H ans-Jürgen Goertz Unsichere Geschichte Zur Theorie historischer Referentialität Philipp Reclam jun. Stuttgart Inhalt Einleitung............... I Linguistic turn und »historische Referentiaütät« ......... II Narrative Logik und historische Forschung............ III Diskurs und Realität ...... IV Konstruktion der Geschichte . . V Unsichere Geschichte...... Anmerkungen............. Zum Autor . . . ... . . . . . 11 32 53 83 103 119 131 Universal-Bibliothek Nr. 17035 Alle Rechte vorbehalten . © 2001 Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart Gesamthersteilimg: Reclam, Ditzingen, Printed in. Germany 2001 RF.CLAM und UMVERSAL-BIBI.IOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reckm jun, GmbH Sc Co., Stuttgart ISBN $-15-017035-4 www.reoLim.de Einleitung Die Geschichtswissenschaft ist unsicher geworden. Einst war klar, was erforscht und dargestellt werden sollte. Jetzt beginnt der Gegenstand undeutlich zu werden. Sind es die weltanschaulichen Ideen oder sittlichen Mächte, die großen Männer der Politik und des Geisteslebens, die immer noch ■ alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen? Sind es die gesellschaftlichen Strukturen und wirtschaftlichen Konjunkturen, auf die sich der wissenschaftliche Umgang mit Geschichte konzentriert? Ist es der Alltag der kleinen Leute, . der zeigt, was Geschichte eigentlich ist: eher Erlittenes als Gestaltetes? Gelegentlich wird sogar die »Abkehr von der Vergangenheit« und die Hinwendung zur Gegenwart als Aufgabe der Geschichtswissenschaft gefordert. Sobald die Leistungsfähigkeit der historischen Arbeit ins Visier der Kritik gerät, weicht die Sicherheit, mit der Geschichte bisher studiert wurde. Otto Vbssler sprach in Geschichte als Sinn (1983) davon,-. daß die Geschichtswissenschaft sich nicht von ihrem Gegenstand her definiert, sondern allein von den Problemen, die den Historiker in seiner Gegenwart beschäftigen, ja, von dem Problem, daß ihm die Vergangenheit entschwunden ist : und nicht mehr wiederkehrt. Die Geschichtswissenschaft hat keinen Gegenstand, der ihre Existenz rechtfertigt, sie hat nur Probleme bzw. ein Problem. Sie muß damit fertig werden, daß die Vergangenheit tot ist, die Gegenwart ihr ent-, . gleitet und die Zukunft noch nicht begonnen hat. Sobald der Gegenstand sich auflöst, zerfällt auch die Plausibilität einer historischen Methode, die doch entwickelt und angewandt wurde, um einen vergangenen Gegenstand zu erforschen und möglichst genau abzubilden. Der französische Althisto- ■ . riker Paul Veyne brachte es auf den Punkt: Eine Methode, die eine spezifisch historische Methode genannt werden könnte, existiert nicht. Dieser Verlust von Gegenstand und 8 Einleitung % Methode hat die Geschichtswissenschaft verunsichert. Vie- - len ist diese Situation unangenehm, einigen flößt sie sogar | Angst ein. Sie fürchten, eine Wissenschaft ohne Gegenstand % könnte bald auch gegenstandslos oder zu schöner Literatur \ werden. s Da hilft es wenig, mit ausfallender Polemik zu reagieren, = alte Schlachten noch einmal zu schlagen oder den Kopf in i den Sand zu stecken und zu warten, bis der Sturm sich ge- : legt hat, der von Westen her aufgezogen ist und die altehr- - würdig-knorrigen Bäume der historischen Wissenschaft - entwurzelt. Gemeint ist der Sturm der sogenannten Postmo- \ derne, verwüstet ist die traditionelle Verknüpfung von Ge- j genstand und Methode. 1 Es hat sich gezeigt, daß die Geschichtswissenschaft nicht ; mehr zeitgemäß ist, solange sie das Erkenntnisobjekt noch = vom Erkenntnissubjekt trennt und dem Subjekt zutraut, das * erkenntnisunabhängige Objekt abzubilden, perspektivisch ; verkleinert zwar, aber doch »originalgetreu«. Diese Vorstel- ; lung eines naiven Realismus ist längst von philosophischer und wissenschaftstheoretischer Kritik zersetzt worden. \ Niemand wird diesen Realismus in der Geschichtswissen- \ schaft verteidigen, obwohl er grundsätzlich noch die Praxis > bestimmt. In Mitleidenschaft gezogen wurde von dem er- ! wähnten Sturm auch die reflektierte Realismusposition der- \ jenigen, die sich Rechenschaft über die Schwierigkeiten ab- ; gelegt haben, eine adäquate Reproduktion vergangenen Ge- schehens herzustellen, und davon überzeugt sind, daß die \ Standortgebundenheit und die subjektive Einfärbung des j Erkennenden das Objekt durchsetzen und im Grund schon * verändern, bevor es erkannt wird. Das ist eine Schwierigkeit, \ die alle Kräfte wachruft, das Gemisch aus Objektivem und * Subjektivem zu erforschen und herauszufinden, was wirk- ] lieh war und was an den bisherigen Einsichten darüber nur j Fiktion ist. Selbst dieser Position haftet noch ein Rest von \ »verstocktem Positivismus« an, wie der niederländische Ge- \ Schichtstheoretiker Frank R, Ankersmit in einem Interview \ Einleitung 9 (1993) meinte. Auch diesem Realismuskonzept 'gelingt es immer weniger, die Beziehung zum vergangenen Gegenstand, d. h. die historische Referentialität, auf der erkenntnistheoretischen Höhe der Zeit zu haken. Besonders beunruhigt hat das Problem »historischer Referentialität«, als die Herausforderungen unabweisbar wurden, die vom linguistic turn und von Modellen der Diskursanalyse ausgingen, sowie, weniger beachtet, vom Radikalen Konstruktivismus bzw. von der Kognitionswissen-schaft. Da es auf der einen Seite in Mode gekommen ist, das Ende der Postmoderne zu verkünden, und auf der anderen Seite mit femlletonistischer Brillanz geschichtstheore-tische Erbauungsliteratur produziert wird, habe ich mich entschlossen, dem Problem der Referentialität genauer nachzugehen, wie es im Rahmen der neueren Vorschläge, Geschichte anders zu schreiben als bisher, diskutiert wird; bei Hayden White, Frank Ankersmit, Michel Foucault und radikalen Konstruktivisten. Von diesen Vorschlägen gehen Anregungen aus, die Geschichtswissenschaft zu modernisieren, zumindest aber ihre Prämissen, Regeln, Methoden und Theorien zu überprüfen. Den Vorschlägen und Anregungen aus den genannten Richtungen, unprätentiös und überhaupt nicht rechthaberisch vorgetragen, sollte zunächst offen, freudig überrascht, vielleicht sogar dankbar begegnet werden, doch nicht von vornherein kritisch, abweisend oder animos, wie es zumeist geschieht. Aus diesem Grund habe ich mich darauf beschränkt, das Referentialitätsproblem im verästelten Argu-mentationsgefüge der angeführten Autoren aufzusuchen bzw, den verschlungenen Wegen zu folgen, auf denen neue Lösungsvorschläge gefunden wurden. Angesichts einer At> mosphäre gereizter Auseinandersetzung scheint vor allem Geduld im Umgang mit dem Angebot der »Außenseiter« weiterzuhelfen, auch die Bereitschaft, das Gespräch fortzusetzen, mehr noch: »den Jargon des Gesprächpartners aufzunehmen, anstatt ihn in den eigenen zu übersetzen« (RÍ- 10 Einleitung chard Rorty) und das Wasser auf die eigenen Mühlen zu lei- || ten. In dieser Situation ist es sinnvoller, den Gesprächspart- 1| ner zum Zug kommen zu lassen, als ihm mit kritischen Ein- % wänden zu bedeuten, daß er eigentlich nicht willkommen % sei. Was sich wirklich bewähren wird, muß die Praxis erst '% erweisen: sowohl im Umgang mit dem historischen Stoff als ::| auch im Stil, in dem Historiker und Historikerinnen um das M Problem, das Geschichte ist, miteinander ringen werden. Vorerst kommt es nur darauf an, die avantgardistischen An- 'J regungen aufzugreifen und in der Geschichtswissenschaft " 1 zur Entfaltung zu bringen. , -v| .*? ■■% ■ ■■■■■ ^1 ■J 1 I 3 3 5 :- > i :■ fi ■-■ iff I I I Linguistic turn und »historische Referentialität« »Die Sprache ist ein Überkommenes und Vorausgegebenes, das mit Bildern und Begriffen, Sehweisen und Abtönungen bindet und bestimmt,«1 Wer davon überzeugt ist, setzt sich gewöhnlich dem Verdacht aus, Fakten gegen Fiktionen und Wissenschaft gegen Kunst einzutauschen. Eigentlich ist dieses Zitat aber ganz unverfänglich. Mit diesen Worten eröffnete Reinhard Wittram nämlich eine Vorlesung, die er Ende der fünfziger Jahre über die »Begriffssprache der modernen Historie« hielt. Natürlich bindet und bestimmt die Sprache, was wir sehen, erleben und erkennen. Doch niemand wäre damals auf die Idee gekommen, die Sprache mit der Wirklichkeit schlechthin zu identifizieren. Heute wird ein solcher Satz anders gehört. Offensichtlich sind die Wunden, die Roland Barthes, Michel Foucault und Hayden White den Geisteswissenschaften zugefügt haben, so tief, daß sie nicht mehr heilen. Sobald von der Dominanz der Sprache oder des Diskurses im historischen Erkenntnisprozeß gesprochen wird, ist die Aufregung groß und die Reaktionen, geraten außer Kontrolle. Hayden White wird »the most damaging undertaking ever performed by a historian of his profession«3 vorgeworfen, und Foucault wird von Hans-Ulrich Wehler ein »intellektuell unredlicher, ein empirisch absolut unzuverlässiger, kryptonormativistischer >Rattenfänger< für die Postmoderne« gescholten.5 Postmoderne Geschichtstheoretiker werden in den Augen ihrer Kritiker zu Verführern und Häretikern, die das Leben der Historiker bedrohen. Sie müssen, wie es der traditionelle Ketzertopos gebietet, verfolgt werden - selten mit der Überzeugungskraft des Arguments, häufiger mit der Gewaltsamkeit denunziatorischer Sprache. Eine solche Sprache setzte Sir Geoffrey Elton ein, der einstige Nestor briti- 12 »Linguistic tum« und »historische Referentialität« scher Politikgeschichte; »Ganz gewiß aber kämpfen wir um das Leben unschuldiger junger Menschen, die von teuflischen Versuchern hart bedrängt werden, welche behaupten/ höhere Formen des Denkens und tiefere Wahrheiten und Einsichten anzubieten - das intellektuelle Äquivalent zur Droge Crack.«4 Das ist mehr als ein Wissenschaftsstreit, hier scheint ein Glaubenskrieg ausgebrochen zu sein. So heftig reagiert nur jemand, der leidet, sich zur Wehr setzt und nicht bereit ist, eine Position zu räumen, die ausgedient hat. Historiker sind gewöhnlich mit einer besonderen Gabe ausgestattet, auf skrupulÖs-differenzierte Weise herauszufinden, wie jemand einst dachte, sprach und handelte. Sobald sie jedoch einem Zeitgenossen zuhören und erfassen müssen, was er sagt, verläßt sie bisweilen die Fähigkeit, gerade das »Material« zu verstehen, das nach geraumer Zeit selbst zum Analyseobjekt der historischen Wissenschaft werden könnte. Nur wenige meinen wirklich, daß sich an der Gegenwart und nicht an der Vergangenheit entscheidet, wer ein zuverlässiger Historiker ist. Von einer historischen Darstellung werden ein gepflegter Umgang mit Sprache, Sinn für literarischen Stil und eine ansprechende Kombination aus Analyse und Erzählung erwartet, insgesamt ein hohes Maß an sprachlicher Sensibilität. Kaum zu begreifen ist deshalb die Angst vieler Historiker vor dem linguistic turn, in dem diese Sensibilität, zumindest theoretisch, einen reifen Ausdruck gefunden hat.5 1 Der Begriff des linguistic turn ist nicht eindeutig, vor allem nicht in seiner Wirkung. Einige fühlen sich zu einem neuen, kritisch-analytischen Umgang mit der Sprache angeregt und sind von der Macht überzeugt, die Sprache beim Erfassen der Wirklichkeit ausübt. Richard Rorty, der diesen Begriff schon 1967 in Umlauf brachte, heute allerdings zu- »Linguistic turn« und »historische Referentialitäi« 13 rückhaltender urteilt, schrieb einst: »This achievement is sufficient to place this period among the great ages of the history of philosophy«.6 Andere befürchten, daß die Rede: vom linguistic turn dazu führe, den Gegenstand der wissenschaftlichen Erkenntnis aufzugeben und nur noch mit der "■! Wirklichkeit zu tun zu haben, die nichts als Sprache ist, mit I Welt und Geschichte als Text, _| Linguistic turn verstehe ich so: Er bezeichnet die Einsicht, 1 daß die Sprache konstituiert, was unter Wirklichkeit ver- ' standen wird, noch schärfer, was Wirklichkeit ist. Zweierlei % ist festzuhalten: Zum einen verändert die »sprachliche Wen^ ■| de« den Stellenwert, den die Sprache auch und gerade für die .1 Geschichtswissenschaft hat. Die Sprache fungiert nicht- \ mehr vor allem nur als Mittel, dessen man sich bedient, um I die Forschungsergebnisse, nachdem sie vorliegen, möglichst I überzeugend darzustellen. Vielmehr ist sie in erster Linie I eine Wirklichkeit, in der Erkenntnis entsteht. Sie beherrscht I den Erkenntnisprozeß von Anfang bis Ende. Diese Einsicht % verändert die traditionelle Epistemologie, ja, den Begriff von j Erkenntnis selbst, wie sich noch zeigen wird. Zum anderen \ vermuten viele, daß der Text, der etwas über die Wirklich- •:| keit aussagt, überhaupt nicht auf einen Tatbestand verweist, \ der außerhalb des Textes existiert. Der Text, der Wirklich- f keit beschreibt, verweist nur wieder auf einen Text, der I Wirklichkeit beschreibt, »II n'y a pas de hors-texte«, so hat i Jacques Derrida diese Beobachtung auf den Punkt gebracht.7 i Niemand vermag die Sprachgestalt, die das Gegenwärtige I und Vergangene annehmen, zu durchbrechen und zu dem I vorzudringen, was an sich ist oder eigentlich war. Seit Fried- I rieh Nietzsche gilt, sagt Hayden White in einem Interview^ I »it is all metaphor«, bildliche Rede.8 Das kann ontologisch I gemeint sein, daß Sprache mit Sein identifiziert wird^ I das kann aber auch zwischen postmodern-ontologischer 1 Sprachdominanz im Umgang mit Realität und einem Zu- | gang zur Realität schwanken, der immer noch zwischen \ Wirklichkeit und Sprache trennt. Hier liegt das Ärgernis, IS 14 'Linguistic turn« und »historische Referentialität* das der linguistic turn in die Geschichtswissenschaft hineintrug - ein Ärgernis, das sich inzwischen zu einer Kontroverse entwickelt hat: Die Metapher steht gegen die Realität auf," meinen die einen, die Metapher bringt Realität zur Sprache," behaupten die anderen,' Wie die Akzente auch gesetzt werden, den Vertretern des linguistic turn wird gewöhnlich ein Mangel an Realitätsbe-. zug bzw, Verlust der historischen Referentialität vorgeworfen, als ob sie nur ein »literarisches Artefakt« anzubieten hätten und nicht eine sozialgeschichtliche Analyse oder eine wissenschaftlich disziplinierte Erzählung. »Auch Klio dichtet«: So hat Hayden White die Kollegen aufgefordert, ihren . Berufsstand zu überprüfen: Sind sie Wissenschaftler, wie sie gewöhnlich meinen, oder Schriftsteller, die einen literarisch-metaphorischen Umgang mit Geschichte pflegen?10 Entschieden hat Georg G. Iggers darauf geantwortet. Er hat; zwar die Fähigkeit der postmodernen Theorie begrüßt, ein »vielschichtiges Verständnis von Gesellschaft und Geschichte« zu fördern, er kritisiert aber ihr Wirklichkeitsverständnis: »Sie schoß über ihr Ziel in dem Moment hinaus, als sie nicht mehr zeigte, wie schwierig es ist, die Wirklichkeit mit all ihren Widersprüchen zu verstehen, sondern radikal verneinte, daß es überhaupt eine Wirklichkeit gebe.«11 Die Frage bleibt, ob die Intention des linguistic turn mit diesem : Urteil überhaupt getroffen wurde. Genauer erfaßt die nordamerikanische Historikerin Ga-brielle M. Spiegel dieses Problem. Sie räumt ein, daß die angebliche Preisgabe der historischen Referentialität keine extreme, über das Ziel hinausschießende, revozierbare Unbedachtsamkeit ist, wie Iggers meint, sondern auf eine grundsätzliche Differenz verweist. Es handelt sich nicht um Wirklichkeitsverlust, der sich mit etwas gutem Willen beheben ließe. Es geht vielmehr darum, daß die Sprache sich zwischen uns und die Wirklichkeit schiebt, den Zugang zur Wirklichkeit verwehrt, zumindest aber reguliert und sich aus dieser Position nicht mehr verdrängen läßt- Auf dieses ■: »Linguistic turn« und »historische Referentialität« 15: sali Argument muß der Historiker sich einlassen und danach fragen: Ist die historische Referentialität tatsächlich preisgegeben worden oder kann an ihr auch festgehalten werden, wenn die Funktion der Sprache, ihr Leistungsvermögen und ihre Grenzen sachgemäß bedacht werden? Die Sprache wäre dann als das Medium zu begreifen, das zwischen dem Bewußtsein von Realität und der Realität selbst vermittelt. So konnte man es sehen und den Boden für eine fruchtbare Auseinandersetzung mit dem linguistic turn betreten. »Wenn wir zu Recht die Reduktion der Literatur im Sinne simpler Widerspiegelung verwerfen, so müssen wir aber auch das Aufgehen der Geschichte in bloßer Textualität ablehnen.«12 Die Sprachgestah der Quellentexte muß mit dem sozialen Kontext verbunden werden, dem sie entspringen. Zur Analyse der Sprache gehört auch, die Aufmerksamkeit auf die sprachlichen Verkuppelungen ihres eigenen sozialen Anwendungskontextes zu richten. Dagegen hätte White nichts einzuwenden, nur daß er davon überzeugt ist, auch hierbei nur mit literarischen Mitteln arbeiten zu können: »[...] die Kontexte der Texte, die Literaturwissenschaftler untersuchen, sind selbst Produkte des fiktiven Vermögens der Historiker, die diese Kontexte \intersucht haben.«13 Es ist nicht so einfach, ihm kritisch beizukommen. Das Problem historischer Referentialität darf sicherlich nicht aus der Geschichtsschreibung verbannt, jedoch auch nicht im traditionellen Sinn historisch-empirischer Forschung behandelt, es muß neu bedacht werden. Historiker freuen sich gewöhnlich auf Untersuchungen, die neues Quellenmaterial zutage fördern und einen historischen Sachverhalt, der allenthalben bekannt ist, in einem anderen, bisher ungewohnten Licht darstellen. Nach der Lektüre stellt sich aber regelmäßig die Frage: Ist es wirklich das neue Material, das besticht, oder nicht doch die Konzeption, wie das neue Material in Erzählung und Analyse mit dem bereits gesichteten verknüpft wird? Ein Beispiel: Waren es die neuen Quellenbestände, die Fritz Fischers Griff nach der 16 »Linguistic turn« und »historische Referemialität« ":v'-~:: "Weltmacht (1961) zu-einem aufregenden und umstrittenen Buch machten, oder war es nicht letztlich der Mut, einma| auszuprobieren, wie sich der Sachverhalt darstellt, wenn das gesamte Material, das erreichbar ist, auf die Frage ausgerich^: tet wird, ob das Deutsche Kaiserreich nicht ganz bewußt auf' den Ausbruch des Ersten 'Weltkriegs hingewirkt habe? Interessant ist dies: Die Kritiker der Fischer-These ließen sichi überhaupt nicht von dem neuen Quellenmaterial beeindruk-ken, das Fischer erschloß, sie warfen ihm vielmehr vor, dieses Material falsch eingesetzt und interpretiert zu haben. Auch diejenigen also, die soviel von archivaltschen Quellen halten, setzen mehr auf die Interpretation als auf das zu interpretierende Material selbst. Das Fazit aus solchem Be-: fund hatte schon Jacob Burckhardt gezogen, als er von »Phantasiebildern« sprach, die Historiker malen, und mein-;; te, daß unsere Bilder »meist doch bloße Konstruktionen^ [...], ja bloße Reflexe von uns selbst* seien. Ein und dasselbe;: Material, das in Studien aufbereitet wurde, »kann unter den£ Händen eines anderen nicht nur eine ganz andere Benut-; zung und Behandlung erfahren, sondern auch zu wesentlich) verschiedenen Schlüssen führen.«14 Niemand ist sich seiner; Sache sicher, wie niemand sich seiner selbst sicher ist. Von dieser Beobachtung ist der Weg nicht mehr weit zu der Einsicht, die Hayden White in seinen Untersuchungen zur Geschichtsschreibung und Geschichtsphilosophie des 19. Jahrhunderts gewonnen hat. Die res gestae werden einzig und allein durch die literarische Gestalt, die den Informationen vom Vergangenen gegeben wird, zu historischer Erkenntnis gebracht - sowohl in der Erzählung als auch in der Analyse. Historisch sind nicht die Kenntnisse von vergangenen Tatbeständen oder Ereignissen, etwa aus einer Chronik entnommen", historisch ist, was in Sprache zum Aus- »Linguistic tum« und »historische Referenüdttät« 17 druck gebracht bzw. was erzählt wird. Um es in aller Kürze 2U sagen: Die Tropen bzw. Sprechweisen sind es, die das Verständnis des »historischen Felds« vorstrukturieren, d. h.. ■■andeuten, in welchem Licht es erscheinen soll. Die Erzählung muß im Sinne der einen oder anderen Sprechweise ivdas Faktenmaterial ordnen und in einen Sinnzusammen- ■ hang bringen: entweder als Romanze (Metapher), Komödie (Metonymie), Tragödie (Synekdoche) oder Satire (Ironie).16 Nur in dieser tropologischen Form kommt es zu historischer Erkenntnis. Die Tropen sorgen dafür, daß die Fakten . in einer narrativen Ordnung zueinandergefügt werden und: in einen Bedeutungszusammenhang geraten, in dem sie so nicht wirklich standen, sich uns aber nur so zu erkennengeben. In der Realität darf man keine »erzählerische Kohärenz« sehen. Vergangenes ist »nur über Sprache zugänglich«17, nur über Sprache erhält es für uns Sinn und Zusammenhang. Jede historische Darstellung ist ein literarisches Artefakt. Doch die »Existenz der Vergangenheit« ist »eine notwendige Voraussetzung des historischen Diskurses« ~. notabene: eine notwendige Voraussetzung.18 Ohne diese Voraussetzung wäre der historische Diskurs kein tatsachengebundenes Artefakt, sondern ein Artefakt, das Imaginäres produziert, nicht aber Vergangenes zur Erkenntnis bringt. Ontologisch wird durchaus eine Realität vorausgesetzt, erkenntnistheoretisch erscheint sie in sprachlicher Gestalt. Die Kritik, die sich an der Preisgabe historischer Referenz tialität entzündet hat, ist ohne Grund. Der historische Dis-^ kurs interpretiert, was war, indem das Gewesene in der Interpretation für unser sprachlich bestimmtes Erkenntnisvermögen zuallererst entsteht. Das Gehäuse der Sprache läßt sich nicht sprengen. Es läßt sich zwar hier und da durchbrechen, aber nicht ohne Sprache. . . Mit den Tropen wird dem »realen« Geschehen eine. Handlungsstruktur eingezogen, die diesem Geschehen selbst nicht innewohnte, ohne die es aber nicht erzählt bzw. zur Sprache gebracht werden kann. Geschichte ist nicht »hi- 18 »Lingiiistic turn« und »historische Referentialität« ■ Störy«, sondern »mefahistory«. Soll dieses Geschehen nicht" in Vergessenheit geraten, muß es sich diese tropologische Behandlung gefallen lassen - eine Notwendigkeit, die sich aus dem Gebrauch der Sprache ergibt. Eine Handlung kann i wie eine Romanze ablaufen, d.h. das Gute über das Böse tri»«; umphieren lassen. Sie kann auch einer Satire gleichen, d.h. " der Erkenntnis folgen, daß die Menschen trotz aller Bemü- A hungen nicht in der Lage sind, die Machte zu überwinden, \ die sie bedrohen. Die Handlung kann ebenso einer Komödie X nachgebildet sein, d.h. Entgegengesetztes miteinander ver- .: söhnen, oder einer Tragödie, d.h. die gegeneinander kämp- • fenden Kräfte sich steigern und den Protagonisten der . Handlung scheitern lassen. Das sind, wie White meint, die ' vier archetypischen Grundmuster, Geschehenes zum Aus- s druck zu bringen, nicht die Grundmuster des Geschehens ■ selbst. Das Geschehene kann nicht wiederholt, auch nicht f kopiert, es kann nur in tropologischer Gestalt vergegenwär- % tigt werden. Analyse und ideologischer Umgang mit Geschichte werden der erzählenden Interpretation nachgeordnet. Sehr deutlich spricht das auch Jörn Rüsen aus, wenn er betont, daß die Analyse zwar dem »Darstelkmgsprinzip der Narrativität« gehorcht, aber nicht ihre Bedeutung im Umgang mit Vergangenem verliert.19 Sie bezieht sich auf den narrativ zubereiteten Stoff - nicht auf die Vergangenheit an % sich, sondern auf Geschichte, darauf, was sich als Sinnzusammenhang nachträglich darstellen läßt. Die Analyse befragt und durchklärt diesen Zusammenhang, so daß es falsch ■■ wäre anzunehmen, die Arbeit des Historikers erschöpfe sich ; im Erzählen. Das ist keineswegs der Fall. Der Historiker er-. / zählt und denkt darüber nach, wie und was er erzählt. Das ;■ kann dazu führen, seine Erzählung zu verbessern, sie even-tuel! auch zu verwerfen und es noch einmal anders zu versuchen. White hat den Prozeß historischer Arbeit neu geordnet, durchaus auf der Grundlage der Art und Weise, wie Geschichte bisher geschrieben wurde, und nicht in der Absicht,. »Linguistk turn« und »historische Referentialitat« 19 eine Gebrauchsanweisung für eine zukünftige Geschichtsschreibung zu liefern.20 In Metahistory wollte er nur untere suchen, wie Geschichte geschrieben wurde, und seine Beobachtungen und Einsichten zur Kenntnis bringen. In einem Interview mit Eva Domanska erklärt er noch genauer, daß es unmöglich sei, das Verhältnis zur Vergangenheit zu normieren, weil die Vergangenheit »a place of phantasy« sei und. : nicht mehr existiert.21 Ein empirisches Studium der Vergangenheit ist nicht möglich, deshalb werden nicht-empirische■:. Untersuchungsmethoden eingesetzt, die keine Entscheidung über »the best theory of studying and guiding research in history« zulassen.22 Daß White sich gegen das Mißverständnis zur Wehr setzen mußte, er habe eine neue Anleitung zum historischen Studium vorgelegt, hat die Art seiner kritischen Analyse herkömmlicher Geschichtsschrei-, bung allerdings selber nahegelegt. In Metabistory hat er gezeigt, wie sehr die großen Historiker theoretisch zwar dem Prinzip des historischen Realismus bzw. der Verwissenschaftlichung der Geschichte folgten, in der Praxis aber, wenn auch nicht immer konsequent, durchaus »postmodern« erzählten: »tropologisch-fiktional«, weil es anders gar nicht gegangen wäre. So schleicht sich ein Hauch von Normativität - trotz gegenteiliger Beteuerungen - in seine Argumentation ein. Vom Ansatz her ist Whites Anliegen aber eindeutig. Er plädiert für einen pluralistischen, d. h. auch relativistischen Umgang mit Geschichte, allerdings nur soweit der tropologische Aspekt, auf dem »rationales Wissen von der Welt basiert«, ihn zuläßt.23 Seine Argumentation wirkt nur normativ, weil er sich gegen den entschieden normativen Charakter der realistischen Epistemologie zur Wehr setzen muß, wonach sich ein vergangener Sachverhalt in einer historischen Aussage widerspiegeln muß. Das Problem, das sich bei White stellt, ist die Trennung, die er zwischen dem vorausgesetzten Gegebensein vergangener Tatbestände und der Geschichtsschreibung vornimmt Die Information über einen vergangenen Tatbestand (Fak- m'i-, m. 20 »Linguistic turn« und »historische Referentialität* tum) verdankt sich nicht schon historischer Erkenntnisar-beit, sondern ist nur das Datenmaterial, aus dem eine Erzählung geformt wird, die Erkenntniswert besitzt. Zu spezifische historischer Information wird dieses Material erst, wenn der-Historiker sie nach einem vorgefaßten, das historische Feld präfigurierenden Plan sucht bzw. auswählt. Zu historischer; Erkenntnis kommt es also erst, wenn Fakten sinnvoll mit-:; einander verbunden, d.h. in Erzählung zur Darstellung gebracht werden, einer Erzählung, die einen Anfang hat und? über eine Peripetie einem Ende zuläuft und damit verstreichender Zeit einen Sinn verleiht/4 Das fiktionale Element ist nicht der freie Lauf dichteri-: scher Phantasie, die sich über die Fakten der Vergangenheit! hinwegsetzt, sie zurechtstutzt oder ergänzt. Es ist vielmehr; das Mittel, das einen Zugang zur Vergangenheit überhaupt ; erst schafft und ihre Interpretation bewerkstelligt. Im Sinne-: einer abbildgetreuen Wiedergabe des einst Geschehenen: könnte eine solche Geschichte nicht erzählt werden, da die ; am Geschehen Beteiligten noch nicht das Ende des Geschehenen kannten, in das sie verwickelt waren. Ohne das Ende käme aber keine Erzählung zustande, ließe sich auch kein'; sich langsam entwickelnder Sinn erkennen. Geschichte ist also nicht der Ausdruck, den das historische Material sich : selber gibt. Sie ist ein Artefaktpost factum. Sowohl der Anfang als auch die Mitte und das Ende eines Geschehens sind »unvermeidlich poetische Konstruktionen«, nicht Abbil-o der, sondern ein »Neuschreiben« des Geschehens ablaufs. Dem Geschehen wird vom Ende her eine Struktur eingezogen, die es realiter nicht aufweisen konnte. Und doch meint White, damit die »reale Welt, wie sie sich in der Zeit entwickelt«, erklären zu können.25 Der tropologische Umgang mit Vergangenem wird von White genau beschrieben; weniger Aufmerksamkeit widmet; er dagegen der Feststellung und Sicherung der Fakten, die ■ ihm in der chaotischen Form historischer Quellen< entgegentreten.26 Er nimmt sie als gegeben hin und geht davon/ Linguistic turn« und »historische Referentialität« 21 "aus, daß sie tatsächlich geschehen sind. Die Feststellung der , Fakten ist offensichtlich von einer anderen Art als die Herstellung eines historischen Erzählzusammenhangs. Diese Auffassung fand White schon bei George R. Collingwood und nutzt dessen Argumente, um den Leser an die Vorstellung vom fiktionalen Charakter historischer Darstellung zu gewöhnen.27 Auch er trennt für sein eigenes Erklarungsmo-dělí zwischen der Ebene der Fakten und der Ebene der historischen Erzählung. Die Fakten unterliegen aber nicht der kritisch prüfenden Ordnungsmacht des Historikers, bevor er sie narrativ verarbeitet. Ausgewählt und geordnet werden sie im Erzählvorgang. Hier werden sie als Gegenstände historischer Arbeit überhaupt erst »konstituiert«. Bereits in seinem Aufsatz über »Historicism, History, and the figu-rative Imagination« (1975) meinte White jedoch, daß die Schwierigkeit, zwischen der Ebene der Fakten und der Ebene der Interpretation zu unterscheiden, nicht übersehen werden sollte: »It is not the case that a fact is one thing and its Interpretation another.« Beide sind miteinander verwik-kelt: »The fact is presented where and how it is in the dis-course in order to sanetion the Interpretation to which it is meant to contribute.«'8 Das ist eine unmißverständliche Äußerung. Die Faktizität des Vergangenen wird nicht preisgegeben. Doch die Unterscheidung der Ebenen, an der ihm dennoch viel liegt, um möglicherweise auf den Vorwurf preisgegebener Referentialität reagieren zu können, ist aus folgendem Grund problematisch. Das Faktum ist, könnte man sagen, als »nackte Tatsache« {brutum factum) wie eine Scherbe, die auf einer Schutthalde gefunden wurde. Sie ist zunächst unbrauchbar und nutzlos. Der Historiker kann mit ihr nichts anfangen, sie gehört zum Abfall. Es könnte allerdings auch sein, daß sie, nicht gleich für jedermann sichtbar, Spuren an sich trägt, die auf einen einstigen Bedeutungsund Verwendungszusammenhang schließen lassen. Dann aber muß über solche Zusammenhänge von anderswoher als von der Scherbe selbst etwas bekannt sein. Und genau diese : 5 .Klí 22 »Linguistic turn« und "historische Referentialität« „Linguistic turn« un d »historische Referentialität« 23 eventuell erkennbaren Spuren machen das Faktum zum? Faktum, verleihen ihm Konsistenz und geben ihm ein Profil^' so daß es sich als Bauelement überhaupt erst in der Arbeit-des Historikers am Plot einer Erzählung anbietet, ja, gerade- -zu die Ordnung einer Erzählung ermöglicht, die sich auf" Faktisches und nicht auf Imaginäres bezieht. Der Historiker -wird ja nicht auf intuitive Weise auf die Idee gebracht» das historische Feld auf eine jeweils bestimmte Weise tropolo- -gisch zu präfigurieren, sondern vom ersten Eindruck, welchen die ihm zur Verfügung stehenden Tatsachen, die er aus dem Überlieferungszusammenhang kennt, bei ihm hinterlassen. Nur um die Faktizität zu wissen, so wichtig das ist^ reicht nicht aus. Aufgrund der Mitteilung in den Quellen und in der Fassung, den der Überlief erungsgang den Nachrichten gibt, haftet den Tatsachen bereits ein Bedeutungs-koefnzient an, der mehr transportiert als nur die Feststellung der Tatsächlichkeit. Und noch etwas: Wenn die Tropen eine Weise sind, sich die Wirklichkeit sprachlich anzueignen und die Beziehung zwischen dem ersetzenden und ersetzten Wort zu regeln, wie Wolfram Groddeck erklärt, dann müssen von dieser Wirklichkeit doch Signale für die Auswahl und Verwendung der Tropen ausgehen: »Das ersetzte Wort verschwindet ja nicht einfach, sondern bleibt über das ersetzende, neue Wort weiterhin semantisch aktiv und begründet so erst die tropische Nuancierung.«29 Solche Fakten können nicht als gegeben vorausgesetzt, sie müssen in historisch-kritischer Arbeit auf ihre Verläßlichkeit und Authentizität geprüft und von den im Überlieferungsprozeß erworbenen Zusätzen gereinigt worden sein. Daraus folgt: Die Spuren eines Bedeutungs- und Verwendungszusammenhangs gehören nicht zum Faktum an sich, sie werden an das Faktum herangetragen und haften seither an ihm. Edward H. Carr hatte zwischen einer »bloßen Tatsache der Vergangenheit« und einer »historischen Tatsache« unterschieden und arß: Beispiel des ermordeten Pfefferkuchenverkäufers auf dem Markt von Stalybridge Wakes 1850 erläutert, wie nach Jahr- ^lehnten aus einem bloßen Faktum'ein historisches werden konnte, sobald es die Aufmerksamkeit historischer Interpretation auf sich zog.3c Carr würde das Problem histori-Ichei" Referentialität am historischen Faktum orientieren, Xiftüte hat es am bloßen Faktum orientiert. Er spricht vom »weiter of facts which have the meaningless structure offnere seriality«3'. Doch wenn White sich nicht dem Vorwurf eines latenten Positivismus im Umgang mit den Fakten aus-setzen will, muß gesagt werden: Nicht weniger als die Erzählung selbst ist auch das Faktum gemacht, zumal wenn es SjCh dabei um ein Ereignis handelt, das sich ja nur als Erzäh- : lung sinnvoll zur Sprache bringen läßt. Nicht nur Faktum und Ereignis, die einen Quellenautor haben, sondern auch s diejenigen, die vom Historiker heute aufgefunden, sortiert und arrangiert werden, sind noch vor der Präfigurierung des historischen Feldes gemacht. Die Frage ist, ob man sich über, diesen Charakter der Fakten hinwegsetzen und sie im Zustand der Unschuld benutzen darf. Hier verstrickt White sich in einen Selbstwiderspruch.32 Interpretation »fließt in jedes historische Faktum mit ein«, schreibt Carr und dürfte den Konsens unter reflektierten, methodisch wachen Historikern allgemein vertreten" Die Faktizität zeigt sich nur Íri ihrer Historizität. Das bloße, von Bedeutungszuschreibun-gen unberührte Faktum hat für die konkrete Arbeit des Hi-storikers keine Relevanz, es ist kein Baustein historischer, Erzählung und Argumentation.- White sagt es selbst: Der, Referent ist nicht die Realität außerhalb des sprachlichen Zeichens. Darum geht es nicht mehr; es geht vielmehr um Referentialität, die sich in einem Argumentationswirrwarr verschoben hat zu einer »matter of imagining both the real world from which one has launched one's inquiry into the past and the world that compromises one's object of in-terest«.34 24 'Linguistic turn« und »historische Referentialität«. »Linguistk turn« und »historische Referentialität« 25 Hat die Frage nach der historischen Referentialität eiri^flf Antwort gefunden, die skeptische Historiker zufriedenstellt': oder ist nicht alles nur noch schlimmer geworden, sind nichts auch die letzten Reste dieser Referentialität, die ihren Na-;:^ men noch verdient, in den Strudel der Diskussionen um den!^ linguistic turn hineingezogen worden, da die Tatsache, dtelf historisch relevant ist, die bereits interpretierte Tatsache ist?^§ Das könnte durchaus sein, wenn der Referent als substan- "• tieller Bestandteil einer »historischen Wirklichkeit« verstarb % den wird. Doch weist diese Wirklichkeit überhaupt Sub- .-stantialität auf? »Historische Wirklichkeit« ist im Munde ~i zahlreicher Historiker zu einer Beschwörungsformel ge-worden: Wenn der subjektive Anteil an der Beschäftigung "• mit Vergangenem auch groß ist, die letzte Bastion aber, die dem subjektivistisch-postmodernen Angriff trotzt, meint '.-man, sei die »historische Wirklichkeit«. Sie verbürgt angeb- ■ lieh die Wissenschaftlichkeit der historischen Disziplin, die traditionellerweise mit dem Objektivitätspostulat ihrer Aus-sagen verbunden wird. Der Begriff »historische Wirklichkeit« ist jedoch mehr als problematisch, : -. Wirklichkeit begegnet uns im Modus der Gegenwart, be-glückt, bedrängt und schlägt uns vor den Kopf - und zwar jetzt. Was vergangen ist, ist nicht mehr, ist also auch nicht wirklich. Was bleibt, ist nicht der Schlag, sondern die Beule - und auch sie bleibt nicht immer, »Historische Wirklichkeit« ist ein Begriff, der, genau bedacht, ohne Inhalt ist. Allenfalls könnte er bezeichnen, was für die Zeitgenossen einst wirklich war, Doch auch das wäre nur eine partielle Wirklichkeit, das, was der eine oder andere für wirklich hielt oder herbeiwünschte, aber nicht die Wirklichkeit selbst.35 , Dennoch gibt Hayden White nicht der postmodernen Neigung nach, die Wirklichkeit, formelhaft gesagt, dem Text zu opfern. Er empfiehlt vielmehr, respektvoll mit der Vergangenheit umzugehen, denn »die Tatsache, daß wir Arbei- : ten über die Geschichte schreiben, beweist hinlänglich, daß ■"diese für uns erkennbar ist«36. Erkennbar ist sie allerdings, nicht in ihrer manifesten, vordergründigen, konventionell ^eingespielten und deshalb objektiv gegebenen Art, sondern nur auf ihrer latenten, »flgurativen« Ebene, wo die Erzäh- ■ ■ hing zeigen kann, »daß die Welt menschlicher Taten real und ;: geheimnisvoll zugleich, das heißt auf geheimnisvolle Weise ■: wirklich ist«.3'' Der Erzählverlauf ist keine übertragene Re-;■■■ produktion der tatsächlichen Abläufe einst, und doch erfaßt die Erzählung das vergangene Geschehen, wie es wirklich j. war. White interessiert nicht das Oberflächenphänomen hi-v storischer Ereignisse, sondern deren Tiefendimension, Das. '!''■ ist deutlich genug. Die historische Referentialität wird nicht ■ preisgegeben, auch von White nicht, ganz im Gegenteil: Um ;. sie bemüht sich alles historische Denken, auch wenn es ver- . fehlt ist, das Problem der Referentialität mit dem Hinweis. : auf die Faktizität der Tatsachen zu lösen. Referentialität ist v kein Problem der ersten, sondern der zweiten Ebene histori-, f scher Operation. Referentialität ist nicht der Begriff, um den es im historischen Realismus des 19. Jahrhunderts ging. Das :: hat Ernst Hanisch verkannt, wenn er in kritischer Wendung i gegen White »auf der fundamentalen Bedeutung einer mög-: liehst genau definierten historischen Realität« weiterhin beharrt, um an der Wissenschaftlichkeit der Historie festhalten ; zu können.38 White kann sich bei einer solchen Beteuerung : nicht beruhigen, er arbeitet sich vielmehr an der Schwierig-.; keit ab, einen Zugang zu historischer Realität zu finden und einen angemessenen Umgang mit ihr zu pflegen, so unangebracht es ist, diesen Begriff noch zu benutzen. Ein anderes Problem besteht darin, daß White die Tropo-: logie auf den narrativen Vorgang konzentriert, Analyse und : ideologische Verwendung der Geschichte von ihm abhängig ■ macht und den Eindruck erweckt, als ob sich die Sprache; : zwischen die vergangenen Tatsachen und unser Bemühen: : schiebt, diese Tatsachen zur Sprache zu bringen, und als ob . ein vorsprachlicher Zugriff auf Vergangenes ausgeschlossen 26 »Linguistic tum« und »historische Referentialit'dt« Wi wird. Es wurde gelegentlich gegen White eingewandt, daß er C" einem Mißverständnis im Umgang mit Tropen aufgesessea-S| sei. Die Tropologie der Sprache dient nämlich nicht dazu, y isolierte und vielleicht sogar disparate Tatsachen in einen gf Deutungszusammenhang zu zwängen und Texte eindeutig;'-?! zu klassifizieren, eben als Romanze, Komödie, Tragödie :§| oder Satire, und die darauf gründende Argumentationsweise; J| historischer Erklärungen entsprechend als formativistisch, jl organizistisch, mechanistisch und kontextualistisch bzw. hinsichtlich ihrer ideologischen Implikation als ariarrhi-- ^ stisch, konservativ, radikal oder liberal zu kennzeichnen/* .1 Nach Irmgard Wagner dient die Tropologie vielmehr dazüy-S| zwischen den »ReaHtätspartikeln«, die in unser Bewußtseins! eingegangen sind, und dem »als Zusammenhang zu konsti- ')t tuierenden Text«40 zu vermitteln. Das ist auf allen Ebenen '."-f der Beschäftigung mit Vergangenheit der Fall: in der Fest- ^| Stellung und Beschreibung von Tatsachen, in der Erzählung"; | und in der geschichtsphilosophischen bzw. -theoretischen \| Reflexion, ebenso in der ideologischen Verwendung histori- i% scher Argumente. Mehr noch, die Tropen sind es, die dafür \f sorgen, daß die beschriebenen Ebenen nicht voneinander ge- "l trennt, sondern umgekehrt miteinander verknüpft werden* -1 »Der Witz eines historiographischen Textes Hegt gerade in'-.l dem Wie seines Realitätsbezugs und genau dieses Wie will ■'. 1 das tropologische Lesen erkennen.«41 Dieser Realitätsbezug ■ f will Beziehungen und nicht Zustände zur Sprache bringen, '. | Daraus kann gefolgert werden: Die tropologische Methode | wird nicht erst eingesetzt, wenn es darum geht, Tatsachen | und Tatbestände bzw. Ereignisse in eine Erzählstruktur ein- 'f zufügen, sondern bereits bei der Ermittlung und Festste!- ' I lung der tatsächlichen Details selbst. Sie werden, wie bereits I gesagt, schon immer als in Beziehung stehende Tatsachen ■ I vorgefunden, so daß ein Gesamtbild entsteht. Das erklärt . ; auch die von Groddeck erwähnte semantische Aktivität im tropologischen Ausdruck. Hier entscheidet sich, ob der Realitätsbezug gewahrt oder preisgegeben wird. So gesehen »Linguistic turn« und »historische Referentialität« 27 ; ist die Tropologie nicht nur das Netz, das über die Fakten geworfen wird, um sie in Sprache einzufangen, sondern die Vernetzung, in der sie sich begegnen. Auch ist die Tropologie das Werkzeug, das vorher schon von Detail zu Detail und an verschiedenen Stellen eingesetzt wird, um die Voraussetzung dafür zu schaffen, überhaupt etwas in geschlossener Weise erzählen zu können. Diese Sachlage hatte Roland Barthes einst in seinem Aufsatz »Was ist Kritik?« ähnlich beschrieben: »Jeder Romancier und jeder Dichter, welche Umwege die Literaturtheorie auch immer gehen mag -gilt als jemand, der von Objekten und Phänomenen - und seien es imaginäre - spricht, die außerhalb und vor der Sprache liegen. Die Welt existiert, und der Schriftsteller spricht: das ist die Literatur«.42 Und an anderer Stelle spricht er davon, daß die »wahre Literatur« nach einem »vermittelnden Stand zwischen den Dingen und den Wörtern« suche. »Das realistische Werk ist nicht jenes, das die Wirklichkeit »schildert--:, sondern jenes, das, indem es sich der Welt als Inhalt bedient (dieser Inhalt selbst liegt im übrigen außerhalb der Struktur, das heißt außerhalb seines Wesens), so tief wie möglich die irreale Realität der Sprache erforscht.«43 Das Problem, das sich bei White stellt, entsteht, weil das historische Feld, einerseits nur im präfigurierten, schon tropolo-gisch durchsetzten Modus ansichtig wird und andererseits seine Faktizität behauptet werden muß, um den Unterschied der tropologisch-fiktionalen Rede in der Geschichtsschreibung und in der Literatur markieren zu können. Noch einmal: Damit hat White sich in eine widersprüchliche Lage manövriert, die nur aufzulösen wäre, wenn er sich darauf eingelassen hätte, die vorausgesetzten, noch nicht präfigu-rierten Tatbestände genauer zu erläutern, die Beziehung zwischen res, d, h. dem Nichtwörtlichen, der gedanklichen Fassung eines Sachverhaltes, und dem verbum bewußter nachzuvollziehen und den Augenblick zu entdecken, in dem sich eine bestimmte Trope für die Interpretation des historischen Feldes anbietet. Die Aufsätze nach Metahistory, be- 28 "Linguistic turn« und »historische Referentialität« »Linguistic turn« und »historische Referentialität« 29 sonders in der Diskussion um das Holocaust-Thema^4, b, wegen sich gelegentlich in diese Richtung. Tropen unterhalten ein enges Verhältnis zur GeschichfL. ja, sie sind aus dem Stoff, aus dem Geschichte ist. Sie ert^t stammen einem bestimmten kulturgeschichtlichen Raua,^ Da die Gegenwart vergeht, hat die Sprache der Gegenwärfl keine Chance, irgendwelche Aussagen über Gegenwärtig^! und Vergangenes zu machen, die nicht selber der Verändere lichkeit unterlägen. Um sich aber dennoch sinnvoll darübe j| verständigen zu können, was ist oder war, bietet sich die trd^ pologische Redeweise an. Sie vermag mit dem Angebot anäS' loger Ausdrucksweisen (»etwas ist wie«) Vergangenes au?"| seiner Zeit zu heben und zu vergegenwärtigen. Sie kann den Veränderungskoeffizienten suspendieren und dem Ge>| schehenen, das zur Sprache gebracht wird, quasi Dauer und" Konsistenz verleihen, so daß sich sagen läßt, »ja, so war es*, -bzw. einen metaphorisch ausgedrückten Tatbestand als qua-" si objektiv oder realistisch habitualisieren, so daß er als gesi- -cherte Tatsache in den Wissens bestand der Nachgebore nen. eingeht. \; Ein B eispiel soll das verdeutlichen. Martin Luther wurde---von Hans Sachs in einer Flugschrift als die »Wittenbergisch./" Nachtigall« begrüßt, »die man jetzt höret überall«.45 Daraus", ergab sich die Deutung der Reformation als Morgendämme-"-rung: Vom Horizont her wird es hell, die Vögel beginnen zu singen und zu zwitschern, taufrisch sind Gras und Blätter, die Geister regen sich, alles ist im Aufbruch und strebt dera-hellen Tag zu. Das reformatorische Geschehen ist natürlich'. stricte dictu keine Morgendämmerung, auch keine Landschaft in der Frühe, sondern wird nur einer Erfahrung nachgestaltet, die unverändert immer wiederkehrt: Am Morgen ' dämmert es, das Zwielicht weicht, und der helle Tag beginnt. Das ist so, und das war so. Die Finsternis ist besiegt, und das Licht triumphiert. Über das Reformationsgeschehen wird ein Raster gelegt, das den einzelnen Ereignissen dieses Geschehens einen Sinn verleiht, den sie im Moment ihres Ab- ^"ofs n°cn nicnt häben konnten. Das Raster ist zeitlos, nach: ^Ltturhaft feststehendem Muster läuft der Kampf zwischen '"ticfit und Finsternis ab und suspendiert die Möglichkeit, 'daß ^as Geschehen sich von Ereignis zu Ereignis auch anders hätte entwickeln können. Die grundsätzlich unberechenbare Veränderlichkeit des Geschehens wird aufgehoben ^d in einem Sprachbild objektiviert, das die Tradition der Vorstellung begründet, die Reformation habe eine neue Zeit eröffnet und sei eine Zäsur von weltgeschichtlicher Dimension. Kaum jemand kommt mehr auf die Idee, das anders zu sehen. Für viele ist das nun einfach so. Man könnte von einem Prozeß der Veräußerlichung bzw. Verobjektivierung eines Geschehens sprechen, das sich genaugenommen nur noch als ein Sprachgeschehen fassen läßt, wenn es zur bewußten Erkenntnis gebracht werden soll. Im Grunde hatte diese undurchschaute Fähigkeit tropolö-gjscher Sprechweise die Illusion historischer Objektivität bisher genährt. Erst die Diskussion um die historische Referentialität hat den Tropologievorbehalt affirmativer Rede (»es war so*) an den Tag gebracht, so daß man nicht mehr sagen kann, daß etwas so oder so war, sondern daß es nur so war, wie es die Sprache auszusagen zuläßt. Das heißt: Die historische Referentialität ist nicht im vergangenen Objekt; verankert, die historische Aussage kann deshalb nicht am Maßstab dieses Objekts beurteilt werden. Die historische. Referentialität steckt auch nicht in der Beziehung, die zwischen dem Verstand des Historikers und einer vergangenen Welt besteht, sondern sie wird nach White eindeutiger, als bisher angesprochen, in die Beziehung verlegt, die »zwischen jenen Dingen, welche durch die und in der Sprache, geschaffen werden«, existiert, und »den anderen Arten von Dingen besteht, aus denen sich die gewöhnliche Wirklichkeit zusammensetzt«.46 So vermag die Sprache zweierlei: 1, Sie kann die geschichtlich bedingte Begrenztheit ihrer Aussagekraft trans-; zendieren und für einen Augenblick festhalten, was sich rea- mm 30 »Linguistic turn« und »historische RefetentialitäU Iiter in sich verändernder Bewegung befindet. 2. Sie trenne.-; den Historiker von der Welt des Faktischen, die vergangen ist, und sie verbindet ihn mit eben dieser Welt, denn Sprache^ Begriff, Metapher und Erzählung sind die einzigen Mittel^ die der Historiker hat, um sich Vergangenes zu erschließend] und zur Erkenntnis zu bringen. So wird ihm die Vergangen* ^ heit zur Geschichte und die Geschichte zum Text. Damitz setzt er sich nicht nur von einem vulgären Realismusver*"' ständnis ab, sondern bricht auch mit subtileren Konzeptes" von Wirklichkeit in der neueren Realismusdebatte. White' hat nun gezeigt, daß die Realität sich nicht in ihrem sprach*-/: lieh formulierten Abbild zur Geltung bringt, als Spiegelung"" des Gewesenen in der Geschichtsschreibung, und die Wahr-" heit des Faktischen nicht ein für allemal festgestellt werden.-" kann, indem danach gefragt wird, ob die Aussage über das -Vergangene mit dem Vergangenen selbst übereinstimme Eine solche Korrespondenztheorie wird abgelehnt. Die-Wahrheit des Faktischen, so ließe White sich in die Gedan- " kenflucht einordnen, die Walter Benjamin in seinen Ge- -schichtsthesen (1940) andeutete, entsteht in dem Augenblick, -in dem die Gegenwart sich als vom Vergangenen »gemeint« erkennt, die Zeit zum Stillstand kommt, der katastrophale Gang des Fortschritts unterbrochen wird, und die Gegenwart sich in eine bessere Zukunft führen läßt.47 Damit wird das Faktische nicht untergraben oder annulliert, sondern wahrgenommen und angeeignet. Angeeignet wird nur, was moralisch zu verantworten ist und das Miteinander der Menschen erträglicher macht. Was das Miteinander unzumutbar belastet, zerrüttet oder zerstört, muß abgestoßen werden. Nur das kann die Vergangenheit »gemeint« haben, und darin besteht ihre Wahrheit. Diese Wahrheit ist nicht allumfassend, sie ist partikular. Dem einen begegnet sie in der Romanze, dem anderen in der Tragödie, Komödie oder der Satire, manchen in einer Mischung aus allem. Offensichtlich relativiert die historische Erkenntnis nicht, um Beliebiges aus der Geschichte herzuleiten - ein Vorwurf, der »Linguistic turn« und »historische Referentialität« 31 -" ostmodernem Denken oft gemacht wird. Sie relativiert die jijstorische Erkenntnis vielmehr, um die Zukunftsträchtig-feeit des Vergangenen zu sichern. Es ist nicht nur ein Weg, Jef weiterführt. Auf keinen Fall löst sie das Objektivitätspostulat der traditionellen Geschichtswissenschaft ein. »Metapher can be very useful in stating insights into the way the world is, or may be taken to be, and should therefore not J)e banned from cognitive discourse aiming to state the: truth.«48 So hat der Literaturwissenschaftler Jan Johann Albinn Mooij (Groningen) den Wahrheitsgehalt tropologi-scher bzw. metaphorischer Rede behauptet. Wenn es also doch einen Sinn haben sollte, von der »Wahrheit der historischen Wirklichkeit« zu sprechen, dann ist es die Wahrheit des Vergangenen, die uns in der Gegenwart begegnet und ethisch verantwortbare Wege in die Zukunft eröffnet: im sorgsam reflektierten Umgang mit tropologisch gefaßter ; Refer entialität. II Narrative Logik und historische Forschung ;-l Im Zuge neuerer Überlegungen zur Geschichtstheorie j|| die Erzählung in den Vordergrund gerückt: in Arthur öS Dantos Analytischer Philosophie der Geschichte, in HaytUiS Whites Metahistory und Paul Ricceurs Zeit und Erzählung} Gewöhnlich wurde erzählt, was erforscht oder es4" kannt worden war. Das forschende Verstehen hatte Vordrang, während die Erzählwetse nicht sonderlich gepflegt wurde und in den Hintergrund trat. Was gut geraten war" wie die großen Darstellungen Leopold von Rankes, Jule^ Michelets oder Thomas Carlyles, wurde nicht auf sorgsani' erlernte Fertigkeiten, sondern auf erzählerisches Talent, zurückgeführt. Einige Historiker weigerten sich sogar; überhaupt noch zu erzählen. Sie wollten nur forschen, historische Sachverhalte möglichst genau erfassen und ihre Ergebnisse unumwunden zu Papier bringen. Hier hatte die. Geschichtswissenschaft sich endgültig von der Rhetorik getrennt, die das Erzählen von Geschichten jahrhundertelang in ihre Obhut genommen hatte. Das Bedürfnis nach histo-" rischem Erzählen wurde fortan nicht mehr von geschieht?-wissenschaftlicher Literatur befriedigt. Wie bereits erläutert wurde, weist Hayden White der Erzählung eine andere Rolle zu. Sie ist das Instrument, dessen Anwendung die Vergangenheit überhaupt erst erschließt; mehr noch: Die Erzählung ist historische Erkenntnis - ein Begriff, der mehr Einsicht als wissenschaftlich begründetes Urteil meint. Was man sonst von Vergangenem weiß, sind Kenntnisse von Sachverhalten bzw. Tatsachen, die auf unterschiedliche Weise in unseren Wissensbestand gelangt sind* Man weiß, daß Cäsar 49 vor Chr. den Rubikon überschritt, man weiß, daß Girolamo Savonarola 1498 n. Chr. auf der Piazza de la Signoria in Florenz gehängt und verbrannt wur- Narrative Logik und historische Forschung 33 Wf^ man weiß auch, daß um 1500 die Karavelle in Venedig Genua zur Karacke umgebaut wurde und mehr Wind in Sff Segel bekam als die Schiffe vorher. Ohne diese technische Weiterentwicklung wären die Küsten der Neuen Welt "öieht erreicht worden. Das sind Tatsachen, die dokumentiert ^d chronikalisch überliefert sind, und es gibt zunächst keinen Grund, den Berichten und Dokumenten zu mißtrauen. g0lJten dennoch Zweifel auftreten, stehen Mittel und Methoden zur Verfügung, um die Faktizität der Sachverhalte zu überprüfen. Im Grunde aber interessiert White sich dafür nicht, denn solche Kenntnisse vermitteln noch keinen Eindruck von der Vergangenheit. Sie erklären nichts, so wie eine chronologische Auflistung von Ereignissen, Geburts- und Todesdaten noch nichts darüber preisgibt, wie die Ereignisse miteinander zusammenhängen und Bedeutsamkeit erlangen. Die Erzählung hingegen ist, wie schon Arthur C. Danto darlegte, eine Form der Erklärung. Was wir von der Vergangenheit erfahren, wird von Erzählungen vermittelt. Über die Vergangenheit läßt sich nicht »realistisch« reden, sondern nur »metaphorisch«. Die Metapher bildet die vergangene Realität nicht ab, sie repräsentiert sie, besser noch, sie präsentiert sie. Genau daran entzündete sich der Streit mit Vertretern der traditionellen Geschichtsschreibung. White wird vorgeworfen, daß es ihm nicht um die Vergangenheit selbst, sondern nur um die Art und Weise geht, wie über sie gesprochen wird. So aber, meinte man, könne niemals historische Erkenntnis gewonnen werden, man erfährt nur etwas über das Darstellungsvermögen der Autoren, die über Geschichte schreiben und deren Texte aufeinander verweisen, jedoch nichts über die vergangene Realität. Gabrielle M. Spiegel meintet »Geschichte, die Vergangenheit, wird zu einem Subsystem sprachlicher Zeichen, zu einem Sprachspiel nach den Regeln einer Sprachgemeinschaft, der die Historiker angehören.« Im Grunde befürchtet sie, daß die »Vergangenheit« sich in Literatur auflöst.2 34. Narrative Logik und historische Forschung Narrative Logik und historische Forschung 35 i ifflt Daß White sich auf eine andere, nichttraditionelle W<* doch um die Referentialität der historischen ErzähhjS bemüht, ist im vorigen Kapitel gezeigt worden. In diesen Kapitel wird dasselbe Problem noch einmal anhand Lösungsvorschläge erörtert, die der niederländische^! Schichtstheoretiker Frank R. Ankersmit zur Diskussion" stellte. Er begann zunächst auf der Linie Whites zu argumentieren und schlug erst später einen Weg ein, der den angeblich drohenden Realitätsverlust der historischen Erzähl lung im postmodernen Denken allgemein durch eine Thel|t rie besonderer Realitätsnähe abzuwenden versuchte. 1 Ankersmit, der die Sprache des Historikers in Narratijj^ Logic einer semantischen Analyse unterzog, brachte die. Kontroverse um ein neues Geschichtsverständnis bzw. ejQ nen anderen Umgang mit Geschichte auf folgenden Begriff! »narrative idealism« versus »narrative realism«\ Damit wjjff er keineswegs den Vorwurf des Realitätsverlusts bestätigärjp der gegen Whites narrativen Idealismus erhoben wurde,-sondern zum Ausdruck bringen, daß beide Weisen, Erzählung zu konzipieren, einmal realistisch und das andere Mal idealistisch, aus einem unterschiedlichen Verständnis von Realität erwachsen. . »Narrative realism«: Obwohl die historische Arbeit in der Tradition des Historismus von der Einsicht in die Geschichtlichkeit des Lebens bestimmt wird, trennt sie das Er-kenntnissubjekt vom Erkenntnisobjekt, dem allein Geschichtlichkeit attestiert wird. Das Erkenntnissubjekt erhebt sich indessen über den »Strom der Zeit« und beobachtet von einer Position oberhalb dieses Stroms, wie Ankersmit mem£ was unten dahinfließt. Die Aufgabe, der sich der Historiker, stellt, ist die Wiedergabe dessen, was er beobachtet. Er macht sich ein Bild vom Gewordenen. Das Ergebnis ist eine llf«ietische Reproduktion dessen, was war. Das Kriterium^ iKtjber den Wahrheitsgehalt des Bildes entscheidet, ist die \ Kföstbrische Realität«. Was mit ihr nicht deckungsgleich ist,, ^-tektivisch verkleinert, kann nicht wahr sein. Das ist, ' skizziert, der narrative Realismus, der mit dem Wirk-Jlfjlnkeitsverständnis, das ihm zugrunde liegt, sogar noch das fllSöderne Konzept der Geschichte als historischer Sozialwis- • senschrit bestimmt, wie Ankersmit meint, den Versuch ••'•^jinlich, mit sozialwissenschaftlichen Analysemitteln zu: rekonstruieren, warum und wie sich die Modernisierung •jpj Herzen Europas vollzogen hat. Rekonstruiert wird t$A$ »Wesen« des Vergangenen (»the essence of parts of . past«) - und die Sozialgeschichte ist das angeblich letzte PiSüed in der Kette eines solchen essentialistischen Ge-Sajchichtsverständnisses: »The triumphant note with which facial history made its entry, particularly in Germany, is the. ;m0st striking proof of the optimistic self-overestimation on jhe part of these historians, who feel they have now found Sf§ie long-sought-after key which will open all historical i /doors.«; _ _ . t\ Narrative idealism«: Von einem anderen Wirklichkeits-Ijyerständnis geht der narrative Idealismus aus, den Anker- • jrnit selber vertritt. Um das erwähnte Bild wieder aufzugreifen: Das Erkenntnissubjekt vermag sich nicht über den SHStrom der Zeit« zu erheben, sondern wird von ihm mitge-, rissen. Für den Historiker ist die Wirklichkeit nicht überschaubar, er ist in sie ganz und gar verwickelt und erfährt ■ sie, indem er sich selber fortwährend verändert, als Chaos., f Diesen Ausgangspunkt beschreibt Ankersmit so: »The past ^as such cannot be understood by us: in itself, the past is a, .meaningless myriad of facts, states and events, an amorphous chaos of data that successfully resists a .conscious apprehension' by the historian.«5 Mit diesen Worten gibt er die I Meinung Hayden Whites wieder. So ähnlich hatte schon : Max Weber die Wirklichkeit beschrieben, ein Chaos, dem, partiell eine Ordnung gegeben werden muß, wenn irgend et- i Ii 36 Narrative Logik und historische Forschung HatTdťľve Logik und historische Forschung 37 was an ihm oder von ihm erkannt werden soll. Aus die; geschichtstheoretischen Einsicht folgt ein Schluß, derlj »praktizierenden« Historiker zum Umdenken zwingt: { vergangene Wirklichkeit wird nicht rekonstruiert, son$ konstruiert. Wer meint, daß damit die reine Willkür in:5 Arbeit des Historikers eingekehrt sei bzw. die Vergangen heit in den Konstruktionsplan des Historikers eingezwätj||; werde, hat den Ansatz dieses neuen Denkens nicht verst den. Es ist der Versuch, die Aporie zu überwinden, in die detj'i; Historismus geraten war, indem er zwar von der Einsicii^^p die Geschichtlichkeit ausgeht, die Konsequenzen aus diesig ' Einsicht aber nicht für die Reflexion über das Erkenntfif|||gs Subjekt gleichermaßen zur Geltung bringt. Der traditiodejßp^ Hinweis auf die Perspektivität der historischen Arbeit reicht- PI hier nicht aus. Der Bezug des Historikers auf sich selbst h& nichts mit einem »Narzissmus postmodernen Schreiberij|| zu tun, wie Richard Evans unterstellt. Ankersmit spiej§t nicht die Selbstreferenz gegen den Bezug auf die Vergangetpf|g heit aus, will auch nicht zu »aufgeblasener Wichtigtuere^ll Solipsismus und Anmaßung führen«6, sondern dafür plädier ren, auch die Geschichtlichkeit des Erkenntnissubjekts vpl^p in Rechnung zu stellen. Ankersmit verfolgt nicht die Abv'f . sieht, einen philosophischen Beitrag zur Geschichtlichkeit des Daseins zu leisten, er will nur die Konsequenzen aus deäfeg; Geschichtlichkeit des Erkenntnissubjekts für die Beschäfti<:| gung mit der Vergangenheit bedenken. Der konstrukrivistfe sehe Ansatz gibt die »historische Realität« nicht preis, wie. oft behauptet wird, neben Evans zuletzt mit ebensowenig Verständnis für Ankersmit und White, für Barthes und Foucault die Einführung in die Geschichtstheorie von Chris. Lorenz. Das ist um so bedauerlicher, als er mit dieser Einführung diejenigen verwirrt, die auf die neuesten geschichtstheoretischen Überlegungen neugierig sind. Er nennt seine Einführung im Obertitel eine »Konstruktion der Vergangenheit«, obwohl er das konstruktivistische Geschichtsver-• ständnis, zumindest wie es von sogenannten postmodernen sz«rit0nkem artikuliert wird, eigentlich ablehnt. Im Text sei-Ípf3št häufig genug von der Rekonstruktion, aber nicht von ~ WKonstruktion der Vergangenheit die Rede.7 Doch hier • Iii nur ein Entweder-Oder: Wer sowohl von Konstruktion ífjláUcH von Rekonstruktion spricht, hat sich noch nicht auf ^^Radikalität dieses neuen Geschichtsverständnisses einge-%ssen. Im übrigen wird nicht die Vergangenheit konstruiert» |||6b es sie sonst nicht gäbe, konstruiert wird die Geschieh-.^i Nicht alles, was vergangen ist, ist Geschichte. Aus dem Amorphen des Vergangenen wird zur Geschichte nur das, bleiben, was »Reformation« ist. Genaugenommen ist abejäf auch das kein feststehendes, unumstößliches Urteil, wie e|S stricte dictu auch keine Erkenntnis im epistemologischegSf Sinn ist, es ist nur eine These bzw. ein Vorschlag, wie bereits^! gesagt wurde, den bezeichneten Geschehenszusammeukm^ß: als historische Realität in der dargebotenen Weise zu seheftpig »These proposals are essentially the means of showing ht- '-. storical reality.«n Darin ist Ankersmit zurückhaltender als--";- | White. Ein anderer wird diesen Zusammenhang möglicher- § weise anders sehen und ein dritter wieder anders. So bleibt es nicht aus: Begriff und Verständnis von »Reformation« sind und bleiben umstritten. Und gerade diese Vielfalt mög* licher Vorschläge ist es, die das forschende Nachfragen wie-^ der bzw. weiter aktiviert, um über die Qualität des einen, oder anderen Vorschlags urteilen zu können und um neuef Gesichtspunkte für eine verbesserte Interpretation bereitzustellen. Je mehr Daten bzw. »Statements« miteinander in einem Zusammenhang vernetzt werden und je komplexer Vergangenes dargestellt wird, um so plausibler wird eine Er-§§ zählung sein. Plausibilität (das eine paßt zum anderen) wird in diesem Fall zum Kriterium, welches das Objektivitätspostulat (das eine wird als wahr und das andere als falsch er-: . wiesen) ablöst. Was in der kritischen Auseinandersetzung oft übersehen wird, Forschung und Interpretation fordern einander, auch wenn sie getrennten Arbeitsebenen angehö- -"*a* »Showing and proposals are both halfway between l^gbased upon knowledge [von der Forschung im Sinne., lifköniralicher Epistemologie bereitgestellt] and having or ^Utihihg knowledge [ebenfalls das Ergebnis weiteren For-HhensJ. Both are more comprehensive than knowledge: : ^Bowing (the past) and suggesting a proposal (as to know the , %ast should be looked at) or a road to knowledge of the past lad an indication of how to deal with it.«" v So ist die Forschung, in der die historische Referentialität :^ie eh und je ihren festen Platz hatte, nicht nur die Voraussetzung der Interpretation (ohne die »Statements« gibt es :■ nichts zu interpretieren), sondern auch ihre Folge. Doch an- : ;Hers als herkömmlicherweise ist diese Referentialität in ei-iien von der Erzählung dominierten Prozeß des historischen Schreibens integriert, obwohl die kognitive von der narrati- : ven Ebene theoretisch und methodologisch unterschieden wird. Jetzt werden Erzählung und Forschung intensiver als bisher miteinander kombiniert. Das zeigt sich darin, daß die. Erzählung gegenüber der Forschung nicht nur aufgewertet wird, sie nimmt ihr gegenüber auch eine heuristische, also dienende Funktion wahr, wie die Forschung umgekehrt der: Erzählung dient, indem sie das »Material« bereitstellt, von dem erzählt wird. Noch einmal: Forschung führt nach An- . kersmit zu Kenntnis bzw. Erkenntnis (knowledge), erzählende Interpretation zu Einsicht (insight). Beides aber gehört, wenn auch in unterschiedlicher Funktion, zur »Anatomie« (Louis O. Mink) historischer Arbeit. Bei Ankersmit ■: wird die Notwendigkeit, sich Rechenschaft über die historische Referentialität im Umgang mit der Vergangenheit zu geben, stärker betont als bei White. Wurden wir bei White darauf gestoßen, das Problem der Referentialität neu zu fassen, anders also als im Rahmen objektivistisch-realistischer Epistemologie, ist das bei Ankersmit nur bedingt der Fall.. Er weist der Referentialität in der historischen Arbeit zwar einen neuen Platz an, sie ist Voraussetzung und Folge des: Erzählens, aber in sich bleibt es bei dem Lösungsvorschlag, 42 Narrative Logik und historische Forschung Narrative Logik und historische Forschung 43 den der Historismus im Rahmen der philosophischen^ kenntnistheorie des 19. Jahrhunderts gefunden hat. • ^ Dreierlei vermißt man bei Ankersmit: Zum einen wi^Er-versäumt, neben der Logik des Erzählens (»narrative logiert ebenso gründlich die »Logik« der historischen Forschtiifto (»historical research«) einer umfassenden Analyse zu untere ziehen, denn nur zusammen machen sie die Arbeit am Versal gangenen aus, so daß Geschichte entstehen kann. Zum and^l ren hat Ankersmit sich nicht intensiv genug auf die Fragif I eingelassen, ob in die Forsehungsanalyse, die sich am Pro^f blem der Referentialitat orientiert, nicht doch erzählerisch Elemente so tief eindringen, daß beide Ebenen (Forschung! und Erzählung) nicht wirklich getrennt werden können-."J ein Problem, das sich schon bei White zeigte. Ankersmit haff zwar in einem komplizierten Argumentationsgang heraus:-'! gearbeitet, welche Art von Gegebenem die Rolle des Referl renten übernehmen könnte, nämlich nur das »individuell thing«15, der eindeutig zu benennende, aller Zusammen*-! hänge enthobene Sachverhalt, nicht jedoch solche Sachver-Inhalte, deren Identität erst in den Beziehungen und überge^r ordneten Zusammenhängen in Erscheinung treten. ÜbrigH bleibt mit dem »individual thing«, wenn man Ankersmit^ nicht mißversteht, kaum mehr als ein dürres Faktum, so etwas wie eine Realie, die wenig Aussagekraft hat, ja, wohl überhaupt nicht haben soll. Ankersmit hat aber nicht eigent- ■ lieh berücksichtigt, daß auch die angeblich eindeutig benennbare Individualität geschichtlich geprägt ist, also zeitgebundener Bedeutungszuweisung unterliegt, die erkannt . werden muß, um eindeutig benannt werden zu können. ■) Man versteht nicht den Unterschied zwischen einer Kara-velle und einer Karacke, wenn der Entwicklungskomplex der Schiffahrtstechnik und die Sehnsucht nach einer »neuen Welt« nicht erläutert werden. Im Grunde wird der Referent auf die Faktizität des »individua! thing« reduziert. Sobald von ihm mehr gesagt wird, also wie etwas vorher war und wie es jetzt ist, sobald der Zeitfaktor einbezogen wird, ver-% ppifi-der forscher in interpretierendes Erzählen. Er begibt auf die Ebene, auf der Referentialitat im traditioneilen i^Üiiie feine Rolle spielen kann. Im Widerspruch dazu steht %zf0b&r was "ker ^e heuristische Funktion der Erzählung für ' ťhV Forschung und über die »Folge« der Erzählung gesagt Wilde- Es ist ja gerade schon narrativ Zubereitetes, das zur; /■ Grundlage für weitere Forschungen wird. Schließlich und ■■. I|findritten war der narrative Idealismus aus einer Kritik am traditionellen Forschungsverständnis erwachsen und zu der.. Einsicht gelangt, daß die Vertreter des narrativen Realismus gjner Illusion erlegen seien, wenn sie meinten, sie könnten ,■' jjg historische Realität auf annähernd objektive Weise zur .Darstellung bringen. White hat auf eindrucksvolle Weise in; ■ jtfetahistnry gezeigt, daß die traditionelle Geschichtsschrei--•bung grundsätzlich überhaupt nicht der zeitgenössischen • Epistemologie, sondern der »Logik« des Erzählens gefolgt .Sei. Im Grunde also, ließe sich folgern, habe diese Geschichtsschreibung, ohne es zu wissen, eine postmoderne ; f Erzählkonzeption erfunden - avant la lettre. Wenn die Logik des narrativen Idealismus sich also e contrario aus dem Irrweg des narrativen Realismus ergibt, dann hat es wenig Sinn, Voraussetzung und Folge der Erzählung noch diesen Irrweg beschreiten zu lassen. Es ist überhaupt nicht einzusehen, warum die Forschung einem Wirklichkeitsverständnis. verpflichtet sein soll, das die Erzählung bereits überwunden hat. Hier wird noch Klarheit vermißt. Trotz dieser Mängel kann der Ansatz, den Ankersmit in seinem Frühwerk entwickelte, als ein Fortschritt in einem doppelten Sinn gesehen werden: Zum einen wird das theoretisch bisher wenig durchklärte Verhältnis von Wissenschaft-, Hchkeit und künstlerischer Kreativität zu einem stringenten: Konzept der Geschichtsschreibung verarbeitet, und zum andern rindet das Realitätsverständnis der Historiker endlich Anschluß an die philosophischen, wissenschafts- und kunsttheoretischen Diskussionen der Gegenwart. Die historische Disziplin erhält einen modernisierenden Impuls; 44 Narrative Logik und historische Forschung Narrative Logik und historische Forschung 45 Herbert Schnädelbach hatte den Historismus eine »Aufkß^= rung der Aufklärung« genannt16, jetzt könnte der neue Nä£s= rativismus als eine Aufklärung des Historismus verstanden werden. Der neue Narrativismus steht in der Tradition vöif§ Aufklärung und Historismus. Er verändert, überbietet undi bereichert sie - auch dies ein »Projekt«, das noch nicht volj^ endet ist. Die von ihm vorgeschlagene Lösung des Referentialitats^ problems befriedigte Ankersmit wohl selber nicht. Die Re»: ferentialität in einem Arbeitsgang zu verankern, der nicht mehr zum Kernbestand der Operationen gehört, die im' eigentlichen Sinne historisch genannt werden könnten^ schwächt das Kriterium, das über die Sachgemäßheit einer., historischen Aussage entscheidet. Und diese Referentialität der alles beherrschenden Neigung der Sprache auszuliefern hatte ihn ohnehin nicht überzeugt, sonst wäre er nicht auf die halbherzige Idee verfallen, eine Losung im gespaltenen Miteinander von traditioneller Tatsachenfeststellung und ; postmodernem Erzählvorgang zu suchen. So diagnostizierte er die Situation noch einmal, in der die Referentialität zum Problem geworden war, und meinte, den Grund für dieses Problem darin gefunden zu haben, daß Realität und Sprache voneinander getrennt, ja, die Sprache »in Opposition zur Realität gerückt bzw. außerhalb der Realität plaziert« wurde,17 Hatte Hayden White einen Weg von der Sprache zur (historischen) Realität gesucht und die Referentialität, soweit es seine Prämissen zuließen, in den Erzählvorgang hineingezogen, geht Ankersmit jetzt den umgekehrten Weg: Er folgt % den Hinweisen, die in die Erfahrung von Realität eingegangen sind und darauf drängen, dieser Erfahrung den ange- ■: messenen sprachlichen Ausdruck zu verleihen. Auf diese i#eise soll ein »Kontakt zur Realität« behauptet werden, »der vom Wesen der Sprache noch nicht im voraus bestimmt ist*''- Es gibt natürlich unterschiedlich intensive, zumeist Vermittelte Erfahrungen von Realität. Worum es Ankersmit aber geht, ist die »unmittelbare« Erfahrung, d. h. die Wahrnehmung der Realität, wie sie enger und intensiver gar nicht gedacht werden könnte. Diesen Weg, so meint er, habe be~ , reits Johan Huizinga im Anschluß an die literarische Bewegung des »Sensitivismus« in den Niederlanden gegen Ende des 19. Jahrhunderts beschritten (»historische sensatie«) und '.. auf andere Weise auch erstaunlicherweise der spätere Hayden White, der die Anregung aufgegriffen habe, die mediale \ Verbform der griechischen Grammatik zu reaktivieren - . statt »ich wasche etwas« (aktive Form) oder »ich werde gewaschen« (passive Form) die Zwischenform »ich wasche mich« - und im Medium zu erkennen, daß die vorsprachliche Realität das Ihre dazu beiträgt, der Sprache den Ausdruck abzuverlangen, der zu einem angemessenen Verständnis der betreffenden Realität führt.^ Gemeint ist in diesem Fall die Realität des Holocaust, die nicht postmoderner Auslegungsbeliebigkeit ausgeliefert werden dürfe. Ob die neueren Absichten Whites im Sinne einer Wende richtig verstanden wurden, sei dahingestellt, auf jeden Fall hat Ankersmit eine Möglichkeit aufgezeigt, den Konnex zwischen Realität und Sprache so zu denken, daß der Historiker sich nicht mehr in zwei Erkenntnisbereichen bewegen muß, [ wenn er sowohl dem linguistic turn als auch der Referentialität gerecht werden will. Sprache und Realität sind auch nicht so ineinander verwickelt, wie Ankersmit es an Elans-.' Georg Gadamers Wahrheit und Methode kritisiert20, sie sind, so Ankersmit, vielmehr deutlich voneinander in der Erfahrung unterscheidbar und dennoch aufs engste miteinander verbunden, einer Erfahrung, die nach einem angemessenen sprachlichen Ausdruck verlangt. Ankersmit will die Bewegungsrichtung von der Realität zur Sprache sichern. Allerdings wird der Erfahrungsbegriff 46 Narrative Logik und historische Forschung Narrative Logik und historische Forschung 47 nicht so konzipiert, daß er den Historiker mit einer Kette;!^ storischer Ereignisse verbindet, ihn also in einen chronölölfl gischen Kontinuitätsstrom der Vergangenheit stellt und ihftfl als dem letzten Glied in dieser Kette die Möglichkeit: ve#Ä schafft, zurückdenkend und zurückforschend die Verbirg dung mit den Ereignissen aufzunehmen, die er genauer untere die Lupe nehmen und zur Darstellung bringen möchte. Da$ü wäre der Weg einer mittelbaren, überlieferungsgeschlcht^i lieh vermittelten Erfahrung und nicht einer unmittelbar 1 ren. Unmittelbarkeit kommt zustande, insofern historische..,-.! Erfahrung »immer eine Abgrenzung der erfahrenen Vergan-"-i! genheit« bewirkt, »sowohl von anderen Aspekten der Ver#| gangenheit als auch vom gesamten vorhandenen Wissen," I welches das Subjekt der historischen Erfahrung über den rer.., I levanten Teil bzw. relevante Teile der Vergangenheit besitzt«*-Noch deutlicher: »Historische Erfahrung ist gewissermaßen •. ein >Loch< oder >Bruch< in der Kontinuität unserer Erfahrung; | wie auch unseres Wissens von Realität.«21 So werden die Zeiten übersprungen, und die vergangenen Ereignisse können direkt auf denjenigen treffen, der sich ihnen zuwendet. f Ankersmit ist sich wohl im klaren darüber, daß diese Art intuitiver Empfindung, wie Huizinga die historische Erfahrung verstanden wissen wollte, kaum als Grundlage für eine Logik der Geschichtswissenschaft dienen kann, zumal era| weiß, daß eine solche Erfahrung nicht alitäglich, nicht er- | zwingbar und lediglich exzeptionellen Werken der Ge* Schichtsschreibung eigen ist. Offensichtlich will er zunächst . nur die Existenz und Dominanz des vorsprachlichen Bereichs gegenüber der Ordnung herausstellen, die dem einstigen Geschehen mit Hilfe der Sprache nachträglich gegeben . wird. Außerdem will er zeigen, mit welcher Sorgfalt die sprachlichen Mittel, die uns zur Verfügung stehen, eingesetzt werden müssen, um genau zu erfassen, was erfahren wurde. : Zweierlei ist auch an dieser Lösung problematisch. Erstens bleibt die Frage ungeklärt, ob es tatsächlich die vergan-. gene Wirklichkeit ist, die Direktiven erteilt, wie sie selber Verstanden werden will, oder ob es nicht doch die exklusiv-^gnadete Rezeptivität des Historikers ist, die ihren Part , zwischen Realität und Sprache spielt. Wäre ersteres der Fall, ^iätte Ankersmit sich nicht sehr weit vom traditionellen Rea-Jjsrmis in der Geschichtswissenschaft entfernt. Sollte letzteres der Fall sein, liefe alles auf das Ausdrucksverstehen des Historismus hinaus - mit allen Elementen des Bewußtseins-Subjektivismus, der gerade durch die neuere Sprachphiloso-;phie bzw. den linguistic turn überwunden werden sollte. Zweitens spricht Ankersmit jetzt mit Emphase davon, daß die Historie eine empirische Disziplin sei, da die narrartive Arbeit des Historikers ja in historischer Erfahrung gründe und abgesehen von der Erfassung des historischen Datenmaterials das »beständige Experimentieren« mit Sprache, also das Bemühen, die richtigen Worte für die Erfahrungsinhalte zu finden, ein Akt empirischer Wissenschaft sei.22 Gerade der Umgang mit Sprache, der Wirklichkeit zur Erkenntnis bringt, dürfte nach Walter Benjamin eher für eine reflexive als für eine empirische Wissenschaftlichkeit der Historie sprechen. Das intuitiv-unmittelbare Erfahrungsver-ständnis ist nicht das Erfahrungsverständnis, das dem positi-vistisch-rationalen Denken zugrunde liegt und in dessen Tradition es sinnvoll ist, die eine oder andere Wissenschaft eine empirische Disziplin zu nennen. Hier tragen die Über^ legungen Ankersmits zur Begriffsverwirrung bei, so nützlich es ist, über das Verhältnis von vorsprachlichen und sprachlichen Realitätsbereichen noch einmal nachzudenken.. Insgesamt ist die Selbstkorrektur Ankersmits wohl eher mißglückt als geglückt. Eine interessante Variante zu den Überlegungen über beide Realitätsbereiche hat Hermann von der Dunk, ein niederländischer Kollege Ankersmits, vorgelegt. Für ihn ist Reali- 48 Narrative Logik und historische Forschung Narrative Logik und historische Forschimg 49: .egenwärtiger Realität. In beiden Fällen geht es f tat beides: »silent prelinguistic sensorial impression as-^, as the subsequent conversion into the linguistic universe Eindeutig ist die Reihenfolge. Zuerst steht der Eindrül der von der vorsprachlichen Realität herrührt, und daap folgt die Umwandlung (»conversion«) dieses Eindrucfks£g|| seinen sprachlichen Ausdruck. Und doch wird diese R^ip^heans «uu «l»7 r«" -""^J. Ufe <<^5 Unsere bewußtgeworde-henfolge nicht nur postuliert, um hartnäckig am Herf|(fpiie-integrated re^*%"* erzählerische Struktur (»a nar-kommenen festzuhalten, sondern über den sprachliche^pSßien En^nrungen na ^ ^ ^ ^ yergatlgermeit Realitätsbereich erschlossen, in dem wir uns gewörmltcpp|>rative structure«), ega , £>iese Unterschiede sind nur bewegen und in dem uns Erfahrungen zu Bewußtsein kcttfitJK#er die Gegenwart ew^ a^er aucn Erfahrun- men. »It remains true [...] that our perception of realitjr2iv."gradueller Natur, a ^ ^ handelnden Personen cannot be separated from the ordering interpretation.gen analysieren a> - > L'iuciiug Interpretationgen zu anaiysi-cicu imi, ^ "iw » Die Bemühungen um die richtigen Worte deuten nämB#.p'Wals noch nicht abgeschlossen waren, darauf hin, daß wir es mit einer Realität zu tun haben, die -f bedacht, macht aber die vorgeschlagene Lösung anfechtbar, wird leider nicht Ausdrucksvermögen nötigt, sich ihr in immer wieder neuen.".. Versuchen anzupassen. Die Nötigung zur Anpassung* difc^f übrigens ein sprachlicher Läuterungs- und Präzisierungsakt^ ist, in dem Sprache von Sprache zerstört wird, um den Kontakt zur ursprünglichen Realität sprachlich wiederhef-1 zustellen, wird als Spannung erfahren, die sich aus dem Be*Ä rührt- und Bewegtwerden durch beide Realitätsbereiche ergibt. Ontologisch gesehen dominiert der vorsprachliche, er- ■ kennmistheoretisch der sprachliche Bereich. Was »real« ist» wird uns in sprachlichen Formen der Verständigung klar. Doch diese Erkenntnis löst die erwähnte Spannung nicht auf, denn je präziser die Beschreibung des ursprünglichen | Eindrucks ausfällt, um so mehr sensibilisiert sich unsere Rezeptivität für diesen Eindruck und vertieft unsere Kenntnis. Und der vertiefte Eindruck nötigt uns, ihn wiederum angemessen zum Ausdruck zu bringen. Auf diese Weise bleibt die Spannung erhalten und wird zum-hernie- | neutischen Ort historischer Arbeit. Wichtig ist Hermann von der Dunk allerdings die Feststellung, daß dieser Ort nicht nur für das Verstehen der Vergangenheit im Vorgang des Erzählens bedeutsam ist, sondern auch im Erfassen und hinge- nicht leicht m Worte zu fassen ist und unser sprachlich«--'T Auf den Beitrag Hermann von der Dunks wurd* a^a^,^—^-----. • ,..... . . diesen, weil er den unmittelbaren Kontakt mit vergangener. ahren versteht als Ankersmit, /Realität überzeugender zu w«JJt^.. ___________........ Er löst die Dualität von vorsprachlichen und sprachlichen Realitätsbereichen auf und erschließt sich den vorsprachlichen durch den sprachlichen Bereich hindurch, Der vor-■ sprachliche setzt den sprachlichen Bereich sogar in sein i: Recht ein, allerdings bindet er den sprachlichen Bereich i auch an sich und hält ihn in Abhängigkeit. Hermann von der Dunk nimmt dem Streit um das Eindringen des linguistic turn in die Geschichtswissenschaft zwar seine Schärfe, hält aber letztlich doch am traditionellen Verständnis von Realität fest, das damit rechnet, daß sich der sprachliche Ausdruck - wie das forschende Verstehen einst - nach und nach der vergangenen Realität annähern wird, soweit sie einen Eindruck hinterläßt. Auch die nordamerikanische Mediävistin Gabrielle M. Spiegel bemüht sich, die Diskussion um die Postmoderne in der Geschichtswissenschaft zu entschärfen - mit philosophischer Kompetenz und historiographischer Erfahrung. Entschieden wendet sie sich gegen die Auflösung der »Materialität des Zeichens«26 (gemeint ist wohl: des Zusammen- 50 Narrative Logik und historische Forschung hangs von Zeichen und Bezeichnetem), die zu befürchte! sei, wenn die Selbstkorrektur des linguistic turn versagt. Sii kritisiert die Behauptung, daß nur noch Texte mit Textea- s kommunizieren, jedoch nicht Texte mit der Realität, vonderVV sie sprechen. »Jenseits der Sprache gibt es keine Realität; drept se ist >immer schon< in Sprache konstituiert, die ihrerseits/, unserem Wissen über die Welt vorangeht.«27 Mit dieie^^ Worten (so ähnlich äußerte sich auch Ankersmit in seiner \ Frühschrift28) charakterisiert sie das postmoderne oderposi^g strukturelle Denken aligemein, besonders die extremen, rea- -litätsauflosenden Ansichten, die Jacques Derrida vortrüjp und die keinen Raum mehr für historische Referentialit^fi lassen. Sie wehrt diese Ansichten jedoch nicht a limine: aBp sondern begibt sich in ein kritisch-freundschaftliches Ge-^l sprach mit Historikern und Historikerinnen, die sich dem linguislic turn bereits geöffnet haben und »new cultural stiK= dies« betreiben. Dieses Gespräch führt auf einen Komprö-;. miß hinaus; Die schöpferisch-einnehmende Macht der Spra- ' che, die Realität schafft, wird nicht geleugnet, ebenso wird aber auch an der Eignung der Sprache festgehalten, die Materialität der sozialen Situation zu erfassen und auf diese; Weise die konkrete historische Bedingtheit des Sprachgebrauchs in den Quellen, also ihren sozialen Kontext, aufzu*". decken. Sprache schafft ja nicht nur neue Realität, mit ihrer-Hilfe eignet man sich auch Kenntnisse von bereits bestehen-: % der, in konkreten Situationen unmittelbar wirkender, den sprachlichen Ausdruck und den narrativen Stil bestimmender Realität an. Sie folgt ihrer »sozialen Logik«29 genauso, wie diese Logik sich über die sprachlichen Mittel, die uns: zur Verfügung stehen, zu erkennen gibt. Forschung und Erzählung stehen also nicht mehr, wie in Ankersmits Narrati-ve Logic, nebeneinander. Sozialer Kontext, der im postmodernen Denken irrelevant wurde, und literarischer Text sind miteinander verschlungen. Um ein Beispiel zu geben: Die Kritik am Klerus bzw. die antiklerikale Situation war der soziale Kontext, in dem die Flugschriften der Reformations- Narrative Logik und historische Forschung 51 S^Siüric ^entstanden, die nun ihrerseits dazu beitrugen, diese Si-■|||§gätion so zu gestalten, daß der Antiklerikalismus die Stän-'Y^jgcřesellschalt zu erschüttern und den Übergang von der gefeiter- zur Laienkultur endgültig zum Erfolg zu führen ^vermochte. Die Frage nach einer Realität außerhalb oder •jenseits von Sprache bzw. Text stellt sich nicht. Der soziale: Kontext ist der sprachlichen Äußerung »eingeschrieben«, d die Sprache, die in einem konkreten Text verwendet ; ^ird, schließt eine Analyse ihrer Kontextualität mit ein.30 So ist es nicht das Wissen um die Bedeutsamkeit des sozialen Kontexts, das eine historische Analyse erzwingt, wie von den Kritikern Whites und Ankersmits gefordert wird, ■sondern die Sprache selbst, um recht verstanden zu wer-^ Jen. Ihre wechselvolle und veränderungsfähige Komplexität kommt über die »soziale Logik« zur Sprache. Man könnte sogar sagen, daß die Aufklärung der Sprache über sich -selbst, ihre Veränderlichkeit bzw. ihre in permanentem Wandel begriffene Selbstreflexivität, ohne die »soziale Logik« gar nicht zustande käme. »Erst nachdem wir dem Text seinen sozialen und politischen Kontext wiedergegeben haben, können wir begreifen, wie Sprache und gesellschaftliche Wirklichkeit die diskursiven und materiellen Bereiche menschlicher Aktivität formen und damit ermessen, wor-die >soziale Logik< eines Textes, eines Falls situativen ■in Sprachgebrauchs besteht.«31 Die Sprache spiegelt ihren Kon-: text wieder und sie gestaltet ihn. Damit stellt sie nicht nur den Kontext, wie die Kritiker des linguistic turn forderten, sondern die Gesellschaft in einem komplexeren Sinne her. Kein Versuch, den angeblichen Hiatus oder die Kluft zwi- ; sehen Realität und Sprache zu überwinden, überzeugt mehr als dieser Vorschlag aus dem Schoß moderner Mediävistik. Das gilt nicht nur für das Sprachproblem, wie es sich in den historischen Quellen darstellt; das gilt auch für den Umgang mit Sprache in den historischen Disziplinen allgemein: Die unablässig sich erneuernde Tendenz der Sprache, ihre permanente, sich an neue Gegebenheiten angleichende Mo- Narrative Logik und historische Forsch, lerriisierung, und der soziale Kontext, in dem Modernisierung vollzieht, die Verwissenschaftlichung Geschichte, fließen ineinander Unter diesem Gesichts,* macht es kernen Sinn, Moderne und Postmoderne voneim»^ der zu trennen, sie bleiben aufeinander angewiesen Postmoderne wird zur Avantgarde der Moderne, undSSfNf III Diskurs und Realität er Moderne, und drffc""irt»i!ipp Sarasin hat die linguistische Herausforderung für ivioaerne nimmt den postmodernen Umgang mit ReaÜtätPP^ Geschichtswissenschaft so beschrieben: »Die sinnhafte, Ehre Geschichte auf. Das »Fr,,}* r*^\.°,^- • ^mm^®"^ . , „ i-.... • . • ...... it i ■ „ deutlich zutage. A , »Ende der Geschichte«, wie e&^MW^e soziale Realität ist eine unmittelbare oder eine in Sedi- postmodemen Schriften gern verkündet wird, ist nicht'RKenteri abgelagerte mittelbare Wirkung der von Sprechern sieht, uas tritt im Rmgen um historische ReferentiaIi^P;terffendeten sprachlichen oder allgemeiner der semioti- Äftsehen Strukturen - von den einzelnen Phonemen/Zeichen-, ;^fe^[ementen bis zu diskursiven Einheiten. Auch wenn Prakti-. "-W§^-ken, Gesten und Gegenstände selbst nicht mehr sprachlich ..:--^ß"Yerfaßt sind, sind sie nur relevant in der sozialen Welt, weil ::^fefinen diskursiv eine Bedeutung zugeschrieben wird.«1 Das '- f ist eine Beschreibung der Position, die Michel Foucault ein-., nimmt »Man bleibt in der Dimension des Diskurses.«2 Die - Diskurse sind der Gegenstand der Geschichtswissenschaft,: l'.daran läßt Foucault keinen Zweifel; sie sind sprachliche Praktiken, in denen Realität entsteht. Foucault kennt auch Realität außerhalb der Diskurse, nichtdiskursive Praktiken also, die in die Diskurse hineinwirken, aber die Realität, die im Diskurs entsteht, nimmt seine Aufmerksamkeit besonders gefangen und führt zu der Feststellung: Wer den Dis-Ijcurs analysiert, deckt Realität auf, und in diesem Zusammenhang entsteht auch die Frage nach der historischen Re-ferentialität. Sie gehört zum Kernstück der Diskursanalyse und nimmt auf dem verschlungenen Weg, auf dem sich die: Diskursanalyse Foucaults ausgebildet hat, Gestalt an. Die-, ser Weg führt von der Ordnung der Dinge (1966) über die Archäologie des Wissens (1969) zur Ordnung des Diskurses (1971) und Überwachen und Strafen (1975). Auf diesem Weg hat sich nicht nur der Untersuchungsgegenstand verändert, sondern auch die Methode. Der Akzent verlagert, sich von den diskursiven zu den nichtdiskursiven Praktiken, von der Dekonstruktion des Subjekts zur Sorge um -■5*- Diskttn und Realität Disktrn und Realität 55 das Selbst; und die Methode verschiebt sich von def chäologischen zur genealogischen Methode - alles 3 dings im Rahmen des Diskurses. Sobald der Weg, dertj cault gegangen ist, klar vor Augen liegt, kann die Ff* nach der Referentialität eine Antwort finden. ^ Paul Veyne, der althistorische Kollege am College. <}J France und Freund Foucauks, hat den Diskursanaly^l nicht ,n erster T in!*» -ilc ----' in erster Linie als einen Philosophen, sondern als eJl Historiker gewürdigt, ja, mehr noch: »Foucault ist der «P endete Historiker, ist Vollendung der Historie.« Und« diejenigen, die eine Verflüchtigung der »historischen feSfip tat^im Diskurs oder ihr völliges Verschwinden befürc1 mWmi muß es herausfordernd klingen, wenn Veyne in FoucJI den potentiellen »Urheber der wissenschaftlichen Revoföp on« sieht, »um die alle Historiker bis jetzt nur herurnell schlichen sind«, mehr noch, wenn er behauptet, Foucaultsp jem schon »der erste vollständig positivistische HistoÄ ker« . Trotzig oder verschmißt nmtit v™->™,,\+ ___u & lll#cherweise hat Veyne in seiner euphorischen Zunei- ......2u Foucault übertrieben, Anlaß für die Geschichtswis- fp?fßaft> sjcn mit der historischen Praxis, auch mit theore-Jfchen und methodologischen Überlegungen Foucaults ftg Umgang mit Geschichte zu beschäftigen, ist das Urteil '-Freundes allemal. Mit Foucault bahnt sich ein Wandel in Jsg^riistorie an, der sich mit dem maliziösen Wort Jean-Paul Ifc&tres über die »Unmöglichkeit historischer Reflexion«, l^"-'Foucault in Ordnung der Dinge angeblich aufzeigen |§||]fte, nicht aufhaken läßt.7 1 lrotzig oder verschmitzt nennt Foucault sich selber tische Anwendungsbereich, »glücklichen Positivsten«". Er trennt nicht, wie #-L Foucaults, sich der non Positivismus üblich, zwischen erkennendem Diskurs undW P einen ^^^^ P^f ist nicht einfach, sich ein genaues Bild vom Diskursver-|f standnis Foucaults zu verschaffen. Erstens hat sich sein KS", -'-'-dnis im Laufe der Zeit verändert, ebenso der thema- und zweitens ist es eine Eigennormativen Kraft von Definitionen erkennender Realität, er hält beide aber in einer Spannung^ die neue Perspektiven für historische Arbeit zu eröffnen vermag. Daraufhatte bereits der Philosoph Guy Lardreau ü£ einem Interview mit Georges Duby hingewiesen. Er bemerkt die Verwandtschaft zwischen Duby und Foucault und fährt fort: »Bei beiden führt ein radikaler Nominalismus dennoch zur Anerkennung der zur Existenz eines hW storischen Wissens notwendigen Positivität«5. Es ist nicht in erster Linie die Positivität der materiellen Welt, der Dinge und Objektivationen, sondern die Positivität des Bedin* gungsgefiechts, das die Diskurse ermöglicht, die Foucault im Auge hat, ihre »schwere und bedrohliche Materialität«;; Die Diskurse sind Gegebenes, das nicht nach den Regeln der Hermeneutik zu verstehen ist, um hinter den Sinn des Gesagten zu kommen; sie sind vielmehr nur genau zu beschreiben, wie Objekte beschrieben werden.6 \Verstanc ^tu entziehen. Ist man froh darüber, hier oder da in seinem piumfangreichen CEuvre einen Ansatz von Definition gefun-•. den zu haben, werden alle hochgestimmten Erwartungen Mlofort wieder zunichte. Foucault zieht es vor, Aspekte des itpiskursverständnisses und Funktionen des Diskurses im Ringen um Wissen und Macht zu erörtern, er vermeidet aber Aussagen, die nach einer essentiellen, für längere Zeiten geltenden Definition aussehen. Er benutzt zwar den Begriff der Definition, gibt sich oft aber mit »dem unbestimmten Status einer Beschreibung« zufrieden oder gesteht eine »wilde Benutzung« tragender Begriffe wie »Aussage«, »Ereignis«, »Diskurs« ein.8 Wer von der Historizität nicht nur des Erkenntnisobjekts, sondern auch des Erkenntnissubjekts überzeugt ist wie Foucault, ist mehr an der Feststellung historischer Singularität bzw. Spezifik eines Phänomens interessiert als an einer Definition, die Grenzen der Zeit überschreitet und allgemeine Gültigkeit 56 Diskurs und Realität Diskurs und Realität 57 beansprucht. Es wird nicht nur das historische »Objelj^l festgelegt, sondern d em Historiker auch die Flexibilität Sq^0 ner Identität angesichts wechselnder Untersuchungszeitetff geraubt und die Möglichkeit genommen, von Unters^ chungsgegenstand z\i Untersuchungsgegenstand jeweil&«ig|" anderer zu werden. -W: Foucault hat den Vorwurf Sartres zurückgewiesen, habe die Geschichte abgelehnt. Dieser Vorwurf schießt i^ -der Tat weit über das Ziel hinaus und ist zu einem Zeitpunkt formuliert worden, als der Siegeslauf Foucaults mit der Verr:. öffentlichung der Ordnung der Dinge (1966) begann und dife. Uberzeugungskraft von Existentialismus und Marxismus dahinschwand. Unmißverständlich stellte Foucault in deW:=: denkwürdigen Interview in La Quinzaine litteraire (1968): klar, daß er nur die Absicht verfolgt habe, diejenige Ge> schichte, die Philosophen sich nutzbar gemacht hätten, »die Geschichte für Philosophen«, zu zerstören, nicht aber die Geschichte selbst.9 Vernichten wollte Foucault eine Geschichte, die sich menschlicher Intentionalität und kontinu«-ierlich planvoller Entwicklung verdankt Ebenso wenig wollte Foucault die Abistorizität fortschreiben, die dem" französischen Strukturalismus vorgeworfen worden war, sondern jenseits von Historismus und Strukturalismus einen' »anderen« Umgang mit Geschichte vorschlagen. Um Geschichte aber ging es ihm hauptsächlich, in Ordnung der Dinge vor allem um die Historizität der Denksysteme, Auf diese Absicht machte Paul Veyne aufmerksam, als er davon schrieb, daß Foucault die Historie »revolutioniert«, d> h. daß er etwas anderes im Umgang mit der Vergangenheit ge* sucht habe, auch mit anderen Werkzeugen, als Philosophen und Historiker bisher. Foucault hat sein gelegentlich angekündigtes Vorhaben» ein Buch über den historischen Diskurs zu schreiben, nicht realisiert, aber dennoch kann seine Archäologie des Wissens (1969) als ein Beitrag zur »neuen Historik« gelesen werden, wie Peter Sloterdijk es getan hat.10 Auf jeden Fall führt Fou- IPfteäük hier die Gründe an, die ihn bewogen, sich von der bis- i 'hefl£en ^n Geschichtsschreibung zu trennen. Die Be-vKgfjffe, Kategorien und Konzepte, die er einsetzt, sind so an-%t$, daß die negativen Reaktionen auf seine Bücher genauso Verständlich werden wie sein fassungsloses Staunen über so-viel Unverständnis und Polemik. ': In Ordnung der Dinge bemerkt Foucault, daß die »tiefe - Zusammengehörigkeit der Sprache mit der Welt«11, die lange -"■jährte, in der Neuzeit aufgehoben wurde: einmal indem die - gprache seit dem 17, Jahrhundert statt zu sein, was sie be-.jiennt, nur noch repräsentiert, d.h. wiedervergegenwärtigt, - was ist, und zum anderen, indem seit dem 19. Jahrhundert ' #ur noch der Sinn oder die Bedeutung dessen, was ist, interessiert. Die Sprache beginnt zwar, ihre Dominanz zu entfalten, vermag sich aber nicht gegen eine anthropozentrische Vereinnahmung zu behaupten: »wenn die Sprache etwas ausdrückt, dann nicht, insofern sie die Dinge initiiert und redupliziert, sondern insoweit sie das fundamentale Wollen der Sprechenden offenbart und übersetzt.«i2 Im 17. Jahrhundert ist die Sprache nicht mehr eine »Gestalt der Welt«13, sondern zeigt nur, welche Gestalt die Welt angenommen hat,, Und im 19. Jahrhundert deckt die Sprache nicht den Sinn auf, den die Dinge in sich tragen, sie verleiht ihnen vielmehr einen Sinn. Sie dient auch nicht der Absicht, den Dingen eine Ordnung zu geben, sie ist die Ordnung selbst. So unterschiedlich die Ordnungen beider Epochen, des klassischen Zeitalters und der Moderne, auch sind, beiden ist folgendes gemeinsam: Zwischen dem, was zu sehen ist, und dem, was ausgesagt wird, ist eine Kluft entstanden, die Sachen und die Wörter haben sich voneinander getrennt. Diese Trennung! wird sich auf das Erkennen oder die Wahrnehmung von Realität in zunehmendem Maße auswirken, auch auf die Suche nach dem historischen Referenten. Für Foucault bedeu-tet die Veränderung, die im 17. Jahrhundert einsetzte und im 19. Jahrhundert noch einmal eine andere, neue Gestalt annahm, eine »ungeheure Reorganisation der Kultur«, die uns 58 Diskurs und Realität Diskurs und Realität 59 von der Epoche der Renaissance im 16. Jahrhundert trfHt (Pff raus ergeben sich Konsequenzen für die Kritik an der und noch teilweise bis in die Gegenwart weiterwirkt.14 ^111 pltfftionellen Geschichtswissenschaft und für den Vor-Die Ordnung der Dinge beschreibt diesen epochalen lÄiag, Geschichte anders zu schreiben als bisher. Darauf schnitt und die Folgen, die das Bedingungsgeflecht verS noch genauer einzugehen sein, vorerst jedoch müssen dem, das Wissen und Erkenntnis ermöglicht. Dieses Belllf Ordnungsprinzipien erläutert werden, die Foucault zu gungsgeflecht ist die Ordnung, die darüber entscheidet^!! (Ruturen einzelner Epochen erhebt. Es sind dies die Ähn-Erfahrung, Wissen und Erkenntnis entstehen, was zu £M- (8|keit, die Repräsentation und die Rückbezüglichkeit des ken, was zu wissen und zu erkennen möglich ist und |pS Halbst b'zw- die Selbstrepräsentation des Menschen, die sich nicht - nicht auf dieselbe, sondern von Epoche zu EpoiÄ Ärder äußeren Welt verschließt.'5 auf jeweils andere Weise. Es sind also nicht die Ideen mM (Bin der Renaissance des 16. Jahrhunderts war nach langer Anschauungen, philosophischen Argumente und künstlet® iffeschichte ein letztes Mal noch das Prinzip der Ähnlichkeit sehen Werke im einzelnen, die Foucault untersucht. BsS fcs Werk. Was einander ähnlich war oder mit Hilfe der Inwäre reine Ideengeschichte. Worauf er seine Aufmerksa^-Rerpretation zur Ähnlichkeit gebracht werden konnte, wur-keit lenkt, ist die Episteme. Darunter versteht er das Orjfi dfezueinandergefügt. Bis in die Endlosigkeit der Details hin-nungssystem, das Auskunft darüber gibt, wie ein Zeichen fcn entstand nach und nach das Wissen von der kosmischen mit dem verbunden sein kann, was es bedeutet, denn nur iü -'Ordnung, wie sie der Welt von Anfang an zugrunde lag und der Beziehung zwischen Zeichen, Wörtern, Sprache und denf Ufa »Buch der Natur« nachgelesen werden konnte. Auf diese Dingen wird erfaßt, was wirklich ist. Die Ideen und Ajß B^eise fanden die Zeichen ihre Entsprechung in der Realität, schauungen sind Phänomene an der Oberfläche, die Ot0 Bfc die sie schon vorher eingeschrieben worden waren, »in nung, wie Foucault sie konzipiert, liegt tiefer. Um auf diesen.:, .der Tiefe der Zeit den Dingen auferlegt«16, ja, die Zeichen ^ - --------— W*: Unterschied mit besonderem Nachdruck hinzuweisen, kann er davon sprechen, daß Ideen und Anschauungen nicht ei* gentlich wirklich sind, wirklich ist dagegen die Ordnung, die dafür sorgt, daß Ideen und Anschauungen nach bestimmten"': Regeln artikuliert werden. Die realitätsträchtige Faktizität der Ordnungsstrukturen in der Tiefe und die Flüchtigkeit historisch noch unerfüllter Ideen an der Oberfläche: Da£; mußte Foucault, formal gesehen, an ein Modell der franzö* sischen Strukturgeschichte erinnern, wie es von Fernand Braudel entwickelt wurde. In der Tiefe »langer Zeiten« bil- :; den sich die sozialen und wirtschaftlichen Strukturen aus, die den Lauf der Gesell schaftsgeschichte bestimmten. Die: Ereignisse sind dagegen Oberflächenphänomene, in denen keine Wahrheit ist. Bei Foucault wurde die Denkordnung oder eine Form des Wissens, und nicht eine materiále Reali- . tat, zur Bedingung all dessen, was gedacht werden konnte. . waren »Gestalten der Welt« selbst. Enger konnte die Zusammengehörigkeit von Zeichen und Ding nicht gedacht L werden. Am Anfang des 17. Jahrhunderts, des klassischen Zeir-L alters, begann dieses System der Ähnlichkeiten zu zerfallen. An der Schwelle dieses Zerfalls steht Don Quichotte, dem es nicht mehr gelingt, sich mit Hilfe des Ähnlichkettsprinzips zu orientieren. Er vergleicht die Realitäten, die ihm begegnen, mit den Abenteuern in den Ritterromanen, in denen er sich auskennt. Doch die Windmühlenflügel, gegen die er an-: kämpft, sind nicht die Rüstung der riesenhaften Ritter, die ihm einst hoch zu Roß mit erhobener Lanze entgegengestürmt waren. Die Mägde in den Bauernstuben sind nicht die jungen Damen bei Hofe: »Die Ähnlichkeiten täuschen, kehren sich zur Vision und zum Delirium um«17. So wurden Don Quichotte zum »Ritter von der traurigen Gestalt«, der 60 Diskurs und Realität auf der Suche nach Analogien hilflos umherirrte uri< schließlich scheiterte. • * Das Prinzip der Ähnlichkeit war inzwischen dem Prinzip, der Repräsentation gewichen. Die Sprache zog sich »aus d||i Mitte der Wesen zurück« und trat in ihr »Zeitalter dj^; Transparenz und Neutralität« ein.18 Jetzt verständigte mall sich in Diskursen auf die Zuschreibung eines Zeichens nfjf ein Ding, um alles nach Identität und Differenz zu ordnet*.. Die Analyse des Differenten löste die Entdeckung des Ana-logen ab und wurde zum Prinzip der neuen Ordnung. Die Zeichen und die Dinge begannen sich voneinander zu treüp nen, die Wörter waren den Dingen nicht mehr eingeprägt sie wurden nur noch genutzt, um die Dinge voneinander abzugrenzen, ihre Identität zu bestimmen, sie zu klassifiziere!! und auf die Reihe zu bringen. In diesem Sinne wurden die Dinge von den Wörtern repräsentiert, d.h. vergegenwärtigt-bzw. wiedervergegenwärtigt - nicht mehr in der Unendlichkeit des Ähnlichkeitsdiskurses, sondern in der Endlichkeit, einer diskursiv ermittelten taxinomisch-linearen Ordnung (z. B. Carl von Linne). Verglichen mit dem Ähnlichkeitswissen der Renaissance entstand eine neue »Seinsweise des Wißbaren«, »Geschichte, gleichzeitig als Wissen und als Seinsweise der Empirizität«19. Beide abhängig von der ord-nungsstiftenden Funktion der Vorstellung, doch ontolö-gisch voneinander getrennt, und mit ihr der eindrucksvolle Fächerkanon empirischer Wissenschaften (z.B. Francis Ba-v con), Die Vorstellung schafft die Anordnung von Dingen, die sich untersuchen lassen. Auch die Repräsentation als Prinzip, das den Dingen eine Realität gab, hatte keinen Bestand. Um die Zeit der Franzö-i: sischen Revolution begann ihre Plausibihtät abzunehmen^ und die Autonomie, mit der das Subjekt konstruiert, was ist, setzte sich durch. Eine neue Erfahrung brach sich Bahn. Pe~ ter Sloterdijk hat die komplizierten, detailliert vorgetragenen-. Argumente Foucaults so zusammengefaßt: »Indem im Bereich des Ökonomischen durch die Analysen von A. Smith. Diskurs und Realität $e Arbeit als eigentliche Dominante des wirtschaftlichen . Prozesses hervorgehoben wird; indem im Bereich der Lebe-: '^esen das Prinzip der Organisation von Funktionen sich durchsetzt; indem im Bereich der Sprachwissenschaften das }rGrammatische als eigenständige Dimension von Ordnung ■sich zwischen die Vorstellung und deren phonetische Repräsentation schiebt: melden sich mit einem Mal empirische Größen wie Leben, Arbeit, Sprache, die allesamt in einer auf: die Repräsentation nicht reduzierbaren, vorstellungsäußerli-;chen dinglichen Autarkie bestehen«20. Das ist eine Erfahrung, die schlagartig die Einsicht in die Historizität der jeweiligen episteme vermittelt, allerdings nicht in ihren gleitenden, kontinuierlichen Übergang von einem Zustand zum anderen, sondern in den Bruch, der beide Zustände voneinan-, der trennt. Historizität und Geschichtlichkeit gehen bei Foucault mit Diskontinuität und nicht mit Kontinuität einher - eine Erkenntnis, die sich der Einsicht in ihre eigene Historizität am Ende des 18. Jahrhunderts verdankt, Allerdings stellte sich diese Einsicht schubweise ein. Arbeit, Leben und Sprache wurden zu Kategorien einer Ordnung, die das geltende Repräsentationssystem zerrütteten und ihre neue, ordnungsbildende Funktion schließlich gegen Ende des 18. Jahrhunderts enthüllten, um so zu Signaturen der Moderne zu werden. Damit sind jene drei Stellen im Repräsentationssystem bezeichnet, an denen sich eine Veränderung anbahnte. (1) Arbeit: nicht mehr der von den produzierten Gütern bestimmte Tauschwert, sondern die Mühe und Zeit, die aufgewandt wurden, um diese Güter zu erzeugen, werden zum. Maßstab für ihre Bewertung. Im ökonomischen Denken beginnt die Arbeit auf diese Weise den Handel zu ersetzen, und. das bedeutet einen Blick in das Innere des wirtschaftlichen Vorgangs. Zum Vorschein kommt, was in den produzierten Gütern eigentlich selbst steckt, d.h. auch die historische Bedingung, unter der gearbeitet und produziert wird. Die Geschichte zieht in die Analyse des Ökonomischen ein.21 /: 62 Diskurs und Realität Diskurs und Realität 63 (2) Leben: nicht mehr die auf dem Vergleich der sichtfcpl ren Strukturen beruhende, hierarchisch gegliederte Klassifikation der Einzelwesen22, sondern die innere Beziehung zwischen der sichtbaren Gestalt und der gesamten, nicht 1 ohne weiteres sichtbaren Organisation des Körpers, die d^ I äußere Struktur- und Unterscheidungsmerkmal überhauj^'1 erst plausibel erscheinen läßt. Dadurch tut sich ein Untere schied zwischen dem Organischen und Anorganischen auf'' zwischen Belebtem und Unbelebtem. Es entsteht, »an dett \ Grenzen des Lebens, das Unfruchtbare und Bewegungslosen - der Tod«. Mit der Kategorie des Lebendigen, das »prodWI ziert, indem es wachst und sich reproduziert«23, unä ZwaW unter konkreten historischen Bedingungen, kommt auch-hier Geschichte ins Spiel - paradoxerweise mit der Einsicht \ in die Begrenzung und nicht in den unaufhaltsamen Fortgang des Lebens. (3) Sprache: nicht die repräsentierende Funktion der Sprays che, die den Dingen im Grunde äußerlich bleibt, sondern die »Dimension des rein Grammatikalischen«24. War es die in- I nere Organisation des Lebendigen, die das Repräsentation«- ] System der Naturgeschichte aufzulösen begann, so ist es hier der »innere Mechanismus«, die Beziehung nämlich zwi--; sehen den Lauten und Wörtern untereinander, ein Mecha» nismus, der die repräsentativ-funktionale Engführung der Sprache weitet und ihre Autonomie begründet. In diesem autonomen Mechanismus ruhen die Merkmale, die das Be- % sondere einer Sprache ebenso wie ihre Ähnlichkeit mit einer % anderen bestimmen. So wird sich »die Historizität«, wie Foucault sagt, »in der Mächtigkeit des Sprechens selbst Zu-1 tritt verschaffen können«25. Die Sprache erhält ihre eigene \ Geschichte. Ebenso deutet sich hier schon die »postmoderne« Einsicht an, daß Geschichte nicht mit Sprache als Dar-stellungs- oder Erkenntnismittel, sondern in Sprache ihre Artikulation finden wird, extrem formuliert, in Sprache als dem Medium, das Geschichte ist - vorläufig allerdings noch | anthropozentrisch befangen. ; Das hat Foucault ausführlich, auf kompliziert-verschlun-vgene Weise analysiert, er hat jedoch hinzugefügt, daß dieser/ Einschnitt in das Repräsentationssystem im 18. Jahrhundert nicht auf einen Schlag erfolgt sei, die Akzentuierung der historischen Dimension habe noch eine Weile gebraucht und :%i, erstaunlicherweise sozusagen mit einem zweiten Schlag, erst zwischen 1795 und 1800 in Erscheinung getreten. Diese Einsicht, daß der Mensch unter historisch einmaligen Bedingungen arbeitet, lebt und spricht, ist zur Signatur der Moderne geworden. Alles nimmt einen unverwechselbaren, sin-.-gulären Charakter an. Die Zeit bestimmt, was etwas bedeutet. Realität wird, was der Mensch in der Zeit hervorbringt.26 pie Diskurse, in denen Wirklichkeit entsteht, sind geschichtlich und werden zum Gegenstand der historischen Wissenschaft, die sich jetzt als Disziplin im Kreis der Hu-jnanwissenschaften etabliert. Vom 19. Jahrhundert an definiert die Geschichte »den Entstehungsort des Empirischen«27. Darin sieht Foucault einen Vorgang, der ebenso radikal wie fundamental ist. Die neue Episteme eröffnet einen Raum, dem vorher keine Beachtung geschenkt worden war und der jetzt erst geordnet wird. In dieser Beobachtung liegt übrigens auch der Grund, warum Bruch und Diskontinuität im Umgang mit Geschichte zu den wichtigsten Kategorien heranwachsen. Die Episteme verändert nämlich keinen bereits bestehenden, sie ordnet nicht den bekannten Raum neu, sondern strukturiert einen neuen Raum. Wenn eine Metapher weiterhilft: Die Transformation der Episteme läßt sich nicht als Keim begreifen, der sich allmählich zu einer Pflanze entwickelt, auch nicht als Metamorphose einer vorangehenden anderen Gestalt, sondern als Schnitt im Sinne einer filmischen Technik. Trotz der Einwände, er habe diese Transformation nicht historisch-genetisch erklärt, nicht erörtert, wie es denn von dem einen zum anderen Zustand gekommens sei, weigert Foucault sich, eine solche Erklärung nachzuholen. Die Entstehung des Bruchs bleibt für ihn änigmatisch. Als Historiker hat er die Veränderung, die in- 64 Diskurs und Realität Diskurs und Realität. 65 der Episteme stattgefunden hat, nur genau zu beschreiben^ nach Francois Dosse »die Bestandsaufnahme der Diskonts^ nuitäten als lauter momentaner Blitzlichter«28. Im Zentrum des neuen Raumes steht der Mensch, auf ihn bezieht sich die neue Ordnung und von ihm her entwirft-sie sich. Es ist neuzeitliche Subjektivität, die hier in ihrer:'' Historizität oder Geschichtlichkeit mit ihrer Seibstbezüg«. lichkeit des Subjekts zum Vorschein kommt und zur Signa- -" tur der Moderne wird. Das ist so zu verstehen: Die moder-" ne Episteme zeichnete sich dadurch aus, daß die Subjektivität des Menschen zum schöpferischen Ursprung jeder Realität wurde und auf diese Weise nicht mehr erreicht«:, was außer ihr war. Das »Selbst« hatte sich in sich selbst verkapselt, und alles war zum Produkt der Subjektsprache geworden. Es repräsentierte nicht mehr die Dinge, sondern eigentlich nur noch die Selbstbezüglichkeit des Subjekts. »Der Mensch ist in der Analytik der Endlichkeit eine seltsame, empirisch-transzendentale Dublette, weil er ein solches Wesen ist, in dem man Kenntnis von dem nimmt, was-jede Erkenntnis möglich macht«29. Indem der Mensch sich also verdoppelt, im Bereich des Empirischen ebenso wie im. Bereich des Transzendentalen existiert, verschließt sich die Repräsentation vor der äußeren Dingwelt. Er sieht sie nicht mehr, wie sie ist, sondern nur als Produkt der Vorstellung, die er von sich selbst hat. Hier beschreibt Foucault das Phänomen, das Norbert Elias, in seiner Aufklärungskritik ihm nicht unähnlich, mit dem Begriff des »homo clausus« im Prozeß der Zivilisation (Einleitung von 1969} zu fassen versuchte.30 Verständlich wird so, daß sich die ganze Wißbegierde des Menschen jetzt auf ihn selbst konzentrierte und auf diese Weise die sogenannten Humanwissenschaften entstanden: Wissenschaften vom Menschen wie Psycholo- ge Ethnologie, Geschichte. Für uns ist Geschichte wichtig, jjje verdankt sich der Tatsache, daß Arbeit, Leben und Sprache zu Quasi-Transzendentalien wurden, d.h. daß Gerichte einerseits in diese Bereiche eingedrungen ist und andererseits als Wissenschaft von der Subjektivität des Renschen abhängig wurde - wie die empirischen Wissenschaften allgemein. Die Episteme der Moderne, soweit sie die empirische Seite des Menschen betrifft, wurde zum hi~ frischen Apriori unseres Denkens, das aber insgesamt, wie die Auffassung vom Menschen als einer empirisch-transzendentalen Dublette andeutet, in der Selbstbezüglichkeit des Subjekts gründet. Auf diese Weise beruht freilich die Wissenschaftlichkeit, die das Zeitalter der Moderne beherrscht, nach Foucault auf einer Illusion. Sie entbehrt, pointiert gesagt, jeder Realität. Das betrifft auch das Geschichtsverständnis, über das Foucault in einigen ebenso komplizierten wie scharfsinnigen Abschnitten, besonders auch am Ende der Ordnung der Dinge, spricht, Die epochale Entdeckung der Geschichtlichkeit, die im Objekt der Erkenntnis am Werke ist, in Arbeit, Leben und Sprache, das wichtigste Ereignis der Moderne überhaupt, bedeutet, daß jeder Bereich eine ihm eigene Zeit hat und Geschichte durchläuft, so daß der Mensch, der selber zum Objekt der Erkenntnis wurde, ein fragmentiertes Konglomerat unterschiedlicher Zeiten, d.h. eigentlich aber selber »enthistorisiert« ist.31 Als Subjekt der Erkenntnis, das er auch und vor allem ist, setzt er sich allerdings als Subjekt der Geschichte und zieht die Zeit der einzelnen Bereiche in die eigene Zeit hinein, denn erkennen kann er nur, frei nach Immanuel Kant, was er selbst hervorgebracht hat. Indem er die Welt aus sich heraussetzt, universalisiert er, was als partikularer Charakter von Zeit und Geschichte im empirischen Objektbereich (Arbeit, Leben, Sprache) sichtbar geworden war. Er macht sich zum Herrn über Geschichte zu allen Zeiten, paradoxerweise aus dem Gefühl heraus, daß der Partikularismus der Zeitbereiche, in deren Geschichten er ver- 66 Diskurs und Realität Diskurs und Realität 67 flochten ist, ihn leer ausgehen läßt. Der Mensch ist de&B3J|lIPfust des Menschen geführt hat. Was Foucault am Huma-tikuiaren Ereignissen unterworfen, wie Foucault sagt, 4§§P^üs ' u*"t,:"K Aa" Vflrc11'^ A*m f"*"«*™- sogleich kehrt sich dieses Verhältnis reiner Passivitär i JlIIpf T Tiiíinjphpn n:„„„_______— _. __________________^„ JWL , ... 1(1 „„.„^„„___ nur um »Systeme, Strukturen, lieh der Mensch selbst«32. Die Selbstta^ichS d« usw.« bemüht. Das aber sei etwas jekts enthüllt nicht nur den illusionären Charakter von KePpPoii Menschen «Verschiedenes«, hat Foucault im Gesprach -----------„, Jlv &lř rT L/ijiiu^ii gcacLic« wertten^ sondern zeigt auch, daß die Wissenschaftlichkeit der ModriS^i w ... _ ,-----------"^^"^w^v "tuue*^ ne ohne Rationahtat ist. Das will Foucault offensichtlich mi cpi'npfii Tin^k ,;k^.- n;„ r\..j.....j... n■ . bringen, das bezeichnenderweise den Untertitel trägt: £i«£-Archäologie der Humanwissenschaften. Mit Hilfe seiner archäologischen Methode deckt er die. episteme auf, nicht zuletzt um die wissenschaftliche EngruitJ rung aller Erfahrung und Erkenntnis auf den Menschen zu' weiten, indem er die Grenzen der Erkenntnisgegenständgl beschreibt, d.h. ihre Historizität, und Raum für ihre Überschreitung schafft. Wenn die epistemische Ordnung der Mo-derne ihre aligemeine Orientierungskraft und Plausibilitatf einbüßt und sich vielleicht sogar bald auflösen wird, wie? Foucault am Ende seiner Ordnung der Dinge mutmaßt» »dann kann man sehr wohl wetten, daß der Mensch ver-' schwindet wie am Meerufer ein Gesicht im Sand«33. Es ist natürlich nicht die Menschennatur, die von der Erdoberflä-. che verschwinden wird, sondern die verhältnismäßig junge; Vorstellung vom Menschen, um den alles kreist, als sei er nicht nur der Mittelpunkt, sondern auch der Ursprung des Kosmos, der ihn umgibt. Mit Nietzsche und Heidegger wird Foucault oft in den modernen Antihumanismus eingeordnet, in den Versuch, den Menschen zu dezentrieren und den »kosmologischen Narzismus«, wie Herbert Schnädelbach sagt, zu überwinden.34 Nicht zuletzt ist es der polyphone Diskurs der Struk- . turalisten um die Dezentrierung des Subjekts gewesen, der Foucault zu seiner pointierten Aussage über den Gesichts- LI Jlti Li IVlf. vw t*.-««t«-j —----------— Leben einen Zweck zu setzen bzw. einen Sinn zu ver-ie zuzugeben, daß er sich in den Humanwissen- Utät und Geschichte, wie sie gewöhnlich gesehen werdeÄR^fpaolo Caruso (1969) noch einmal unterstrichen und sich «™A*™ —u A-n J:-wr------ ' r *' ' 1 " 1 - - m^m. beWegen lassen, seine eigenen Bemühungen um den Wicht bewegen lassen, seine eigenen ucmuii«ii6u> um (Renschen in irgendeiner Weise auch nur als einen besseren seinem Buch über Die Ordnung der Dinge zum Ausdruck l;r Humanismus auszuweisen. h„n™ j„u™:-l_._j__..;.. , ,r . , .. ^obwohl Foucault mit den Prinzipien der Aufklärung hart t. ins Gericht geht (mit der Idee des Fortschritts, der histori-■chen Kontinuität, der sich universal realisierenden Freiheit, . diese spielen, . Subjekt, das der Ursprung alles Wirklichen ist un näßt, die Totalität des Wirklichen zu denken) un . . TT ■_______ ^______1„ D .-.11 mit dem sich anmaßt, Prinzipien auch im Humanismus eine tragende Rolle hat er doch eine klare Unterscheidung zwischen Humanismus und Aufklärung getroffen. Der neuere Humanismus scheint ihm gezwungen zu sein, »sich auf bestimmte, von Religion, Wissenschaft oder Politik entlehnte Vorstellungen des Menschen zu stützen«36, er ist überhaupt nicht wertneutral und hat gelegentlich auch seltsame Blüten getrieben: »es gab eine Zeit, in der man die humanistischen Werte unterstützte, die der Nationalsozialismus verkörperte, und in der die Stalinisten von sich selbst sagten, sie seien. ; Humanisten«37. Die Aufklärung dagegen ist nach Foucault das »Prinzip einer Kritik und einer permanenten Kreation unser selbst in unserer Autonomie«38. Das ist etwas anderes, nämlich »ein Prinzip, das im Herzen des historischen Bewußtseins liegt, das die Aufklärung von sich selbst hat«3* -und daß Foucault nicht nur das Subjekt aus dem Denken verdrängt, sondern sich auch um das »Selbst« sorgt, zeigen seine späteren Veröffentlichungen. So warnt er davor, Humanismus und Aufklärung miteinander zu verwechseln. In seinem Aufsatz Was ist Aufklärung? (1983), aus dem gerade C 68 Diskurs und Realität Diskurs und Realität zitiert wurde, wehrt er sich mit aller Entschiedenheit ggs. den Versuch, ihm eine Entscheidung für oder wider die At kiärung aufdrängen zu wollen. Auf keinen Fall erlaubt < Verweigerung einer solchen Entscheidung, ihm antiätifj^g rerische Motive zu unterstellen. Im Gegenteil, man koä§|l§ seine B sens zu emühungen, die historischen Bedingungen des Vfo^ ^!Lide.46 Die . : erfassen und den rationalistischen Schein der Pfftd. die moderne Philosophie sei bis heute einer anthro manwissenschaften zu durchschauen, als einen aufkläf^ logischen Engführung ihres Denkens erlegen, mag auf sehen, allerdings nicht universalen, wohl aber partikularJ ' i%t Argumentationsebene philosophischer Ideen berechtigt Impuls begreifen, der Freiheit des stets neu entstehenden-" ^ ifa wichtig ist für den Historiker jedoch die andere Fest-Subjekts in der Unterbrechung von Bedeutung und SW (g- - lr «Illing Schnädelbachs, daß Foucault nämlich »die prak- „ o---------"^JiUlg, ihm aufgezwungen waren, eine Gasse zu schlagen bzw. »det unbestimmten Arbeit der Freiheit einen neuen Impuls zü= geben«40. Was Foucault positiv mit der Aufklärung verbiß*, det, ist »die ständige Reaktivierung einer Haltung - das heißt eines philosophischen Ethos, das als permanente KrU tik unseres historischen Seins beschrieben werden könn* te«41. Diese Haltung mündet in eine »historische Ontológie unser Selbst«42, die Wahrnehmung historisch bedingten Grenzen der eigenen Subjektivität und der kleinen Chancery sie in einem Akt der Befreiung zu überschreiten.43 Das ver-? bindet im Grunde die unterschiedlichen Schaffensperiodeit Foucaults miteinander - wenn auch in verschiedener Absicht, Klarheit und Intensität des Arguments: »Wie können wir als vernunftbegabte Wesen existieren, die sich zum Glück zum Gebrauch einer Vernunft verpflichtet haben^ die unglücklicherweise von ihr innewohnenden Gefahreiii durchzogen wird? Man sollte diesen Fragen so nahe wie möglich bleiben und im Auge behalten, wie schwierig ihre Beantwortung ist«44. Foucault steht trotz seiner Aufklärungskritik in der Tradition der Aufklärung, nur: er geht; den Weg der Aufklärung noch einmal anders und sucht eU nen anderen Zugang zur Moderne. In der Ordnung der Dinge führt Foucault die Analyse bis an jene Stelle heran, wo die moderne Episteme sich auflöst;: bzw an dem empirisch-transzendentalen Doppelcharakter ? vlvnschen zerbricht. Sie zerbricht an der Tatsache, daß fc^jensch »positives Gebiet des Wissens« sein muß, aber *||{t nicht »Gegenstand der Wissenschaft« sein kann.45 So Ht der Diskurs der Moderne, wie Schnädelbach in seiner I^^ault-Interpretation sagt, an den eigenen Aporien zu-. hsZi«Ae.*b Die Kritik, die an dem Vorwurf Foucaults geübt ^jjjjch-pragmatische Episteme der Moderne« genau diagnosti-- ziert habe.47 Die Auflösung der modernen Episteme, die in t-fet Dezentrierung des Menschen gipfeln wird, führt nach ■foucault jetzt schon zur »Wiederkehr der Sprache«, d.h. ".'zur Sprache, die sich nicht mehr einsetzen läßt, um das Ord-;üüngsbedürfnis des Subjekts zu befriedigen, sondern die als jii sich selbst ruhende Einheit auftritt und die Diskurse zu jenen Praktiken werden läßt, denen Auskünfte über Realität wie über Geschichte zu entnehmen sind, ja, in denen Realität und Geschichte überhaupt erst Gestak annehmen, auch Wenn die Sprache vorerst noch anthropozentrisch ausgeführt ist. So ist es nicht weiter verwunderlich, daß sich die Aufmerksamkeit Foucaults bereits in der Archäologie des Wissens und in der berühmten Antrittsvorlesung am College He France über die Ordnung des Diskurses 1970 von der Episteme wegbewegt und dem Diskurs zuwendet. Ulrich Brieler hat diese Verschiebung genau registriert und darauf hingewiesen, daß Foucault zunächst den Charakter korri-I gierte, den er der episteme zugeschrieben hatte: aus einem invariablen Denksockel, der nur eine Verknüpfungsart der Diskursbeziehungen in einer Epoche zuließ, wird nun ein Feld, in dem unterschiedliche Anordnungen von Diskursbeziehungen in weiter Streuung, aber begrenztem Rahmenmöglich sind.48 Dieses dynamische Arrangement der Episteme vermag deutlich zu machen, warum die Aufmerksamkeit; mm tgjl Diskurs und Realität sich sodann auf die Diskurse bzw. die Konfigurationen-Diskurse verlagert, denn die epistemische Kraft, bestirnj Diskurse zu ermöglichen, kann nur über die Analyse.^ Diskurse selbst zur Kenntnis gebracht werden. Und deutet sich auch an, daß Diskurse noch etwas anderes sii|j als Ideen, Theorien oder literarische Texte. Letztere entP springen einer schöpferischen Absicht der Autoren, wf||§ rend die Diskurse nicht der Absicht eines Autors folgi|a|f sondern sich den Bedingungen verdanken, die ein epistetggl sches Feld konstituieren. Sie sind ohne Intention des Sü|p| jekt. So hat sich die Aufmerksamkeit des Historikers v^gj den Ideen auf die Diskurse verschoben. Der »Gegenstands; der Geschichte wird die Diskursanalyse. Ohne sie wird die. Frage nach dem historischen Referenten keine Antwort flfp den. ...... Verschoben hat sich auch der methodische Aspekt, untet-: dem Foucault das Vergangene betrachtet. Die archäologische Methode wurde eingesetzt, um den Grund zu erkunden, auf dem wir stehen. Mit ihrer Hilfe stieß Foucault auf die Ordnung, die dem Wissen, das wir von der Wirklichkeit haben, Form bzw. Struktur verleiht. Das brachte ihn in die Nähe des Strukturalismus und der Strukturgeschichte, wie sie in der Schule der Annales ausgebildet worden war. Wa# ihn mit dem Strukturalismus verband, war die Einsicht, wie tief der Mensch in die Strukturen seiner Gesellschaft verwickelt ist, so daß er keine Chance hat, sich selber zum Ursprung der strukturellen Ordnung zu erklären. In dem be* kannten Gespräch mit Paolo Caruso aus dem Jahr 1969 sag^ te Foucault: »Man entdeckt, daß das, was den Menschen möglich macht, ein Ensemble von Strukturen ist, die er zwar bedenken und beschreiben kann, deren Subjekt, deren souveränes Bewußtsein er jedoch nicht ist«4'. Was ihn vom Strukturalismus trennte, war zunächst die Historisierung der Strukturen und sodann die Annahme einer PluraÜtät struktureller Beziehungsmuster im epistemischen Feld. An der Strukturgeschichte faszinierte ihn vor allem die Theorie. Diskurs und Realität 71 historischer Zeiten: unterschiedlicher Zeitabläufe in den jrschiedenen Lebensbereichen, die zusammen eine Epoche lüden - im Politischen, Wirtschaftlichen, Geographisch-jozialen. Was ihn störte, war das Konzept einer »histoire to-.^je«. Natürlich geht es Foucault darum, Strukturzusanv flienhänge aufzudecken, und doch ist er vor einer struktura-jjistischen Vergewaltigung der Geschichte auf der Hut: »die Historiker versuchten bereits geraume Zeit vergeblich, strukturen zu finden, zu beschreiben und zu analysieren, 0Jifie jemals sich haben fragen zu müssen, ob sie nicht die lebendige, zerbrechliche, zitternde ^Geschichte« sich entgehen jießen«':. Als der Diskurs in das Zentrum seines Forschungsinteres-5es rückte, vernachlässigte Foucault die Archäologie, ob-: :#ohl er ihre Mithilfe bei der Feststellung von Brüchen, Verschiebungen und Transformationen des diskursiven Bedingungsgeflechts weiterhin nutzte, und wandte sich der Genealogie zu, die er im Anschluß an Friedrich Nietzsche zu einer eigenen genealogischen Methode ausarbeitete. Foucault bemerkte sehr bald, daß das, was sich unter den Füßen befindet, mehr noch, als in der Ordnung der Dinge und der Archäologie des Wissens bemerkt worden war, historisch fragmentiert ist: »die Zwischenfälle, die winzigen Abweichungen oder auch die totalen Umschwünge, die Irrtümer, die Schätzungsfehler, die falschen Rechnungen, die das entstehen ließen, was existiert und für uns Wert hat«35. Das eine greift nicht auf kontinuierliche Weise in das andere und bildet keinen homogenen, festen Sockel, auf dem wir stehen oder mit dem wir zusammenwachsen, so daß uns eine gewachsene Identität mit dem Ursprung verbände. Alles ist brüchig, zerstückelt, letztlich ohne Zusammenhang; dafür drängt sich die Frage nach der eigenen v. 72 Diskurs und Realität Herkunft auf. Um die Suche nach der sauberen Quelle, der alles fließt, kann es allerdings nicht gehen, zu stark war-" in den vergangenen Untersuchungen bereits der Eindruck^, den die Beobachtung von Brüchen und abrupten Transformationen hinterlassen hatte. Die Methode der Genealogie leitet nicht die historisch-genetische Suche nach den Auffangen, geschweige denn nach dem Ursprung an, um einen -Prozeß des Werdens zu rekonstruieren. Paradoxerweise-sieht Foucault in der genealogischen Methode einen We& die Diskontinuitäten aufzudecken, die sich vor uns aufgebaut haben, zur Auflösung des Ichs führen werden und »an den Orten und Plätzen seiner leeren Synthese tausend" verlorene Ereignisse wimmeln« lassen.52 Um die begrenzten, singulären, im historischen Feld jeweiliger Epochen verstreuten Ereignisse geht es Foucault. Sie werden mit der genealogischen Methode aufgespürt, genau beschrieben und deutlicher, als im Umkreis der Archäologie sichtbar werden konnte, auf die Gegenwart bezogen. Allerdings sind es nicht die ephemeren Oberflächenerscheinungen, die" Foucault im Auge hat, Ereignisse, wie er sie sieht, fügen sich auch nicht in einen vom Ende der Geschichte her gedachten Prozeß ein. Sie sind nicht Entscheidung, Schlacht und Friedensschluß, auch nicht Regierungszeit, sondern die tiefeinschneidende »Umkehrung eines Kräfteverhältnisses, der Sturz einer Macht, die Umfunktionierung einer Sprache und ihre Verwendung gegen die bisherigen Sprecher, die Schwächung, die Vergiftung einer Herrschaft: durch sie selbst, das maskierte Auftreten einer anderen: Herrschaft«53. Im Grunde sind das Themenbereiche, die jedem Sozialhistoriker am Herzen liegen müßten; auch die Abwendung von der traditionellen, an der Intentionalitat des Subjekts orientierten Hermeneutik müßte doch auf Verständnis stoßen. Die Sozialgeschichte in Deutschland: hat sich jedoch nicht auf Foucaults »Formveränderung« der Geschichte eingelassen, um einen Begriff Johan Hui-zingas zu nutzen. Diskurs und Realität 75 Diese genealogische Analyse konzentriert sich auf das isolierte, von jedem verinnerlichten, intentional gesteuerten ígiunzusammenhang gelöste Ereignis und nimmt es in der »Äußerlichkeit des Zufälligen«, d.h. von ihrer durch die ř £eere markierten Grenze, wahr.54 Das ist der Grund, warum foucault sich von der Hermeneutik als der geisteswissenschaftlichen Methode der traditionellen Historie abwendet, jja es hinter den sinntragenden Aussagen nicht einen verborgenen eigentlichen Sinn gibt, und warum er »positivistisch« mit Geschichte umgeht. Wie der Archäologe im Schutt des Vergangenen auf einen Gegenstand stößt, von dem er nicht gleich weiß, ob dieser selber nur Schutt ist oder nicht ein Relikt von kultureller Bedeutsamkeit, untersucht Foucault das Ereignis und bestimmt den Ort, den es in einer bestimmten epistemischen Feldordnung einnimmt, und ebenso seine Beziehung zur Gegenwart. Deutlicher als unter dem archäologischen zeigt sich die Gegenwartsrelevanz dieser historischen Arbeit unter dem genealogischen Gesichtspunkt. Die Arbeit zersetzt die Wirklichkeit, die im Grunde nicht wirk-i-5 lieh ist, sondern eher eine permanente Verstellung, eine Maskerade darstellt, die deutlich werden läßt, daß hinter den Masken nichts greifbar ist. Sie löst unsere Identität auf, die, genau betrachtet, von einer Vielzahl von Kräften bzw. Systemen durchwirkt, ja zersplittert wird. Und sie zerstört das Erkenntnissubjekt, das trotz gegenteiliger Beteuerungen nicht von sich absieht, um das Objekt zur Geltung zu bringen, sondern dem Instinkt, der Leidenschaft, sogar der Bosheit freien Lauf »im Willen zum Wissen« läßt,55 Diese Gegenwartsrelevanz erklärt, warum Foucault sich gern einen »Historiker der Gegenwart« nannte. Er betrieb Geschichte nicht um der Vergangenheit, sondern um der Gegenwart willen. Er wollte die Geschichte der Gegenwart schreiben,56 d.h. nicht darstellen, wie alles Vergangene auf die Gegenwart zulief (das Vergangene flieht ja eher die Gegenwart), sondern woraus sich die Gegenwart zusammensetzte, um sie deutlich von der Vergangenheit abzusetzen und ihre histo- 7* Diskurs und Realität. Diskurs und Realität 75 risch unverwechselbare, einzigartige Gestalt herauszustel.-' len. Foucault spricht von einer »Ontologie der Gegenwart«-und meint damit ein Projekt, das ohne die genealogische' Methode gar nicht zu bewältigen sei.57 Foucault konzentrierte sich auf den Diskurs, weil er in- -ihm den Zugang zum Wissen erkannt hatte und mit der Analyse der Formen des Wissens da einsetzen wollte, wo Wissen von dem, was ist, entsteht, ja, die Gegenstände allererst erfunden werden, um die wir uns bemühen. Wissen entsteht nicht in der Äußerung einfallsreicher Gedanken über bereits bestehende Gegenstände. Was der eine oder andere als Verarbeitung von Wissen anbietet, Romane, philosnphU sehe Traktate, wissenschaftliche Abhandlungen, ist int Grunde nur seine eigene Sicht von den Dingen oder von der Wirklichkeit. Die Realität entsteht erst in den Diskursen* d.h. in einem Gemurmel, das keinen Autor hat, sondern sich auf anonyme, subjektlose, wohl aber epistemisch geregelte Weise vollzieht und solange geführt wird, bis ein Gegenstand entstanden ist, so daß er in den allgemeinen, allseits akzeptierten Wissensbestand eingeht. Wie Wahnsinn entstehen konnte, hat Foucault beispielsweise in Wahnsinn und Gesellschaft (1961) untersucht. Von solchen subjektlosen Diskurselementen ist natürlich auch ein literarischer, philosophischer oder wissenschaftlicher Text durchwirkt, insofern sind also auch Literaten, Philosophen und Wissenschaftler an der diskursiven Herstellung von Wissen beteiligt. Solche Diskurse werden in bestimmten historischen Feldern geführt, dort erscheinen sie an verschiedenen Stellen verstreut und stehen zueinander in Beziehung, d.h. sie bilden Formationen. Wir sprechen vom medizinischen, ökonomischen oder linguistischen Diskurs, Andererseits stehen auch diese Formationen untereinander in Beziehung und lassen insgesamt eine epistemisch geordnete Wirklichkeit entstehen. Diskurse, wie Foucault sie versteht, sind sprachliche und nichtsprachliche Akte bzw. Praktiken. Sie sind auf keinen - |jäi| sprachliche Aussagen, die die Intention eines Autors : , zürn Ausdruck bringen, oder Kommunikationsprozesse, in denen man sich über bereits vorhandene Sachverhalte austauscht und verständigt, bis sich ihre Wahrheit enthüllt. Sie sind sprachliche bzw. nonverbale Praktiken, mit deren Hilfe Oberhaupt erst geschaffen wird, was erkannt und gewußt werden kann. Was auf diese Weise entsteht, ist mehr als ein Sprachgebilde, es ist über Sprache hinaus Wirklichkeit. Um dieses »mehr« geht es in der Archäologie des Wissens: »Zwar bestehen diese Diskurse aus Zeichen, aber sie benutzen diese Zeichen für mehr als nur zur Bezeichnung der Sachen. Dieses mehr macht sie irreduzibel auf das Sprechen und die Sprache. Dieses mehr muß man ans Licht bringen und beschreiben«.58 Das ist ein Hinweis darauf, daß die Diskursanalyse sich nicht, wie oft verstanden wurde, in einer Sprachanalyse bzw. einer Textanalyse erschöpft, sondern die gesellschaftlichen Praktiken und die sich bildenden institutionellen Formen mit einschließt. So sind sprachliche Diskurse auf Institutionen bezogen, die sie selber hervorbringen: Immaterielle und materielle Diskurse, Aussagen und Praktiken, gehören zusammen und konstituieren den Praxischarakter des Ereignisses. Die diskursive Praxis ist »eine Gesamtheit von anonymen, historischen Regeln, die in einer gegebenen Epoche für eine gegebene soziale, ökonomische, geographische oder sprachliche Umgebung die Wirklichkeitsbedingungen der Aussagefunktion definiert haben«5'. Darüber hinaus: Diskurse erzeugen und bewirken etwas. Foucault spricht von ihren »Effekten«. So wird noch einmal verständlich, daß die Diskursanalyse als Analyse diskursiver und non-diskursiver Praktiken mehr als nur Sprache und Wissen zum Gegenstand hat, nämlich auch politische und wirtschaftliche Verhaltensrituale und Institutionen. Da diese Analyse die Aufgabe hat, die Bedingungen genau zu beschreiben, unter denen der eine oder andere Gegenstand im historischen Feld, d.h. zu einer bestimmten Zeit, in bestimmten Formationen und Beziehungen, auftaucht und ir- 76 Diskurs und Realität Diskurs und Realität 77 gendwann wieder verschwindet, nach welchen seriellen Re» geln er erscheint und Spuren hinterläßt, weist die Diskurs-analyse in Archäologie des Wissens eine Tendenz auf, sich z^ historischer Analyse allgemein zu entwickeln. Das »mehr« in der Archäologie des Wissens markiert ~ noch etwas zaghaft - die Stelle, an der bald die Macht in das Diskursereignis einfallen und den Erklärungswert der Diskursanalyse um eine bedeutende Dimension erweitern wird. In der Vorlesung über die Ordnung des Diskurses zieht Fou-cault die Beobachtung in den Diskursbegriff hinein, dafe Diskurse nicht frei wuchern, sondern von denjenigen begrenzt oder eingeschränkt, reguliert, kanalisiert, selektieit und kontrolliert werden61, die mit den ihnen zur Verfügung stehenden Machtmitteln alles daran setzen, die Gefahren zu bannen, die von der Arbitrarität der Diskurse auf die gesellschaftlichen Verhältnisse ausgehen können. Die Definition von Wissen, Norm und Wahrheit wird zur Machtfrage, ebenso die Ausgestaltung dessen, was unter Gesellschaft verstanden wird. Über diese einschränkenden, aber wirklichkeitsgestaltenden Maßnahmen spricht Foucault ausführlich und beschreibt die Mechanismen der Ausschließung, die eingesetzt werden, um die Diskurse zu disziplinieren: Da nicht alles gesagt werden darf, werden Verbote erlassen, damit nicht jeder über alles redet, wird der Zugang zu unliebsamen Diskursen eingeschränkt und an besondere Qualifikationen gebunden, es wird normiert, was wahr und was; falsch ist. Noch zahlreicher sind die Bemühungen, die Realität des Diskurses zu eliminieren. Es sind im Grunde die von Foucault inkriminierten Prinzipien der Moderne wie Subjekt, Bedeutung, Ursprung und Kontinuität, die sich des Diskurses bemächtigen und seine Wirkung außer Kraft zu setzen versuchen.61 Überall herrscht, meint Foucault, eine »stumme Angst« vor dem »großen unaufhörlichen und ordnungslosen Rauschen des Diskurses«62. Doch Wirklichkeit und Wahrheit werden nicht nur auf diese disziplinierte Weise geschaffen und fixiert, Macht ruft ebenso Widerstand auf ■ den Plan, so daß das Fixierte, wo es möglich ist, auch über-: , -^runden und überschritten wird. »Wo es Macht gibt, gibt es widerstand«, formuliert Foucault später in Der Wille zum Wissen (1977) noch deutlicher als in dieser Vorlesung.53 i Wichtig ist der Diskurs nicht nur für diejenigen, die poli-: tisch herrschen und sich im Diskurs ein Machtmittel sichern, ebenso wichtig ist er auch für diejenigen, die unter : politischer Herrschaft leiden und sich ihr widersetzen. So-\ lange der Diskurs auf Machtbeziehungen verweist, die das entstehende Wissen afhzieren, ja, sogar hervorrufen, kann er ; nicht von politischer Herrschaft vereinnahmt oder zu repressiver Macht denaturiert werden. Die politische Herr-; schaft wird damit rechnen müssen, kritisiert, bestritten oder überwunden zu werden. Der Diskurs muß als eine Gewalt begriffen werden, die den Dingen und dem Handeln der Menschen angetan wird.44 Nur so kommt die Materialität des Ereignisses, vor der man sich schützen wollte, in der Diskontinuität, der Regelhaftigkeit und dem seriellen Cha-. rakter der Praktiken zum Zuge. Das gilt auch für ihre : Äußerlichkeit, die nicht innere Bedeutungsinhalte des Diskurses enthüllt, sondern lediglich die Bedingungen der Möglichkeit von Diskursen aufdeckt: »was der Zufallsreihe : dieser Ereignisse Raum gibt und ihre Grenzen fixiert«65. Be-; sonders auf diese Weise wird der Diskurs zu einem produktiven, ja, kreativen Ereignis. Der Diskurs erschließt Räume; ; die bisher noch eine Terra incognita, das Außen bzw. das Andere waren, er erweitert das Wissen, schafft neue Beziehungen der angesprochenen Gegenstände zueinander und auf diese Weise neue Realitäten. So realisiert sich der Dis-: kurs in Machtbeziehungen, die das gesellschaftliche Leben. '. durchziehen. Noch einmal: Im Rahmen dieser Machtbezie-; hungen wird der Diskurs kontrolliert, ja, zur Macht, »deren man sich zu bemächtigen sucht«66. In diesen Beziehungen ■ : bewahrt er auch seine beunruhigende, grenzenüberschrei- ; tende, innovative Kraft. So wird die diskursive Praxis zu: ; • gesellschaftlicher Praxis. Die Diskursanalyse stößt auf das 78 Diskurs und Realität Diskurs und Realität 79 oben vermerkte »mehr«, setzt sich über das diskursimma- ■ nente Regelsystem der Archäologie des Wissens hinweg und fragt, wie Brieler bemerkt, »nach den gesellschaftlichen ■ Konditionen, denen die diskursive Praxis in ihrer historischen Existenz gehorchen muß«67. In der Ordnung des Diskurses verläßt Foucault endgültig die dünne Luft der Ideengeschichte und wendet sich der »allgemeinen« Geschichte zu, wie er sie bereits in der Archäologie des Wissens genannt hat.68 Der Philosoph, der an der »Ontologie der Gegenwart*-interessiert ist, wird zum Historiker. Freilich gilt auch hier: Was Geschichte ist, steht nicht ein für alle Mal fest, sondern entsteht im Diskurs jeweils aufs Neue. Auch die Diskursanalyse folgt den Regeln des Diskurses. Foucault wird oft vorgeworfen, daß seine Diskursanalyse sich im Netz der Sprache verfangen und von der Realität entfernt habe, die den Historiker letztlich allein interessiert. Nach der Lektüre von Ordnung der Dinge kann durchaus der Eindruck entstehen, daß er sich dem Strukturalismus bzw. dem linguistic turn anvertraut habe, der die Sprache nach Ferdinand de Saussure nicht mehr als eine Funktion des sprechenden Individuums versteht, sondern als Produkt, »welches das Individuum in passiver Weise einregistriert«69. Der Mensch ist nicht mehr Herr der Sprache, er wird von \ ihr durchströmt bzw. beherrscht. Das war, wenn man von Nietzsche absieht, ein erster Schritt, der zur Dezentrierung des Menschen getan und am Ende der Ordnung der Dinge auf besonders provokante Weise zur Vollendung geführt wurde. Die Frage drängt sich auf, ob mit dem Subjekt auch die Sprache verschwindet, deren dominierende Autonomie : ja das Verschwinden des Subjekts herbeiführt bzw. begründet, oder ob nicht umgekehrt die Dominanz der Sprache sich sogar steigert und überhaupt keinen Weg mehr offenläßt, den historischen Referenten zur Geltung zu bringen. Um dem Problem historischer Referentialität näherzukommen, muß zunächst danach gefragt werden, wie Foucault positivistische Untersuchungsmethode und fiktionalen Konstruktivismus miteinander vereinbart haben könnte. Gewöhnlich wird unter historischer Referentialität der Hin-. ■Breis verstanden, den sprachliche Zeichen in einem historischen Text auf einen Sachverhalt geben, der außerhalb des Textes vorhanden war. Besonders die Historiker, die einer Tradition hermeneutischer Interpretation verpflichtet sind, bestehen auf dieser Referentialität und kreiden dem postmo-dernen Denken an, daß es sich nicht um eine Realität außerhalb des Textes bemüht, ja, eine solche Realität geradezu leugnet. Foucault bezieht diese Kritik nicht auf sich. Er dreht den Spieß vielmehr um und wirft den Kritikern des linguistic turn vor, selber einer Illusion erlegen zu sein, denn wer sich in seiner interpretativen Arbeit darum bemüht, hinter den Sinn einer Aussage zu kommen, bzw. danach fragt, was der Autor eigentlich gemeint haben könnte, muß sich sagen lassen, daß es einen Sinn, auf den ein unter Diskursbedingungen entstandener Text verweist, nicht gibt. Die Dinge, auf die sich Autoren eigentlich beziehen, enthalten keinen Sinn, deshalb bleibt die Suche danach ohne Erfolg und deshalb können die Texte ihn auch niemandem vorenthalten.70 In der hermeneutischen Tradition, die aus dem Verständnis des Menschen als einer empirisch-transzendentalen Dublette erwächst, wird die Wirklichkeit verfehlt. Davon war bereits oben die Rede. Die Referentialität, mit der die Wahrheit der historischen Aussage angeblich steht und fällt, erweist sich als Schein. Foucaults Absicht, die äußeren Beziehungen zu beschreiben, in denen sich die Aussagen im diskursiven Feld formieren, ist dagegen, frei von der Frage nach dem Sinn, ein Unterfangen, das sich ohne jeden Zweifel auf Gegebenes, auf Positivität und nicht auf Imaginäres, bezieht. Die Aussage, schreibt Foucault in Archäologie des Wissens, hat keinen Referenten, wie man traditionellerweise meint, sie »ist vielmehr mit einem >Referential< verbunden* das nicht aus >Dingen<, >Fakten<, >Realitäten< oder >Wesen< konstituiert wird, sondern von Möglichkeitsgesetzen, von Existenzregeln für die Gegenstände, die darin genannt, be- 80 Diskurs und Realität zeichnet und beschrieben werden, für die Relationen, djt darin bekräftigt oder verneint werden. Das Referential der Aussage bildet den Ort, die Bedingung, das Feld des Auftauchens, die Differenzierungsinstanz der Individuen und Gegenstände, der Zustände der Dinge und der Relationen, die durch die Aussage selbst ins Spiel gebracht werden; es' definiert die Möglichkeiten des Auftauchens und der Abgrenzung dessen, was dem Satz einen Sinn, der Proposition ihren Wahrheitswert gibt«71. Wie bei Hayden White und Frank Ankersmit wird auch bei Foucault die Referentialität mit neuem Inhalt gefüllt, festgehalten an ihr wird allemal. ' Nicht nur der Hinweis auf die Positivität der Diskursformation, sondern auch der Diskurs selbst als Vorgang, in dem Realität entsteht, zeigt, daß die Referentialität außer Frage steht - sicherlich nicht, wenn immer noch angenommen wird, daß um die Erkenntnis einer bereits gegebenen Wirklichkeit gerungen wird und nicht zuerst um Programme und Praktiken, die eine Voraussetzung dafür sind, daß Wirklichkeit als Ganzes entsteht.72 Das Projekt einer »Ontologie der Gegenwart«, das die Historizität der Gegenwart so klar wie irgend möglich herausstellt und auf diese Weise die Bedingungen aufzeigt, unter denen über die Grenzen der Gegenwart hinausgegangen und zu neuen Ufern politischer und gesellschaftlich-kultureller Praxis aufgebrochen werden kann, ist der eigentliche Grund, warum Foucault keinerlei Zweifel an der Referentialität seiner historischen Untersuchungen erlaubt. Für ihn ist das überhaupt kein Thema. Er bezieht seine historischen Argumente nicht auf eine gegebene, sondern auf eine entstehende Realität und verankert die Referentialität in der Veränderlichkeit bestehender Realität. Was könnte realer sein, als im Entstehen und im Vergehen der Realität dabei zu sein? Die Erfahrung der Veränderlichkeit ist konkret und geht in die Erfahrung ein, der sich die Gegenwart, in der wir leben, verdankt. Veränderlichkeit hat zugleich der Vergangenheit ihren Weg in die Zukunft geöffnet. Hat die Diagnose der Gegenwart einen Referenten, jU Diskurs und Realität 8 t ' 'f- ^uß ihn auch-die Untersuchung der Vergangenheit haben -genaugenommen keinen Referenten, sondern ein »Referen- ■ tial*1' Zweierlei ist besonders wichtig: Zum einen hat Foucault Jen Umgang mit Geschichte modernisiert, d. h. er hat ihn an - (jie veränderte Situation angeschlossen, in der anders als frü-: her über Wirklichkeit nachgedacht wird. Bevor Kritik an Foucault geübt wird, die in Teilen sicherlich berechtigt ist,: : müssen wir uns fragen, ob der Umgang mit Geschichte, sofern er dem Wirklichkeitsverständnis folgt, das dem Verwissenschaftlichungsprozeß der Geschichte zugrunde liegt, ■ noch zeitgemäß ist. Zum anderen ist von den Kritikern Fou-; caults übersehen worden, daß er die Geschichtswissenschaft, z. B. wie sie in der Schule der Annales ausgebildet :' wurde, keinesfalls durch ein neues Konzept historischer Ar-; beit ersetzen will. Er anerkennt ihre Arbeitsweise und ihre Ergebnisse, daneben will er »fiktional« die Geschichte »fabrizieren«, die seiner »historisch-philosophischen Praktik« entspricht/3 So gesehen ist er doch mehr Philosoph als Historiker oder Historiker, um Philosoph bleiben zu können, wie Philippe Ariěs meinte.74 Es ist nicht so, daß Foucault mit dem Hinweis auf die Fiktionalkät seiner historischen Arbeit kokettiert. Dieser Hinweis entspricht vielmehr einem Verständnis von Wirklichkeit, die grundsätzlich veränderlich ist und im und mit dem diskursiven Verfahren immer erst noch entsteht. Nimmt man die Veränderlichkeit als den Standort an, von dem aus der Historiker auf die Vergangenheit blickt, muß jede Aussage über die Vergangenheit fiktional-kon-struktiven, d. h. einen von der Wirklichkeit noch nicht eingelösten Charakter tragen. Fiktionalkät und Referentialität widersprechen einander nicht. Viel zu aufgeregt und zu grundsätzlich ist Foucaults Verständnis von historischer Arbeit kritisiert worden, dabei präsentiert er auf anti-normative Weise nur ein Angebot, das »Problem des Subjekts und der Wahrheit« zu bedenken, »um das sich die Historiker nicht kümmern«75, bzw. noch nicht gekümmert haben. Seine 82 Diskurs und Realität eigene Art, Geschichte zu schreiben, ergibt sich aus der Verschiebung des Themas bzw. aus einer leichten Veränderung des Blicks. Foucault könnte noch postum Bewegung in eine stagnierende Geschichtswissenschaft bringen. Foucault hat zunächst gezeigt, wie das dominante, Wirklichkeit generierende Subjekt allmählich aus der Geschichte verschwindet, und nun will er zeigen, wie sich das Subjekt in der diskursiven Überschreitung gegenwärtiger gesellschaftlicher Grenzen konstituiert. Das ist ein Subjekt, das am Rande, eben an den Grenzen der Gesellschaft und nicht in ihrem Zentrum entsteht, dort, wo sich das Alte nicht mehr halt und Neues auf den Plan tritt. Daß die Geschichtswissenschaft mit dieser Anregung ihre gesellschafdiche Position und ihren Wissenschaftscharakter noch einmal überdenken, zumindest aber dem dezentralisierten Geschichtsverständnis Foucaults ein Mitspracherecht einräumen müßte, die Gegenwart historisch zu analysieren und die Historizität des Vergangenen, ihre Brüchigkeit und die Gestalten ihrer Transformation genau zu bestimmen, ist alles andere als eine belanglose Einsicht. IV Konstruktion der Geschichte Wer die wissenschaftsgeschichtliche Verbundenheit der Historiker mit dem 19. Jahrhundert kennt, auch ihre Neigung, einer theoretischen Beschäftigung mit ihrer Arbeitsweise, ihrer Begrifflichkeit und ihren Ergebnissen aus dem Wege zu gehen, weiß genau, was Hayden Whites metahistorische Interpretationsweise und Michel Foucaults Dískursanalyse ;: ihnen zumutet: Sie müssen ihre Vorstellungen von Staat, ; Gesellschaft, Kultur, Wahrheit, Wirklichkeit und Geschichte von Grund auf erneuern. Noch schwieriger wird die Lage, wenn die verschiedenen Formen konstruktivistischer Konzepte ins Spiel kommen. Um nur einige Beispiele anzuführen: Peter Berger und Thomas Luckmann haben schon in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts von der »gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit« gesprochen und ein objektivistisches bzw. essentialistisches Wirklichkeitsverständnis mit den ar-■ gumentativen Mitteln der Phänomenologie und der Wís-: senssoziologie zu zerrütten begonnen.5 Die Wissenssoziolo-; gie hat in der deutschen Geschichtsschreibung aber keine Spuren hinterlassen. In ihrem Gefolge entwickelte sich später das komplexere Modell eines »social construetionism« und drang in wichtige Disziplinen ein. Die deutsche Geschichtswissenschaft aber ging auch dieser Herausforderung aus dem Weg. Ausgesprochen kompliziert und in der Begrifflichkeit formuliert, die in der analytischen Philosophie, Biologie, Kybernetik, Psychologie und schließlich in den Kognitionswissenschaften angewandt wird, muß der Radikale Konstruktivismus auf Historiker noch abstoßender wirken. Diese kategoriale und sprachliche Welt ist ihnen fremd. Es handelt sich um Konzepte, die Ernst von Glasers-feld, Heinz von Foerster, Paul Watzlawick und Humberto S4: Konstruktion der Geschichte Maturana entwickelt haben, um die bekanntesten Konstruktiv! tivisten zu nennen. Im Zentrum ihrer Bemühungen steht die-kognitiv-soziale Konstruktion der Wirklichkeit, ein Begriff der unten erklärt wird. Aus konstruktivistischer Perspektive hat sich besonders der Literaturwissenschaftler Gebhard Rusch auch der Geschichte angenommen. Sein schwieriges Buch über Erkenntnis, Wissenschaft und Geschichte (1987). ist in der Geschichtswissenschaft allerdings nicht zur Kenntnis genommen worden. Auch die Aufsätze, die in der Österreichischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaften^ (1997} über Konstruktion und Geschichte zu Ehren Heinz, von Foersters veröffentlicht wurden, sind bisher nur wenigen bekannt, Wo der konstruktive Charakter der Wirklichkeit behauptet wird, muß der Historiker damit rechnen, daß. diese Behauptung auch das Geschichtsverständnis einschließt und die historische Referentialtät auf eine harte... Probestellt. Ein Gespräch mit Heinz von Foerster wurde so eingelei-. tet: »Geschichte ist neben der Soziologie das letzte Fach, iri:: dem Objektivität noch eine Rolle spielt, ja geradezu etwas.: besonders Wichtiges ist.« Ungläubig fragte der Angespro-^: chene zurück: »Na was, ist das wirklich so?«2 Das objektiv.. : vitätspostulat Leopold von Rankes, »bloß zu zeigen, wie es v eigentlich gewesen« sei, ist offensichtlich immer noch im .:. Bewußtsein der Sozial- und Geisteswissenschaftler tief ver-. ■ ankert und vermag das Modell für ein Wirklichkeits- und; Geschichtsverständnis abzugeben, an dem sich der Radikale:: Konstruktivismus kritisch abarbeitet und zum eigenen Kon- - ľ: zept rindet. Im Grunde ist der Starrsinn des Historikers, seine Dar-Stellung auf objektive Fakten zu gründen, neuerdings von Richard Evans in Fakten und Fiktionen (1999) wieder unter Beweis gestellt worden. H. von Foerster sieht darin jedoch schon das Prinzip, das sein Scheitern einschließt - unmerk^ : lieh fast. Von den Fakten geht nämlich eine Provokation aus,.. sie ständig zu bezweifeln, und das wiederum läßt die Ge- Konstruktion der Geschichte 85. f- schichte, sofern sie beobachtet und wahrgenommen wird,, ununterbrochen zu einer evolutionären Entwicklung werden: »Die Geschichte rollt und ist verschieden, verschieden, verschieden und verschieden.« Die Dynamik entsteht durch :; Zweifel, die das jeweils behauptete Faktum weckt: »So war :'■ es ja gar nicht, denn ich habe... Und jetzt kommt ein Gegenspiel, und der andere kann dann sagen: Aber so war es ja; * auch nicht. Und indem jetzt etwas abrollt, eine Diskussion, wird Geschichte eine Diskussion zwischen Menschen, die Geschichte in verschiedener Weise sehen wollen«.3 Ge-:> schichte ist nicht die Rekonstruktion der res gestae, sondern ;; das Spiel der verschiedenen Sichtweisen der historia rerum' : ■ gestarum. Das ist das Ergebnis, zu dem man einst auch in. der kritischen Selbstreflexion innerhalb der hermeneuti-. . sehen Tradition gelangte, sofern die Standortgebundenheit ■ und Perspektivität des Umgangs mit Geschichte konsequent bedacht worden war. Doch was diese Position von der her-meneutischen trennt, ist die Tatsache, daß die Diskussion nicht ein Gespräch ist, das zu einem Konsens führt, auch annäherungsweise nicht. Ein Konsens wird gar nicht erst angestrebt. Die Diskussion erschöpft sich vielmehr darin, daß Zweifel an der Sicht des anderen gehegt und eine jeweils eigene Sicht entwickelt wird. Diese Diskussion ist allerdings auch der Ort, an den die eine oder andere Information mitgebracht, begrüßt, erwogen, bestritten, gefestigt, fortentwickelt und von dem einen so und dem anderen so zu\ einer jeweils eigenen Sicht zusammengefügt wird. Doch an diesem Punkt besteht keine Einheitlichkeit im konstruktivistischen Lager. H. von Foerster unterstreicht die Komplex mentarität unterschiedlicher Sichtweisen, während Paul Watzlawick auch vom Kompromiß sprechen kann, der von Vertretern unterschiedlicher Sichtweisen gesucht wird. »Die Wirklichkeit wird ja nicht vom einzelnen regellos und willkürlich konstruiert, sie ist eine Übereinkunft, das Produkt, von Kommunikation.«4 Sobald jedoch erste Zweifel am Konsens auftreten, bleibt es bei einem Nebeneinander ver- 86 Konstruktion der Geschiebte Konstruktion der Geschichte 87 schiedener Weisen, Geschichte zu sehen, einer unaufhörlichen Folge solcher Sichtweisen. Keine läßt sich auf die andere zurückführen, keine durch die andere ersetzen. Das unterscheidet die konstruktivistische Sicht vom Objektivitätspostulat des Historismus. Die approximative Annäherung an den Gegenstand historischer Erkenntnis ist in den Augen der Konstruktivisten ein Irrweg, und dennoch heißt das nicht, daß der Gegenstand, um den es geht, überhaupt nicht vorhanden sei. Ernst von Glasersfeld spricht von der »onti-schen Realität«, mit der wir es zu tun haben, auf die wir stoßen und die uns gelegentlich scheitern läßt. Damit ist aber noch nichts erkannt. Daß es nicht gelingt, eine »Ontologie« des Vergangenen oder Gegenwärtigen zu artikulieren, auch gar nicht darum gehen darf, ist ein Credo des radikalen Konstruktivismus, Niemand kann erkennen, »was außerhalb der Erlebniswelt liegt«.5 1 : /: Die »Wirklichkeit« ist im radikalen Konstruktivismus zu einem Problem der Erkenntnistheorie geworden: Welche Möglichkeiten hat der Mensch, etwas zu erkennen, und: welchen Charakter nimmt das Erkannte an? Ist es real oder imaginär? Im Grunde gibt jeder Konstruktivist eine eigene Antwort auf diese Fragen, in einem aber sind sie sich wohl alle einig. Sie sind nicht zu dem Ergebnis gelangt, was; Wirklichkeit ist, das setzte ja die grundsätzliche Erkennbarkeit der Wirklichkeit voraus, allen gemeinsam ist vielmehr die Einsicht, daß sie allenfalls sagen können, was Wirklichkeit nicht ist. Es ist nicht möglich, ein Wissen vom Ganzen der Wirklichkeit zu erlangen, sondern nur Fragmentarisches über sie in Erfahrung zu bringen. Das berühmte Beispiel, das diesen Befund illustriert, ist die Fahrt eines Schiffes durch eine Meerenge. Kommt der Kapitän durch, ohne Schiffbruch zu erleiden, hat er sein Ziel er- reicht, erfährt aber nichts über die Beschaffenheit der Meerenge unter Wasser, Strandet er an einem Felsvorsprung unter Wasser oder läuft sein Schiff auf einer Sandbank auf, erfährt er, daß die »Wirklichkeit« sich seiner Absicht widersetzt hat, das Schiff unversehrt durch die Meerenge zu steuern - mehr nicht. Ihm wird klar, daß die Wirklichkeit nicht so ist, wie er angenommen hat. Es formt sich in ihm aber kein Bild davon, wie die Wirklichkeit nun tatsächlich ist. »Im Scheitern einer Hypothese über die Wirklichkeit erfahren wir, daß diese Hypothese falsch ist«* - mehr nicht. Wir erfahren eigentlich nur etwas über unseren Versuch, die Wirklichkeit zu erkennen. Dieser Versuch ist übrigens kein kontemplativer Akt, kein Auf-sich-wir-. ken-Lassen der Wirklichkeit, sondern eine Tat. Im Experiment, in actu, in der Fahrt durch die Meerenge, erfahren wir etwas von der Wirklichkeit, das uns in den Stand versetzt, uns eine Vorstellung von ihr zu bilden. Das Ergebnis des Erkenntnisprozesses ist nicht die möglichst genaue Abbildung, sondern eine Konstruktion der Wirklichkeit, so wie sie sich in unserer Erfahrung mit Hilfe der uns zur Verfügung stehenden Lern- und Erkenntnismittel darstellt. »Ist man sich einmal klar darüber, daß man als Mensch nicht aus der menschlichen Wahrnehmung und den Begriffen, die man als Mensch gebildet hat, aussteigen kann, dann, sollte auch klar sein, daß man immer nur die Welt der menschlichen Erfahrungen zu kennen vermag, nie die Realität an sich.«7 Paul Watzlawick hat einer Aufsatzsammlung wichtiger Konstruktivisten den Titel Erfundene Wirklichkeit (1981) gegeben. Die Wirklichkeit wird nicht gesucht und gefunden, sie wird erfunden. Sie bildet sich in unserer Vorstellung. Das bedeutet zweierlei: Einerseits wird die mit der modernen Bewußtseinsphilosophie entstehende Subjekt-Objekt-Spaltung aufgehoben bzw. überwunden. Es ist nicht mehr so, daß ein vom Subjekt getrenntes Objekt zu erkennen wäre. Im Erkennen fallen Subjekt und Objekt vielmehr ineinander. Das eine ist nicht ohne das andere. 88 Konstruktion der Geschichte Watzlawick ist davon fasziniert: »Da sind wir natürlich auf einer fast mystischen Ebene, wo wirklich die Verschmelzung der Welt mit dem die Welt wahrnehmenden Individuum möglich wird.«8 Andererseits fällt das Augenmerk auf das erkennende Subjekt, auf seinen kognitiven Apparat, auf die Möglichkeiten, die der Mensch hat, sich mit der Wirklichkeit, die es zweifellos gibt, auseinanderzusetzen, sie zu erkennen und zu seiner Welt auszugestalten. Das liest sich wie das Kontrastprogramm zu Foucaults Verschwinden des Menschen, seiner Subjektivität, aus dem erkenntnisschaffenden und Wirklichkeit generierenden Diskurs. Ein positi-: vistisches Verfahren, wie Foucault es zur Beschreibung der episteme einsetzte, wäre im Lager des radikalen Konstruktivismus ausgeschlossen. Hier fallen Beobachter und Beobachtetes ineinander. Daß Beobachtungen ohne Beobachtet-, gemacht werden könnten, hat H. von Foerster als eine Wahnvorstellung ironisiert.9 Man könnte es so sagen: Aus; der »empirisch-transzendentalen Dublette«, die das Indivii; duum in der Aufklärungszeit geworden war, einer Dublette, die Foucault als Not empfand, wird im radikalen Konstruktivismus eine Tugend, die sich allerdings nicht bei deř.: überkommenen Subjekt-Objekt-Spaltung beruhigt, son-: dern sie zu überwinden trachtet. Einerseits wird sie radika-; lisiert, und andererseits das Objekt, das zu erkennen ist, vom Subjekt erst geschaffen. Ernst von Glasersfeld hat immer wieder darauf hingewie-i sen, daß er nicht am »Sein«, sondern am »Wissen« interes-.-siert sei, allein daran, was wir über das Sein bzw. die Wirk-; lichkeit wissen können, und nicht daran, was die Wirklich* keit an sich ist.10 Dabei trennt er das Subjekt, das erkennt,! vom Objekt, das erkannt wird. Darin kommt die Radikalität seines Denkens allerdings noch nicht voll zum Zuge.; Konstruktion der Geschichte 89 ./ Eine solche Trennung hatten ja auf unterschiedliche Weise • . schon die moderne Bewußtseinsphilosophie, die Varianten der Hermeneutik und der Positivismus des 19. Jahrhun-derts vorgenommen, daran wäre also nichts Neues gewe-: sen. Neu ist indessen die Begründung, die für diese Trennung gegeben wird. Der Beobachter beobachtet nicht nur etwas, sondern er beobachtet auch sich selbst dabei, wie er etwas beobachtet. Man spricht von der Selbstreferentialität des Beobachters, seiner Rückbezüglichkeit, und meint damit die Feststellung, daß der Beobachter bei allem, was er • über die Wirklichkeit, in der er steht, aussagt, stets zu sich, selbst zurückkehrt bzw. bei sich bleibt. In jeder Aussage, über das Objekt kommt auch das Subjekt zur Sprache, in. ■■"jeder Aussage über die Wirklichkeit wird die Erfahrung thematisiert, die mit der Wirklichkeit gemacht wird - mehr, nicht oder eben sehr viel, wenn Humberto Maturana ; schreibt: »Wir erzeugen [.,,] buchstäblich die Welt, in der u wir leben, indem wir sie leben.«11 Diese Selbstreferentialität ist das radikale Element im Denken der Konstruktivisten. Sie ist der Grund dafür, daß das Subjekt (das kognitive System) vom Objekt (der Umwelt) getrennt ist. Sie ist aber auch der Grund dafür, daß uns die Wirklichkeit, wie sie an sich ist, verschlossen bleibt und wir gezwungen sind, uns eine Welt aus den Erfahrungselementen, die sich im Umgang mit der Wirklichkeit bilden, zu ■ bauen. Die Erfahrungselemente sind die Berührungspunkte mit der Wirklichkeit, aus denen wir ein Wissen über die Art und Weise der Berührung, nicht über die Wirklichkeit selbst, schöpfen: »Wissen besteht in den Mitteln und Wegen, die das erkennende Subjekt begrifflich entwickelt hat, um sich, an die Welt anzupassen, die es erlebt.«12 Das Wissen sagt also etwas über unseren Zugang zur Wirklichkeit aus und nicht über die Wirklichkeit selbst. Es sagt in seiner Rückbezüglichkeit vor allem etwas, ja, das Entscheidende über das erkennende Subjekt aus: Es wird als ein autopoietisches System oder ein sich selbsterhaltender Organismus verstan- 90 Konstruktion der Geschichte Konstruktion der Geschichte 91 den. Die Merkmale der Theorie autopoietischer Systeme hať Siegfried Schmidt so beschrieben: »Lebende Systeme sind selbsterzeugende - kurz autopoietische - Systeme. Die kri-. tische Variable ihrer autopoietischen Homöostase i«,t die Organisation des Systems selbst.«13 Das hervorstechende Merkmal ist die Selbstreferentialität. Auf sie ist zurückzu-kommen, wenn die Frage nach historischer Referentialita't im Rahmen des Konstruktivismus diskutiert wird. Die Selbstreferentialität ist nicht eine Spielart des philosophischen Solipsismus, als ob außerhalb unseres Bewußtseinsüberhaupt nichts existierte oder nur im Bewußtsein etwas hergestellt würde.14 Das ist nicht die Meinung der radikalen Konstruktivisten. Ganz im Gegenteil, sie gehen davon aus, daß das erkennende System nicht ohne Umwelt (Wirklichkeit) ist und Umwelt nicht ohne System.15 Weil wir mit der Wirklichkeit, die unseren Absichten oft im Wege steht, fertig werden müssen, sind wir gezwungen, sie uns so zu konstruieren, daß wir unsere Ziele erreichen und unser Leben Bestand und Sinn erhält, nicht gegen, sondern mit den Erfahrungen, die wir sammeln. Das Wissen, das wir konstruieren, ist praktisches Wissen. Es ist ein Wissen, das in unseren Erfahrungen mit derjenigen Wirklichkeit entsteht, die wir aufbauen, und das unserer Lebensführung nützlich ist. Nützlich ist dasjenige Wissen, das zu unseren bisherigen Erfahrungen paßt bzw. das »viabel« ist. »Handlungen, Begriffe und begriffliche Operationen sind dann viabel, wenn sie zu den Zwecken oder Beschreibungen passen, für die wir sie benutzen.«"' Dieses Wissen kann intersubjektive Bestätigung finden bzw. »Bekräftigung durch andere«17 und in ex-ternalisierten Akten den Status von Objektivation annehmen, als ob uns eine objektive Welt gegenüberstünde, genaugenommen aber bleibt es subjektives Wissen, es baut sich aus Erfahrungen, Vorstellungen und Begriffen eines jeden auf und verliert niemals seinen subjektiv-konstruktivistischen Charakter. »Mit der Konstruktion permanenter Objekte kristallisiert das kognitive Subjekt einige der wie- ; - derholbaren Elemente, die es konstruiert hat, und behandelt . t sie als extern und selbständig. So entsteht eine Unterschei-\" düng, die einen Großteil der Unterscheidung von Orgams-\ raus und Umwelt erfaßt, indem sie eine >subjektive< Umwelt : festlegt. Die externalisierten permanenten Objekte existie-■ ren nur in einer externen Welt, die durch die räumlichen und zeitlichen Relationen strukturiert wird, welche von den Objekten im Laufe der Erfahrung abstrahiert worden sind.«1* piese externe Welt ist letztlich nichts anderes als eine mter-; subjektiv konstruierte Wirklichkeit, ihre sogenannte Objektivität besteht in der Bestätigung durch andere, die wir in konstruktivistischer Manier zwar nach unserem Bilde selbst erschaffen haben, die aber doch die Realität, wie wir sie wahrnehmen, bekräftigen können,19 denn was wir zu tun vermögen, muß auch den anderen möglich sein. Wenn zwei ; oder drei Menschen einen Sachverhalt ähnlich oder sogar gleich sehen, muß an der Aussage darüber doch etwas dran ; sein. Freilich handelt es sich dabei nicht um eine Aussage über die Wirklichkeit, sondern über die Art und Weise, wie jeder die in Frage stehende Wirklichkeit erfährt. Die intersubjektiv bekräftigte Wahrnehmung der Wirklichkeit stabilisiert zwar unsere Erfahrungsrealität, bildet den sozialen : Kontext unserer Erfahrungen aus und ermöglicht die zur Bewährung des Lebens notwendige Kommunikation miteinander, legt uns aber nicht grundsätzlich auf einen einzigen richtigen Weg fest, auf den wir uns unbedingt einigen müßten, die Wirklichkeit aufzunehmen. Derselbe Sachverhalt könnte auch anders zum Ausdruck gebracht werden. Im Rahmen des traditionellen Objektivitätspostulats wäre eine solche Freizügigkeit nicht geduldet worden. Um die kognitiven Prozesse zu erfassen, die zum Erwerb von Wissen führen, hat E. von Glasersfeld sich an der biologischen bzw. entwicklungspsychologischen Theorie orientiert, die Jean Piaget in schroffem Gegensatz zur traditionellen Erkenntnistheorie entwickelt hatte. Für ihn war Wissen nicht »zeitlos« und »unveränderbar«, es wurde vielmehr 92 Konstruktion der Geschichte durch »die Geschichte seiner Entstehung erklärt und gerechtfertigt«.:c Es ging ihm vor allem darum, den Aufbau der Wirk~/: lichkeit beim Kinde (1937) zu erforschen und den wissen-.; schaftlichen Umgang mit der Wirklichkeit zu klären. Dabei trat die Untersuchung der biologischen Grundlagen des ko-. i gnitiven Vermögens zugunsten der mentalen Anpassung an die Wirklichkeit ein wenig in den Hintergrund - auch bei.! Glasersfeld, der den verschlungenen Untersuchungswegen Piagets folgte und die relativ beständigen Hauptgedanken ■ nutzte, um sein eigenes Konzept eines konstruktivistischen-. Wirklichkeitsverständnisses aufzubauen und zu festigen. Der biologische, neurophysiologische Ansatz, der zweifellos zü:: Glasersfelds Grundprämissen zählt, wurde stärker von Heinz-.; von Foerster, Humberto R. Maturana und Francisco J. Värela;: ausgearbeitet und zeigt deutlich, wie ungeeignet der kognitive Apparat des Menschen ist, sich ein Bild von der Wirklichkeit; ■ an sich zu machen. Das muß kurz erläutert werden. Das menschliche Gehirn läßt keine Bedeutungsinhalte... von außen in sich eindringen, sondern reagiert auf Umwelt^..: reize als ein geschlossenes System. Es ist also kein »umweit-: offenes Reflexionssystem«, das uns in die Lage versetzend könnte, die Wirklichkeit über die Sinnesorgane unmittelbar:, zu erfahren. Es ist ein System, das nur seine eigene »Spra-j: che« versteht und nur seine eigenen Befindlichkeiten regelt. : Mk der Umwelt steht dieses System über die Sinnesorgane;.; in Verbindung, doch sie haben nur die Aufgabe, die Ereig- ■ nisse, die dem geschlossenen Nervensystem unzugänglich: sind, an die Sprache des Gehirns heranzuführen,21 Es ist nicht die Sprache des Gegenstands, die vernehmbar ist, son--: dern allein die Sprache des kognitiven Systems, das zu Er- : kenntnissen kommt. Hier werden, wie Edgar Morin für den Sehvorgang beispielsweise kurz und bündig beschrieben,:1 hat, die Reize der Außenwelt aufgenommen, ihre »Botschaft: ten werden von darauf spezialisierten Zellen analysiert, in;;; einen binären Code transkribiert, der zu unserem Gehirn; gelangt, wo diese Botschaften nach Verfahren, die wir nicht;; Konstruktion der Geschichte TT* 93 \ kennen, abermals in Vorstellungen übersetzt werden«.32 Da die reiz- bzw. signalaufnehmenden und bedeutungserzeu- : genden Teile im Gehirn dieselben sind, erklärt Schmidt, »können die Signale nur das bedeuten, was entsprechende í Gehirnteile ihnen an Bedeutung zuweisen«.23 Wahrnehmung ist keine Leistung der Sinnesorgane, sondern »Übersetzung«, »Konstruktion« und »Interpretation« in einem.! Der Hiatus zwischen System und Umwelt wird nicht aufgehoben, und doch bleibt die bereits geäußerte Formel in Gel-, tung, daß das System nicht ohne Umwelt und die Umwelt nicht ohne das System besteht. Für die Diskussion um historische Referentialitat könnten vier Punkte wichtig werden: (1) Im Konstruktivismus wird zwischen der realen und der kognitiven Welt unterschieden. Wichtig ist jedoch, daß nicht die reale, sondern allein die kognitive Welt die »wirkliche« Welt ist.24 Was an der Umweitrealität wirklich ist, wird zwar vom Menschen nicht hergestellt, aber wenn etwas als wirklich benannt wird, ist diese Benennung einzig und allein eine Leistung des kognitiven Systems, nicht der Sinnesorgane und schon gar nicht der Umwelt selbst. Wirklich ist das neurophysiologisch verarbeitete Signal. »Dies ist die Wirklichkeit, in der wir existieren und von der wir ein Teil sind. Insofern stehen wir ihr nicht gegenüber, sondern sie geht durch uns hindurch,«25 (2) Obwohl das menschliche Gehirn ein geschlossenes System ist, isoliert es sich nicht von der Umwelt, ganz im Gegenteil: Will es seine lebensfördernde Funktion erfüllen, ist es auf die Umwelt angewiesen. Gerhard Roth schreibt, »daß ein wirklich von der Welt isoliertes Gehirn niemals ein überlebensförderndes Verhalten zeigen könnte, d, h, ein Verhalten, durch das auch es selbst erhalten wird«.26 Das Gehirn ist auf Umwelt angewiesen und verarbeitet ihre Signale bzw/ Reize, aber nicht zu den Konditionen der Umwelt, sondern zu seinen eigenen. 94 Konstruktion der Geschiebte Konstruktion der Geschichte 95 (3) In dem Prozeß, der das erworbene Wissen organisiert, mit dem bereits Gewußten verknüpft und die Konsistenz des Wissens verstärkt, erhält das Gedächtnis eine besondere' Funktion: »In wenigen Millisekunden wird alle einlaufende sensorische Erregung mit früheren Erregungen und deren Interpretationsfolgen verglichen.«27 Das Gedächtnis bewahrt also nicht, wie man gewöhnlich annimmt, Informationen über Vergangenes auf, um es bei Bedarf abrufen zu lassen. Es hilft statt dessen dem kognitiven System, die Stimmigkeit der neuesten Übersetzungen, die es von den Sinnesorganen erhält, mit früheren zu vergleichen, zu überprüfen und auf die Reihe zu bringen.28 Neben der Überprüfung und' Stärkung der Konsistenz sorgt das Gedächtnis auch dafü^' daß das Wissen sich konstant hält, d. h. uns hilft, in den Schwankungen und Wechsellagen der Umwelt zu bestehen, mit ihrer Komplexität umzugehen und sie, aus welchen Gründen das auch geschehen mag, immer komplexer zu gestalten.29 Ein umweltoffenes, unmittelbar an die Umwelt angeschlossenes System könnte das nicht leisten, es müßte seine Autonomie und Beständigkeit einbüßen und den Erfolg unserer Umweltorientierung riskieren. Wir wären wie ein Rohr im Wind. Ein solches System könnte auch nicht unsere Entscheidungen und unser Handeln steuern. Das Gedächtnis ist also auf eine eminente Weise an der Konstruktion der Wirklichkeit beteiligt, (4) Wichtig ist auch der intersubjektive Charakter des konstruktivistischen Denkens. Es kommt im gegenseitigen Austausch zwar nicht zu verbindlicher Erkenntnis über die: Wirklichkeit, wohl aber stabilisiert das Wissen darum, daß andere sich ein Bild von der Welt schaffen, in der auch wir vorkommen, unser Welterkennen, Wir werden gezwungen, unsere Ergebnisse ständig zu überprüfen, andere tragen: dazu bei, uns die Augen für dieses oder jenes zu öffnen. Schließlich erweist sich die Intersubjektivität auch als Widerstand gegen allzu ausschweifende Beliebigkeit der Aussa- : gen über die Wirklichkeit. Es gibt so etwas wie eine begrenzte Bandbreite des Aussagbaren. In diesem zusätzlichen ■ Sinn, zusätzlich zur Konstitution des Wissens im kognitiven System des einzelnen, ist dies eine soziale Komponente in : der Verständigung über die Wirklichkeit. Intersubjektivität nimmt allerdings nur eine kontrollierende, allenfalls disziplinierende, keineswegs eine konstitutive Funktion wahr. Pas eigene Wissen muß sich der Evaluation stellen, deren ; Kriterien nur die Regeln des dem kognitiven System möglichen Erkenntnisvermögens sein können,30 3 Auf den ersten Blick ist es schwer, sich einen konstruktivistischen Zugang zur Vergangenheit vorzustellen. Die Selbstreferentialität sorgt doch dafür, daß der Historiker, wie in sich selbst, so auch in die Gegenwart verstrickt bleibt und keine Chance hat, die Vergangenheit als einen Wirklichkeitsbereich außerhalb seiner Erfahrung zu erreichen. Er mag manches über die Vergangenheit wissen, auf keinen Fall kann es aber die Vergangenheit selbst gewesen sein, die sich ihm zu erkennen gab, denn zwischen den Sachverhalt einst und den Historiker heute schiebt sich die Selbstbeobachtung dessen, der mit diesem Sachverhalt umgeht. Gewöhnlich gilt: Je mehr wir uns der Vergangenheit aussetzen, ihren Hinweisen folgen und auf ihre Stimmen hören, um so mehr gibt sie etwas von sich preis. Doch genau das ist nach Meinung der Konstruktivisten nicht der Fall. Von der Vergangenheit kann paradoxerweise nur erkannt werden, was an ihr nicht vergangen ist. Was von ihr geblieben ist, ist aber nicht Vergangenheit, sondern Gegenwart, So zitiert Gebhard Rusch, der sich als Konstruktivist intensiv mit dem Problem der Geschichte auseinandergesetzt hat, die oft kolportierte Aussage Johann Gustav Droysens: »Das Gegebene für die historische Erfahrung 96 Konstruktion der Geschichte und Forschung sind nicht die Vergangenheiten - sie sind eben vergangen - sondern das von ihnen in dem Jetzt und Hier noch Unvergangene.«31 Es fiel Droysen nicht leicht, den kognitiven Präsentismus um die Dimension der Vergangenheit zu erweitern, wie es Rusch nicht leicht fällt, die. Referentialität des Historischen in die Selbstreferentialität unserer Erkenntnisarbeit hineinzudenken. Das haben beide miteinander gemeinsam. Grundsätzlich aber verfolgen sie,.'; von Rusch ein wenig verdeckt, verschiedene Ziele. In diesem Zusammenhang ist der Begriff der Erfahrungswirklichkeit zentral. Das ist nicht die Wirklichkeit an sich, sondern nur diejenige Wirklichkeit, die in der Erfahrung des Menschen dabei ist, hier und jetzt Gestalt anzunehmen. Bezeichnenderweise sorgen dafür die Erregungs- bzw. Auf-merksamkeitszustände des Nervensystems, die ihre Impulse an das Gehirn leiten, nicht Reize, die Bilder oder Inhalte der Außenwelt ins Bewußtsein transportieren. Die Erregungen setzen einen neuro-physiologischen bzw. neuronalen Prozeß in Gang, dessen Funktion darin besteht, den Gedächtnisinhalt der einstigen Erfahrungen auf den neusten Stand der Erfahrung zu bringen. Daraus ergeben sich drei Konsequenzen: Erstens tritt deutlich zutage, daß das Gedächtnis keinen Schatz abrufbarer Erinnerungen an Vergangenes birgt, also kein Speicher ist, in dem unser Vergangenheitswissen schichtweise abgelagert wird, sondern nur der an die Gegenwartserfahrung angepaßte Wissensstand des kognitiven Systems. Früheres und Späteres - alles wird unter dem Eindruck gegenwärtiger Erfahrung verändert, neu gestaltet. Die Funktion des . Gedächtnisses ist nicht, die Vergangenheit zu konservieren, so daß sie restituiert werden könnte. Das Gedächtnis hat allein die Aufgabe, »Abstimmungen/Anpassungen« des Verhaltens und Handelns an »gegenwärtige Anforderungen zu er möglichen«.3: Zweitens zeigt sich, daß die Vorstellung von Geschichte in der jeweils gegenwärtigen Modulation des Gedächtnisses Konstruktion der Geschichte 97 entsteht und daß das Gedächtnis, zumindest in der traditionellen Auffassung, für die Erforschung der Vergangenheit . kaum tauglich ist" - übrigens auch das Erinnern nicht. :; Durch das Erinnern werden vergangene Erlebnisbereiche keineswegs wiederhergestellt, sondern zuallererst konstituiert. Siegfried J. Schmidt formuliert so: »Erinnern ist aktuelle Sinnproduktion im Zusammenhang jetzt wahrgenomme-; ner und empfundener Handlungsnotwendigkeiten.«3* Die Erinnerung liefert also nicht den Stoff, der vom Historiker erst noch zu bearbeiten wäre, um daraus Geschichte werden zu lassen. Was erinnert wird, ist bereits bearbeitet, ist zufällig und selektiv, nicht die ganze Wirklichkeit, es ist vor allem mit Sinn belegt, alles andere als Vergangenheit »pur« und unmittelbar.35 In der Erinnerung wird die Unmittelbarkeit : nicht erhalten, wie gewöhnlich angenommen wird36, in ihr wird sie geradezu vernichtet. Erinnerung sorgt für Abstand und Unerreichbarkeit dessen, was einst war. Auf keinen Fall ist Erinnerung das Zauberwort gegen den angeblichen Verlust des historischen Referenten. Drittens folgt daraus, daß die Historie keine Wissenschaft im referentiellen Sinn von Empirie sein kann, denn sie bezieht sich nicht auf Gegebenes außerhalb unseres Bewußtseins. Die Erfahrung, die in der Tätigkeit des kognitiven Systems mit einer jeweils aktualisierten Vorstellung von Wirklichkeit verknüpft wird, hat nichts mit der Erfahrung zu tun, die den sogenannten empirischen Wissenschaften zugrunde liegt. Das führt Rusch zu einem präsentischen Verständnis von Wirklichkeit: »Die einzige Wirklichkeit^ l mit der es Historiker zu tun haben, ist die Gegenwart.«37 j Nirgendwo wird der Begriff der »historischen Wirklichkeit« I so deutlich problematisiert, ja, als undenkbar erwiesen wie ] im radikalen Konstruktivismus, so daß sich die Frage auf-j drängt, ob es im Rahmen dieses Konstruktivismus über-] haupt noch zu einem Umgang mit Geschichte kommen \ kann. Der Ansatzpunkt, Geschichte trotz kognitiver Ver-I schlossenheit bzw. Autopoiesie ins Auge zu fassen, befindet 98 Konstruktion der Geschiebte Konstruktion der Geschichte 99 sich in der kognitiv-sozialen Konstruktion der Wirklichkeit selbst. Unter kognitivem Gesichtspunkt kommt es zu einer je in sich abgeschlossenen Konstruktion der eigenen Erfahrungswelt. Hier eröffnet sich dem einzelnen Menschen auch eine soziale Erfahrung: »In ihren sinnlichen Anmutungen und Wahrnehmungen erleben sie (die Menschen) also etwas, das für ihre jeweilige konkrete Struktur und Funktionsweiseunter den jeweils aktuellen medialen Bedingungen spezifisch ist. Sie er-leben ihre Erfahrungswelt und die Wirklichkeit, die sie mit anderen teilen können«.38 Sie erfahren, »daß einige Elemente der eigenen Erfahrungswelt offenbar auch Elemente der Erfahrungswelt von anderen sind«.39 Das ist, könnte man sagen, dasjenige, was als »wirklich« oder als »Wirklichkeit« anzusehen ist. Wirklichkeit wird als »intersubjektiver Erfahrungsraum«40 konstruiert. So gesehen ist sie eine kognitiv-soziale Konstruktion. Gewöhnlich spielt die Zeitdifferenz zwischen Gegenwart und Vergangenheit die Rolle, das Feld abzustecken, in dem Geschichte erforscht wird. Es ist der Zeitraum, der von der Gegenwart abgetrennt ist bzw. die Vergangenheit als eigener Wirklichkeitsbereich. Im konstruktivistischen Denken spielt dagegen die Beobachtung eine Rolle, daß die Zeitmodi zunächst den von ihnen eingenommenen Zeitraum einbüßen und alle im Modus des Gegenwärtigen für die Operationen des kognitiven Systems präsent sind. »Das Wachbewußtsein beziehungsweise das sogenannte Arbeitsgedächtnis (immediate memory) erlaubt nämlich die gleichzeitige Präsenz sowohl als gegenwärtig oder aktuell qualifizierbarer Inhalte, als auch solcher Inhalte, die als vergangen, und solcher, die als zukünftig gelten.«41 Deutlich macht Rusch das am Beispiel des zielorientierten, zweckrationalen Handelns. Um handeln zu können, ist uns bewußt, welche Schritte eines gefaßten Plans wir bereits unternommen haben, wo wir im Augenblick stehen und was voraussichtlich mit dem nächsten Schritt erreicht wird. Im kognitiven Prozeß, könnte man sagen, wachsen alle drei Zeiträume zunächst zu ei- nem einzigen Gegenwartsraum zusammen, zur Zeitdimension unserer Erfahrungswirklichkeit. Wie diese Wirklichkeit, ist auch diese Dimension das Konstrukt des kognitiven Systems. Freilich wird die begriffliche Unterscheidung der Zeitmodi fortan nicht aufgegeben, nur: »Nicht die Existenz der Vergangenheit als eigenständiger Wirklichkeitsbereich macht deren begriffliche Repräsentation notwendig, sondern die Ausprägung eines Begriffes des Vergangenen und dessen Extemaltsierung beziehungweise Objektivierung haben das konstruktive Resultat, daß Vergangenheit als Wirklichkeitsbereich eigener Art konstituiert wird.«*2 Diese Andeutungen genügen, um deutlich zu machen, wie eng die Zeitmodi an die Erfahrungswirklichkeit gebunden sind, ja, daß die Gegenwart sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft dominiert. Was von der Vergangenheit gewußt wird, sind die Inhalte der Erinnerung, die allere dings nicht abhängig von der Vergangenheit außerhalb des kognitiven Systems, sondern an das gegenwarts- und zukunftsorientierte Handeln des Menschen gebunden ist. Erinnert wird, was gegenwärtig Sinn macht. Die Vergangenheit kommt sozusagen als vergegenwärtigte Vergangenheit in Sicht. Die Vergangenheit als solche wird im konstruktivistischen Denken aber keineswegs als nichtexistent angesehen. Bereits die Erfahrung zeigt, daß Vergangenheit eine sinnvolle Funktion im Handeln ausübt. Ihre Inhalte können allerdings nicht mehr erfahren oder wahrgenommen werden. Die Intensität der Wahrnehmung läßt nach, je weiter sie sich zurückbeziehen muß; und dieses Wahrnehmungsdefizit wird von dem aufgefüllt, was »allgemein bekannt« ist, was aus der Erinnerung »elaboriert«, was erzählt und schließlich geschichtswissenschaftlich in der Community of schoUrs als Wissen gesichert und stabilisiert wird, nicht besessen von subjektiv-beliebigen Einfällen, sondern geleitet, ja diszipliniert von Regeln, die sich in langen Kommunikationsprozessen ausgebildet haben, von Regeln, die Kohärenz, Konsistenz, Plausibilität, Kommunika- 100 Konstruktion der Geschiebte bilität, Innovationskraft etc. historischer Aussagen hcrsteL-. -len - in Streit und Machtkampf. So verlegt sich der Akzent historischer Arbeit vom Ver« gangenheitsbereich auf den kognitiven Umgang mit diesem Bereich. Damit verändert sich auch der Ort historischer Re-ferentialität. Es geht nicht um den Referenten im Vergan- • genheitsbereich, um historische Referentialität wird vielmehr in der Kommunikationsgemeinschaft der Geschichts-. Wissenschaft immer noch gerungen. Referiert wird auf das, worum es geht. Der Referent steht noch nicht fest, er ist um-stritten. Diese Argumente hat Siegfried J. Schmidt auf prägnante Weise zusammengefaßt: »Gegenwart wird demnach -an das Konzept >Bewußtheit<, Vergangenheit an das Konzept >Bekanntheit< gekoppelt (vergangen ist, was bekannt ist). Damit steht für Erinnern ein Kriterium bereit, das ufi* abhängig von Vergangenheit ist. Sinnvolle Erinnerungen.: brauchen keinerlei Referenz auf ein >Objekt<. Anders ausgedrückt, Erinnerung hängt nicht von Vergangenheit ab, sondern Vergangenheit gewinnt Identität allererst durch die Modalitäten des Erinnerns; Erinnern konstruiert gegenwär-tig(e) Vergangenheit. Wir operieren mit anderen Worten:, nicht mit Vergangenheit, sondern mit Geschichten, in deren : Konstruktion die Vorstellungen eingehen, die wir uns von.. der Beschaffenheit von Vergangenheit machen. Diese Vorstellungen, nicht die Vergangenheit, geben die Referenz--ebene unserer Erinnerung ab.«43 Die Schwerpunkte der historischen Arbeit verlagern sich. Orientiert an historischer ' Referentialität ist es nicht die Arbeit an den Quellen, auch., nicht die Vetomacht der Quellen, die alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Es ist vielmehr die kritische Reflexion des Umgangs mit den Quellen im kommunikativen Feld der ge- : genwärtigen Auseinandersetzung um die Bedeutung der :■ Geschichte. Aufgewertet wird zweifelsohne die oft stief- ! mütterlich behandelte Geschichtstheorie, Diese Schwerpunktverlagerung bedeutet aber nicht, daß die Quellen vernachlässigt werden könnten. Irgend jemand in der commu-■. Konstruktion der Geschichte 101 Yiity of scholars wird schon versuchen, auch die Quellen zur Sprache zu bringen, die bisher vielleicht ein Schattendasein .; geführt haben, etwas herauszufinden bzw. zu erforschen, : was bisher wenigen bekannt war; und sofern die Quellen :: sich im Sinngebungsprozeß bewähren, können sie sich wirk-: ,sam entfalten. Etwas provozierend kann Rusch formulieren: »Geschichtsschreibung macht Vergangenheit kognitiv und sozial verfügbar, jedoch ohne sie zu erforschen.« Er fährt , aber fort; »Was sie erforscht, ist die Gegenwart im Hinblick auf eine Geschichte, die diese Gegenwart (als Ergebnis geschichtlicher Entwicklung) eher plausibilisiert und legitimiert als erklärt. Die empirische Basis dieser Forschung ist die Beobachtung und Erfahrung im Umgang mit Quellen ■und Zeugnissen, also jeweils gegenwärtigen Objekten.«44 ; Die Forschung orientiert sich nicht am historischen »Ge-: genstand«, sondern am Umgang mit Quellen. Und hier kann Rusch alle Usancen und Regeln der Forschungspraxis ins Spiel bringen.45 Forschung, in der um die Bedeutung der Vergangenheit gerungen, ja, gestritten und gekämpft wird, gibt es allemal. Sie ist das Medium, in dem Geschichte ihren Platz erhält. In den Hintergrund tritt auch die Hermeneutik, sofern es traditionellerweise darum geht herauszufinden, welchen Sinn ein Autor seiner Aussage einst geben wollte. Sollte die Hermeneutik sich darin erschöpfen, wird sie kaum noch eine Rolle spielen44; um so effektiver ist die Funktion, die sie in den Erzählungen wahrnimmt. Sie geben dem historischen Stoff, der allgemein bekannt ist, einen Sinn. Auch das ist, von den Konstruktivisten allerdings kaum gewürdigt, eine hermeneutische Aufgabe: einem Stoff so Sinn zu verleihen, daß er verstanden wird. Aus einer Methode, Vergangenes in der Gegenwart zu verstehen, wird eine Methode, gegenwärtigem Handeln jeweils Sinn einzustiften. Hermeneutik bezieht sich hier nicht auf den Zeitraum, der Vergangenheit und Gegenwart umfaßt, sondern auf die Tätigkeit, die unserer Gegenwart eine Zukunft eröffnet. 102 Konstruktion der Geschickte Von der Geschichte, die kognitiv konstruiert und inter--subjektiv diszipliniert wird, ist zu erwarten, daß sie die »Komplexität unserer Wirklichkeitskonstruktionen« štéí^ gert und uns dazu verhilft, »auch komplexer handeln zu können«.47 Die historische Referentialität steht in dem Bereich auf dem Spiel, in dem unsere Wirklichkeitskonstruk--i tionen Gestalt annehmen bzw. wo sie ihren Ausdruck erhalten: im »intersubjektiven Erfahrungsraum«. Die Hermeneutik wird gebraucht und ihre Regeln werden zu beachten, sein, wo das Verstehen der Erzählungen oder Geschichten antizipiert oder wo die Aussagen der Historiker rezipiert werden. Wird die Hermeneutik auf die Rezeption und nicht die einstige Herstellung eines Textes bezogen, müßte der: Historiker sie jetzt, im Nachhinein sozusagen, doch wieder : einsetzen, um dem historischen Text ebenso als Rezipient begegnen zu können. Das bedeutet nicht, die Hermeneutik: nachträglich wieder im alten Sinne voll zur Geltung zu brin-gen, sondern methodisch nur dort zu nutzen, wo auf Sinnmitteilung angelegte Texte in den inter subjektiv gestalteten;: Forschungsprozeß einbezogen werden. Aber auch hier:., dürfte dieser hermeneutische Einsatz im Rahmen des Konstruktivismus nur dem Zweck dienen, unser Wissen von der!; (gegenwärtigen) Wirklichkeit zu erweitern. Die Bemühung!;: um die wahrheitsgetreue Darstellung eines vergangenen". »Gegenstandes« erscheint dagegen als eine Spiegelfechterei,-mit Wirklichkeit und Sinn hat sie nichts zu tun. Deutlich sollte geworden sein, daß der Konstruktivismus ; eine interessante Variante historischen Denkens anbietet. Er-:; erörtert das Problem historischer Referentialität im Rahmen-:. einer modernen Epistemologie, die sich an den biologisch- v anthropologischen Möglichkeiten des Erkennens orientiert... Er übergeht oder leugnet dieses Problem nicht. V Unsichere Geschichte ; pie Geschichtswissenschaft kann sich ihres Gegenstands, ! nicht mehr sicher sein. Daran läßt die Kritik, die von den Ver-tretern des linguistic turn, der Diskursanalyse und des Koii-;'• struktivismus an den Realismuskonzepten der historischen \. Arbeit geäußert wurde, keinen Zweifel Die Wirkung diesem ; Kritik hat zwar Unruhe in die Geschichtswissenschaft geil bracht, manche Historiker auch verschreckt, aber nicht zur : Preisgabe gegenstandsbezogener Forschungen geführt. Zu !■■ beobachten sind vielmehr Reaktionen, die sich über diese Si-{i tuation hinwegsetzen: Zum einen das unablässige Bemühen, H unbekümmert um die theoretischen Diskussionen soviel Ein-, Ii zelheiten wie möglich über vergangenes Denken, Reden und • Handeln festzustellen und an der Bedeutsamkeit der Fakten : gegenüber den Fiktionen festzuhalten, und zum anderen die ■ allgemeinen, strukturellen Bedingungen für Denken, Reden \: und Handeln der Menschen in allen relevanten Gesellschafts-; bereichen zu erforschen, als ob die Materialität dieser Struk-: turen allein die Potenz wäre, die Vergangenes zu Geschichte / werden läßt. Was solche Reaktionen miteinander verbindet, ist ihr realistisches Geschichtsverständnis, d.h. der unerschütterliche Glaube an die erfahrungs- und erkenntnisun-abhängige Realität der res gestae. Immer noch wird von der »historischen Wirklichkeit« gesprochen, und immer noch, gilt die Rede von der Vergangenheit, die »unabhängig vom erkennenden Subjekt Strukturen besitzt«1. Die neueren Bemühungen um die Erkenntnis von Wirklichkeit bzw. um die Art und Weise, wie Wirklichkeit überhaupt entsteht, werden trotz einiger Lippenbekenntnisse nicht eigentlich als Her-, ausforderung angenommen: Innovationsimpulse, die von Modellen der Selbstreferentialität, der Diskursanalyse, der. narrativen Logik bzw. des linguistic turn ausgehen. 104 Unsichere Geschichte Unmißverständlich deutlich hat Gebhard Rusch der'.: historischen Zunft ins Stammbuch geschrieben: »Weil die. Vergangenheit kein Bereich menschlicher Erfahrung, kein Bereich innerhalb der Erfahrungswelt ist, bleiben historio-graphische Konstruktionen unsicher, hypothetisch, Spekula* tiv«.-2 So wird der Geschichtswissenschaft nicht nur bescher nigt, daß ihre Selbstsicherheit auf unsicheren Grund gebaut: ist, sondern auch versichert, daß es keine Mittel gibt, ihr die-Unsicherheit je einmal zu nehmen. Die Bemühung um die' Vergangenheit wird immer eine »unsichere Geschichte«-: bleiben. Daß sich die traditionelle Geschichtsschreibung auf unsicherem Boden bewegt, hat ihr auch die metahistorische Analyse Hayden Whites deutlich vor Augen geführt. Er ; zeigt, wie die großen Historiker des 19. Jahrhunderts theoretisch am historischen Realismus festhielten, den historischen Stoff praktisch jedoch nach Regeln einer literarischen Erzählweise gestalteten, die im Grunde schon postmoderne Züge trug. Die Praxis war sich ihrer Theorie nicht sicher und umgekehrt. Schließlich sprach Michel Foucault davon, daß die Geschichte »zufällige Begegnungen zum Faden einer fragilen;:; und ungewissen Geschichte vereinigt«3. Fragil und ungewiß, ganz und gar unsicher ist sie, weil sie selber der Geschichtlichkeit unterliegt. Sie zeigt, »daß das, was ist, nicht immer gewesen ist« und folglich nicht bleiben wird - auch sie selber nicht. Die »Ontologie der Gegenwart« hat Foucault nicht konzipiert, um die Gegenwart festzuschreiben, sondern um sie auf Zukunft hin zu öffnen und in ihrer Vergänglichkeit . zu erfassen. Historiker der Gegenwart zu sein, bringt Unsicherheit in die Geschichte. Es ist ausgesprochen unklar geworden, was die Geschichtswissenschaft heute noch ist: tatsächlich eine Wissen- ; schaft oder vielleicht nicht doch >nur< eine Kunst? Wieder. bricht die Frage des 19. Jahrhunderts auf. Unklar ist auch, womit sie sich mehr beschäftigen soll: mit den Problemen.: Unsichere Geschichte ■ der Gegenwart, was sie zu einer historischen Sozialwissenschaft bzw. einer sozialgeschichtlich orientierten Kulturwis-: senschaft werden ließe, oder mit den Geheimnissen vergan-i gener Zeiten - ein Metier, das den Historikern besonders ; liegt und in dem sie eine beachtliche Professionalität ausge-. bildet haben. Unklar ist schließlich, wie die Geschichtswis-. senschaft das vielbeschworene Ende der »großen Erzählun- : ; gen« (Jean-Fran^ois Lyotard) bzw. der »grandiosen episte-: mologischen Entwürfe« (Ernst von Glasersfeld) überstehen y wird, d.h. das Ende der Realismuskonzepte, an denen sich : die Erforschung der Vergangenheit orientiert hat. Einige ; Unklarheiten könnten im Rahmen der bisherigen Ge-V; Schichtswissenschaft erörtert und beseitigt werden, und dies alles immer noch in dem Bestreben, der »historischen Wahr-. heit« so nahe wie möglich zu kommen. Die Frage nach denv. : Wissen von der »wirklichen« Welt oder dem, was »wirklich« geschehen ist, trifft die Geschichtswissenschaft jedoch tief ; ins Mark und erlaubt keine Remeduren oder Kompromisse. Hier steht das Problem der historischen Referentialität auf dem Spiel, der Vergangenheitsbezug: nichts rechtfertigt mehr die Zuversicht, »daß objektives Wissen sowohl wünschenswert als auch erreichbar bleibt«4. Hier müssen die Begrifflichkeiten aus dem Geist der Hermeneutik und des Positivismus grundsätzlich überdacht und neu konzipiert werden. Vielleicht liegt hier auch der Grund, warum auf den linguistic turn und die Diskursanalyse mit unerbittlicher, Schärfe reagiert wurde: Zuviel müßte aufgegeben und geändert werden. Wo es zum Schwur kommt, werden die kritischen Argumente deshalb oft grob, fahrlässig, zumindest aber ungenau. Das soll an zwei Beispielen gezeigt werden; (Í) Hayden White wurde vorgeworfen, den Wirklichkeitsbezug der Geschichtswissenschaft zu leugnen und die forschende Arbeit an den Quellen gegen eine linguistische Bearbeitung von Texten einzutauschen. Mit dem Hinweis; auf den fiktionalen Charakter der Geschichtsschreibung 106 Unsichere Geschichte wollte er den Wirklichkeitsbezug jedoch nicht leugnen und schon gar nicht den Realitätscharakter historischer Ereignisse. Da greift die Kritik von Georg G. Iggers, Richard J. Evans, Arthur Marwick und Chris Lorenz zu kurz. In setner Antwort auf Marwick schreibt White: »I have been exit- • icized elsewhere for my agreement with Barthes' remark; : >Le fait n'a jamais quJune existence linguistique-<. This has been taken to suggest that >events* are only linguistic phenomena, but events have no reality and that therefore there are, :;; | not and possibly never were any such things as historical events.«5 Dieser Vorwurf ist »manifestly absurd« und wird darauf zurückgeführt, daß Marwick es versäumt habe, zwischen Ereignissen und Fakten zu unterscheiden, »The events have to be taken as given«, während die Tatsachen, nach Arthur C. Danto, »events under description seien6. Wer sich weniger dafür interessiert, was sich einst zutrug, als vielmehr dafür, wie an der Vergangenheit gearbeitet wurde, wer sich nicht vornimmt, Normen zukünftiger Geschichtsschreibung zu präsentieren, sondern sich die Aufgabe stellt, die Erzähltechnik zu untersuchen, die in großen I Werken der Geschichtsschreibung im 19, Jahrhundert entwickelt und angewandt wurde, stößt darauf, daß die Erzählweise mehr als nur ein Mittel ist, um die gewonnenen Einsichten am historischen Material zur Darstellung zu bringen. Sie fördert geradezu Erkenntnis zutage. Wo ein begründetes Urteil über einen vergangenen Tatbestand formuliert wird, hat sich die Sprechweise des Historikers, die Tropologie der Sprache, die ihm zur Verfügung steht, in den Tatbestand eingemischt, ihn eingefärbt und ihm einen Sinn gegeben, der ihm von der Zukunft her zuwuchs, aber im eigenen Zeitraum keine Rolle spielte. Es ist also nicht das Quellenmaterial, das | die Regie in der Geschichtsschreibung führt, die Vergangenheit »spricht« nicht in den Quellen, wie Evans behauptet7, sie ' ■ | wird vielmehr vom Historiker zur Sprache gebracht. In der \ Art, daß weder der Referent (Objekt), noch der Autor (Sub-, jekt), sondern, das Subjekt-Objekt-Schema durchbrechend, Unsichere Geschichte 107: die Beziehung zwischen dem Referenten und dem Autor in Form eines Textes zum Ausdruck kommt.8 Der historische Referent begegnet uns nicht außerhalb des Textes, sondern in ihm bzw. mit ihm. Hier findet der geforderte Wirklichkeitsbezug seine konkrete Gestalt. (2) Auch Michel Foucault wurde einer strengen, oft unbarmherzigen Kritik unterzogen - in letzter Zeit besonders von Hans-Ulrich Wehler. Im Mittelpunkt dieser Kritik steht der Diskurs. Aus ihm ist, wie Wehler zu Recht feststellt, das wirklichkeitserzeugende individuelle Subjekt der neuzeitli-chen Philosophie verbannt worden, aber so, daß der Diskurs nun, wie Wehler weiter meint, zum »Subjekt des historischen Prozesses« selbst geworden sei.9 Prozesse sind zentriert, haben einen Duktus ausgebildet, folgen einer inneren Logik, auf jeden Fall garantieren sie trotz mancher Un-gleichzeitigkeiten und Überlagerungen historische Kontinuität. In der Archäologie des Wissens schreibt Foucault jedoch etwas anderes: Der Diskurs ist »nicht die majestätisch abgewickelte Manifestation eines denkenden, erkennenden und es aussprechenden Subjekts: Im Gegenteil handelt es sich um eine Gesamtheit, worin die Verstreuung des Subjekts und seine Diskontinuität mit sich selbst sich bestimmen können«10. Der Diskurs ist fragmentiert und brüchig»' in seinen »vielgestaltigen Unebenheiten«11 ganz und gar ungeeignet, einen Vorsatz zu fassen und Realität stiften zu wollen. Er wird nicht als »Subjekt«, sondern geradezu als »Objekt« beschrieben12. Ihn gegen diesen Wortlaut als das wirklichkeitserzeugende »Subjekt des historischen Prozesses« zu bezeichnen oder gar als »Großsubjekt« zu ironisieren, das diejenigen, die den Diskurs führen, zu Objekten degradiert13 und der strukuralistisch konzipierten »Übermacht des Sprachgeschehens« ausliefert14, geht nicht an. Wehler beobachtet genau, daß Foucaults historische Arbeit nicht an dem interessiert ist, was gedacht und gesagt wurde, ihm gehe es vielmehr um die Bedingungen, unter de- 108 Unsichere Geschichte Unsichere Geschichte 109 rien dieses oder jenes zu sagen möglich war. So interessieren ihn nicht die Dokumente, für jeden Historiker zunächst be-; '31^ fremdlich, ihn interessieren statt dessen Monumente, ge- * meint ist die epistemische Ordnung. Es ist jedoch nicht so, daß Foucault die Dokumente durch die Monumente ersetzt, wie Wehler behauptet, die Dokumente werden nur in Monu- " \ mente »transferiert«. So konzentrierte Foucault sich auf die epistemische Ordnung, die natürlich aus historischen Quellen bzw. Dokumenten erarbeitet werden mußte. Er verstand ' ■ \ den Begriff des Monuments als die verfestigte Ordnung bzw. als die Materialität einer Aussage. Wenn er die Aussage in der: ;i Archäologie des Wissens so ausführlich beschreibt, dann tut er dies aus mehreren Gründen. Erstens soll klargestellt wer-den, daß unter Aussage nicht ein intentional formulierter Satz oder der Inhalt des Gesagten zu verstehen ist, der auf die innersten Motive eines bestimmten Autors zurückgeht Zweitens soll erklärt werden, warum die Hermeneutik nicht bemüht zu werden braucht. Wehler wirft dem Franzosen mangelhafte Kenntnis der hermeneu tischen Tradition vor, die vorwiegend in Deutschland ausgebildet worden war. Geht es aber um die Aussage unter Absehung eines inten-dierten Sinns, kann die Hermeneutik, die das Sinnverstehen regelt, nichts ausrichten. Diese Aussage ist keine Sinneinheit, sie ist nur eine Funktion, die für sinnführende Aussagemög- -lichkeiten sorgt und deshalb in ihrer äußerlichen Materialität (positivistisch) beschreibbar ist. Und drittens wird gesagt,, ■ daß Aussagen als Teile des Monuments ausgesprochen aktiv : sind. »Das Feld der Aussage ist nicht eine Menge von bewe-gungslosen Flächen, skandiert von fruchtbaren Monumenten; es ist ein Gebiet, das durch und durch aktiv ist«.15 Die; . Monumente sind alles andere als »unbelebt«, wie Wehler : J schreibt16, sie sind Teil eines Feldes, in dem Wirklichkeit ent- ■ steht. Das ist der von Wehler nicht erkannte Grund, warum ; Diskurse zum »Gegenstand« der Geschichte werden. Nur in Diskursen ist das sogenannte Referential verankert, und hier findet es seine konkrete wirklichkeitsträchtige Gestalt. Auch den Zusammenhang von Diskurs, Wissen und Macht stellt Wehler auf problematische Weise dar. Er setzt mit der lapidaren Feststellung ein, daß es die Aufgabe des Diskurses sei, »die sozialen und natürlichen Prozesse« der Umwelt zu kontrollieren, ja, seiner Kontrolle sogar zu »unterwerfen«17. So etwas hat Foucault nicht behauptet, er hat vielmehr gemeint, daß der interessengeleitete Zugriff ver-. schiedener Kräfte auf den Diskurs die Absicht verfolgt, Kontrolle auszuüben - doch nicht der sogenannten Prozesse. Es ist in erster Linie der Diskurs selbst, der kontrolliert wird, um dem unberechenbaren und gefährlichen Wuchern der Diskurse rechtzeitig Einhalt zu gebieten18, d.h. genauer nun, um sich der Prozesse zu bemächtigen, die in ihm wirksam sind und erst noch entstehen werden. Der Kampf um die Kontrolle des Diskurses ist zugleich eine gegenseitige Kontrolle derjenigen Kräfte, die sich des Diskurses zu bemächtigen versuchen. Macht ruft Widerstand hervor. Der Widerstand gehört zur Ordnung des Diskurses, ja, er sorgt dafür, daß der Diskurs nicht zu einem repressiven Herrschaftsinstrument verkommt, sondern kreativ und produktiv bleibt. Die Diskursanalyse ist nicht, wie Wehler behauptet, von. einer Gesellschaftstheorie ersetzt, sie ist von ihr nur ergänzt bzw. vertieft worden. Diskurs und Gesellschaft, ob es gesellschaftliche, außerdiskursive Praktiken oder politische Intentionen sind, treten nicht auseinander, sondern bleiben miteinander verknüpft. Realität entsteht im Diskurs und bleibt Diskursrealität. Diskursrealität ist auch Geschichte, ebenso ihr Referent in der Vergangenheit. Daraus folgt: Historische Diskurse gründen in der Historizität der Gegenwart, wie sie umgekehrt diese Historizität begründen. (3) Zu einer kritischen Auseinandersetzung mk dem Radikalen Konstruktivismus ist es bislang nicht gekommen. Historiker sind offensichtlich der Meinung, daß es hier nicht um ihre Sache geht, auch ist ihnen der analytisch-philosophische 110 Unsichere Geschichte Hintergrund fremd und der vermutete Biologismus der Ko-gnitionswissenschaft sogar suspekt. Bis zu einem gewissen Grade zeigen einige jedoch Verständnis für die Rede von der Konstruktivität der historischen Arbeit. Wehler spricht sogar von der »Unvermeidbarkeit des Konstruktivismus als Methode«" und beschreibt die wertbezogene Selektion des historischen Sujets im Gefolge Max Webers als Konstitution des Gegenstands, der mit Hilfe von Theorien erschlossen werden muß. Es ist jedoch die Frage, ob dieses »konstruktivistische Vorgehen« tatsächlich nicht etwas anderes ist, »als einem instrumentelien. Theorienverständnis zu folgen«20. Der Konstruktivismus lebt von der Einsicht in die Selbstreferentialität des Umgangs mit Wirklichkeit und Geschichte, d.h. auch von der Einsicht in die prinzipielle Unzugänglichkeit der Vergangenheit, in die keine Methode zurückzuführen vermag. Doch Wehler bezieht sich mehr auf den einfacheren Sozialkonstruktivismus Peter Bergers und Thomas Luckmanns als auf die kompliziertere Systemtheorie seines Bielefelder Kollegen Niklas Luhmann oder auf den Radikalen Konstruktivismus. Im Grunde paßt Wehlers Bekenntnis zur Konstruktivität der historischen Arbeit, solange er an dem bereits erwähnten Strukturverständnis festhält, eher zu denjenigen, die eine Rekonstruktion als eine Konstruktion der Vergangenheit im Auge haben und nicht einsehen, warum sie das überkommene Realismuskonzept aufgeben sollten. Mit Bedacht bejaht Wehler folglich nur den methodologischen Aspekt des Konstruktivismus und nicht dessen ontologische Implikation. Wenn er von Konstruktion spricht, meint er die Rekonstruktion vergangener Wirklichkeit. Von einem solchen Verständnis hat sich der Konstruktivismus aber bewußt verabschiedet. Gelegentlich wird darauf hingewiesen, daß es einen fließenden Übergang von einem reflektierten Realismus zu einem moderaten Konstruktivismus gäbe. So ist beispielsweise Kritik aus dem Kreis der Radikalen Konstruktivsten -IS" Unsichere Geschichte 111 selbst laut geworden. Es sind vor allem zwei Argumente, die vorgebracht wurden. Erstens: Wenn die Vertreter des Konstruktivismus be-: haupten, daß alles, was uns zu wissen möglich ist, konstru-5 iert sei, wäre das radikalkonstruktivistische Konzept selber t ■'■ eine Konstruktion. Da die Konstruktivisten sich aber um die Wirklichkeit als ein Kriterium gebracht haben, an dem sich f diese These überprüfen ließe, bleibt ihre Behauptung in der Luft hängen. Das führt Norbert Groeben zu der pointierten: í Feststellung: »Wenn der Radikale Konstruktivismus wahr I ist, dann ist er falsch.«21 In den Augen dieses Kritikers zer-;. bricht der Radikale Konstruktivismus an seinem Selbstwiderspruch. Dieses Argument ist jedoch problematisch. \r Abgesehen davon, daß die Radikalkonstruktivisten keinen Wahrheitsanspruch mit ihrem Konzept verbinden, sondern nur darlegen, was ihnen zu denken möglich sei, beziehungsweise die Viabilität ihrer Einsichten zur Diskussion stellen, kann von ihnen ebenso wenig wie von anderen Wissenschaftlern gefordert werden, die Wissenschaft, der sie verpflichtet sind, mit wissenschaftlichen Mitteln zu begründen. Dafür sind außerwissenschaftliche Mittel einzusetzen. Das Argument vom Selbstwiderspruch zieht nicht. Zweitens wird die Überheblichkeit kritisiert, mit der Konstruktivisten sich zu Herren der Wirklichkeit machen. In der antiaufklärerischen Tendenz der Romantik wendet sich Alfred Locker »gegen die absolute Verfügungsgewalt des Subjekts über die Wirklichkeit« und stellt sich denjenigen an die Seite, die dabei sind, »die Dinge vor dem hybriden Zugriff des Menschen zu retten und ihnen ihr Eigene recht zu sichern«22. Er läßt die konstruktivistische Realitätswahrnehmung gelten, aber nur unter der Bedingung, daß; seine Einbettung in eine das kognitive System umgreifende Wirklichkeit voll in Rechnung gestellt wird. Das kognitive I System ist Teil der Wirklichkeit, die vor dem Subjekt da ist* das Realität konstruiert, um sich in seiner Umgebung be-] haupten zu können. Damit wird die Dichotomie von kogni-r 112 Unsichere Geschichte Unsichere Geschichte 113 tivem System und Umwelt widerrufen und die Autopoiesis eingeschränkt. Die Konstruktivisten vermögen keine Wirklichkeit zu erkennen, die bereits eine feste Gestalt aufweist, wohl aber sehen sie sich gezwungen, auf die Wirkungen einer amorphen, einer ontischen Wirklichkeit zu reagieren. Locker kommt zu seinen kritischen Einwänden, indem er von einem Standpunkt aus argumentiert, der über Wirklichkeit und kognitivem System eingenommen wird. Die Konstruktivisten nehmen eine bescheidenere Haltung gegenüber der Wirklichkeit an sich an. Sie konstruieren ihre Erfahrungswelt, aber nicht die Wirklichkeit an sich. Was über das eigene Konstrukt hinausweist, ist die im Rahmen der eigenen Konstruktion praktizierte Intersubjektivitat. Die Konstruktivisten wissen nichts von einer umgreifenden Wirklichkeit, sehr wohl aber stellt sich ihnen in ihrer eigenen Erfahrungswelt eine Ahnung von einer Wirklichkeit ein, die anders ist als die eigene Konstruktion. Die Radikalität, die für viele zum Stein des Anstosses ge-: worden ist, findet ihren Ausdruck in der Differenz zum Realismuskonzept. Da gibt es keine gleitenden Übergänge, Von den traditionellen Realismuskonzepten haben sich auch Hayden White und Michel Foucault getrennt, Ankersmit hat das auch zeitweilig getan, mit seiner Wende zur unmit-: telbaren Erfahrung der Geschichte ist ihm eine Überwindung der Kontroverse zwischen Realismus und Konstruktivismus allerdings nicht geglückt. Spätestens an dieser Stelle muß die Frage erörtert werden,: ob die Realismuskritik der neuen Konzepte überhaupt ins Leere greift und der traditionellen Geschichtserkenntnis etwas unterstellt, was sie mit Wilhelm Dilthey bereits aufgegeben hatte: eine sich auf objektive Tatsachen gründende Er-kenntis des Vergangenen. »Die Frage, ob das, was als bewußter Tatbestand ín uns auftritt (Erlebnis), hinter sich eine: andersartige Realität als seine Bedingung hat, liegt außerhalb des Bezirks von sicherem geisteswissenschaftlichen Wissen.«23 Dieser Satz könnte »postmodern« verstanden wer- I den, ebenso die Rede davon, daß die Geschichte keine »Ko-I pie« des vergangenen Geschehens sei, sondern eine »neue f geistige Schöpfung«24. Grundlegend ist für Dilthey das »Er-1 lebnis« und der Ausdruck, den dieses findet, um verstanden I zu werden. Was sich im Erlebnis durchsetzt, ist das Leben I schlechthin. Zwischen Leben und Erlebnis herrscht Identi-1 tat. Auf den ersten Blick könnte man meinen, daß das »Er-I lebnis« sich, wie im linguistic turn die Sprache, zwischen das I einstige Geschehen und den gegenwärtigen Betrachter schiebt. Genau betrachtet ist das aber nicht der Fall, denn das Erlebnis ist auf unauflösbare Weise sowohl der Stoff, aus dem Geschichte ist, wie das Mittel, das die Erkenntnis des Vergangenen zuwege bringt. Der Historiker ist in der Lage, geschichtlich zu erkennen, weil er selber geschichtlich ist. Bewußtsein, dessen inhaltsprägende Form das Erlebnis annimmt, und Gegenstand fallen ineinander. Da ist, wie Hans-Georg Gadamer meint, immer noch das »spekulative Postulat« des Idealismus am Werk.25 Sicherlich ist das kein naiver Geschichtsrealimus mehr, aber doch ist Dilthey sich der geschichtlichen Welt sicher, die im Erlebnis konstruiert wird. Es ist nicht die Unsicherheit histofischer Erkenntnis, die I bewußt ausgehalten wird, um den Hiatus zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu verarbeiten. Im Gegenteil, Dilthey spricht von der »Sicherheit«, die ihm »von der adäquaten Repräsentation des ihm Gegebenen im Denken« vermittelt wurde.26 Dilthey hat den erwähnten Hiatus übersprungen. Mit dem Erlebnisbegriff hat er sich nach Gadamer eine »Distanz zur eigenen Geschichte« geschaffen, »die allein ermöglicht, sie zum Objekt zu machen«.27 Auch wenn die geschichtliche Welt im Erlebnis konstruiert wird, wird sie nicht verstanden, sie macht sich vielmehr verständlich. Es ist das Leben selbst, das sich im Erlebnis konstruiert und in dem sich der objektive Geist in der Vielzahl seiner Objekti-vationen zum Verständnis bzw. zur Erkenntnis bringt. Im historischen Bewußtsein, sagt Gadamer, »vollzieht sich das Wissen des Geistes von sich selbst«.28 Das markiert eine we- 114 Unsichere Geschichte Unsichere Geschichte 115 sentliche Differenz zu den neueren Konzepten. Diskonti- . I nuitat, tropologische Differenz, Bruch, Fremdheit: das sind | nicht die Begriffe Diltheys. Sie fügen sich schwerlich in die § Tradition der Hermeneutik ein. f ■ j: Die Realismuskritik schließt also auch die radikalste Aus- . | prägung der hermeneutischen Tradition im 19. Jahrhundert .. j ein und zeigt, wie weit sich die neueren Konzepte vom tradi- f tionellen Wirklichkeitsverständnis entfernt haben. Es wird < vielleicht aber nicht möglich sein, sich sogleich an die Arbeit j zu setzen und Geschichte in der einen oder anderen Weise i neu zu schreiben. Foucault hat es in größtmöglicher Über- . J einstimmung mit seinen theoretischen Überlegungen ver- . 1 sucht, andere sind ihm gefolgt, vor allem auf dem Gebiet der | Geschlechterbeziehungen oder mit Themen, die von den ~\ new cuhural studies aufgenommen wurden. Ob postmodern ] oder modern, darauf kommt es vorerst nicht so sehr an; es . :'i wird aber unumgänglich sein, sich die erkenntnistheoretische ] Rückständigkeit einzugestehen und nach Wegen zu suchen, | auf denen Begriffe, Theorien und Konzepte eine zeitgemäße, ] modernere Gestalt als bisher erhalten. Mit alten, abgenutzten * Werkzeugen läßt sich Geschichte nicht neu schreiben. f Neu gestellt werden muß vor allem und zuerst die Frage | nach dem historischen Referenten. Er ist nicht die Vergan- | genheit, auch nicht ein Stück von ihr, das sich in der Ge- | genwart zu erkennen gibt. Er ist nur Ausdruck des Verhält- -j nisses, das zur Vergangenheit eingenommen wird. Dieses 1 Verhältnis findet seine Gestalt im historiographischen Text, f wenn wir Hayden White folgen, in einem Text, der als . . ( »literarisches Artefakt« charakterisiert wird und nktional- j erzählerische Züge trägt, aber dennoch der Vergangenheit . | abgerungen wurde. Dieser Erzähltext gleicht nicht dem. | vergangenen Gegenstand, den er darstellt, er ist nicht »Ab- . | bild einer möglichen Wirklichkeit«"9, und doch ist er eine | Form, die gewählt wird, um zu erfassen und mit Bedeutung . :j zu versehen, was sich selbst nicht mehr zur Darstellung f bringen kann. Die tropologische Redeweise von der Metapher bis zur Ironie kann zum Ausdruck bringen, was sich in Sätzen wie »so war es« nicht sagen läßt, denn »so war es« heißt genaugenommen, alles ist vergangen, da ist nichts mehr. Die tropologische Redeweise macht es dagegen möglich, von dem, was nicht ist, so zu reden, als ob es sei. Der historische Referent hat keinen Ort in der Vergan-genheit, er findet ihn nur im Vorgang der Erzählung hier und jetzt, so bei Hayden White, im Diskurs, wie bei Michel Foucault, oder in kognitiv-intersubjektiver Verständigung/ wie bei den Radikalen Konstruktivisten. Sein Ort ist da, wo die Vergangenheit zum Problem wird. Und Geschichte ist, ob in Erzählung, Diskurs oder in intersubjektiver Verständigung, der Versuch, dieses Problem, das sich ständig verändert, schrumpft und vergeht, neu entsteht, sich aufbläht und zur Last wird, zu lösen, zumindest aber zu bearbeiten. Kriterien, die darüber entscheiden, weicher Versuch gelungen ist, welcher noch verbessert werden konnte und welcher verworfen werden muß, bringt nicht der traditionelle Referent herbei; solche Kriterien wachsen uns in dem Bemühen um die Beziehung zu, die zwischen Vergangenheit und Ge- . genwart hergestellt wird. Um diese Kriterien wird in den Vorgängen gerungen, in denen sie zur Anwendung kommen. Sie sind uns ebenso wenig sicher wie die Probleme, die sich ungerufen einstellen - und unsicher ist die Geschichte, die dabei entsteht: in Erzählung, Diskurs oder intersubjekti- : ver Verständigung. In allen Fällen empfiehlt es sich, nicht mehr vom historischen Referenten, sondern von historischer Referentialitat zu sprechen. Einst war der Referent, pauschal genommen, die »historische Wirklichkeit«, eine Wirklichkeit, die sich im Zuge neuerer erkenntnistheoretischer Erörterungen als Schein erwiesen hat. Stattdessen hat sich die Referentialität dorthin verlagert, wo Wirklichkeit überhaupt erst entsteht. Das heißt aber, daß an der Entste-: hung von Wirklichkeit nicht Vergangenheit, wohl aber auf ganz sensible Weise Geschichte beteiligt ist, . 116 Unsichere Geschichte Unsichere Geschichte 117 Mit den Untersuchungen zur Theorie der historischen Referentialität bei White, Ankersmit, Foucault und den Radikalen Konstruktivisten wollte ich das Urteil überprüfen, das ihnen vorwarf, den Wirklichkeitsbezug ihres historischen Denkens verloren zu haben. Mir ging es nicht um eine systematische Erörterung der Referentialitätsproblematik allgemein, sondern einzig und allein darum, den Argumenten derjenigen nachzugehen, die mit diesem Urteil schwer belastet und um die Möglichkeit gebracht wurden, sich an % den Auseinandersetzungen um die Grundlagen der Geschichtswissenschaft heute und um neue Konzeptionen historischer Arbeit zu beteiligen. Statt die Fragen, die sie auf- J warfen, ernsthaft ins Gespräch zu ziehen, wurde schon das Ende ihrer Ära ausgerufen, als ob sich jede Bemühung um die aufgeworfenen Fragen inzwischen erübrigt hätte - und : weiter wird im Sinne eines pragmatischen Realismus histo- : risch produziert: Monographie um Monographie, eine Ge- / samtdarstellung nach der anderen. Georg G. Iggers hat den Wirklichkeitsverlust der postmodernen Konzepte von Geschichte kritisiert, zugleich hat er auch die enorme Erweiterung der Fragestellungen, Methoden und thematischen Bereiche anerkannt, die für die historische Arbeit erschlossen wurden. Sich über diese Komple-: xitätssteigerung hinwegzusetzen, dürfte wissenschaftlich nicht zu verantworten sein. Damit würde die Wissenschaft gegen ihr eigenes Prinzip verstoßen, Erkenntnisse zutage zu fördern. Allerdings läßt sich auch keine Begründung dafür I finden, die praktischen Ergebnisse der neuen Konzepte zu begrüßen und die Theorien, die dazu führten, von Grund auf abzulehnen. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben. Einige Aspekte dieser Theorien, die sich mehr oder weniger, trotz offensichtlicher Unterschiede, in allen untersuchten Konzepten finden, sollen abschließend noch einmal thesenhaft umrissen werden, Sie werden vielleicht dazu beitragen, die vertrauten Argumentationsmuster geschichts-theoretischer Reflexion allmählich zu verändern. (1) Der historische Referent, der im Rahmen einer traditionellen Erkenntnistheorie als ein erkenntnisunabhängiger, realer Gegenstand angesehen wird, fällt den Ansprüchen der modernen Realismuskritik zum Opfer. Er läßt sich nicht sachadäquat abbilden, zu stark ist die Überformung des Gegenstands durch das erkenntnissuchende Subjekt. Anders gesagt, der historische Referent setzt sich nicht selber im historischen Urteil durch, er bestimmt nicht die Regeln, die zu seinem Verständnis in der Gegenwart führen. (2) Die Geschichtswissenschaft wird nicht um ihren Gegenstand gebracht, sie hat sich, wenn man die Aporien bedenkt, die mit der Anwendung der realistischen Erkennt-, nistheorie auf Geschichte entstanden, selber darum gebracht. Selbst die noch so umsichtige Rede von der Annäherung an den historischen Gegenstand darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß uns ein solcher Gegenstand nicht gegeben ist. Zumindest aber, daß wir nicht in der Lage sind, ihn zu erkennen, wie er wirklich ist. (3) Aus dieser Einsicht in den instabilen Charakter des historischen Gegenstands, sofern sich unsere Wißbegier auf ihn richtet, ziehen die geschichtstheoretischen Überlegungen der untersuchten Außenseiter der Geschichtswissenschaft ihre Konsequenzen und versuchen, jeder auf seine Weise, mit diesem angeblichen Realitätsverlust fertig zu werden. Sie geben die historische Orientierung ihres Denkens nicht auf, ganz im Gegenteil, sie ringen darum. So erklärt sich ihre verschlungene, komplizierte Argumentationsweise. Foucaults Philosophie beispielsweise lebt ganz und gar von dem Vorsatz, Geschichte anders zu schreiben als bisher, aber immerhin Geschichte, um einen philosophischen Zugang zur Gegenwart zu finden. (4) Im Rahmen der traditionellen Erkenntnistheorie wurde mit dem Hinweis auf den historischen Referenten der Wirklichkeitscharakter der historischen Aussagen behaup- 118 Unsichere Geschichte tet. Mit ihm wurde auch begründet, daß es möglich sei, die Wahrheit über die vergangene Wirklichkeit zu sagen. Unter dem Eindruck der Reahsmuskritik hat sich der Charakter des Referenten verändert. Aus dem Gegenstand, dem der Historiker gegenüberstand, wurde eine Beziehung, die der Historiker zur Vergangenheit sucht. Fortan werden alle Aussagen über Vergangenes zu Aussagen über die Beziehung zu Vergangenem, aber nicht über die Vergangenheit selbst. Daher ist es sinnvoller, von der Referentialität als vom Referenten zu sprechen. Unter diesem Gesichtspunkt empfiehlt es sich auch, begrifflich zwischen Vergangenheit und Geschichte zu trennen. Geschichte ist der Versuch, ein Verhältnis zur Vergangenheit herzustellen (historia rerum gestarum), nicht die Vergangenheit als solche (res gestae). Nun bietet sich die Gelegenheit, die Zweideutigkeit des Ge-: Schichtsbegriffs, an die wir uns seit der Aufklärungszeit gewöhnt haben, wieder aufzulösen und zumindest in der ge-schichtstheoretischen Reflexion den Unterschied zwischen Vergangenheit und Geschichte deutlich zu markieren. (5) Die Beziehung zu Vergangenem wird bei White in der tropologisch strukturierten Erzählung, bei Foucault im Diskurs und bei Radikalen Konstruktivisten im kognitiven System hergestellt. Der neuerliche Versuch Ankersmits, diese Beziehung im Erlebnis geschichtlicher Unmittelbarkeit zu verankern, scheint mir dagegen gescheitert zu sein. Die Referentialität findet ihren Ort, wo Wirklichkeit konstituiert wird, wo sie entsteht, wo um sie gerungen wird oder wo es zur Übereinkunft darüber kommt, was wirklich ist - was wirklich istt nicht was wirklich war. Sie findet hier nicht nur ihren Ort, sondern erhält hier auch ihren Entstehungsimpuls und schließlich ihre literarische, diskursive bzw, intersubjektiv diskutierbare Gestalt und Bedeutung. Die Beziehung zu Vergangenem ist ein Konstrukt, das mit der Konstruktion der Wirklichkeit entsteht. Sie ist, wie die Wirklichkeit, ausgesprochen aktuell, veränderlich und unsicher. I Anmerkungen I i '3""''' ■• J I. Linguistic turn und »historische Referentialität« J 1 Reinhard Wittram, Das Interesse an der Geschichte, Göttingen I 1958,5.33. I 2 Phyllis Grosskurth, [Rez. von:] »Metahistory«, in: Clio 5 (1976) I S- 240, zit. nach: Richard X Vann, »The Reception of Hayden I White«, in: History and Theory 37 (1998) S. 145. i 3 Hans-Ulrich Wehler, Die Herausforderung der Kulturgeschich- I te, München 1998, S. 91. I 4 Geoffrey Elton, Return to Essentials. Some Reflections on the I Present State of Historical Study, Cambridge 1991, S 27 (zit. % nach der deutschen Übers, bei: Richard J. Evans, Fakten und I Fiktionen. Über die Grundlagen historischer Erkenntnis, Frank- I furt a. M. / New York 1998, S. 16). I 5 Vgl. Peter Schöttler, »Wer hat Angst vor dem 'linguistic turn