäßigen Bereitschaft führen, daß wir nicht existierende Einzelheiten der untergeordneten Gestalten oder sogar ganze fehlende untergeordnete Gestalten vervollständigen. Dann konkurriert die übergeordnete Gestalt mit der unter- 152 Abbildung 8 geordneten: Wir sehen das Wort, die Buchstaben sehen wir nicht. Darum wissen Druckkorrektoren, die sich darauf konzentrieren, Buchstaben und nur bestimmte Merkmale der Worte zu sehen, die die Bereitschaft zum Sehen von Buchstaben steigern. Aber das sind bereits kompliziertere Fragen, denn es ist z. B. schwieriger, einen fremdsprachigen Text zu korrigieren, in denen die Worte keine bekannten Gestalten bilden, obgleich ein Korrektor sich selbst in der Muttersprache grundsätzlich nicht darum bemüht, die Worte vollkommen zu identifizieren. In jedem Fall muß man, um zu sehen, zuerst wissen, welches die Hauptmerkmale einer Gestalt sind und daß der Rest unwichtig ist. Welches konkurrierende Gestalten sind, also was negative Merkmale der betrachteten Gestalt sind, was die Möglichkeiten zur Transposition sind. Um eine seltene Gestalt zu sehen, muß man wissen, zu was für einem Kontext sie gehört. Aber die Sache ist merkwürdig: Wenn wir schon lernen, eine Gestalt zu sehen, können wir - und »sollen« wir sogar - einen großen Teil des Wissens vergessen. Man muß kennen, wissen braucht man nicht mehr. Ein Kind, das das Alphabet lernt, erobert mühsam das Wissen, von dem der Erwachsene einen großen Teil vergessen muß. Wir vergessen, daß es der obere Bogen des Buchstaben B nicht wagt, größer als der untere zu sein, der untere es aber kann, daß der mittlere Strich des E es nicht wagt, länger als der untere zu sein usw. Wir entwickeln uns die Schrift in verschiedenen Situationen, indem wir sie mit der Schrift anderer Menschen vergleichen, Mißverständnisse und Konflikte vermeiden. Wir schreiben, wobei wir die Grundsätze der Kalligraphie vergessen, wir erkennen den Buchstaben in der vollen Skala seiner Transpositionsmöglichkeiten sofort, ohne Analyse der Einzelhei- rS3 ten, ohne aktuell um sie zu wissen. Aus dem mühsamen Wissen ist durch häufiges Verwenden die Fähigkeit und unmittelbare Bereitschaft entstanden, den Buchstaben wahrzunehmen, die sich sofort einstellt, wenn sie die Situation erweckt. Eigentlich sehen wir erst, wenn die Gestalt als Ganzheit, vollendet, Element weiterer übergeordneter Gestalten wird, sobald wir ihre Elemente und Struktur zumindest zum großen Teil vergessen. Sonst verschleiern uns die Bäume den Wald, erlauben uns die Silben nicht, Worte und Sätze zu erkennen. Um zu sehen, muß man zuerst wissen, und dann kennen und einen gewissen Teil des Wissens vergessen. Man muß eine gerichtete Bereitschaft zum Sehen besitzen. Ii';. ' Wir schauen mit den eigenen Augen, wir sehen mit den Augen des Kollektivs Wir gehen durch die Welt und sehen keinesfalls Punkte, Kreise, Kanten, Lichter oder Schatten, aus denen wir durch Synthese oder Schlußfolgerung zusammensetzen, »was das ist«, sondern sehen das Haus sofort, das Denkmal auf dem Platz, die Abteilung Soldaten, die Auslage von Büchern, die Schar von Kindern, die Dame mit dem Hund: lauter vollendete Gestalten. Abbildung 9 \ Es gibt deutlichere Gestalten, z. B. ein Haus, eine Abteilung J Soldaten, und weniger deutliche, z. B. »eine Dame mit Hund«. Ist 1 das eine Ganzheit, eine eigene Gestalt? Eine gewisse Verbunden-I heit beider Elemente dieses Paares besteht unzweifelhaft bereits 3 allein in der Existenz der Leine oder darin, daß der Hund um sein I Frauchen herumläuft, aber diese Verbundenheit ist schwach und j obwohl wir sofort »die Dame mit dem Hund« und nicht »die Dame« und »den Hund« sahen - diese Ganzheit ist dennoch so wenig deutlich, daß sie ihre Bestandteile bedeutend weniger zudeckt als z. B. »eine Heeresabteilung«, in der wir die einzelnen Soldaten einfach nicht unterscheiden. Ein Jäger mit einem Hund bildete für den Aufgeklärten eine unzweifelhaft deutlichere Ganzheit, weil sie gerade als »Garnitur« eine gewisse kollektiv ausge-l führte Tätigkeit vorstellt. Eine Tätigkeit, über die wir viel wissen ! und wovon unsere Bereitschaft herrührt, diese ganzheitliche Ge^ i stalt zu sehen. Ein Reiter auf einem Pferd, besonders ein Kavalle-! rist in Uniform oder ein Jockei in der charakteristischen Klei-! dung, geben aus demselben Grund eine bereits sehr deutliche Abbildung 10 Gestalt. Wenn wir einen Jockei ohne Pferd sehen, kann es uns scheinen, daß dies nur ein Teil ist, daß etwas fehlt. Ein Reiter - das ist eine sehr bekannte Gestalt, die man oftmals gesehen hat und über die man vor allem so viel gelesen und gehört hat, daß die Bereitschaft, diese Gestalt zu sehen, sehr stark ist. Es ist klar, daß die Deutlichkeit einer Gestalt, obwohl die Augen des Individuums diese Gestalt anschauen, in diesen fällen aus außerhalb des Individuums liegenden Quellen herrührt; aus der Meinung der J54 Allgemeinheit, aus der verbreiteten Denkgewohnheit. Die Gestalt ist nicht aus »objektiven physikalischen Elementen« aufgebaut, sondern aus kulturellen und historischen Motiven. Ein Bleistift und ein Notizheft bilden, wenn sie einfach nebeneinander liegen, keine Ganzheit: Wir sehen beide Elemente getrennt (siehe Abb. 11). Aber ein Notizheft im Taschenformat mit Abbildung u einem Bleistift in der entsprechend angebrachten Schlupfhülle -das ist eine deutliche Gestalt. Sie hat ihren Namen, Tradition, Sinn - sie ist Gestalt aus dem Volkswissen heraus. Überlegen wir einen Augenblick: Buchstaben, Ziffern, Worte -sind unzweifelhaft Gestalten, geschaffen durch das Kollektiv. Aber z. B. ein Haus? Ein »Haus«, das ist eine sehr deutliche Gestalt mit einer großen Skala möglicher Transpositionen, die bei uns mit solchen Gestalten konkurrieren wie einer Hütte, einem Schloß, einer Villa, einer Kirche, einem Schuppen usw. Die Hauptmerkmale der Gestalt »Haus« sind: ein Würfel entsprechender Größe mit Frontwand, Fenstern und Haustor; ein Dach mußte bis vor kurzem da sein, heute kann es nicht sichtbar sein. Notwendig ist auch die Annahme, daß sich in dem Objekt Menschen aufhalten oder aufhalten können, sonst könnten das Thea-terkuhssen sein. Negative Merkmale: das Fehlen eines Turms, denn wir haben ein Schloß gesehen, das Fehlen von eine Kirche oder eine Villa kennzeichnenden Merkmalen usw. Es ist klar, daß nur ein Mensch aus unserer Gesellschaft ein »Haus« sieht, d. h. diese Gestalt in der ganzen Skala seiner möglichen Transpositionen herauserkennt. Heute ist eine Situation möglich, in der ein Bewohner Warschaus ein Haus sieht, aber ein Bewohner New Yorks eine Ruine, einen Haufen Schutt. Es gibt Situationen, in 156 Jenen ein Bewohner Warschaus eine Allee sieht, aber ein Bewohner aus Kuhdorf eine Reihe kleiner, streng geschnittener kleiner Garten, verschiedene Fußpfade und Wege, eine Reihe von Häusern, ein paar Ruinen, einige Kioske und starker Verkehr von: Wagen, Autos und Menschen - aber wo ist diese Allee? Den überwiegenden Teil unserer Gestalten (obwohl wahrscheinlich nicht alle) hat die Umgebung geschaffen, die Sprachgewohnheit, die Meinung der Allgemeinheit, die Tradition. Sie dressieren uns auf eine gewisse Ganzheit; Das Kollektiv gibt die Sanktion, gewisse Ganzheiten aus einem Komplex gewisser Elemente abzusondern. Es schafft einen Begriff von gewissem Inhalt und gewissem Bereich, und dieser Begriff realisiert sich, wird Körper, Gestalt mit gewissen Merkmalen und gewissem Bereich an Transpositionen. Und wer Mitglied des Kollektivs ist, sieht sie. Es gab Zeiten, in denen man Hexen sah, sie sofort erkannt haben soll, eventuell am satanischen Ausdruck der Augen, am teuflischen Grinsen, wenn sie für einen Augenblick aufhörten, sich zu maskieren. Eine solche Gestalt schuf das damalige Kollektiv. Wir Heutigen sehen sofort einen Bahnhof, eine Gestalt, die der Urmensch nicht sehen konnte: Er würde auf unzähliges Eisen in verwirrenden Leisten schauen, befestigt auf der Erde, auf Häuschen auf Rädern, auf ein keuchendes Ungeheuer, aus dem Feuer und Rauch herausschlägt, und er sähe wahrscheinlich seine Gestalten: einen Drachen, einen Teufel, wer weiß schließlich, was er sähe, aber nicht unsere Gestalt Bahn. Wir schauen mit den eigenen Augen, aber wir sehen mit den Augen des Kollektivs Gestalten, deren Sinn und Bereich zulässiger Transpositionen das Kollektiv geschaffen hat. Wir sind geneigt, sie zu vervollständigen, im positiven und negativen Sinn, d. h. wir sehen nicht, daß gewisse Elemente fehlen, und wir erblinden gegenüber überflüssigen Zusätzen. Wir sehen nacheinander die übergeordneten Gestalten, wir hören auf, zu sehen, aus welchen Bestandgestalten sie entstehen. Wir lernen wechselseitig, die Gestalten einer bestimmten Art zu sehen (z. B. verschiedene metereologische Phänomene wie Gewitter, Stille), es entsteht eine gerichtete Bereitschaft mit spezifischen Merkmaien: es entwickelt sich ein gemeinsamer Stil des Denkens, z. B. der Denkstil des Matrosen. Nachahmung, Propaganda, gegenseitiges Ergänzen in kollektiven Tätigkeiten (also die Notwendigkeit, sich zu verständigen), Ehrfurcht für gemeinsame Ideale verstärken und konkre- 157 1 3 tisieren diesen Stil. Wenn durch den historischen Verlauf der Umstände zwei Kollektive zusammentreffen, die längere Zeit voneinander isoliert waren, erscheinen die Mitglieder einander als Wahnsinnige oder Lügner: »Wie kann man Rassen nicht sehen?« ■ - »Wie kann man Klassen nicht sehen?« ■- »Wie kann man nicht i die schlechten und guten Geister sehen, die an jeder Ecke erschei-j nen?« - »Wie kann man nicht die Gesetze der Natur sehen, die in ! jedem Phänomen erscheinen?« I Wie verhalten wir uns, wenn wir uns zum ersten Male gegenüber I einem uns unbekannten Gegenstand finden? So, wie ein Kind i gegenüber einem verschmierten Klecks. Es sieht in ihm den Flügel I eines Vogels, die Blätter eines Baumes, eine Blume, zwei zusam- ■ mengewachsene Pferde, einen Engel, mit einem Wort, anderswoher bekannte Gestalten. Diese Gestalten verdrängen sich gegenseitig, verschwinden, machen einander Platz, verändern sich, oszillieren. Das ist eine sehr interessante Angelegenheit, und man kann das Entstehen spezifischer Gestalten genau verfolgen, wenn man z. B. die Abbildungen und Beschreibungen der ersten Anatomen untersucht. Abb. 13 stellt eine anatomische Figur aus dem 15. Jahr- Abb'ddung 13: So sah der Autor des ij. Jahrhunderts das Innere des Menschen. T*9 hundert vor. Ihr Verfasser konnte die charakteristische Gestalt nicht sehen, die durch die Anordnung der Därme in der Bauchhöhle gebildet wird, eine heute jedem durchschnittlich Gebildeten bekannte Gestalt. Er sah nicht die charakteristischen Verwicklungen, sondern die »Verwickeltheit allgemein«, und in den oszillierenden Klecks stellte er die ihm bekannte, sich am stärksten aufdrängende Gestalt hinein: j Schnecken. Ersah sie im Bauch sofort mit völliger Gewißheit. Die Rippen, den Brustkorb sah er nicht als die 12 charakteristisch gekrümmten Linien, sondern als »Geripptheit allgemein«, und er zeichnete 17 parallele Striche, weil er diese Gestalt »Geripptheit« und nicht 12 Rippen sah. In den frühen Beschreibungen der Organe, z. B. der Knochen, finden wir eine Vielzahl von Vergleichen mit verschiedenen bekannten Gestalten: mit dem Schnabel eines Vogels, einem Pflug, einem Sieb, einem Hammer, einem Schwert, einem Steigbügel, dem Buchstaben S usw. Diese Vergleiche haben sich in den Namen erhalten: Rabenschnabelfortsatz, Siebbein, Pflugscharbein usw. Oft wurden mehrere Ähnlichkeiten angegeben und wir Finden einen längeren Streit darüber, welche Gestalt der Form des gegebenen Organs mehr entspricht. Während dieses Streits, in wirklich kollektiver Arbeit, bildete sich eine neue Gestalt, d. h. entstand eine Entdeckung. Die Anatomen lernten, die charakteristischen Organe zu sehen, nicht anders als die Kinder lernen, Buchstaben zu sehen. Im 19. Jahrhundert entdeckte man unter dem Mikroskop eine ganz neue Welt. Wenn es um die Form einzelner Zellen, um Mikroorganismen geht, ist das Vergleichen leicht, weil sie an einfache Gestalten der Geometrie erinnern: Stäbchen, Kügelchen, Spiralen. Aber wenn es um die Beschreibung von Gruppengestalten, einer spezifischen Struktur geht, die aus der Fortpflanzung der Bakterien folgt, ist die Angelegenheit viel schwieriger, weil man lernen müßte, Gestalten zu sehen, die sich sehr von den im Alltag angetroffenen unterscheiden. Wir können verfolgen, wie die Bilder anfangs oszillierten, wie man verschiedene phantastische, sich verdrängende Gestalten aus dem Alltag sah, wie sich ein Bild festigte, die Anzahl der Vergleiche beinahe von Jahr zu Jahr, von Autor zu Autor abnahm und wie sich inmitten der Diskussionen und gegenseitigen Korrekturen eine neue festgelegte Gestalt erhob, so deutlich, daß sie selbst zur durch das Kollektiv sanktionierten Schablone wurde, der man sich nachfolgend beim Sehen 160 j \ der der Reihe nach auftauchenden neuen Gestalten bedient. Die I Rolle des kollektiven Lebens, d. h. des Kollektivs, ist klar. Aus k dem Vorrat traditioneller, allgemein anerkannter Gestalten l schöpfen wir vor allem jene sich gegenseitig verdrängenden Ähn-I lichkeiten, danach formt das kollektive Leben aus diesen oszillie-j renden Möglichkeiten eine bestimmte neue Gestalt, festigt sie und [ zwingt sie dem Individuum auf. Kollektive Erfahrung und Ge-I wohnheit bestimmen, was Hauptmerkmal ist und was verändert werden kann und wie weit diese Veränderbarkeit gehen kann. Soziologische Kräfte schaffen jene Wahrnehmungsbereitschaft, über die wir oben sprachen. Jedem Menschen prägt sich eine wenig abweichende Gestalt ein, und die Reichweite dieser Andersartigkeit bestimmt die ganze Weite möglicher Transpositionen. j. Das Ablesen der Stellung von Zeigern 1 Aber nicht alle geben zu, daß praktisch jedes Sehen Gestaltsehen ■! ist und praktisch jede Gestalt durch das kollektive Leben und den ' kollektiven Stil des Denkens bestimmt ist. Viele Repräsentanten der exakten Wissenschaften, die sich noch des Denkstils der klassischen Physik bedienen, behaupten, daß das sogenannte »objektive Beobachten« einer isolierten, elementaren Tatsache möglich ist, unabhängig von der psychologisch oder soziologisch bedingten Bereitschaft, mehr oder weniger »subjektive Gestalten« zu ; sehen. Daß man mit Hilfe entsprechender Apparate völlig unabhängig von unserem Denksti] die Phänomene der »äußeren Welt« messen kann. Daß man eine beobachtete Figur beschreiben kann, ohne daß man sie mit aus seinem Vorrat ausgewählten Gestalten vergleicht, indem man einfach Punkt für Punkt ihre gleichgestellten Konturen in willkürlicher, egal welcher, konventioneller Anordnung untersucht. Ein Amerikaner sieht einen Haufen Schutt, ein Warschauer ein Haus. Der Physiker jedoch bestimmt mit Hilfe von Apparaten die Lage und Länge jedes Ziegels und bildet ; eine Ganzheit nach, die weder »Gestalt eines Hauses« noch »Gestalt eines Haufens Schutt« ist, sondern objektive Beschreibung der Beobachtung, eine Karte der von uns unabhängigen Gegenstände. In diesen Auffassungen einiger Physiker steckt eine ganze Masse 161 Abbildung 14 an Täuschungen und Mißverständnissen, charakteristisch für ihren Denkstil. Vor allem ist es unmöglich, den Gegenstand der Beobachtung unabhängig vom Denkstil abzusondern. Es steht unser Physiker (siehe Abb. 15} mit seinen Apparaten vor einem Haus - einem Haufen Schutt. An welcher Stelle fängt er an? Ringsum liegen einzelne Ziegel, ihre Bruchstücke, Abfälle, Mörtelstaub, Sand. All das reicht bis außerhalb des Baums, der auf dem früheren Bürgersteig wächst. Es gibt keine scharfe Grenze, sie muß der Physiker künstlich festsetzen, er muß auch entscheiden, ob dieser Baum und ob diese Krähe, die gerade auf dem Schutt sitzt, zu dem gehören, was er objektiv auszumessen hat oder auch nicht? Es ist unmöglich, den Gegenstand der Beobachtung abzusondern, ohne nicht bereits im voraus bestimmte seiner Merkmale vorauszusetzen. Dies geben einige moderne Physiker zu, z. B. 162 I Bohr: »Überhaupt enthält der Begriff der Beobachtung eine Willkür, indem er wesentlich darauf beruht, welche Gegenstände mit i zu dem zu beobachtenden System gerechnet werden.« Aber sie sehen nicht, daß jene scheinbare Willkür ein Muß ist, aufgezwun- I gen durch den spezifischen Stil des Denkens: Der Physiker steht vor diesem Haufen wie ein Kind vor einem Klecks, und bereits im voraus sieht er in ihm Engel und Blumen seines wissenschaftlichen Stils. Unmöglich ist es, irgendein Element abzusondern, unabhängig vom traditionellen Stil des Denkens, geschaffen durch die Gesellschaft, zu der man gehört. Denn selbst der Prozeß der Analyse und des Isolierens der Elemente unterscheidet sich in nichts vom Prozeß, aus den zerlegten Teilen früherer neue Gestalten zu schaffen. Grundsätzlich beruht er darauf, daß beim Übergang von früheren Gestalten aufs neue die Anzahl negativer Merkmale wächst und die Anzahl positiver Merkmale abnimmt. Nacheinander nimmt der Physiker Steine, Ziegel, Bruchstücke und wiegt eines nach dem anderen, um sie objektiv zu klassifizieren und die Ziffern an den entsprechenden Stellen der Karte anzubringen. Das scheint eine einfache Tätigkeit, und es ist heute 163 beinahe so, daß dies allen Menschen europäischer Kultur klar ist. Man muß jedoch wissen, daß das Gewicht in der heutigen populärphysischen Bedeutung ein verhältnismäßig junger Begriff ist. Man kannte ihn zwar teilweise bereits in der Antike {Aristoteles unterschied schwere und leichte Körper), aber noch im 18. und selbst im 19. Jahrhundert hielten viele gebildete Menschen daran fest, daß z. B. eine Leiche bedeutend schwerer ist, als es der Mensch im Leben war. Denn sie ist schwerer hochzuheben, weil sie »aus den Händen fällt«. Ebenfalls ist ein hungriger Mensch schwerer als ein satter (wenn nur nicht übermäßig). Ihm ist es »schwer«, sich zu bewegen. Daß Trauer einen Menschen schwerer macht, und Fröhlichkeit leichter. In den heutigen übertragenen Anwendungen des Wortes »schwer« (schweres Los, schwere Aufgabe, schwerer Weg) ist diese Bestimmung der Schwere noch enthalten. Wenn der Physiker eine Waage verwendet, dann bedeutet das, daß das Kollektiv der Physiker mit dem Verlauf der Geschichte aus der Gemeinschaft der Phänomene, Eindrücke, Begriffe und früheren Anschauungen gewisse Elemente isoliert und zu einer konsequenten Ganzheit ausgebaut hat, wobei es den Rest verwarf. Einen Apparat zu verwenden, ist immer Ausdruck eines gewissen, bereits entwickelten Stils des Denkens. Es wäre nicht leicht, einem Menschen, der sich nicht zumindest zum Teil des physikalischen Denkstils bedient, davon zu überzeugen, daß das Wiegen auf unseren Waagen eine Maßnahme ist, die irgendeinen Zusammenhang mit der »Schwere« hat, oder davon, daß es selbst die »Schwere« nicht beeinflußt. Der wissenschaftliche Apparat lenkt das Denken auf die Gleise des Denkstiis der Wissenschaft: Er erzeugt die Bereitschaft, bestimmte Gestalten zu sehen, wobei er gleichzeitig die Möglichkeit, andere zu sehen, beseitigt. Eine Analogie zwischen dem Tragen eines schweren Steins und dem Tragen einer schweren Trauer gibt es nicht und kann es für den Physiker nicht geben, oder genauer gesagt, für den physikalischen Stil des Denk ens. Ähnlich gibt es für den Physiker keine Analogie zwischen hohen Tönen und gelber Farbe einerseits und tiefen Tönen und blauer Farbe andererseits, obwohl die Psychologie behauptet, daß sie fast alle Menschen unmittelbar herausfühlen. Denn die Physik stützt sich nicht auf die Analyse jedweder die Menschen bindender, regelmäßiger sinnlicher Äußerungen und der Konstruktion der Welt aus den aufgefundenen grundlegenden allge- 164 meinen Elementen, sondern ist ein durch die historische Entwicklung des Denkstils eines ganzen Kollektivs gegebenes System, das durch Jahrhunderte den Zusammenhalt seiner Mitglieder erhält. Weil die Physiker auch an anderen Erscheinungen des kollektiven ! Lebens ihrer Epoche teilnehmen, ist es also nichts Sonderbares, daß ihre »objektiven« Anschauungen in jeder Epoche für das in-I teüektuelle Leben der gegebenen Epoche charakteristische Merkmale enthatten, was Schrödinger mit Erstaunen unterstreicht. Heute beherrschen z. B. Statistik und Wahrscheinlichkeitsrech-I nung die Physik, Biologie, Immunologie, Ökonomie, Soziologie usw., weil die intellektuelle Mode so ist. Unlängst war die Zeit, in der alle Wissenschaften und die Technik unter dem Zeichen der Mechanik standen. Kehren wir zu unserem Physiker und zu unserem Haufen Schutt zurück. Er müßte unendlich viele Messungen machen, denn er müßte jedes Staubkorn und jeden Punkt einzeln ausmessen. Das ist offensichtlich unmöglich. Auf seiner Karte bestimmt der Phy-! siker nur »Hauptpunkte, und den Rest füllt er aus, indem er sich j irgendeines allgemeinen Prinzips bedient. Woher kann man wis-I sen, welche Punkte die hauptsächlichen sind und welches Prinzip ! anzuwenden ist? Erneut nur auf der Grundlage eines bestimmten Denkstiis und auf der Grundlage eines ganzen Vorrats an Wissen, das im gegebenen Moment zur Disposition steht. Für jedes Phä-! nomen wären genaugenommen unendlich viele Messungen erfor-I derlich, wenn wir nicht im vorhinein Regeln zum Interpolieren der Werte zwischen Messungen annehmen: Die allgemeine Anschauung, übertragen durch die Tradition, nimmt an jeder neuen Beobachtung teil. Auf diese Weise entscheiden frühere Entdek-1 kungen über das aktuelle Ergebnis der Beobachtung und bedingen ! auch die zukünftigen Entdeckungen. Die Reihenfolge der Entdeckungen und Irrtümer beeinflußt den Inhalt der Wissenschaft deutlich. i »Der Physiker bezieht sich eher auf den Zusammenhang zwi-! sehen den abgelesenen Zeigerstellungen als auf die Stellungen, selbst«, schreibt Eddington, aber auch er sieht nicht, daß diese Zusammenhänge durch den Denkzwang diktiert sind, aufgezwungen durch das Kollektiv, und daß sie untersuchbar sind, deshalb kommt er zu religiöser Mystik, d. h. zu nicht untersuchbaren Faktoren, also zur Kapitulation. Schließlich ist für eine ideale Messung mit Hilfe von Instruments ten grundsätzlich notwendig, dieses Instrument vollständig von Nebeneinflüssen zu isolieren, und diese Aufgabe ist ebenfalls völlig undurchführbar. Wir müssen uns entscheiden, was für einen Grad an Isolation wir notwendigerweise als ausreichend anerkennen. Den Rest der Differenz vielmaliger Messungen nivellieren wir mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Wieviele einzelne Ausmessungen muß man machen? Ein Theoretiker antwortete, so viele wie möglich. Aber das ist unrealistisch, weil kein Apparat eine unendliche Zahl von Messungen durchhält und man damit rechnen muß, daß er über ein gewisses Gebrauchsmaximum hinaus kaputt geht, d. h. falsche Werte angeben wird. Auch steht kein Phänomen wie »beim Photographen« ruhig still und wartet unendlich lange, ohne sich zu verändern. Die Anzahl der Messungen muß also begrenzt sein, und wir machen das erneut auf der Grundlage der Gewohnheit, des ganzen Vorrats an individuellem und koliektivem Wissen usw. Welche Messungen sind als gelungen anzuerkennen, d. h. eine wie große Streuung ist zulässig? Ist zu fordern, daß der Unterschied zweier gemessener Größen den wahrscheinlichen Fehler einfach, doppelt oder dreifach übersteigt? Um auf diese Frage zu antworten, ist es notwendig, die Leistungsfähigkeit des Apparates, die Natur der Aufgabe selbst und das Ziel der Messung zu kennen. Erneut wirken also an jeder einzelnen Beobachtung der ganze Vorrat des Kollektivs an Wissen und dessen Gewohnheiten mit. Der Konstrukteur des Apparates, der Lieferant der Materialien, aus denen sie produziert wurde, sind bei jeder Messung gegenwärtig, ähnlich wie der Schöpfer der Begriffe bei jedem Gedanken der Messung. In jedem Fall ist eine Beobachtung also nicht das Zuordnen einer gewissen von uns unabhängigen Zahl zu irgendeinem beständigen, unabhängigen Element. Sie ist eher das Aufbauen eines Satzes des folgenden Typs: »Unter den Bedingungen der Messung beträgt die Wahrscheinlichkeit, daß das Gewicht des Körpers K die Grenzen von 5,32.587 g bis 5,32589 g nicht überschreitet, ungefähr 95%.« Was also haben wir gefunden? Eine komplizierte Konstruktion, eine ganze Theorie, die den Zusammenhang zwischen einer Reihe von Zahlen, der Gemeinschaft der teilweise sicher von uns unabhängigen Bedingungen, dem Stand unseres Wissens zum gegebenen Moment und einem gewissen, durch uns isolierten Element ausdrückt. Aus dieser Konstruktion kann man auf nichts von uns Unabhängiges schließen. Die Objektivität wissenschafthV 166 eher Beobachtungen beruht einzig auf ihren Bindungen mit dem ganzen Vorrat an Wissen, Erfahrung und traditionellen Gewohnheiten des wissenschaftlichen DenkkolSektivs: Das Ergebnis ist von den vorübergehenden Stimmungen des Individuums und seiner durch das Kollektiv des Alltags gegebenen Bereitschaft unabhängig, aber anstelle von durch den Stil des alltäglichen Denkens bedingten Gestalten schafft die Wissenschaft im besten Fall Konstruktionen, die durch den abgesonderten Stil des wissenschaftlichen Denkens bedingt sind. Bevor sie zu solchen Konstruktionen gelangt, schafft sie spezifische Gestalten wissenschaftlichen Wahrnehmens, wie z. B. eine bestimmte Gattung in der Zoologie, eine bestimmte Krankheit in der Pathologie, eine bestimmte Kraft der gestrigen Physik usw. Sobald sie dagegen ihre Konstruktionen entwickelt und vertieft, indem sie Übergeordnetes herstellt, das immer allgemeiner ist, vergrößert sie damit gleichzeitig die Abhängigkeit vom Denkstil des wissenschaftlichen Kollektivs. Sie gelangt schließlich zu den allgemeinsten Merkmalen des physikalischen Stils: zur Mathematik. Daher der Idealismus vieler Physiker und Jeans' »Gott - die Mathematik«. Nicht nur in der Atomphysik verwischen sich die Grenzen zwischen dem sogenannten Subjekt und dem sogenannten Gegenstand, wie Bohr feststellt. Eddingtons Prokrustesbett, in das der Physiker die Tatsachen zwängt, so daß wir uns nicht entscheiden können, ob die wissenschaftliche Tatsache »entdeckt« oder auch durch die Wissenschaft »gemacht« wurde, ist universelle Institution. Uberall dort, wo wir die Analyse tief genug treiben, gelangen wir zu Elementen des Wissens, die hartnäckigen Metaphysi-kern als in Beziehung zur Beobachtung apriorische Formen des Denkens oder als Intuition scheinen werden, aber sie gehen aus der gemeinschaftlichen Natur des Erkennens hervor und lassen sich mit den Methoden der Soziologie des Denkens untersuchen. Also ist auch die wissenschaftliche Beobachtung - Gestaltbeobachtung oder Konstruktionsbeobachtung - vom gemeinschaftlichen Denkstil abhängig. Im Alltag wie in der Wissenschaft dringe das Kollektiv als drittes Ding zwischen Subjekt und Objekt der früheren Wissenschaft vom Erkennen ein. l67 IV. '■. -Das Kollektiv als »das Dritte« Mit den sich aufzwingenden ganzheitlichen Gestalten, mit der verbreiteten allgemeinen Auffassung in einem Gebiet, mit der allgemein angenommenen Analyse der Elemente, mit der Technik, der Kunst und der Wissenschaft, mit der Alltagsgewohnheit, der Legende, der Religion, selbst bereits mit der benutzten Sprache -dringt das Kollektiv in den Prozeß des Schauens und Sehens, Denkens und Erkennens ein. Wenn jede Beobachtung, sei es eine alltäglich gemeine oder auch die genauest wissenschaftliche, ein Modellieren ist, dann liefert die Schablone das Kollektiv. Und eine andere Möglichkeit gibt es nicht. Das ist kein Skeptizismus. Anders wäre ein sich Verständigen und Zusammenleben der Menschen unmöglich. Der Prozeß des Erkennens ist nicht, wie es die individualistische Anschauung verkündet, zweigliedrig: Er spielt sich nicht ausschließlich zwischen irgendeinem abgetrennten »Subjekt« und irgendeinem ebenso absoluten »Gegenstand« ab. Das Kollektiv ist in diesen Prozeß als drittes Glied eingeschlossen, und es gibt keinen Weg, irgendeines dieser drei Glieder aus dem Prozeß des Erkennens auszuschließen: Alles Erkennen ist ein Prozeß zwischen dem Individuum, seinem Denkstil, der aus der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe folgt, und dem Objekt. Es hat keinen Sinn, über das erkennende Subjekt unabhängig vom Denkstil oder über einen Gegenstand unabhängig von beiden zu sprechen, genauso, wie man nicht über ein ohne Individuen bestehendes Kollektiv sprechen kann. Der Satz »Jan erkennt den Gegenstand C« ist unvollständig, genauso wie der Satz »dieses Buch ist großer«. Man muß sie vervollständigen: »Jan, als Teilnehmer an der Kultur K, oder Jan auf der Grundlage des Stils S, erkennt den Gegenstand C«, »dieses Buch ist größer als jenes«. Leicht zu bemerken ist, daß, wenn in einer Gruppe von Menschen ein lebhafter Gedankenaustausch stattfindet, in Kürze eine spezielle kollektive Stimmung entsteht, die bewirkt, daß die Menschen Sätze sagen, die sie in anderen Gruppen nicht gesagt hätten. Wenn eine solche Gemeinschaft lange genug andauert, wird eine deutliche soziale Struktur sichtbar: Gewisse Individuen beginnen voranzugehen, andere ordnen sich unter. Es entstehen Rivalität, 16S Ii A 4 4k El ff 1 1 t j a T«ntt» ftjn&tu* 3wt$at ■ i % <8r tt 3a*s «r ^v» As*. iwflKWP, ■»« 4B M* 5« sä« maww «Uotetvmw ww m . UW? Vir«.!» v».v ^»t«.»