li I DIE LANGEN 1970ER JAHRE DIE SATTELZEIT AN DER SYSTEMGRENZE ZWISCHEN „OST" UND „WEST" Von Niklas Perzi und Václav Šmidrkal D ie siebziger Jahre erfreuen sich in Osterreich eines außerordentlich guten Rufes. Als die geburtenstarken 1960er- und 1970er-Jahrgänge ins Erwachsenenalter gekommen waren, schwappte eine nostalgisch gefärbte Retrowelle über Osterreich. „Wickie, Slime & Paiper" hieß es Ende der 1990er Jahre. Die Zeichentrickserie über den schlauen Wikingerburschen, das klebrige Spielzeug und das Eis waren titelgebend für eine ganze Reihe an Erinnerungsbüchern, medialen Produkten und Retropartys. Das Jahrzehnt, in dem das Fernsehen zum Massenmedium aufgestiegen ist, hat viel an Bildern hinterlassen, die Stimmungen evozieren können: Ubervater Bruno Kreisky, Franz Klammer und sein Olympiasieg in Innsbruck 1976, die „Helden" von Cördoba,die 1978 das bundesdeutsche Team bei der Fußballweltmeisterschaft in Argentinien besiegten. Vor allem sollte sich damals in Österreich vieles ändern: Politik, Gesellschaft, Kultur. In der Tschechoslowakei wurde dagegen der Reformprozess der 1960er Jahre mit der Okkupation durch die Truppen des Warschauer Paktes abgebrochen und nach der Konstituierung des autoritären Regimes unter dem Schlagwort der „Normalisierung" [normalizace] herrschte gesellschaftliche Resignation: Nichts sollte sich ändern. In Tschechien ist die Erinnerung an die 1970er Jahre deshalb auch eine geteilte: Zum einen existiert die moralisierende, antikommunistische Erinnerung an die Zeit der „Totalität" [totalita], die deren Unfreiheit und die Unterdrückung bis hinein ins familiäre Leben betont. Dem stehen die persönlichen Erinnerungen an Freuden und Sorgen des sozialistischen Alltagslebens entgegen, < „Thank you for the music...". Die Popgruppe ABBA begeisterte in den 1970er Jahren Millionen - auch über den „Eisernen Vorhang" hinweg - ein Symbol der popkulturellen Konvergenz die seit den späten 1990er Jahren ebenso in einer Welle an „sozialistischem Retro" ihren Ausdruck finden. Die damaligen Fernsehserien wie „Die Kriminalfalle des Majors Zeman" [30 případů majora Zemana, 1975] kehrten allmählich genauso auf den Bildschirm zurück wie die Popstars und -Sternchen der 1970er und 1980er Jahre. Diese positiv gefärbten Rückblicke führten und führen auch zu Diskussionen über die Verharmlosung der kommunistischen Diktatur. Betrachtet man die globale Entwicklung, so können die 1970er Jahre als „Sattelzeit" (Reinhart Koselleck), als Jahrzehnt des Übergangs zwischen zwei historischen Etappen betrachtet werden. Nach der Beseitigung der unmittelbaren Kriegsfolgen Ende der 1940er Jahre folgte ein goldenes Zeitalter des wirtschaftlichen Wachstums und steigender Löhne mit einem daraus resultierenden steten Kreislauf von höherer Kaufkraft, stärkerer Nachfrage, mehr Konsum. An die Stelle des bloßen Überlebens der Jahre und Jahrzehnte davor trat das (Er-)Leben. Doch etwa in der Mitte der 1970er Jahre schienen die „Trente Glorieuses" (die 30 „glorreichen" Nachkriegsjahre, Jean Fourastié) zu Ende zu gehen. Eine plötzliche, tiefreichende Wirtschaftskrise trat ein, hervorgerufen durch den Ölpreisschock des Jahres 1973 und beschleunigt durch das Ende des Systems fester internationaler Wechselkurse von Bretton Woods. Es sollte sich bald herausstellen, dass es sich dabei um keinen vorübergehenden zyklischen Einbruch handelte, sondern um den Beginn eines fundamentalen ökonomischen Wandels. Das Modell des ständigen Wachstums der Industrieproduktion auf der Nordhalbkugel stieß an seine Grenzen und verlangte nach neuen Antworten in der Wirtschaft, aber auch in Politik und Kultur. Daher war die Sattelzeit auch eine des Aufbruchs, der Modernisierung von Politik und Gesellschaft, der ■ 265 DIE LANGEN 1970ERJAHRE DIE SATTELZEIT AN DER SYSTEMGRENZE ZWISCHEN „OST" UND „WEST" Von Niklas Perzi und Václav Smidrkal Die siebziger Jahre erfreuen sich in Österreich eines außerordentlich guten Rufes. Als die geburtenstarken 1960er- und 1970er-Jahrgänge ins Erwachsenenalter gekommen waren, schwappte eine nostalgisch gefärbte Retrowelle über Österreich. „Wickic, Slime 8c Paiper" hieß es Ende der 1990er Jahre. Die Zeichentrickserie über den schlauen Wikingerburschen, das klebrige Spielzeug und das Eis waren titelgebend für eine ganze Reihe an Erinnerungsbüchern, medialen Produkten und Retropartys. Das Jahrzehnt, in dem das Fernsehen zum Massenmedium aufgestiegen ist, hat viel an Bildern hinterlassen, die Stimmungen evozieren könnSh: Übervater Bruno Kreisky, Franz Klammer und sein Olympiasieg in Innsbruck 1976, die „Helden" von Córdoba, die 1978 das bundesdeutsche Team bei der Fußballweltmeisterschaft in Argentinien besiegten. Vor allem sollte sich damals in Österreich vieles ändern: Politik, Gesellschaft, Kultur. In der Tschechoslowakei wurde dagegen der Reformprozess der 1960er Jahre mit der Okkupation durch die Truppen des Warschauer Paktes abgebrochen und nach der Konstituierung des autoritären Regimes unter dem Schlagwort der „Normalisierung" [normalizace] herrschte gesellschaftliche Resignation: Nichts sollte sich ändern. In Tschechien ist die Erinnerung an die 1970er Jahre deshalb auch eine geteilte: Zum einen existiert die moralisierende, antikommunistische Erinnerung an die Zeit der „Totalität" [totalita], die deren Unfreiheit und die Unterdrückung bis hinein ins familiäre Leben betont. Dem stehen die persönlichen Erinnerungen an Freuden und Sorgen des sozialistischen Alltagslebens entgegen, < „Thank you for the music..,". Die Popgruppe ABBA begeisterte in den 1970er Jahren Millionen - auch über den „Eisernen Vorhang" hinweg - ein Symbol der popkulturellen Konvergenz die seit den späten 1990er Jahren ebenso in einer Welle an „sozialistischem Retro" ihren Ausdruck finden. Die damaligen Fernsehserien wie „Die Kriminalfalle des Majors Zeman" [30 případů majora Zemana, 1975] kehrten allmählich genauso auf den Bildschirm zurück wie die -J^ppstars und -Sternchen der 1970er und 1980er Jahre. ( Diese positiv gefärbten Rückblicke führten und führen auch zu Diskussionen über die Verharmlosung der kommunistischen Diktatur. Betrachtet man die globale Entwicklung, so können die 1970er Jahre als „Sattelzeit" (Reinhart Koselleck), als Jahrzehnt des Übergangs zwischen zwei historischen Etappen betrachtet werden. Nach der Beseitigung der unmittelbaren Kriegsfolgen Ende der 1940er Jahre folgte ein goldenes Zeitalter des wirtschaftlichen Wachstums und steigender Löhne mit einem daraus resultierenden steten Kreislauf von höherer Kaufkraft, stärkerer Nachfrage, mehr Konsum. An die Stelle des bloßen Überlebens der Jahre und Jahrzehnte davor trat das (Er-)Leben. Doch etwa in der Mitte der 1970er Jahre schienen die „Trente Glorieuses" (die 30 „glorreichen" Nachkriegsjahre, Jean Fourastié) zu Ende zu gehen. Eine plötzliche, tiefreichende Wirtschaftskrise trat ein, hervorgerufen durch den Ölpreisschock des Jahres 1973 und beschleunigt durch das Ende des Systems fester internationaler Wechselkurse von Bretton Woods. Es sollte sich bald herausstellen, dass es sich dabei um keinen vorübergehenden zyklischen Einbruch handelte, sondern um den Beginn eines fundamentalen ökonomischen Wandels. Das Modell des ständigen Wachstums der Industrieproduktion auf der Nordhalbkugel stieß an seine Grenzen und verlangte nach neuen Antworten in der Wirtschaft, aber auch in Politik und Kultur. \ Daher war die Sattelzeit auch eine- des Aufbruchs," der Modernisierung von Politik und Gesellschaft, der ■ 265 2> -T>thnJoO£^a Neudefinition des Verhältnisses von Bürger und Staat, des Übergangs in die „dritte industrielle Revolution", der damit verbundenen ppupn gesellschaftlichen Werte und Wertvorstellungen] Der Aufbruch aus den gewohnten Verhältnissen bedeutete neue individuelle sowie gesellschaftliche Bedrohungen, wie eine seit den 1930er Jahren nicht mehr gekannte Sockel(-langzeit-)arbeits-losigkeit und den Beginn von Abbau und Auslagerung ganzer bis dahin in Europa wichtiger Industriezweige mitsamt ihren realen und symbolischen Verortungen in der Gesellschaft. Die Schornsteine der Textilfabriken verschwanden genauso wie die normierten Lebensläufe der Arbeiter mit ihrer Kultur von Fabrik und Familie, dem alten Rhythmus von Arbeit und Freizeit. Während noch kurz vorher nach Arbeitskräften gesucht worden war, setzte jetzt eine schleichende DeTndustrialisierung ganzer Regionen ein. Die viel zitierte „Krise der Arbeitsgesellschaft" brachte bislang nicht gekannte Belastungen für die meist großzügig ausgebauten Wohlfahrtsstaaten, die auf Vollbeschäftigung und Wachstum ausgerichtet waren. Die bisherigen sozialen Sicherheiten und Sicherungssysteme begannen gegen Ende des Jahrzehnts aufzuweichen, die Ideale der Blumenkinder der 1960er Jahre wurden in den zynischen 1970er Jahren zu „Blumen in der Mülltonne"', oder wie es Vaclav Havel Mitte der 1980er Jahre formulierte: „[Die 1970er Jahre] kommen [...] uns im Vergleich mit den bunten, reichen und produktiven sechziger Jahren irgendwie nichtssagend, ohne Stil, ohne Atmosphäre, ohne ausgeprägte geistige und kulturelle Bewegung vor, schlaff, langweilig und trost-los.^J üie Gleichzeitigkeit von Aufbruch und Niedergang, von Zukunftshoffnung und Krisenangst ist für die globale Sattelzeit der langen 1970er Jahre genauso bezeichnend wie die Unmöglichkeit, sie eindeutig ein- und abzugrenzen. Dies trifft umso mehr zu, wo die Krise erst mit Verspätung einsetzte, wobei dies noch mehr für die Tschechoslowakei als für Osterreich gilt. In Osterreich gelang es, die Folgen des Strukturwandels zumindest bis zum Beginn der 1980er Jahre durch eine keynesia-nisch orientierte Politik, das heißt durch fallweise Belebung der Wirtschaft durch vermehrte Staatsausgaben und durch expansive Geldpolitik, hintanzuhalten. In der Tschechoslowakei verhinderten die politische Stagnation des Staatssozialismus und die geringere Einbindung in den Weltmarkt, dass die globalen Trends, die auf eine liberal-konservative Wende in der Wirtschaftspolitik setzten, durchschlugen. Dieses Kapitel gliedert sich in vier thematische, Österreich und die Tschechoslowakei parallel betrachtende Subkapitel. Das erste beschäftigt sich mit der Politik, der Epoche der von Bruno Kreisky geführten sozialistischen Regierung in Österreich und der sogenannten „Normalisierung" in der Tschechoslowakei, die mit Gustav Husäk verbunden war. Das nächste Thema ist der ökonomische Wandel mit der Herausbildung der Konsumgesellschaften westlichen und östlichen Zuschnitts, der Phase intensiven Wachstums und der Reaktionen auf die globale Krise 1974. Dem folgen die Kultur, die Stars und Sternchen, das Fernsehen und die Popmusik, aber auch die Alternativen zum normierten Massengeschmack und Mainstream. Im Schlusskapitel gehen wir der Frage nach, warum die Beziehungen zwischen den beiden Staaten trotz der Entspannungspolitik und dem Abschluss des Eigentumsvertrags angespannt blieben. KREISKYS ÖSTERREICH -HUSÄKS TSCHECHOSLOWAKEI Betrachten wir Politik und politische Systeme beider Staaten, so fallen beim ersten Hinschauen wesentliche Unterschiede auf: eine etablierte Demokratie westlichen Zuschnitts in Österreich, eine kommunistische Diktatur sowjetischer Prägung in der Tschechoslowakei. Die Ära des österreichischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky war mit Demokratisierung „von oben" und gesellschaftlicher Emanzipation „von unten" verbunden, während das Husak-Regime das Gegenteil durch das Vergessenmachen des „Sozialismus mit menschlichem Antlitz" des Jahres 1968 und die Verfestigung des Machtmonopols der Kommunistischen Partei erzielte. Trotzdem entfaltete sich beiderseits der Grenze eine langfristige und systemübergreifende Tendenz zur Abschwächung der einst starken politischen Ideologien und zur Anwendung einer integrativen Sozialpolitik als Stabilisierungsinstrument. Das Regime der Normalisierung bekannte sich zwar ostentativ zum Marxismus-Leninismus, aber nach dem „Prager Frühling" und dessen Niederschlagung hatte dieser als „politische Religion" ausgespielt. Die Ideologie verwandelte sich langsam in eine starre, inflexible, au- Zitat aus dem Lied „God Save the Queen" (1977) von der englischen Punk-Band Sex Pistols. Vgl. Miroslav Vaněk, Kytky v popelnici: Punk a nová vlna v Československu. [Blumen in der Mülltonne: Punk und neue Welle in der Tschechoslowakei], in: Miroslav Vaněk u.a., Hg-, Ostrůvky svobody: kulturní a občanské aktivity mladé generace v 80. letech v Československu, [Inselchen der Freiheit. Kulturelle und zivilgesellschaftliche Aktivitäten der jungen Generation in den 1980er Jahren in der Tschechoslowakei], Praha 2002, S. 175. Václav Havel, Fernverhör: Ein Gespräch mit Karel Hvr/.d'ala, Hamburg 1987, S. 144. 266 • Neudefinition des Verhältnisses von Bürger und Staat, des Ubergangs in die „dritte industrielle Revolution", der damit verbundenen neuen gesellschaftlichen Werte und Wertvorstellungen. Der Aufbruch aus den gewohnten Verhältnissen bedeutete neue individuelle sowie gesellschaftliche Bedrohungen, wie eine seit den 1930er Jahren nicht mehr gekannte Sockel(Tangzeit-)arbeits-losigkeit und den Beginn von Abbau und Auslagerung ganzer bis dahin in Europa wichtiger Industriezweige mitsamt ihren realen und symbolischen Verortungen in der Gesellschaft. Die Schornsteine der Textilfabriken verschwanden genauso wie die normierten Lebensläufe der Arbeiter mit ihrer Kultur von Fabrik und Familie, dem alten Rhythmus von Arbeit und Freizeit. Während noch kurz vorher nach Arbeitskräften gesucht worden war, setzte jetzt eine schleichende De-Industrialisierung ganzer Regionen ein. Die viel zitierte „Krise der Arbeitsgesellschaft" brachte bislang nicht gekannte Belastungen für die meist großzügig ausgebauten Wohlfahrtsstaaten, die auf Vollbeschäftigung und Wachstum ausgerichtet waren. Die bisherigen sozialen Sicherheiten und Sicherungssysteme begannen gegen Ende des Jahrzehnts aufzuweichen, die Ideale der Blumenkinder der 1960er Jahre wurden in den zynischen 1970er Jahren zu „Blumen in der Mülltonne"1, oder wie es Vaclav Havel Mitte der 1980er Jahre formulierte: „[Die 1970er Jahre] kommen [...] uns im Vergleich mit den bunten, reichen und produktiven sechziger Jahren irgendwie nichtssagend, ohne Stil, ohne Atmosphäre, ohne ausgeprägte geistige und kulturelle Bewegung vor, schlaff, langweilig und trost-los>- t Die Gleichzeitigkeit von Aufbruch und Niedergang, von ZukunftshofFnung und Krisenangst ist für die globale Sattelzeit der langen 1970er Jahre genauso bezeichnend wie die Unmöglichkeit, sie eindeutig ein- und abzugrenzen. Dies trifft umso mehr zu, wo die Krise erst mit Verspätung einsetzte, wobei dies noch mehr für die Tschechoslowakei als für Osterreich gilt. In Osterreich gelang es, die Folgen des Strukturwandels zumindest bis zum Beginn der 1980er Jahre durch eine keynesia-nisch orientierte Politik, das heißt durch fallweise Belebung der Wirtschaft durch vermehrte Staatsausgaben und durch expansive Geldpolitik, hintanzuhalten. In der Tschechoslowakei verhinderten die politische Stagnation des StaatssoziaÜsmus und die geringere Einbindung in den Weltmarkt, dass die globalen Trends, die auf eine liberal-konservative Wende in der Wirtschaftspolitik setzten, durchschlugen. Dieses Kapitel gliedert sich in vier thematische, Österreich und die Tschechoslowakei parallel betrachtende Subkapitel. Das erste beschäftigt sich mit der Politik, der Epoche der von Bruno Kreisky geführten sozialistischen Regierung in Österreich und der sogenannten „Normalisierung" in der Tschechoslowakei, die mit Gustav Husák verbunden war. Das nächste Thema ist der ökonomische Wandel mit der Herausbildung der Konsumgesellschaften westlichen und östlichen Zuschnitts, der Phase intensiven Wachstums und der Reaktionen auf die globale Krise 1974. Dem folgen die Kultur, die Stars und Sternchen, das Fernsehen und die Popmusik, aber auch die Alternativen zum normierten Massengeschmack und Mainstream.um Schlusskapitel gehen wir der Frage nach, warum die Beziehungen zwischen den beiden Staaten trotz der Entspannungspolitik und dem Abschluss des Eigentumsvertrags angespannt blieben. KREISKYS ÖSTERREICH - H USA KS TSCHECHOSLOWAKEI Betrachten wir Politik und politische Systeme beider Staaten, so fallen beim ersten Hinschauen wesentliche Unterschiede auf: eine etablierte Demokratie westlichen Zuschnitts in Österreich, eine kommunistische Diktatur sowjetischer Prägung in der Tschechoslowakei. Die Ära des österreichischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky war mit Demokratisierung „von oben" und gesellschaftlicher Emanzipation „von unten" verbunden, während das Husák-Regime das Gegenteil durch das Vergessenmachen des „Sozialismus mit menschlichem Antlitz" des Jahres 1968 und die Verfestigung des Machtmonopols der Kommunistischen Partei erzielte. Trotzdem entfaltete sich beiderseits der Grenze eine langfristige und systemübergreifende Tendenz zur Abschwächung der einst starken politischen Ideologien und zur Anwendung einer integrativen Sozialpolitik als Stabilisierungsinstrument. Das Regime der Normalisierung bekannte sich zwar ostentativ zum Marxismus-Leninismus, aber nach dem „Prager Frühling" und dessen Niederschlagung hatte dieser als „politische Religion" ausgespielt. Die Ideologie verwandelte sich langsam in eine starre, inflexible, au- Zitat aus dem Lied „God Save the Queen" (1977) von der englischen Punk-Band Sex Pistols. Vgl. Miroslav Vaněk, Kytky v popelnici: Punk a nová vlna v Československu. [Blumen in der Mülltonne: Punk und neue Welle in der Tschechoslowakei], in: Miroslav Vaněk u.a., Hg., Ostrůvky svobody: kulturní a občanské aktivity mladé generace v 80. letech v Československu, [Inselchen der Freiheit. Kulturelle und zivil-gesellschaftliche Aktivitäten der jungen Generation in den 1980er Jahren in der Tschechoslowakei], Praha 2002, S. 175. Václav Havel, Fernverhör: Ein Gespräch mit Karel Hvízdala, Hamburg 1987, S. 144. 266 DIE LANGEN 197DER JAHRE DIE SATTELZEIT AN DER SYSTEMGRENZE ZWISCHEN „OST" UND „WEST" Der historische Handschlag zwischen Bruno Kreisky und dem Kaisersohn Otto von Habsburg beendete 1972 die Habsburg-Phobie der Sozialdemokratie. Für Kreisky begann Österreichs Geschichte nicht erst 1918. Makulatur. Die KPÖ hatte durch die von außen erzwungene Billigung des Einmarsches der Sowjets in Prag [Praha] ihre Intellektuellen, aber auch große Teile der Parteijugend und den Gewerkschaftsflügel verloren. Die linken Splittergruppen, von den Eurokommunisten über die Stalinisten bis hin zu den Trotzkisten und Maoisten, kamen über den Charakter von politischen Kleinstgruppen nicht hinaus, sollten aber in den folgenden Jahren oft den Nachwuchs vor allem unter den Medienmachern und Intellektuellen des Landes stellen. Bei aller gesellschaftlichen Erneuerung blieb der Organisationsgrad von Verbänden, Kirche(n) und Gewerkschaft hoch: So hatten die SPÖ und ÖVP 1979 zusammen mehr als 1,4 Millionen Mitglieder3, der ÖGB erreichte 1979 1,6 Millionen Mitglieder, die Katholische Kirche hatte 1971 6,5 Millionen Angehörige (= 87 Pro- der „Linken" zur Bedrohung von Republik und Demo-krajie-ki Osterreich hochstilisiert worden waren. \ Die Außenpolitik verstand Kreisky als Bühne zu nützen, um sich selber und damit auch dem Land eine die realen Möglichkeiten oft überschreitende symbolische Bedeutung zu geben. Auch hier war sein Wirken nicht immer unumstritten: Die Annäherung an die international noch als terroristisch eingestufte Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) brachte ihm harsche Kritik aus Israel ein. Insgesamt interpretierte er die Neutralität Österreichs als „aktive" und bot das Land als Vermittlungsinstanz in den Konflikten der Welt an. An einem Mitwirken in der großen Weltpolitik orientiert war bereits die in den 1960er Jahren getroffene Entscheidung, Wien neben New York und Genf [Geneve] 1979 als dritten Sitz der UNO zu etablieren, an deren Spitze von 1971 bis 1981 als Generalsekretär Kurt Waldheim stand, dessen Kriegsvergangenheit damals noch niemanden störte. Auch dass Österreicher als UN-Soldaten im Friedenseinsatz auf Zypern und den Golan-Höhen standen, erhöhte nicht nur das internationale Prestige des Landes, sondern wirkte auf das Selbstbewusstsein der Österreicher zurück. Schwer hatte es da die bürgerliche Opposition. Die ÖVP musste sich von der Rolle der staatstragenden Regierungspartei verabschieden, blieb aber weiterhin in die sozial- und wirtschaftspolitische Nebenregierung, die Sozialpartnerschaft, eingebunden und stellte die Mehrheit der politisch gewichtigen Lan-deshauptleuteJDagegen verkam die linke Opposition zur DEMONSTRATION m ZUM IMAI GEGEN KAPITAIISMUS UND REAKTION FÜR ARBEITERSELBSTVERWALTUNG UNO SOZIALISMUS HKK DE EfclüKi Dt» MBD1SPIAIZC ■ RJ8 VSJfflJütllS COt «8CMEII Ott im-tm ttmmiuCM - an* tit IHK DER »afiMIHEMiWT - HR WfFflllSÜi HC CBC«IMISUtE 6E-kWSISOWIll< i HJEK M LKCliaRU'JLHC OB! FW » tm uc ffisusow i KEN AKW !'. IKItnUFiffl - acnwK Ks oss-ra- WiOÄbCHIKB rw „AtW's I •-TC'■ CE- Aufruf zum 1. Mai der trotzkistischen „Gruppe revolutionärer Marxisten", eine der zahlreichen „K-Gruppen" der 1?70er Jahre, die vor allem an den Universitäten verankert waren und auch Kontakte zu trotzkistischen Dissidenten in der Tschechoslowakei unterhielten. 3 wv™.demokratiezentrum.org/fileadmin/media/dat;i/parteimitgliedschaft.pdf (01.12.2018) 269 ~7 ToT^ß^, Mitte verortet waren. Er brach seine Vorhaben auf gut les- und (be-)greifbare Formeln herunter und betonte ihren Nutzen für breite Teile der Bevölkerung: Schülerfreifahrt, Gratisschulbuch, großzügige Sozialleistungen wie etwa die Zahlung einer Hausstandsgründungshilfe an junge Ehepaare oder die Aufstockung der Familien -beihilfe. Wie kein anderer verkörperte er Moderne und Modernisierung, wirkte als Katalysator für die Transformation der neuen (west-)europäischen gesellschaftlichen Megatrends auf die österreichischen Verhältnisse: Abnahme stabiler (Ver-)Bindungen, Befreiung aus (groß-) familiären Zwängen und sexuellen Korsetten, (ästhetische) Verstädterung und Politisierung der Jugend im Nachklang des „68er"-Jahres. Ziel war die Weiterentwicklung der Mitbestimmung in der Politik hin zur „sozialen Demokratie". Neben der Industriearbeiterschaft, die die SPO-Kernwählerschicht ausmachte, gelang es ihm, auch die gut (ausgebildeten und aufstiegswilligen neuen Mittelschichten und viele versprengte liberale Bürgerliche davon zu übcr- Kreisky - wer sonst? Der „ewige" Kanzler vereinte in den 1970er Jahren die Verheißungen der Moderne mit dem Versprechen der sozialen Sicherheit. Plakat zur Nationalratswahl 1975, die die SPÖ neuerlich mit absoluter Mehrheit gewinnen sollte. zeugen, „einen Stück des Weges gemeinsam zu gehen". Die Ubersetzung ihrer ökonomischen Emanzipation auf gesellschaftliche und alltags kulturelle Bereiche, letztlich auf die ganze Lebenswelt, zeigte sich in zahlreichen Reformen: der Eherechtsreform, der Straffreiheit für Abtreibung bis zum dritten Schwangerschaftsmonat („Fristenlösung"), der Entkriminalisierung von Homosexualität sowie der Schul- und Universitätsreform, die einen Bildungsboom auslösten. Mit dem Weg hin zur Massenuniversität schwand auch die bis dahin geltende Dominanz der deutschnationalen und katholisch-konservativen Studentenschaft, die in schlagenden Burschenschaften und dem kathoüschen Cartellverband (CV) organisiert war. Allerdings wirkten vor allem in Einrichtungen der Kinderbetreuung, besonders in den geschlossenen Erziehungsanstalten, autoritäre Muster fort, die erst Jahrzehnte später (im Fall von kirchlichen Heimen oder der von ehemaligen NSDAP-Ärzten betreuten Anstalten der Stadt Wien) ans Tageslicht kamen. I Kreiskys Politik war - überall, wo es möglich war -integrativ. Den bereits von seinen Vorgängern begonnenen Weg der Aussöhnung mit der Katholischen Kirche unter Kardinal Franz König setzte er fort, fischte aber auch ohne Skrupel im deutschnationalen und nationalliberalen, dem sogenannten „dritten Lager", das damals noch Auffangbecken vieler ehemaliger Nationalsozialisten war, genauso wie der SPO-eigene Akademikerbund BSA, unter dessen Schutzschirm viele „Ehemalige" nach 1945 Karriere gemacht hatten. Verbindend war der „freisinnige" Antiklerikalismus, die Verachtung für die „Schwarzen", die jedoch von 1938 bis 1945 zusammen mit den Kommunisten das Gros des antinazistischen Widerstands gestellt hatten. In seinem ersten Kabinett waren gleich vier ehemalige Mitglieder der NSDAP. Seine politische Kameraderie mit dem ehemaligen Waffen-SS-Offizier und FPÖ-Chef Friedrich Peter, dessen Einheit schwere Kriegsverbrechen zu verantworten hatte, führte zu untergriffig geführten Konflikten mit dem Holocaust-Überlebenden Simon Wiesenthal, der in Wien ein Dokumentationszentrum zur Verfolgung von Kriegsverbrechern eingerichtet hatte. Es war Kreiskys langfristiges strategisches Ziel, mit der FPO eine Konkurrenz zur OVP aufzubauen und somit das nichtsozialistische Lager dauerhaft zu schwächen. Obzwar die Stunde der Koalition mit den Freiheitlichen dann erst 1983 kommen sollte, begannen die Vorarbeiten dazu jedenfalls schon im Kreisky-Jahrzehnt.lDer Preis dafür war eben die Aussöhnung mit den ^Ehemaligen", den „kleinen" Nazis, für die er (im Gegensatz zu den ehemaligen Anhängern des autoritären „Ständestaates" und des politischen Katholizismus der 1930er Jahre) viel Verständnis aufbrachte. Kreisky söhnte sich aber auch mit den exilierten Habsburgern aus, die bis dahin noch von 268- Mitte verortet waren. Er brach seine Vorhaben auf gut les- und (be-)greifbare Formeln herunter und betonte ihren Nutzen für breite Teile der Bevölkerung: Schülerfreifahrt, Gratisschulbuch, großzügige Sozialleistungen wie etwa die Zahlung einer Hausstandsgründungshilfe an junge Ehepaare oder die Aufstockung der Familien-beihilfeJWie kein anderer verkörperte er Moderne und Modernisierung, wirkte als Katalysator für die Transformation der neuen (west-)europäischen gesellschafdichen Megatrends auf die österreichischen Verhältnisse: Abnahme stabiler (Ver-)Bindungen, Befreiung aus (groß-) familiären Zwängen und sexuellen Korsetten, (ästhetische) Verstädterung und Politisierung der Jugend im Nachklang des „68er"-Jahres. Ziel war die Weiterentwicklung der Alitbestimmung in der Politik hin zur „sozialen Demokratie". Neben der Industriearbeiterschaft, die die SPO-Kernwählerschicht ausmachte, gelang es ihm, auch die gut (ausgebildeten und aufstiegswilligen neuen Mittelschichten und viele versprengte liberale Bürgerliche davon zu über- Kreisky - wer sonst? Der „ewige" Kanzler vereinte in den 1970er Jahren die Verheißungen der Moderne mit dem Versprechen der sozialen Sicherheit. Plakat zur Nationalratswahl 1975, die die SPÖ neuerlich mit absoluter Mehrheit gewinnen sollte. zeugen, „einen Stück des Weges gemeinsam zu gehen". Die Ubersetzung ihrer ökonomischen Emanzipation auf geseUschaftliche und alltagskulturelle Bereiche, letztlich auf die ganze Lebenswelt, zeigte sich in zahlreichen Reformen: der Eherechtsreform, der Straffreiheit für Abtreibung bis zum dritten Schwangerschaftsmonat („Fristenlösung"), der Entkximinalisierung von Homosexualität sowie der Schul- und Universitätsreform, die einen Bildungsboom auslösten. Mit dem Weg hin zur Massenuniversität schwand auch die bis dahin geltende Dominanz der deutschnationalen und katholisch-konservativen Studentenschaft, die in schlagenden Burschenschaften und dem katholischen Cartellverband (CV) organisiert war. Allerdings wirkten vor allem in Einrichtungen der Kinderbetreuung, besonders in den geschlossenen Erziehungsanstalten, autoritäre Muster fort, die erst Jahrzehnte später (im Fall von kirchlichen Heimen oder der von ehemaligen NSDAP-Ärzten betreuten Anstalten der Stadt Wien) ans Tageslicht kamen, j Kreiskys Politik war - überall, wo es möglich war -integrativ. Den bereits von seinen Vorgängern begonnenen Weg der Aussöhnung mit der Katholischen Kirche unter Kardinal Franz König setzte er fort, fischte aber auch ohne Skrupel im deutschnationalen und national-liberalen, dem sogenannten „dritten Lager", das damals noch Auffangbecken vieler ehemaliger Nationalsozialisten war, genauso wie der SPO-eigene Akademikerbund BSA, unter dessen Schutzschirm viele „Ehemalige" nach 1945 Karriere gemacht hatten. Verbindend war der „freisinnige" Antiklerikalismus, die Verachtung für die „Schwarzen", die jedoch von 1938 bis 1945 zusammen mit den Kommunisten das Gros des antinazistischen Widerstands gestellt hatten. In seinem ersten Kabinett waren gleich vier ehemalige Mitglieder der NSDAP. Seine politische Kameraderie mit dem ehemaligen Waffen-SS-Offizier und FPO-Chef Friedrich Peter, dessen Einheit schwere Kriegsverbrechen zu verantworten hatte, führte zu untergriffig geführten Konflikten mit dem Holocaust-Überlebenden Simon Wiesenthal, der in Wien ein Dokumentationszentrum zur Verfolgung von Kriegsverbrechern eingerichtet hatte. Es war Kreiskys langfristiges strategisches Ziel, mit der FPO eine Konkurrenz zur OVP aufzubauen und somit das nichtsozialistische Lager dauerhaft zu schwächen. Obzwar die Stunde der Koalition mit den Freiheitlichen dann erst 1983 kommen sollte, begannen die Vorarbeiten dazu jedenfalls schon im Kreisky-Jahrzehnt. Der Preis dafür war eben die Aussöhnung mit den „Ehemaligen", den „kleinen" Nazis, für die er (im Gegensatz zu den ehemaligen Anhängern des autoritären „Ständestaates" und des politischen Katholizismus der 1930er Jahre) viel Verständnis aufbrachte. Kreisky söhnte sich aber auch mit den exilierten Habsburgern aus, die bis dahin noch von 268.