Hans-Jürgen Goertz Unsichere Geschichte Zur Theorie historischer Referentialität Philipp Reclam jun. Stuttgart 82 Diskurs und Realität eigene Art, Geschichte zu schreiben, ergibt sich aus der Ve^r Schiebung des Themas bzw. aus einer leichten Veränderung des Blicks. Foucault könnte noch postum Bewegung in ein| stagnierende Geschichtswissenschaft bringen. v^-^p Foucault hat zunächst gezeigt, wie das dominante^ Wirk lichkeit generierende Subjekt allmählich aus der Geschicíttr ^ verschwindet, und nun will er zeigen, wie sich das Subjektiv ; der diskursiven Überschreitung gegenwärtiger geseUschaiféN licher Grenzen konstituiert. Das ist ein Subjekt, das am RarP^ de, eben an den Grenzen der Gesellschaft und nicht in ihreßti Zentrum entsteht, dort, wo sich das Alte nicht mehr hält I und Neues auf den Plan tritt. Daß die Geschichtswissenschaft mit dieser Anregung ihre gesellschaftliche Position und ihren Wissenschaftscharakter noch einmal überdenken/ zumindest aber dem dezentralisierten Geschichtsverständnis Foucaults ein Mitspracherecht einräumen müßte, die Gegenwart historisch zu analysieren und die Historizität; des Vergangenen, ihre Brüchigkeit und die Gestalten ihrer . Transformation genau zu bestimmen, ist alles andere als eine ' belanglose Einsicht. IV Konstruktion der Geschichte I yfer die wissenschaftsgeschichtliche Verbundenheit der HÍ- - -storiker mit dem 19. Jahrhundert kennt, auch ihre Neigungj "einer theoretischen Beschäftigung mit ihrer Arbeitsweise, - ihrer Begrifflichkeit und ihren Ergebnissen aus dem Wege 2U gehen, weiß genau, was Hayden Whkes metahistorische - loterp retationsweise und Michel Foucaults Diskursanalyse . ihnen zumutet: Sie müssen ihre Vorstellungen von Staat, Gesellschaft, Kultur, Wahrheit, Wirklichkeit und Geschichte von Grund auf erneuern. Noch schwieriger wird die Lage, wenn die verschiedenen formen konstruktivistischer Konzepte ins Spiel kommen, tjm nur einige Beispiele anzuführen: Peter Berger und Thomas Luckmann haben schon in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts von der »gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit« gesprochen und ein objektivistisches bzw. essentiah'stisches Wirklichkeitsverständnis mit den argumentativen Mitteln der Phänomenologie und der Wissenssoziologie zu zerrütten begonnen.' Die Wissertssoziolo-gie hat in der deutschen Geschichtsschreibung aber keine s Spuren hinterlassen. In ihrem Gefolge entwickelte sich spä-: ter das komplexere Modell eines »social constructionism« und drang in wichtige Disziplinen ein. Die deutsche Geschichtswissenschaft aber ging auch dieser Herausforderung aus dem Weg. Ausgesprochen kompliziert und in der Begrifflichkeit formuliert, die in der analytischen Philosophie, Biologie, Kybernetik, Psychologie und schließlich in den Kognitionswissenschaften angewandt wird, muß der Radikale Konstruktivismus auf Historiker noch abstoßender wirken. Diese kategoriale und sprachliche Welt ist ihnen fremd. Es handelt sich um Konzepte, die Ernst von Glasersfeld, Heinz von Foerster, Paul Watzlawick und Humberto 84 Konstruktion der Geschichte Konstruktion der Geschichte 85 Maturana entwickelt haben, um die bekanntesten Kortstru^ tivisten zu nennen. Im Zentrum ihrer Bemühungen steht die kognitiv-soziale Konstruktion der Wirklichkeit, ein Begriff der unten erklärt wird. Aus konstruktivistischer Perspektívy hat sich besonders der Literaturwissenschaftler Gebhard Rusch auch der Geschichte angenommen. Sein schwierigen Buch über Erkenntnis, Wissenschaft und Geschichte (1987) ist in der Geschichtswissenschaft allerdings nicht zur Kenntnis genommen worden. Auch die Aufsätze, die in der Österreichischen Zeitschrift ßr Geschichtswissenschaften' (1997) über Konstruktion und Geschichte zu Ehren Heinz von Foersters veröffentlicht wurden, sind bisher nur wenigen bekannt. Wo der konstruktive Charakter der Wirklichkeit behauptet wird, muß der Historiker damit rechnen, daß diese Behauptung auch das Geschichtsverständnis einschließt und die historische Referentialtät auf eine harte Probe stellt. Ein Gespräch mit Heinz von Foerster wurde so eingeleitet: »Geschichte ist neben der Soziologie das letzte Fach, in dem Objektivität noch eine Rolle spielt, ja geradezu etwas besonders Wichtiges ist.« Ungläubig fragte der Angesprochene zurück: »Na was, ist das wirklich so?«2 Das Objektivitätspostulat Leopold von Rankes, »bloß zu zeigen, wie es eigentlich gewesen« sei, ist offensichtlich immer noch im Bewußtsein der Sozial- und Geisteswissenschaftler tief verankert und vermag das Modell für ein Wirklichkeits- und Geschichtsverständnis abzugeben, an dem sich der Radikale Konstruktivismus kritisch abarbeitet und zum eigenen Konzept findet. Im Grunde ist der Starrsinn des Historikers, seine Darstellung auf objektive Fakten zu gründen, neuerdings von Richard Evans in Fakten und Fiktionen (1999) wieder unter Beweis gestellt worden. H. von Foerster sieht darin jedoch schon das Prinzip, das sein Scheitern einschließt - unmerklich fast. Von den Fakten geht nämlich eine Provokation aus,' sie ständig zu bezweifeln, und das wiederum läßt die Ge- " schichte, sofern sie beobachtet und wahrgenommen wird, ununterbrochen zu einer evolutionären Entwicklung wer-; (Jen: »Die Geschichte rollt und ist verschieden, verschieden, ; verschieden und verschieden.« Die Dynamik entsteht durch Zweifel, die das jeweils behauptete Faktum weckt: »So war ■ es |a gar nicht, denn ich habe ... Und jetzt kommt ein Gegen- ; spiel, und der andere kann dann sagen: Aber so war es ja auch nicht. Und indem jetzt etwas abrollt, eine Diskussion^ : TVJrd Geschichte eine Diskussion zwischen Menschen, die Geschichte in verschiedener Weise sehen wollen«.3 Geschichte ist nicht die Rekonstruktion der res gestae, sondern : Jas Spiel der verschiedenen Sichtweisen der história rerum : gestamm. Das ist das Ergebnis, zu dem man einst auch in ■ der kritischen Selbstreflexion innerhalb der hermeneuti-schen Tradition gelangte, sofern die Standortgebundenheit : und Perspektivität des Umgangs mit Geschichte konsequent : bedacht worden war. Doch was diese Position von der her-:; meneutischen trennt, ist die Tatsache, daß die Diskussion ; nicht ein Gespräch ist, das zu einem Konsens führt, auch an-; näherungsweise nicht. Ein Konsens wird gar nicht erst ange-: strebt. Die Diskussion erschöpft sich vielmehr darin, daß Zweifel an der Sicht des anderen gehegt und eine jeweils eigene Sicht entwickelt wird. Diese Diskussion ist aller--: dings auch der Ort, an den die eine oder andere Information mitgebracht, begrüßt, erwogen, bestritten, gefestigt, fortentwickelt und von dem einen so und dem anderen so zu :. einer jeweils eigenen Sicht zusammengefügt wird. Doch an diesem Punkt besteht keine Einheitlichkeit im konstruktivistischen Lager. H. von Foerster unterstreicht die Komplementarität unterschiedlicher Sichtweisen, während Paul Watzlawick auch vom Kompromiß sprechen kann, der von ■ Vertretern unterschiedlicher Sichtweisen gesucht wird. »Die : Wirklichkeit wird ja nicht vom einzelnen regellos und will-. ■■: kürlich konstruiert, sie ist eine Übereinkunft, das Produkt von Kommunikation.«4 Sobald jedoch erste Zweifel am Konsens auftreten, bleibt es bei einem Nebeneinander ver- 86 Konstruktion der Geschichte Konstruktion der Geschiebte 87 schiedener Weisen, Geschichte zu sehen, einer unaufhörlichen Folge solcher Sichrweisen. Keine läßt sich auf die ande-re zurückführen, keine durch die andere ersetzen. Das unterscheidet die konstruktivistische Sicht vom Objektivität^"." postulát des Historismus. Die approximative Annäherung' an den Gegenstand historischer Erkenntnis ist in den Augen der Konstruktivisten ein Irrweg, und dennoch heißt dj& nicht, daß der Gegenstand, um den es geht, überhaupt nicht vorhanden sei. Ernst von Glasersfeld spricht von der »onti- -sehen Realität«, mit der wir es zu tun haben, auf die wir stoßen und die uns gelegentlich scheitern läßt. Damit ist aber noch nichts erkannt. Daß es nicht gelingt, eine »Ontologie« des Vergangenen oder Gegenwärtigen zu artikulieren, auch gar nicht darum gehen darf, ist ein Credo des radikalen Konstruktivismus. Niemand kann erkennen, »was außer-* halb der Erlebniswelt liegt«.5 í Die »Wirklichkeit« ist im radikalen Konstruktivismus zu einem Problem der Erkenntnistheorie geworden: Welche Möglichkeiten hat der Mensch, etwas zu erkennen, und welchen Charakter nimmt das Erkannte an? Ist es real oder imaginär? Im Grunde gibt jeder Konstruktivist eine eigene Antwort auf diese Fragen, in einem aber sind sie sich wohl alle einig. Sie sind nicht zu dem Ergebnis gelangt, was Wirklichkeit ist, das setzte ja die grundsätzliche Erkennbarkeit der Wirklichkeit voraus, allen gemeinsam ist vielmehr die Einsicht, daß sie allenfalls sagen können, was Wirklichkeit nicht ist. Es ist nicht möglich, ein Wissen vom Ganzen der Wirklichkeit zu erlangen, sondern nur Fragmentarisches über sie in Erfahrung zu bringen. Das berühmte Beispiel, das diesen Befund illustriert, ist die Fahrt eines Schiffes durch eine Meerenge. Kommt der Kapitän durch, ohne Schiffbruch zu erleiden, hat er sein Ziel er- Vj.eicht, erfährt aber nichts über die Beschaffenheit der -.'Meerenge unter Wasser. Strandet er an einem Felsvor-: Sprung unter Wasser oder läuft sein Schiff auf einer Sand-" bank auf, erfährt er, daß die »Wirklichkeit« sich seiner .Absicht widersetzt hat, das Schiff unversehrt durch die Meerenge zu steuern - mehr nicht. Ihm wird klar, daß die . Wirklichkeit nicht so ist, wie er angenommen hat. Es formt " sich in ihm aber kein Bild davon, wie die Wirklichkeit nun tatsächlich ist. »Im Scheitern einer Hypothese über die ; Wirklichkeit erfahren wir, daß diese Hypothese falsch ist«6 - mehr nicht. Wir erfahren eigentlich nur etwas über unseren Versuch, die Wirklichkeit zu erkennen. Dieser Versuch ist übrigens kein kontemplativer Akt, kein Auf-sich-wir-ken-Lassen der Wirklichkeit, sondern eine Tat. Im Experiment, in actu, in der Fahrt durch die Meerenge, erfahren wir etwas von der Wirklichkeit, das uns in den Stand versetzt, uns eine Vorstellung von ihr zu bilden. Das Ergebnis des Erkenntnisprozesses ist nicht die möglichst genaue Ab-: bildung, sondern eine Konstruktion der Wirklichkeit, so wie sie sich in unserer Erfahrung mit Hilfe der uns zur Verfügung stehenden Lern- und Erkenntnismittel darstellt. »Ist man sich einmal klar darüber, daß man als Mensch nicht aus der menschlichen Wahrnehmung und den Begriffen, die man als Mensch gebildet hat, aussteigen kann, dann sollte auch klar sein, daß man immer nur die Welt der menschlichen Erfahrungen zu kennen vermag, nie die Realität an sich.«7 Paul Watzlawick hat einer Aufsatzsammlung wichtiger Konstruktivisten den Titel Erfundene Wirklich-. keit (1981) gegeben. Die Wirklichkeit wird nicht gesucht und gefunden, sie wird erfunden. Sie bildet sich in unserer Vorstellung. Das bedeutet zweierlei: Einerseits wird die mit der modernen Bewußtseinsphilosophie entstehende Sub-jekt-Objekt-Spaltung aufgehoben bzw. überwunden, Es ist nicht mehr so, daß ein vom Subjekt getrenntes Objekt zu erkennen wäre. Im Erkennen fallen Subjekt und Objekt vielmehr ineinander. Das eine ist nicht ohne das andere. St.". Pi." ■m v1 í;, i i i f í "r.. il m S ľ}, 88 Konstruktion der Geschichte Watzlawick ist davon fasziniert: »Da sind wir natürlich auf einer fast mystischen Ebene, wo wirklich die VerschmeK zung der Welt mit dem die Welt wahrnehmenden Individu, um möglich wird.«s Andererseits fällt das Augenmerk auf das erkennende Subjekt, auf seinen kognitiven Apparat, auf-die Möglichkeiten, die der Mensch hat, sich mit der Wirfe. lichkeit, die es zweifellos gibt, auseinanderzusetzen, sie 2ll erkennen und zu seiner Welt auszugestalten. Das liest sich wie das Kontrastprogramm zu Foucaults Verschwindendes Menschen, seiner Subjektivität, aus dem erkenntnisschaffenden und Wirklichkeit generierenden Diskurs, Ein positivistisches Verfahren, wie Foucault es zur Beschreibung derJ episteme einsetzte, wäre im Lager des radikalen Konstruktivismus ausgeschlossen. Hier fallen Beobachter und Beobachtetes ineinander. Daß Beobachtungen ohne Beobachter gemacht werden könnten, hat H. von Foerster als eine Wahnvorstellung ironisiert.9 Man könnte es so sagen: Ans der »empirisch-transzendentalen Dublette«, die das Individuum in der Aufklärungszeit geworden war, einer Dublette, die Foucault als Not empfand, wird im radikalen Konstruktivismus eine Tugend, die sich allerdings nicht bei der überkommenen Subjekt-Objekt-Spaltung beruhigt, sondern sie zu überwinden trachtet. Einerseits wird sie radika-lisiert, und andererseits das Objekt, das zu erkennen ist, vom S\abjekt erst geschaffen. Ernst von Glasersfeld hat immer wieder darauf hingewiesen, daß er nicht am »Sein«, sondern am »Wissen« interessiert sei, allein daran, was wir über das Sein bzw. die Wirklichkeit wissen können, und nicht daran, was die Wirklichkeit an sich ist.10 Dabei trennt er das Subjekt, das erkennt» vom Objekt, das erkannt wird. Darin kommt die Radikalität seines Denkens allerdings noch nicht voll zum Zuge. Konstruktion der Geschichte 89 :0tPe so^cne Trennung hatten ja auf unterschiedliche Weise "l^cbon die moderne Bewußtseinsphilosophie, die Varianten y-fet Hermeneutik und der Positivismus des 19. Jahrhunderts vorgenommen, daran wäre also nichts Neues gewe-d§ii. Neu ist indessen die Begründung, die für diese Trennung gegeben wird. Der Beobachter beobachtet nicht nur . eflvas, sondern er beobachtet auch sich selbst dabei, wie er l/ftwas beobachtet. Man spricht von der Selbstreferentialität fes Beobachters, seiner Rückbezüglichkeit, und meint da-." jjjji die Feststellung, daß der Beobachter bei allem, was er i-iiber die Wirklichkeit, in der er steht, aussagt, stets zu sich ^"selbst zurückkehrt bzw. bei sich bleibt. In jeder Aussage Hiiber das Objekt kommt auch das Subjekt zur Sprache, in jeder Aussage über die Wirklichkeit wird die Erfahrung i -thematisiert, die mit der Wirklichkeit gemacht wird - mehr :" picht oder eben sehr viel, wenn Humberto Maturana : schreibt; »Wir erzeugen [...] buchstäblich die Welt, in der wir leben, indem wir sie leben.«11 Diese Selbstreferentialität ist das radikale Element im . Denken der Konstruktivisten. Sie ist der Grund dafür, daß das Subjekt (das kognitive System) vom Objekt {der Um-■ Veit) getrennt ist, Sie ist aber auch der Grund dafür, daß uns die Wirklichkeit, wie sie an sich ist, verschlossen bleibt und. wir gezwungen sind, uns eine Welt aus den Erfahrungsele-menten, die sich im Umgang mit der Wirklichkeit bilden, zu bauen. Die Erfahrungselemente sind die Berührungspunkte mit der Wirklichkeit, aus denen wir ein Wissen über die Art und Weise der Berührung, nicht über die Wirklichkeit selbst schöpfen: »Wissen besteht in den Mitteln und Wegen, die . das erkennende Subjekt begrifflich entwickelt hat, um sich an die Welt anzupassen, die es erlebt.«12 Das Wissen sagt also etwas über unseren Zugang zur Wirklichkeit aus und nicht über die Wirklichkeit selbst. Es sagt in seiner Rückbezüg-iichkeit vor allem etwas, ja, das Entscheidende über das erkennende Subjekt aus: Es wird als ein autopoietisches System oder ein sich selbsterhaltender Organismus verstan- EP m ilii 3 i.'""' PI» St I .i I ! S- '' ■ Öl:';; [■#!'■ 90 Konstruktion der Geschichte Konstruktion der Geschichte 91 den. Die Merkmaie der Theorie autopoietischer Systeme hat Siegfried Schmidt so beschrieben; »Lebende Systeme sind selbsterzeugende - kurz autopoietische - Systeme. Die kritische Variable ihrer autopoietischen Homöostase ist die Organisation des Systems selbst.«11 Das hervorstechende Merkmal ist die Selbstreferentialität. Auf sie ist zurückzukommen, wenn die Frage nach historischer Referentialität im Rahmen des Konstruktivismus diskutiert wird. Die Selbstreferentialität ist nicht eine Spielart des philosophischen Solipsismus, als ob außerhalb unseres Bewußtseins überhaupt nichts existierte oder nur im Bewußtsein etwas hergestellt würde.14 Das ist nicht die Meinung der radikalen Konstruktivisten. Ganz im Gegenteil, sie gehen davon aus, daß das erkennende System nicht ohne Umwelt (Wirklichkeit) ist und Umwelt nicht ohne System.15 Weil wir mit der Wirklichkeit, die unseren Absichten oft im Wege steht, fertig werden müssen, sind wir gezwungen, sie uns so zu konstruieren, daß wir unsere Ziele erreichen und unser Leben Bestand und Sinn erhält, nicht gegen, sondern mit den Erfahrungen, die wir sammeln. Das Wissen, das wir konstruieren,; ist praktisches Wissen. Es ist ein Wissen, das in unseren Erfahrungen mit derjenigen Wirklichkeit entsteht, die wir aufbauen, und das unserer Lebensführung nützlich ist. Nützlich ist dasjenige Wissen, das zu unseren bisherigen Erfahrungen paßt bzw. das »viabei« ist. »Handlungen, Begriffe und begriffliche Operationen sind dann viabel, wenn sie zu den Zwecken oder Beschreibungen passen, für die wir sie benutzen.«5*' Dieses Wissen kann intersubjektive Bestätigung finden bzw. »Bekräftigung durch andere«57 und in ex-ternalisierten Akten den Status von Objektivation annehmen, als ob uns eine objektive Welt gegenüberstünde, genaugenommen aber bleibt es subjektives Wissen, es baut sich aus Erfahrungen, Vorstellungen und Begriffen eines jeden auf und verliert niemals seinen subjektiv-konstruktivistischen Charakter. »Mit der Konstruktion permanenter Objekte kristallisiert das kognitive Subjekt einige der wie- derholbaren Elemente, die es konstruiert hat, und behandelt : sie als extern und selbständig. So entsteht eine Unterscheid ; dung, die einen Großteil der Unterscheidung von Organis-. i" jnus und Umwelt erfaßt, indem sie eine >subjektive< Umwelt [ festlegt. Die externalisierten permanenten Objekte existie-; ren nur in einer externen Welt, die durch die räumlichen und : zeitlichen Relationen strukturiert wird, welche von den Ob-; jekten im Laufe der Erfahrung abstrahiert worden sind.«38 ; Diese externe Welt ist letztlich nichts anderes als eine inter-: ■ subjektiv konstruierte Wirklichkeit, ihre sogenannte Objek-■- tivität besteht in der Bestätigung durch andere, die wir in ; konstruktivistischer Manier zwar nach unserem Bilde selbst : erschaffen haben, die aber doch die Realität, wie wir sie ; wahrnehmen, bekräftigen können," denn was wir zu tun vermögen, muß auch den anderen möglich sein. Wenn zwei oder drei Menschen einen Sachverhalt ähnlich oder sogar :; gleich sehen, muß an der Aussage darüber doch etwas dran sein. Freilich handelt es sich dabei nicht um eine Aussage I über die Wirklichkeit, sondern über die Art und Weise, wie : jeder die in Frage stehende Wirklichkeit erfährt. Die inter-; subjektiv bekräftigte Wahrnehmung der Wirklichkeit stabi-iisiert zwar unsere Erfahrungsrealität, bildet den sozialen Kontext unserer Erfahrungen aus und ermöglicht die zur : Bewährung des Lebens notwendige Kommunikation mit-r einander, legt uns aber nicht grundsätzlich auf einen einzigen richtigen Weg fest, auf den wir uns unbedingt einigen ■■ müßten, die Wirklichkeit aufzunehmen. Derselbe Sachverhalt könnte auch anders zum Ausdruck gebracht werden. : Im Rahmen des traditionellen Objektivitätspostulats wäre : eine solche Freizügigkeit nicht geduldet worden. ; Um die kognitiven Prozesse zu erfassen, die zum Erwerb ■ von Wissen führen, hat E. von Glasersfeld sich an der biolo-.; gischen bzw. entwicklungspsychologischen Theorie orien-^ tiert, die Jean Piaget in schroffem Gegensatz zur traditionel- ■ len Erkenntnistheorie entwickelt hatte. Für ihn war Wissen I nicht »zeitlos« und »unveränderbar«, es wurde vielmehr 92 Konstruktion der Geschichte durch »die Geschichte seiner Entstehung erklärt und gerechtfertigt«.20 Es ging ihm vor allem darum, den Aufbau der Wirklichkeit beim Kinde (1937) zu erforschen und den wissenschaftlichen Umgang mit der Wirklichkeit zu klären. Dabei trat die Untersuchung der biologischen Grundlagen des kognitiven Vermögens zugunsten der mentalen Anpassung ari; die Wirklichkeit ein wenig in den Hintergrund - auch bei Glasersfeld, der den verschlungenen Untersuchungswegert;; Piagets folgte und die relativ beständigen Hauptgedanken nutzte, um sein eigenes Konzept eines konstruktivistischen Wirklichkeitsverständnisses aufzubauen und zu festigen. Der biologische, neurophysiologische Ansatz, der zweifellos zu Glasersfelds Grundprämissen zählt, wurde stärker von Heinz vonFoerster, HumbertoR. Maturana und Francisco j. Varela ausgearbeitet und zeigt deutlich, wie ungeeignet der kognitive Apparat des Menschen ist, sich ein Bild von der Wirklichkeit an sich zu machen. Das muß kurz erläutert werden. Das menschliche Gehirn läßt keine Bedeutungsinhalte von außen in sich eindringen, sondern reagiert auf Umwelt*; reize als ein geschlossenes System. Es ist also kein »umweit-; offenes Reflexionssystem«, das uns in die Lage versetzen; könnte, die Wirklichkeit über die Sinnesorgane unmittelbar zu erfahren. Es ist ein System, das nur seine eigene »Sprache« versteht und nur seine eigenen Befindlichkeiten regelt. Mit der Umweh steht dieses System über die Sinnesorgane in Verbindung, doch sie haben nur die Aufgabe, die Ereignisse, die dem geschlossenen Nervensystem unzugänglich sind, an die Sprache des Gehirns heranzuführen.'1 Es ist: nicht die Sprache des Gegenstands, die vernehmbar ist, sondern allein die Sprache des kognitiven Systems, das zu Erkenntnissen kommt, Hier werden, wie Edgar Morin für den Sehvorgang beispielsweise kurz und bündig beschrieben hat, die Reize der Außenwelt aufgenommen, ihre »Botschaften werden von darauf spezialisierten Zellen analysiert, in einen binären Code transkribiert, der zu unserem Gehirn gelangt, wo diese Botschaften nach Verfahren, die wir nicht '; ' Konstruktion der Geschichte 93 ■ Rennen, abermals in Vorstellungen übersetzt werden«.32 Da : die reiz- bzw. signalaufnehmenden und bedeutungserzeu- genden Teile im Gehirn dieselben sind, erklärt Schmidt, »können die Signale nur das bedeuten, was entsprechende \ Gehirnteile ihnen an Bedeutung zuweisen«.33 Wahrnehmung ist keine Leistung der Sinnesorgane, sondern »Ubersetzung«, »Konstruktion* und »Interpretation« in einend : Der Hiatus zwischen System und Umwelt wird nicht aufge-i. hoben, und doch bleibt die bereits geäußerte Formel in Geltung, daß das System nicht ohne Umwelt und die Umwelt nicht ohne das System besteht. Für die Diskussion um historische Referentialität könn-ten vier Punkte wichtig werden: (1) Im Konstruktivismus wird zwischen der realen und. der kognitiven Welt unterschieden. Wichtig ist jedoch, daß nicht die reale, sondern allein die kognitive Welt die »wirkliche« Welt ist.24 Was an der Umweltrealität wirklich ist, : wird zwar vom Menschen nicht hergestellt, aber wenn etwas : als wirklich benannt wird, ist diese Benennung einzig und ■ allein eine Leistung des kognitiven Systems, nicht der Sin-'-nesorgane und schon gar nicht der Umwelt selbst. Wirklich i- ist das neurophysiologisch verarbeitete Signal. »Dies ist die ; Wirklichkeit, in der wir existieren und von der wir ein Teil sind. Insofern stehen wir ihr nicht gegenüber, sondern sie geht durch uns hindurch.«25 i (2) Obwohl das menschliche Gehirn ein geschlossenes Sy- i stem ist, isoliert es sich nicht von der Umwelt, ganz im Ge- ; genteil: Will es seine lebensfördernde Funktion erfüllen, ist i es auf die Umwelt angewiesen. Gerhard Roth schreibt, »daß ■; ein wirklich von der Welt isoliertes Gehirn niemals ein über- 1 lebensförderndes Verhalten zeigen könnte, d.h. ein Verhal- : ten, durch das auch es selbst erhalten wird«.26 Das Gehirn ist ; auf Umwelt angewiesen und verarbeitet ihre Signale bzw. J Reize, aber nicht zu den Konditionen der Umwelt, sondern j zu seinen eigenen. 94 Konstruktion der Geschichte (3) In dem Prozeß, der das erworbene Wissen organisiert; * mit dem bereits Gewußten verknüpft und die Konsistenz' des Wissens verstärkt, erhält das Gedächtnis eine besondere Funktion: »In wenigen Millisekunden wird alle einlaufende sensorische Erregung mit früheren Erregungen und dereri: Interpretationsfolgen verglichen.«27 Das Gedächtnis bewahrt also nicht, wie man gewöhnlich annimmt, Informa-: tionen über Vergangenes auf, um es bei Bedarf abrufen zu lassen. Es hilft statt dessen dem kognitiven System, die Stimmigkeit der neuesten Übersetzungen, die es von den Sinnesorganen erhält, mit früheren zu vergleichen, zu überprüfen: und auf die Reihe zu bringen.28 Neben der Überprüfung und Stärkung der Konsistenz sorgt das Gedächtnis auch dafür» daß das Wissen sich konstant hält, d.h. uns hilft, in den Schwankungen und Wechsellagen der Umwelt zu bestehen^ mit ihrer Komplexität umzugehen und sie, aus welchen Gründen das auch geschehen mag, immer komplexer zu gestalten." Ein umwekoffenes, unmittelbar an die Umwelt angeschlossenes System könnte das nicht leisten, es müßte sei-ne Autonomie und Beständigkeit einbüßen und den Erfolg, unserer Umweltorientierung riskieren. Wir wären wie ein v Rohr im Wind. Em solches System könnte auch nicht unseren Entscheidungen und unser Handeln steuern. Das Gedächtnis ist also auf eine eminente Weise an der Konstruktion der ■ Wirklichkeit beteiligt. (4) Wichtig ist auch der intersubjektive Charakter des: konstruktivistischen Denkens. Es kommt im gegenseitigen Austausch zwar nicht zu verbindlicher Erkenntnis über die: Wirklichkeit, wohl aber stabilisiert das Wissen darum, daß; andere sich ein Bild von der Welt schaffen, in der auch wir vorkommen, unser Welterkennen. Wir werden gezwungen^ unsere Ergebnisse ständig zu überprüfen, andere tragen dazu bei, uns die Augen für dieses oder jenes zu offnem; Schließlich erweist sich die Intersubjektivität auch als Wi- '■ derstand gegen allzu ausschweifende Beliebigkeit der Aussa- ■ Konstruktion der Geschichte 95 gen über die Wirklichkeit. Es gibt so etwas wie eine begrenzte Bandbreite des Aussagbaren. In diesem zusätzlichen Sinn, zusätzlich zur Konstitution des Wissens im kognitiven System des einzelnen, ist dies eine soziale Komponente in der Verständigung über die Wirklichkeit. Intersubjektivität nimmt allerdings nur eine kontrollierende, allenfalls disziplinierende, keineswegs eine konstitutive Funktion wahr. Das eigene Wissen muß sich der Evaluation steilen, deren Kriterien nur die Regeln des dem kognitiven System möglichen Erkenntnisvermögens sein können.30 Auf den ersten Blick ist es schwer, sich einen konstruktivistischen Zugang zur Vergangenheit vorzustellen. Die Selbstreferentialität sorgt doch dafür, daß der Historiker, wie in sich selbst, so auch in die Gegenwart verstrickt \ bleibt und keine Chance hat, die Vergangenheit als einen ; Wirklichkeitsbereich außerhalb seiner Erfahrung zu erreichen. Er mag manches über die Vergangenheit wissen, auf keinen Fall kann es aber die Vergangenheit selbst gewesen sein, die sich ihm zu erkennen gab, denn zwischen den Sachverhalt einst und den Historiker heute schiebt sich die Selbstbeobachtung dessen, der mit diesem Sachverhalt umgeht. Gewöhnlich gilt: Je mehr wir uns der Vergangenheit \ aussetzen, ihren Hinweisen folgen und auf ihre Stimmen hören, um so mehr gibt sie etwas von sich preis. Doch ge- : nau das ist nach Meinung der Konstruktivisten nicht der Fall. Von der Vergangenheit kann paradoxerweise nur erkannt werden, was an ihr nicht vergangen ist. Was von ihr geblieben ist, ist aber nicht Vergangenheit, sondern Gegenwart. So zitiert Gebhard Rusch, der sich als Konstruktivist intensiv mit dem Problem der Geschichte auseinanderge-setzt hat, die oft kolportierte Aussage Johann Gustav ^ Droysens: »Das Gegebene für die historische Erfahrung: Uli IUI ,1MI mm '••\ m '■31-S 'f Ii; ; i Kl 1 .1 '- l| gl; ■ Ii" IV 96 Konstruktion der Geschichte und Forschung sind nicht die Vergangenheiten - sie sind eben vergangen - sondern das von ihnen in dem Jetzt und Hier noch Unvergangene.«JJ Es fiel Droysen nicht leicht den kognitiven Präsentismus um die Dimension der Vergangenheit zu erweitern, wie es Rusch nicht leicht fällt, difr ReferentiaÜtät des Historischen in die Selbstreferentialität unserer Erkenntnisarbeit hineinzudenken. Das haben beide miteinander gemeinsam. Grundsätzlich aber verfolgen sie* von Rusch ein wenig verdeckt, verschiedene Ziele. In diesem Zusammenhang ist der Begriff der Erfahrungswirklichkeit zentral. Das ist nicht die Wirklichkeit an sondern nur diejenige Wirklichkeit, die in der Erfahrung des Menschen dabei ist, hier und jetzt Gestalt anzunehmen. Bezeichnenderweise sorgen dafür die Erregungs- bzw. Auf-merksamkeitszustände des Nervensystems, die ihre Impulse an das Gehirn leiten, nicht Reize, die Bilder oder Inhalte der Außenwelt ins Bewußtsein transportieren. Die Erregungen setzen einen neuro-physiologischen bzw. neuronalen Prozeß in Gang, dessen Funktion darin besteht, den Gedächtnisinhalt der einstigen Erfahrungen auf den neusten Stand der Erfahrung zu bringen. Daraus ergeben sich drei Konsequenzen: Erstens tritt deutlich zutage, daß das Gedächtnis keinen Schatz abrufbarer Erinnerungen an Vergangenes birgt, also kein Speicherist, in dem unser Vergangenheitswissen schichtweise abgelagert wird, sondern nur der an die Gegenwartserfahrung angepaßte Wissensstand des kognitiven Systems. Früheres und Späteres - alles wird unter dem Eindruck gegenwärtiger Erfahrung verändert, neu gestaltet. Die Funktion desGedächtnisses ist nicht, die Vergangenheit zu konservieren; so daß sie restituiert werden könnte. Das Gedächtnis hat allein die Aufgabe, »Abstimmungen/Anpassungen« des Verhaltens und Handelns an »gegenwärtige Anforderungen zu ermöglichen«.32 Zweitens zeigt sich, daß die Vorstellung von Geschichte Iii der jeweils gegenwärtigen Modulation des Gedächtnisses Konstruktion der Geschichte 97 ■ entsteht und daß das Gedächtnis, zumindest in der traditionellen Auffassung, für die Erforschung der Vergangenheit kaum tauglich ist33 - übrigens auch das Erinnern nicht, purch das Erinnern werden vergangene Erlebnisbereiche keineswegs wiederhergestellt, sondern zuallererst konstituiert. Siegfried J. Schmidt formuliert so: »Erinnern ist aktuelle Sinnproduktion im Zusammenhang jetzt wahrgenommener und empfundener Flandlungsnotwendigkeiten.«34 Die Erinnerung liefert also nicht den Stoff, der vom Historiker erst noch zu bearbeiten wäre, um daraus Geschichte werden zu lassen. Was erinnert wird, ist bereits bearbeitet, ist zufäl- ■ lig und selektiv, nicht die ganze Wirklichkeit, es ist vor allem ■mit Sinn belegt, alles andere als Vergangenheit »pur« und ■ unmittelbar.35 In der Erinnerung wird die Unmittelbarkeit nicht erhalten, wie gewöhnlich angenommen wird36, in ihr : wird sie geradezu vernichtet. Erinnerung sorgt für Abstand und Unerreichbarkeit dessen, was einst war. Auf keinen Fall ist Erinnerung das Zauberwort gegen den angeblichen Verlust des historischen Referenten. Drittens folgt daraus, daß die Historie keine Wissenschaft im referentiellen Sinn von Empirie sein kann, denn sie bezieht sich nicht auf Gegebenes außerhalb unseres Bewußtseins. Die Erfahrung, die in der Tätigkeit des kognitiven Systems mit einer jeweils aktualisierten Vorstellung von Wirklichkeit verknüpft wird, hat nichts mit der Erfahrung zu tun, die den sogenannten empirischen Wissenschaften zugrunde liegt. Das führt Rusch zu einem präsentischen Verständnis von Wirklichkeit: »Die einzige Wirklichkeit,, mit der es Historiker zu tun haben, ist die Gegenwart.«3* Nirgendwo wird der Begriff der »historischen Wirklichkeit« so deutlich problematisiert, ja, als undenkbar erwiesen wie im radikalen Konstruktivismus, so daß sich die Frage aufdrängt, ob es im Rahmen dieses Konstruktivismus überhaupt noch zu einem Umgang mit Geschichte kommen kann. Der Ansatzpunkt, Geschichte trotz kognitiver Verschlossenheit bzw. Autopoiesie ins Auge zu fassen, befindet Ii .gv > Uli jt r 1 I t-1 £ I Ii 98 Konstruktion der Geschichte sich in der kognitiv-sozialen Konstruktion der Wirklichkeit selbst. Unter kognitivem Gesichtspunkt kommt es zu einer -je in sich abgeschlossenen Konstruktion der eigenen Erfahrungswelt. Hier eröffnet sich dem einzelnen Menschen auch eine soziale Erfahrung: »In ihren sinnlichen Anmutungen und Wahrnehmungen erleben sie (die Menschen) also etwas das für ihre jeweilige konkrete Struktur und Funktionsweise- ■ unter den jeweils aktuellen medialen Bedingungen spezifisch ist. Sie er-leben ihre Erfahrungswelt und die Wirklichkeit, die sie mit anderen teilen können«.38 Sie erfahren, *daß einige Elemente der eigenen Erfahrungswelt offenbar auch Elemente der Erfahrungswelt von anderen sind«.39 Das ist» könnte man sagen, dasjenige, was als »wirklich« oder als »Wirklichkeit« anzusehen ist. Wirklichkeit wird als »inter>:: subjektiver Erfahrungsraum«40 konstruiert. So gesehen ist:.: sie eine kognitiv-soziale Konstruktion. Gewöhnlich spielt die Zeitdifferenz zwischen Gegenwart und Vergangenheit die Rolle, das Feld abzustecken, in dem, Geschichte erforscht wird. Es ist der Zeitraum, der von der Gegenwart abgetrennt ist bzw. die Vergangenheit als eigener Wirklichkeitsbereich. Im konstruktivistischen Denken spielt dagegen die Beobachtung eine Rolle, daß die Zeitmodi;: zunächst den von ihnen eingenommenen Zeitraum einbü-ßen und alle im Modus des Gegenwärtigen für die Operationen des kognitiven Systems präsent sind. »Das Wachbes wußtsein beziehungsweise das sogenannte Arbeits gedächt-J nis (immediate memory) erlaubt nämlich die gleichzeitige Präsenz sowohl als gegenwärtig oder aktuell qualifizierbarer;: Inhalte, als auch solcher Inhalte, die als vergangen, und solcher, die als zukünftig gelten.«''1 Deutlich macht Rusch das!, am Beispiel des zielorientierten, zweckrationalen Handelns.. Um handeln zu können, ist uns bewußt, welche Schritte &r nes gefaßten Plans wir bereits unternommen haben, wo wir im Augenblick stehen und was voraussichtlich mit dem nächsten Schritt erreicht wird. Im kognitiven Prozeß, könnte man sagen, wachsen alle drei Zeiträume zunächst zu ei- Konstruktion der Geschichte 99 ífleiri einzigen Gegenwartsraum zusammen, zur Zeitdimeri-osion unserer Erfahrungswirklichkeit. Wie diese Wirklichkeit? ist auch diese Dimension das Konstrukt des kognitiven 'Systems. Freilich wird die begriffliche Unterscheidung der Zeitmodi fortan nicht aufgegeben, nur: »Nicht die Existenz ^er Vergangenheit als eigenständiger Wirküchkeitsbereich ■■jnacht deren begriffliche Repräsentation notwendig, sondern die Ausprägung eines Begriffes des Vergangenen und Jessen Externaüsierung beziehungweise Objektivierung halben das konstruktive Resultat, daß Vergangenheit als Wirk-jlichkeitsbereich eigener Art konstituiert wird.«42 ' Diese Andeutungen genügen, um deutlich zu machen, :.yie eng die Zeitmodi an die Erfahrungswirklichkeit gebunden sind, ja, daß die Gegenwart sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft dominiert. Was von der Vergangenheit gewußt wird, sind die Inhalte der Erinnerung, die allerdings nicht abhängig von der Vergangenheit außerhalb des kognitiven Systems, sondern an das gegenwarts- und zukunftsorientierte Handeln des Menschen gebunden ist. Erinnert wird, was gegenwärtig Sinn macht. Die Vergangenheit kommt sozusagen als vergegenwärtigte Vergangenheit in Sicht. Die Vergangenheit als solche wird im konstruktivistischen Denken aber keineswegs als nichtexistent angesehen. Bereits die Erfahrung zeigt, daß Vergangenheit eine sinnvolle Funktion im Handeln ausübt. Ihre Inhalte können allerdings nicht mehr erfahren oder wahrgenommen werden. Die Intensität der Wahrnehmung läßt nach, je weiter sie sich zurückbeziehen muß; und dieses Wahrneh-raungsdefizit wird von dem aufgefüllt, was »allgemein bekannt« ist, was aus der Erinnerung »elaboriert«, was erzählt und schließlich geschichtswissenschaftlich in der Community of scholars als Wissen gesichert und stabilisiert wird, nicht besessen von subjektiv-beliebigen Einfällen, sondern geleitet, ja diszipliniert von Regeln, die sich in langen Kommunikationsprozessen ausgebildet haben, von Regeln, die Kohärenz, Konsistenz, Plausibilität, Kommunika- 100 Konstruktion der Geschichte bilität, Innovationskraft etc. historischer Aussagen herstellen - in Streit und Machtkampf. So verlegt sich der Akzent historischer Arbeit vom Vergangenheitsbereich auf den kognitiven Umgang mit diesem Bereich. Damit verändert sich auch der Ort historischer Referentialität. Es geht nicht um den Referenten im Vergangenheitsbereich, um historische Referentialität wird vielmehr in der Kommunikationsgemeinschaft der Geschichtswissenschaft immer noch gerungen. Referiert wird auf das* worum es geht. Der Referent steht noch nicht fest, er ist umstritten. Diese Argumente hat Siegfried J. Schmidt auf prägnante Weise zusammengefaßt: «-Gegenwart wird demnach an das Konzept >Bewußtheit<, Vergangenheit an das Konzept >Bekanntheit< gekoppelt (vergangen ist, was bekannt ist). Damit steht für Erinnern ein Kriterium bereit, das unabhängig von Vergangenheit ist. Sinnvolle Erinnerungen brauchen keinerlei Referenz auf ein >Objekt<. Anders ausgedrückt, Erinnerung hängt nicht von Vergangenheit ab, sondern Vergangenheit gewinnt Identität allererst durch die Modalitäten des Erinnerns: Erinnern konstruiert gegenwar-tig(e) Vergangenheit. Wir operieren mit anderen Worten nicht mit Vergangenheit, sondern mit Geschichten, m deren Konstruktion die Vorstellungen eingehen, die wir uns von der Beschaffenheit von Vergangenheit machen. Diese Vorstellungen, nicht die Vergangenheit, geben die Referenzebene unserer Erinnerung ab.«+3 Die Schwerpunkte der historischen Arbeit verlagern sich. Orientiert an historischer Referentialität ist es nicht die Arbeit an den Quellen, auch nicht die Vetomacht der Quellen, die alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Es ist vielmehr die kritische Reflexion des Umgangs mit den Quellen im kommunikativen Feld der gegenwärtigen Auseinandersetzung um die Bedeutung der Geschichte. Aufgewertet wird zweifelsohne die oft stiefmütterlich behandelte Geschichtstheorie. Diese Schwerpunktverlagerung bedeutet aber nicht, daß die Quellen vernachlässigt werden könnten. Irgend jemand in der commu- Komtruktion der Geschichte 101 rtity of scholars wird schon versuchen, auch die Quellen zur Sprache zu bringen, die bisher vielleicht ein Schattendasein geführt haben, etwas herauszufinden bzw. zu erforschen, was bisher wenigen bekannt war; und sofern die Quellen sich im Sinngebungsprozeß bewähren, können sie sich wirksam entfalten. Etwas provozierend kann Rusch formulieren: ■ »Geschichtsschreibung macht Vergangenheit kognitiv und i: sozial verfügbar, jedoch ohne sie zu erforschen.« Er fährt ; aber fort: »Was sie erforscht, ist die Gegenwart im Hinblick f auf eine Geschichte, die diese Gegenwart (als Ergebnis ge-I schichtlicher Entwicklung) eher plausibilisiert und legiti-i miert als erklärt. Die empirische Basis dieser Forschung ist I die Beobachtung und Erfahrung im Umgang mit Quellen j und Zeugnissen, also jeweils gegenwärtigen Objekten.«44 I Die Forschung orientiert sich nicht am historischen »Ge-I genstand«, sondern am Umgang mit Quellen. Und hier 1 kann Rusch alle Usancen und Regeln der Forschungspraxis l ins Spiel bringen.45 Forschung, in der um die Bedeutung der I Vergangenheit gerungen, ja, gestritten und gekämpft wird, ] gibt es allemal. Sie ist das Medium, in dem Geschichte ihren I Platz erhält. j In den Hintergrund tritt auch die Hermeneutik, sofern es I traditionellerweise darum geht herauszufinden, welchen; I Sinn ein Autor seiner Aussage einst geben wollte. Sollte die I Hermeneutik sich darin erschöpfen, wird sie kaum noch i eine Rolle spielen*6; um so effektiver ist die Funktion, die sie I in den Erzählungen wahrnimmt. Sie geben dem historischen j Stoff, der allgemein bekannt ist, einen Sinn. Auch das ist,; j von den Konstruktivisten allerdings kaum gewürdigt, eine I hermeneutische Aufgabe: einem Stoff so Sinn zu verleihen, I daß er verstanden wird. Aus einer Methode, Vergangenes in I der Gegenwart zu verstehen, wird eine Methode, gegenwär-1 tigern Handeln jeweils Sinn einzustiften. Hermeneutik be-I zieht sich hier nicht auf den Zeitraum, der Vergangenheit I und Gegenwart umfaßt, sondern auf die Tätigkeit, die unse-j rer Gegenwart eine Zukunft eröffnet. 102 Konstruktion der Geschiebte Von der Geschichte, die kognitiv konstruiert und intet« subjektiv diszipliniert wird, ist zu erwarten, daß sie die-»Komplexität unserer Wirklichkeitskonstruktionen« steí4-gert und uns dazu verhilft, »auch komplexer handeln zu können«.47 Die historische Referentialität steht in dem Befreien auf dem Spiel, in dem unsere Wirklichkeitskonstrük- -tionen Gestalt annehmen bzw. wo sie ihren Ausdruck erhaK- ■■ ten: im »intersubjektiven Erfahrungsraum«. Die Hermeneutik wird gebraucht und ihre Regeln werden zu beachte^ \ sein, wo das Verstehen der Erzählungen oder Geschichten antizipiert oder wo die Aussagen der Historiker rezipier werden. Wird die Hermeneutik auf die Rezeption und nicht die einstige Herstellung eines Textes bezogen, müßte der" Historiker sie jetzt, im Nachhinein sozusagen, doch wieder \ einsetzen, um dem historischen Text ebenso als Rezipienf begegnen zu können. Das bedeutet nicht, die Hermeneutik.1 nachträglich wieder im alten Sinne voll zur Geltung zu bringen, sondern methodisch nur dort zu nutzen, wo auf Sinn-, mitteilung angelegte Texte in den intersubjektiv gestalteten Forschungsprozeß einbezogen werden. Aber auch hier dürfte dieser hermeneutische Einsatz im Rahmen des Konstruktivismus nur dem Zweck dienen, unser Wissen von der (gegenwärtigen) Wirklichkeit zu erweitern. Die Bemühung um die wahrheitsgetreue Darstellung eines vergangenen! »Gegenstandes« erscheint dagegen als eine Spiegelfechterei, mit Wirklichkeit und Sinn hat sie nichts zu tun. Deutlich sollte geworden sein, daß der Konstruktivismus. eine interessante Variante historischen Denkens anbietet. Er erörtert das Problem historischer Referentialität im Rahmen einer modernen Epistemologie, die sich an den biologischanthropologischen Möglichkeiten des Erkennens orientiert.. Er übergeht oder leugnet dieses Problem nicht. Ii Unsichere Geschichte r- Die Geschichtswissenschaft kann sich ihres Gegenstands jjicht mehr sicher sein. Daran läßt die Kritik, die von den Vertretern des linguistic turn, der Diskursanalyse und des Konstruktivismus an den Realismuskonzepten der historischen ^Arbeit geäußert wurde, keinen Zweifel. Die Wirkung dieser .'Kritik hat zwar Unruhe in die Geschichtswissenschaft gebracht, manche Historiker auch verschreckt, aber nicht zur Preisgabe gegenstandsbezogener Forschungen geführt. Zu beobachten sind vielmehr Reaktionen, die sich über diese Situation hinwegsetzen: Zum einen das unablässige Bemühen, unbekümmert um die theoretischen Diskussionen soviel Einzelheiten wie möglich über vergangenes Denken, Reden und Handeln festzustellen und an der Bedeutsamkeit der Fakten gegenüber den Fiktionen festzuhalten, und zum anderen die allgemeinen, strukturellen Bedingungen für Denken, Reden und Handeln der Menschen in allen relevanten Gesellschaftsbereichen zu erforschen, als ob die Materialität dieser Strukturen allein die Potenz wäre, die Vergangenes zu Geschichte werden läßt. Was solche Reaktionen miteinander verbindet, ist ihr realistisches GeschichtsVerständnis, d. h. der unerschütterliche Glaube an die erfahrungs- und erkenntnisunabhängige Realität der res gestae. Immer noch wird von der »historischen Wirklichkeit« gesprochen, und immer noch gilt die Rede von der Vergangenheit, die »unabhängig vom erkennenden Subjekt Strukturen besitzt«1. Die neueren Bemühungen um die Erkenntnis von Wirklichkeit bzw. um die Art, und Weise, wie Wirklichkeit überhaupt entsteht, werden trotz einiger Lippenbekenntnisse nicht eigentlich als Herausforderung angenommen: Innovationsimpulse, die von Modellen der Selbstreferentialität, der Diskursanalyse, der narrativen Logik bzw. des linguistic turn ausgehen. !'■''''} ' g::;..l,l = Ii:':1' im Z I j' I j11 ť 1 li' Z l í I ' i 3 i - I i , i