Konzeptionelle Bemerkungen zum Obenbleiben: Adel im 19. Jahrhundert Author(s): Rudolf Braun Source: Geschichte und Gesellschaft. Sonderheft, Vol. 13, Europäischer Adel 1750–1950 (1990), pp. 87-95 Published by: Vandenhoeck & Ruprecht (GmbH & Co. KG) Stable URL: https://www.jstor.org/stable/40194823 Accessed: 14-11-2018 08:24 UTC JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact support@jstor.org. Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at https://about.jstor.org/terms Vandenhoeck & Ruprecht (GmbH & Co. KG) is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Geschichte und Gesellschaft. Sonderheft This content downloaded from 147.251.101.162 on Wed, 14 Nov 2018 08:24:46 UTC All use subject to https://about.jstor.org/terms Konzeptionelle Bemerkungen zum Obenbleiben: Adel im 19. Jahrhundert von Rudolf Braun Verschiedentlich wurde und wird die „tausendjährige Kontinuität" des Adels betont; * ich möchte im folgenden zwar nicht eine Diskontinuitätsthese vertreten, doch den permanenten Kampf des Adels ums Obenbleiben hervorheben - ein Kampf, bei dem es jeweils Verlierer und Gewinner sowie Positionsverschiebungen innerhalb des Adels gab. Ich möchte an die pointierte Formulierung von Rainer Lepsius erinnern: Das Phänomen Adel ist eine tausendjährige Abfolge von „Appropriations- und Depropriationsprozessen". Dazu zunächst einige Bemerkungen. Die Kernfrage, scheint mir, lautet: Welches sind die Bereiche, Medien und Strategien, um nach oben zu kommen und oben zu bleiben. Die Offensiv- und Defensivstrategien müssen den sich verändernden soziopolitischen, sozioökonomischen und soziokulturellen Strukturkonstellationen oder -konfigurationen angepaßt werden, wobei diese Strategien selbstverständlich auch auf den Wandel aktiv gestaltend Einfluß nehmen. Anpassungsfähigkeit, -möglichkeit und -bereitschaft entscheiden, wer bei den strukturellen Wandlungsprozessen zu den Gewinnern oder zu den Verlierern gehört, wer aufsteigt, obenbleibt oder absteigt. Zu den Strukturelementen, die in ihren kurz-, nütteloder langfristigen Veränderungen von Relevanz sind, gehören z. B.: Übergang von Personal- zur Territorialherrschaft; machtpolitische Positionsveränderungen durch Eroberung, Erbschaft, Verpfändung usw.; Urbanisierung; Veränderungen im Bereich der Staatsverwaltung, der Militärtechnik und -Organisation; langfristige demographische Zyklen und - damit korrespondierend - wirtschaftliche Zyklen, insbesondere Agrarpreiszyklen; ökonomische Positionsveränderungen z.B. durch die Verlagerung von Handelswegen, neuen Handelbeziehungen und -techniken, neue Gebietserschliessungen, Veränderungen im Finanz- und Kreditwesen; Veränderungen in der Herrschaftslegitimation und -technik, der Hofördnung, des Hofzeremoniells; religiös-kirchliche Veränderungen; veränderte -r-Bildungs-, Erziehungs- und Ausbildungsvoraussetzungen - die Liste ist nicht vollständig und hat nur einen illustrativen Charakter. Ich erwähne als Beispiel nur die Edelfreien im süddeutschen Raum, die wegen eines Bündels von strukturellen Veränderungen im 12. und 13. Jahrhundert zu den Verlierern gehören, während die Minsterialen aufsteigen 1 Der Referatcharakter dieses Beitrages wird nicht verändert, deshalb bleibt es auch bei der Ichform und dem Verzicht auf Anmerkungen. This content downloaded from 147.251.101.162 on Wed, 14 Nov 2018 08:24:46 UTC All use subject to https://about.jstor.org/terms 88 Rudolf Braun und sich mit geburtsständischen S hundert - abzusichern und abzu Zusammenhang auch „counterf aus dem münsterländischen Stif landesherrlich-katholische Kirc durchgesetzt hätte? Und wie hä nomische Habitus der preußisch charakteristische Merkmale der Territorialisierung, lange Zeit s Retardierung im Bereich einer H gemeinschaften usw. nicht präg Wiederum in Anlehnung an Le men Adel als elitäre Statusgrupp Terminus elitäre Statusgruppe z werden, inwieweit er im Zusamm adäquat und verwendbar ist. Las den, nach denen der sich im 19 drastischer beschreibbar wird? Fo sein: 1. Trotz des Übergangs von der stehen personalherrschaftliche grundherrlichen Bereich weite sogar noch verstärken. Der Ade personalherrschaftliche Einbin gung. 2. Der Adel ist vor 1800 eine e verfaßten Gesellschaft mit Sond Übergang zur Rechtsgleichheit entsteht für den Adel in diesem bleiben zu können; v. d. Marwit tion kämpfen um eine Rechtsstell Interessen. 3. Vor 1800 kann sich der Adel auf eine Eigentumskonzeption mit Hoheitsrechten über Personen und Sachen abstützen. Mit der Privatisierung des Eigentums erodiert diese Stütze im 19. Jahrhundert und erheischt entsprechende Anpassungsleistungen. 4. Vor 1800 ist der Adel eine elitäre Statusgruppe, die sich mit dem Gottesgnadentum, auch im protestantischen Bereich, christlich-transzendental legitimiert. Diese Legitimation wird im 19. Jahrhundert trotz aller Abwehrversuche zersetzt. 5. Vor 1800 ist der Adel als elitäre Statusgruppe in eine soziopolitische Verfassung eingebunden, die ihm die Möglichkeit gibt, mit geburtständischen Strategien wie Ebenbürtigkeit und Ahnenprobe Appropriationsvorteile zu sichern, etwa geburtsständisch gesicherten Zugang zu Staats-, HofThis content downloaded from 147.251.101.162 on Wed, 14 Nov 2018 08:24:46 UTC All use subject to https://about.jstor.org/terms Konzeptionelle Bemerkungen zum Obenbleiben 89 und Kirchenämtern, weltlichen oder geistlichen Pfründen, Offiziersstellen usw. Im 19. Jahrhundert bedarf es großer Abwehr- und Anpassungsleistungen, um Teile dieser Appropriationsvorteile noch zu retten. 6. Die ständisch verfaßte Gesellschaft ermöglicht dem Adel als elitäre Statusgruppe vor 1800 soziokulturelle Distinktionsformen zu entwickeln, die ihn in seinen Lebens- und Verhaltensformen von den Nichtadligen abheben. Sie reichen von den Kleider-, Waffentrag- oder Luxusprivilegien bis zur Turnier-, Hof- oder Satisfaktionsfähigkeit, von den Titeln, Orden, Ordenszugehörigkeit, Wappen bis zum Jagdrecht oder dem Kanzleizeremoniell; von der Sprech- und Körperkultur bis zu besonderen Ehren- und Verhaltenscodizes. Wie noch zu zeigen ist, kämpft der Adel im 19. Jahrhundert verbissen um die Erhaltung einiger dieser Distinktionsprivilegien, die für sein Selbst- wie auch für das Fremdbild wichtig sind. 7. Der Adel entwickelt im Laufe der Jahrhunderte familiale und gruppenspezifische Strategien der intra- und intergenerationellen Positionsabsicherung bzw. -Verbesserung, gerade weil diese Positionen ständig bedroht sind. Dazu gehören Durchsetzungsmechanismen des Connubiums, Hausund Familiengesetze, differenzierte Ebenbürtigkeitskriterien, Sanktionsmechanismen wie der Verlust von Alimentierungsmöglichkeiten und Standesprivilegien, soziale Ächtung usw.; dazu gehören ferner Familienplanung, generatives Verhalten sowie Sozialisationsformen und Mentalitätsstrukturen zur Sicherung innerfamilialer und gruppenspezifischer Kohäsion, Loyalität, Opferbereitschaft, Konfliktregelung (Ahnengalerien, Stammbäume, Wappen, Familienchroniken, Familientage, Familientraditionen usw.). All diese Strategien, um das nochmals zu betonen, garantieren zwar kein Obenbleiben. Wie die ständisch gebundenen soziokulturellen Distinktionsformen müssen sie mit hohen materiellen und immateriellen „Opportunity Costs" bezahlt werden. Sie bilden zusammen mit den Distinktionsformen einen wesentlichen Teil des „symbolischen Kapitals der Ehre" und der Erhaltung „adeligen Stamms und Namens". Soweit möglich, werden sie für Aufsteiger, Neunobilitierte, zu Leitbildern - auch noch im 19. Jahrhundert - und sind, so scheint mir, wesentlich dafür verantwortlich, daß der Adel auch nach 1800 unter völlig veränderten und sehr erschwerten Bedingungen doch recht erfolgreich seine Position verteidigen kann. Er hat - durch Sozialisationsmuster, verinnerlichte Opferbereitschaft, internalisierte Wert-, Verhaltens- und Mentalitätscharakteristika bezogen auf das „symbolische Kapital der Ehre" und den Erhalt „adeligen Stamms und Namens" - einen Erfahrungsschatz, der ihm beim Kampf ums Obenbleiben hilft. Dazu gehört auch eine hohe Verzichtbereitschaft, in der individualisierten bürgerlichen Wettbewerbswirtschaft Chancen wahrzu- nehmen. Diese sieben Kriterien bedürfen der Ergänzung. Ich bin mir bewußt, daß dieser analytische Zugriff auf Kosten des Prozeßhaft-Dynamischen geht, das ich eingangs hervorgehoben habe, sowie auch auf Kosten der DifferenThis content downloaded from 147.251.101.162 on Wed, 14 Nov 2018 08:24:46 UTC All use subject to https://about.jstor.org/terms 90 Rudolf Braun zierung und Hierarchisierung inn einerseits, die Anpassungsproblem sich im 19. Jahrhundert verände rerseits - und primär - könnten, einen Diskussionsbeitrag zur Frag als elitäre Statusgruppe noch ve (geburtsständische Elite versus n Ich möchte nun auf die Situation i darf ich an zwei Werke erinnern, d paradigmatischer Weise die Them schon 1959 erschienenes Werk „ von Heinz Reif über den münsterländischen Stiftsadel. Beide Werke machen evident, wie wichtig bei der Adelsthematik die Differenzierung nach Phasen, Regionen und Adelsgruppen ist; das erschwert denn auch eine Systematisierung und eine Synthese. Das Folgende kann nicht mehr sein als zaghafte Systematisierungs- und Generalisierungsansätze. Bei den traditionellen standesgemäßen Alimentierungsformen, dem Kirchen-, Staats-, Hof- und Militärdienst sowie der Grund- und Gutsherrschaft mit doppeltem Rentenbezug, lassen sich - phasenspezifisch - einige charakteristische Veränderungen nennen, die als Beobachtungs- und Analyseraster dienen könnten. 1. Mit der Säkularisierung von Kirchenbesitz und der „Mediatisierung" kirchlicher Landesherrschaft verliert der katholische Adel - regional und gruppenspezifisch verschieden - eine wesentliche Stütze seiner Alimentierung (Hof-, Verwaltungs-, Stifts- und Domherrenstellen; Pfründen aller Art). Besonders tangiert sind der Stiftsadel und nachgeborene Söhne. Was der Wegfall bzw. die Schwächung dieser traditionellen Alimentierung für die Betroffenen an Anpassungsleistungen erfordert, hat Reif in allen Einzelheiten gezeigt - Anpassungsleistungen, die die Familie insgesamt, wie auch alle Familienmitglieder - insbesondere auch die weiblichen - be- treffen. 2. Bei der traditionellen Alimentierung durch den Staatsdienst sieht sich der Adel im 19. Jahrhundert mit neuen Ausbildungs- und Zugangsvoraussetzungen konfrontiert, die einschneidende Anpassungsleistungen -bis hin zur Modifikation von Sozialisationsmustern, Lebensgestaltung, Verhaltens- und Wertnormen sowie kulturellem Habitus - erfordern. Das beginnt mit dem Ausbau des staatlichen Schulwesens. War vor 1800 das Schulwesen noch ein „Freiraum im absolutistischen Verfassungsgefüge" (Neugebauer) und die Einheit von Haus und Erziehung noch gewährleistet, greifen im 19. Jahrhundert der Staat und seine Schulaufsichtsbehörde mit Prüfungsordnung, Notensystem, Hochschulzugangsprüfung (1812), Abituredikt (1834) und dem ganzen Berechtigungswesen in diesen Freiraum ein: Schule und Staat werden eng aufeinander bezogen. Das Abitur als Nadelöhr für eine höhere staatliche Verwaltungslaufbahn bedeutet This content downloaded from 147.251.101.162 on Wed, 14 Nov 2018 08:24:46 UTC All use subject to https://about.jstor.org/terms Konzeptionelle Bemerkungen zum Obenbleiben 91 namentlich für den landsässigen Adel eine Barriere, die nur mit hohem materiellen, besonders jedoch immateriellen Kosten überwunden werden kann. Auch wenn teilweise noch bis ins 20. Jahrhundert die Hauserziehung bis zu einem gewissen Alter aufrecht erhalten werden kann, verhindert gerade der adelige Lebensstil einen regelmäßigen Schulunterricht; eine erfolgreiche Wisßensvermittlung geht auf Kosten traditioneller Sozialisationsmuster und Erziehungsziele: verkürzt gesagt auf Kosten der „conduite", eines Standes- und Selbsterkennungscodes. Noch mehr ist das bei der außerhäuslichen Erziehung, dem Eintritt ins Gymnasium - oft verbunden mit außerhäuslichem Wohnen - der Fall, zumal die adeligen Söhne nun mit bürgerlichen Mitschülern in Konkurrenz treten und mit bürgerlichen Wert- und Verhaltensnormen konfrontiert werden; daraus erwachsen Gefahren der Identifikation mit ihren Familientraditionen und ihrem Lebensstil. Trotz des Versuchs, neben den Gymnasien ständische Sondererziehungsberekhe zu erhalten bzw. aufzubauen (Ritterakademien, Kadettenanstalten, Pensionate, Ordensschulen und eben Hauserziehung), gerät der Adel mit dem Ausbau des Berechtigungswesens immer mehr in die Defensive. Das gilt auch für die Ausbildungsvoraussetzung staatlicher Führungspositionen. Darauf möchte ich nicht eingehen, sondern nur erwähnen, daß der Erwerb dieser Laufbahnvoraussetzungen ebenfalls traditionellem adeligen Lebensstil zuwider läuft. Allerdings behält der Adel in gewissen Bereichen des Staatsdienstes auch im 19. Jahrhundert durch Beziehungen und Sonderbehandlungen Startvorteile, insbesondere dort, wo „conduite" gefragt ist, im diplomatischen Dienst und hohen Staatsämtern; auch bei den Landratsämtern ist der Adel enorm übervertreten. Andererseits wächst dem Adel durch Nobilitierung von bürgerlichen Trägern hoher Staatsämter eine einflußreiche Elite zu, allerdings teilweise mit einem Anti- Altadelsreflex. 3. Die Alimentierung durch Hof dienste wird zwar durch die Mediatisierung geschwächt, doch entstehen durch den Ausbau der verbliebenen Hofverwaltungen neue Alimentierungschancen, insbesondere für nichtstandesherrliche Adelige: Die Zahl der württembergischen Hofbediensteten z. B. steigt von 732 im Jahre 1790 auf 1510 im Jahre 1812. Die höheren Hofdienste bleiben eine Domäne des Adels und sind - vom Materiellen abgesehen - ein wichtiges Medium informeller Immediatsbeziehungen und politischer Einflußmöglichkeiten. Der Adel behält auch seine privilegierte Stellung in der Hofrangordnung, dem Hofzeremoniell, der Hofgesellschaft; die bürgerliche Leistungsgesellschaft ist weitgehend ausgeschlossen ^ von Ordensträgern und Neunobilitierten abgesehen. Der Hof bleibt eine Form adeliger Selbstdarstellung, eine Bühne, um die adelige „conduite" zu zelebrieren, ein wichtiges Residual der sozialen Statusexklusivität. Die Hoffähigkeit, Hofzugehörigkeit und die Nähe zum Thron haben allerdings auch ihren Preis. Dazu gehören, vom Materiellen abgesehen, monarchische Disziplinierung, Autonomie vertust, Kampf um Rangpositionen und This content downloaded from 147.251.101.162 on Wed, 14 Nov 2018 08:24:46 UTC All use subject to https://about.jstor.org/terms 92 Rudolf Braun Manifestation der Ranguntersc farbiges Material dazu liefern ( Hof im 19. Jahrhundert. Studie und Adel in der absoluten und k gen 1970). 4. Die^Qffizierslaufbahn als traditionell adelige Alimentierung verliert zwar seit den „Befreiungskriegen" durch Heeresreform, Heereserweiterung, Auf- und Ausbau neuer Waffengattungen und der Nachfrage nach neuem technischen „Knowhow" an Exklusivität und Attraktivität. Je nach Regiment und Garnisonsstandort kann des „Königs Rock" seinen Träger bei ausbleibender rascher Beförderung - kaum mehr ernähren, auch sieht sich der adelige Offizier mit der Aufwandskonkurrenz nichtadeliger Regimentskameraden konfrontiert. Dennoch bleibt die Offiziersalimentierung ein wichtiges Medium für den Erhalt, ja die gesamtgesellschaftliche Ausweitung adeliger Wert- und Verhaltensnormen. Der Offiziersstand kann sein hohes Sozialprestige sogar noch steigern; die Offiziersehre - exklusiv und aristokratisch - wird außerstaatlich-ständisch durch Ehrengericht und Duellpraxis zementiert und erhält einen zusätzlichen sozialen Verkehrswert und eine zusätzliche gesamtgesellschaftliche Bedeutung durch die Einbeziehung der Reserveoffiziere in die Ehrengerichtspraxis. Diese Reserveoffiziere, durch die Kooptationsrekrutierung gesinnungsmäßig handdurchleuchtet, müssen auch im bürgerlichen Berufsalltag dem Inhalt der Offiziersehre genügeleisten. Dadurch erhalten die exklusiv-aristokratischen Verhaltens- und Verkehrsformen des Offizierskorps auch im bürgerlichen Alltag Wirkungsmächtigkeit. Die herkunftsmäßige Verbürgerlichung des Offizierskorps wird durch eine gesinnungsmäßige Feudalisierung konterkariert: „Adel der Gesinnung" (Wilhelm II). Zeichnet sich das Offizierskorps schon vom Ehrencodex her durch extrakonstitutionelle Wertmuster aus, so erhält diese Tendenz noch einen Verstärker durch Immediatsbeziehung zum Monarchen als obersten Kriegsherrn; durch die militärische Entourage des Monarchen bestehen wichtige - formelle wie informelle - politische Beeinflußungsmöglichkeiten, die zu adeliger Interessenwahrnehmung in allen Bereichen benutzt werden können. Kurz, der Offiziersstand wird im Kaiserreich nicht nur gesellschaftlich aufgewertet, sondern auch politisiert und chauvinistisch nationalisiert. 5. Nur einige Stich worte zur adeligen Bodenbindung als Alimentierung im 19. Jahrhundert: Der regional verschiedene zeitliche Verlauf und die regional verschiedenen Ablösungsregelungen wirken sich selbstverständlich auf die Alimentierung entsprechend verschieden aus; ein Gleiches gilt in bezug auf die Bodennutzung je nach Nachfrage- und Preisentwicklung, z. B. Roggen versus Holz. Wie der Verlust der Arbeitsrente durch Gesindezwangsordnung, Koalitionsverbot usw. auszugleichen versucht wird, ist bekannt; ebenso der Kampf um Marktabschottung des Bodenbesitzes durch Fideikommisse und andere Formen gebundenen Bodenbesitzes, This content downloaded from 147.251.101.162 on Wed, 14 Nov 2018 08:24:46 UTC All use subject to https://about.jstor.org/terms Konzeptionelle Bemerkungen zum Obenbleiben 93 wozu auch entsprechende Interessenvereine gegründet werden. Mir scheint jedoch, daß für unsere Thematik außer ökonomischen Gesichtspunkten auch soziokulturelle von Belang sind. Mit der Privatisierung des Eigentums verschwindet eine Vielzahl grund-, guts- und gerichtsherrlicher Rechte, die an den Boden gebunden sind: von den Spann-, Jagd- oder Handdiensten bis zum Sterb- und Todfallhandlohn, den Heiratskonsensgeldern oder dem Küchengefälle (vgl. dazu die Liste an Lasten und Diensten, die die fürstlich Oettingen-Wallersteinschen Grundholden im Ries vor 1848 zu leisten verpflichtet waren, bei Gollwitzer, S. 83 ff.). All diese Lasten und Diensten haben im einzelnen wie insgesamt nicht nur einep hohen soziokulturellen Symbolwert, sondern prägen auch den Lebensstil des landsässigen Adels im Jahreslauf. Es läßt sich von einem Verlust symbolisch-soziokulturellen Statuskapitals sprechen - ein schwer ersetzoder kompensierbarer Verlust. 6. Welche Bedeutung die Inhaber altständischer Statusprivilegien diesem symbolischen soziokulturellen Kapital beimessen, läßt sich daraus ersehen, wie verbissen der Adel um den Erhalt kleinster Distinktionsinsignien kämpft; aber auch daraus, wie namentlich neugekrönte Monarchen solche Distinktionsinsignien zu beschneiden versuchen. Am brutalsten geht der erste Württembergische König, Friedrich I. , gegen seinen reichunmittelbaren Adel, insbesondere gegen die großen standesherrlichen Häuser vor: Württemberg gilt als das „Purgatorium der Standesherren" (Gollwitzer). Gegen die Rheinbundbestimmungen und mit ständigen Sequestierandrohungen werden die Standesherren Schritt für Schritt entwürdigt, ja entmündigt: statt Ebenbürtigkeit mit dem Königshaus müssen sie persönlich um Heiratserlaubnis einkommen; Familiengesetze, Rechtsgewohnheiten und Erbverträge werden als ungültig erklärt; Patrimonialgerichtsbarkeit und Befreiung vom Militärdienst werden aufgehoben; Urlaub außer Landes bedarf der Genehmigung des Innenministeriums; der Umfang der Titulatur und des Trauergeläutes wird auf ein Minimum reduziert und die Nennung des Namens im Kirchengebet verboten; ebenso die Bewahrung fürstlichen Siegels und Stempelpapiers; ja sogar die Zahl der Knöpfe auf den standesherrlichen Uniformen, das Tragen von Epauletten und Litzen werden reglementiert, den Dienern ist das Tragen von Livreen verboten, und die Jagdhunde werden einer staatlichen Kontrolle unterstellt. Die Liste könne fortgesetzt werden, insbesondere wären noch das Kanzleizeremoniell, die Residenzverpflichtung oder die Huldigung zu nennen, die - in der Perzeption von Fürst Wunibald von Waldburg-ZeilTrauchburg - „mehr einem Leichenzug als (einer) freyen Huldigung ähnlich" sah. Von einem Nachfahren dieses Fürsten, dem 1807 geborenen Konstantin von Waldburg-Zeil-Trauchburg, stammt der Ausspruch: „Lieber Sauhirt in der Türkei als Standesherr in Württemberg!" Sicherlich, Württemberg in der Rheinbundzeit ist ein Extremfall; immerhin manifestiert der standesherrliche Kampf am Wiener Kongreß um kleinThis content downloaded from 147.251.101.162 on Wed, 14 Nov 2018 08:24:46 UTC All use subject to https://about.jstor.org/terms 94 Rudolf Braun ste Vorrechte, Distinktionsprivile um Gradunterschiede handelt. Gerade weil die Standesherren am meisten zu verlieren haben und auch verlieren, sind sie für den Adel Leitbild und Bezugsgruppe in seinem Kampf um Erhalt altständischer Distinktionsprivilegien, ob es sich nun um das Jagdrecht, den Kirchenstuhl, die Hofrangordnung, Autonomie bei der Familien- und Erbrechtsregelung oder um Titulatur, Gerichtsstandfragen, Wappen oder Ehrenwachen handelt. Nochmals: Es geht hier um symbolisch-soziokulturelles Kapital, das auch einen soziopolitischen Verkehrswert besitzt und nur schwer ersetz- oder kompensierbar ist. 7. Es läßt sich auch von einem traditionellen familial-immateriellen Kapital des Adels sprechen, das wesentlich mithilft, trotz veränderter Bedingungen im Kampf um das Obenbleiben im 19. Jahrhundert recht erfolgreich zu sein. Dazu gehören Hausgesetze, Agnaten- und Erbrechtsregelungen, Familienbindungen, -pietäten und -traditionen aller Art, internalisierte Opferbereitschaft zum Erhalt „adeligen Stamm und Namens": vom Ehe- und Berufsverzicht bis zum Verzicht auf Selbstverwirklichungsambitionen usw. In diesem Zusammenhang sind auch die materiellen und immateriellen „Opportunity Costs" eines standesgemäßen Lebensstils, um den Glanz des Hauses zu wahren, in Rechnung zu stellen. Ferner ist zu bedenken, daß Familienkultur, -Solidarität und -disziplin in einer Zeit der Privatisierung der Familie aufrechtzuerhalten versucht werden. 8. Politisch-verfassungsrechtliche Aspekte blieben bislang unerwähnt, sind jedoch wichtig. Beginnend mit der Französischen Revolution und den Koalitionskriegen müßten - regional und adelsgruppenspezifisch - entsprechende Phasen beobachtet werden: Rheinbund, Deutscher Bund, 48er Bewegung, die Kriege von 1864, 1866, 1870/71, Reichsgründung usw. Von diesen Phasen her lassen sich die politische Gesinnung und die politische Partizipation der Adelsgruppen in ihrem Wandel analysieren und interpretieren, wie das Gollwitzer beispielhaft für die Standesherren getan hat. Gerade der regionale Vergleich politisch-verfassungsrechtlicher Aspekte würde helfen, die preußenzentrierte Optik mit ihren verzerrenden Generalisierungen zu korrigieren. Ich hatte eigentlich vor, dies am Beispiel von Württemberg zu illustrieren - auch, um nochmals die Schwierigkeiten einer Schematisierung und Generalisierung sichtbar zu machen. Ich muß mich jedoch mit einigen Stichworten zur unterschiedlichen Ausgangslage - etwa im Vergleich zu Preußen - begnügen. Beim Ausbau der Souveränität sieht sich der neu gekrönte württembergische König mit besonderen Problemen konfrontiert: Durch den Gebietszuwachs stellt sich ihm die Aufgabe, eine große Zahl von reichsunmittelbaren Städten und reichsunmittelbaren Adelsgruppen zu integrieren und zu zähmen. Die letzteren sind seit 1577 nach dem Modell des Schwäbischen Städtebundes zu einem Gesamtbund der Reichsritterschaft zusammengeschlossen, der bis 1805 Bestand hat. Zudem wird dem Königreich This content downloaded from 147.251.101.162 on Wed, 14 Nov 2018 08:24:46 UTC All use subject to https://about.jstor.org/terms Konzeptionelle Bemerkungen zum Obenbleiben 95 eine relativ große Zahl von fürstlichen und gräflichen Standesherren zugeschlagen, darunter glänzende und sehr begüterte Häuser. Soweit es seine eigenen Stammlande betrifft, zeichnen sich diese durch das Fehlen eines einheimischen landsässigen Adels und durch hohe Städtedichte aus. Für den Auf- und Ausbau einer Staats- und Hof verwaltung sind die württembergischen Herzöge in hohem Maße auf fremdländischen Adel und nobilitierte Bürger angewiesen. Dies verschafft ihnen einerseits eine besonders loyale Herrschaftselite, um in der Rheinbundzeit mit brutalen Mitteln die früher reichsunmittelbaren Städte und Adelsgruppen zu integrieren, zu domestizieren, ja - wie vorn erwähnt - zu entmündigen. Andrerseits entwickelt sich vor 1803-06 in den Stammlanden eine soziopolitische Emanzipation des städtischen Patriziats, die sich in der Herausbildung einer dem Herzogtum Württemberg eigentümlichen Landesverfassung mit rein bürgerlichen Landständen manifestiert. Es gilt daher nicht nur, ein selbstbewußtes reichsstädtisches, sondern auch ein emanzipiertes eigenes städtisches Patriziat zu zähmen. Die Landstände werden 1806 im Zuge absolutistischer Umwälzungen durch königlichen Beschluß kurzerhand aufgelöst. Soviel nur zur unterschiedlichen Ausgangssituation im Vergleich etwa zu Preußen. Das Württemberger Beispiel gibt Anlaß, daraufhinzuweisen, wie sehr sich die süddeutschen Rheinbundstaaten und ihre Reformen im Vormärz von jenen Preußens abheben. Insbesondere - auf unser Thema bezogen - die kreuzweise, gegenständige Verbindung von süddeutschem Staatsabsolutismus mit seiner Beamtenschaft und dem süddeutschen Liberalismus im Kampf gegen Adelsmacht und -Privilegien. Als Schlußbemerkung eine These und eine Frage: Der Adel ist im Kampf ums Obenbleiben auch im 19. Jahrhundert recht erfolgreich, weil es ihm in flexibler Anpassung an die ökonomischen Veränderungen und die neue politische Kultur gelingt, ökonomische und politische Koalitionen einzugehen und sich gleichzeitig durch soziokulturelle Distinktionen traditioneller Art von aufsteigenden Eliten abzusetzen^ Dabei hilft ihm der althergebrachte Erfahrungsschatz im Kampf ums Obenbleiben. Allerdings ist zu fragen, inwieweit der Adel in einer weitgehend nachständischen Gesellschaft und Verfassung als Statusgruppe im modernen soziologischen Sinne angesprochen werden darf, denn im Kampf ums Obenbleiben bedarf diese Elite ja ständischer oder quasiständischer Abwehrmaßnahmen; dazu gehört auch, daß zentrale Kriterien der Leistungsgesellschaft bzw. Leistungselite vom Adel negativ konnotiert werden. This content downloaded from 147.251.101.162 on Wed, 14 Nov 2018 08:24:46 UTC All use subject to https://about.jstor.org/terms